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Die Wölfe 3 ~Der Pianist des Paten~

Teil III
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ja, es ist lange her, aber da ich gerade in den letzten Zügen der Veröffentlivhung von Band 2 und einer Neuauflage von Band 1 stehe, hat mir Robin doch endlich ihren Plan verraten^^. Da konnte ich nicht still halten und musste es sofort aufschreiben. Dann mall viel Spaß damit, sollte überhaupt noch jemand die Wölfe lesen. Komplett anzeigen

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~Die Einladung~

Es ist so dunkel hier. Warum nur macht das Dienstpersonal nachts immer alle Lampen aus? Sie wissen doch, dass sie zu klein ist, um sie zu erreichen und das Gas aufzudrehen. Unsicher sieht sich das kleine Mädchen um. Judy kennt die Zimmer, weiß wohin die unzähligen Türen führen, doch im Dunkeln sieht alles so gespenstig aus. Nur am anderen Ende des Flurs, dort wo die Tür zum Salon offen steht, dringt flackerndes Licht heraus. Das kleine Mädchen presst ihren Teddy ganz fest an ihre Brust. Ihre nackten Füße frieren auf dem Parkettfußboden. Tränen stehen in ihren Augen. „Mama? Papa?“, fragt sie vorsichtig in die Dunkelheit hinein und geht langsam weiter.

Der Boden macht knackende Geräusche. Ein lauter Knall zerreißt die Luft.

Sie bleibt stehen, ihr kleiner Körper beginnt zu zittern. Judy kennt dieses Geräusch, es ist dasselbe, wie das, welches sie aus dem Schlaf gerissen hat. So klingt nur der Revolver ihres Vaters.

„Narumi, ich bin hier! Es wird alles wieder gut! Bleib bei mir!“ Das ist die Stimme ihres Vaters und der Name ihrer Mutter.

Ihre kleinen Finger krallt Judy in das Fell des Teddybären. Sie zwingt sich weiter zu gehen. Endlich hat sie die letzte Tür im Flur erreicht, vor ihr öffnet sich der Salon.

Im Kamin lodert ein wärmendes Feuer. Um einen gläsernen Tisch sind zwei Sessel und ein Sofa platziert.

„Papa?“ Die Augen des kleinen Mädchens bleiben an einem Mann hängen. Er liegt gleich neben der geöffneten Tür am Boden. Seine Augen sind ins weiße verdreht, in seiner Stirn klafft ein tiefes Loch. Aus ihm fließt Blut, es besudelt den weißen Teppich. Judy kennt sein Gesicht nicht. Der schauerliche Anblick lässt sie einen Schritt zurückweichen. Enger presst sie das Stofftier an sich und beißt dem Teddy ins Plüschohr.

In der Mitte des Raumes kniet ihr Vater, er hält seine Gattin im Arm. Narumis Brustkorb hebt und senkt sich schnell, die Hand der Mutter, die in der des Vaters ruht, zittert. Aus ihrem Mundwinkel sickert Blut. Ein großer roter Fleck breitet sich über ihrer Brust im weißen Nachtgewand aus.

Der Vater nimmt das Gesicht seiner Frau in die Hand, seine Finger sind blutverschmiert. In seinen Augen sammeln sich Tränen. „Narumi, verlass mich nicht!“

„Oh mein Gott, junge Lady!“, spricht eine vertraute Stimme erschrocken aus. Judy spürt einen Blick auf sich, doch sie kann sich nicht bewegen, kann nicht wegsehen.

Die Augen des Vaters richten sich auf sie. Tief fallen seine Brauen in die Gesichtsmitte.

„Jester, schaff sie hier raus!“, brüllt er.

Der Schatten des Butlers legt sich über das kleine Mädchen.
 

…~*~...
 

Judy schreckt aus tiefem Schlaf. Als sie sich umsieht, sitzt sie bereits aufrecht im Bett. Tränen rollen ihr über die Wangen. Sie greift nach ihnen und betrachtet sie auf ihren Fingerkuppen. Es ist lange her, dass sie dieser Kindheitstraum gequält hat. Beinah hat sie den Tod der Mutter erfolgreich verdrängt.

Seufzend schlägt sie die Bettdecke zurück. Sie muss aufstehen und sich beschäftigen, um diesen Alptraum abschütteln zu können. Langsamen Schrittes schlurft sie zum Spiegel. Dunkle Ringe rahmen ihre Augen, die Haare stehen zerzaust vom Kopf ab. Na das wird dauern dem Vogelnest Herr zu werden, besonders bei der Länge. Judy sieht an sich hinab. Das Haargewirr reicht ihr fast bis zu den Hüften. Sie seufzt ergeben und fährt sich durchs Gesicht, dann greift sie nach der Bürste.

„Judy? Bist du schon wach?“, ist die Stimme ihrer Schwester zu hören. Sie kommt vom Flur und drängt sich durch die geschlossene Tür auf. Judy legt den Kopf schief und betrachtet die Uhr an der Wand. Es ist gerade mal neun Uhr morgens. Für gewöhnlich wagt sich Susen am Wochenende nicht vor 12 Uhr in den ersten Stock, den Judy bewohnt. So gibt sie ein unheilvoll klingendes „Ja!“, von sich.

„Oh, wirklich?“ In Susens Stimme schwingt Überraschung. „Das ist gut, wir bekommen nämlich gleich Besuch. Komm doch bitte runter, wenn du soweit bist!“

„Ja, ist gut!“, entgegnet Judy und betrachtet den Haarknoten, der sich in der Bürste verfangen hat. Das kann dauern, bis sie sich frisiert hat. Wer sollte sie überhaupt besuchen kommen? Wenn es wieder der zerlumpte Straßentyp ist, mit dem ihre Schwester angebandelt hat, ist das doch kein Grund sie zu wecken. Andererseits hat Susen sie wegen dem noch nie gerufen. Judy geht im Kopf eine Liste in Frage kommender Personen durch, doch keiner von denen weiß, dass sie hier wohnt. Sehr seltsam!

Sie kämt die Haare gerade so weit, dass sie ihr nicht mehr vom Kopf abstehen, dann bindet sie sie in einen Zopf. Das schneeweiße Samtnachthemd lässt sie von ihrem Körper gleiten und zieht sich rasch das Kleid vom Vortag an. Auf die Hausschuhe verzichtet sie, auch das Nachthemd lässt sie liegen. Mit schnellen Schritten verlässt sie ihr Zimmer, dann folgt sie dem schmalen Flur bis zu einer Wendeltreppe. Die Stufen hüpft sie leichtfüßig hinab. Schon auf der Hälfte kann sie das großzügige Wohnzimmer einsehen. Um einen Glastisch herum verteilen sich zwei schneeweiße Sessel und ein Sofa. Der weiche Teppich davor ist mit braunen Flecken gesprenkelt. Susen hat das Blut ihres letzten Patienten nicht aus den Fasern bekommen, den sollten sie endlich austauschen lassen.

„Verdammt Judy, bist du gerade erst aufgestanden? Du siehst ja aus wie durch den Fleischwolf gedreht“, wird sie von einer hellen Frauenstimme angesprochen.

Judy bleibt auf der untersten Stufe stehen und sieht zur Haustür. Auf der Schwelle steht eine junge Frau und lacht. Ihr Gesicht ist geschminkt und ihre langen schwarzen Haare seidig glatt gekämmt. Sie liegen ihr über der linken Schulter und fallen weit über ihren großen Busen. Das rote Kleid reicht ihr kaum über die Schenkel. Es zeigt so viel Ausschnitt, dass deutlich zu sehen ist, dass sie keinen BH trägt.

Judy stemmt die Arme in die Seiten. Ärgerlich schaut sie die Frau an, als sie ihr entgegnet: „Kann ja nicht jeder schon um neun Uhr wie eine Nutte aussehen, Schwesterherz. Und wegen dir habe ich mich jetzt so beeilt?“ Ihre Aufmerksamkeit richtet Judy auf Susen. In einem ärgerlichen Tonfall fragt sie: „Und wegen der hast du mich geweckt?“

Die hochgewachsene Frau, die ihre blonden Haare in einem Pferdeschwanz trägt, zuckt mit den Schultern. Sie schließt die Haustür.

„Jetzt schau doch nicht so böse, Kleine! Immerhin ist heute doch dein Geburtstag. Da werde ich ja wohl mal vorbeikommen dürfen, um dir auf die Nerven zu gehen“, meint Robin und kommt näher.

Judy verschränkt die Arme vor der Brust. Was muss Robin sie auch immer damit aufziehen, dass sie die jüngste der drei Longhardschwestern ist.

„Wenn du deswegen kommst, wo ist dann mein Geschenk?“, will Judy spitzfindig wissen.

Robin hat nichts bei sich, als eine kleine Handtasche, in der höchstens eine Puderdose Platz findet. Die Schwester bleibt vor ihr stehen. „Seit wann machen wir uns denn Geschenke?“, fragt sie.

Judy setzt einen misstrauischen Blick auf. „Warum bist du wirklich hier?“, verlangt sie zu wissen.

Robin breitet die Arme aus und legt sie um Judy.

Starr lässt diese die Berührung über sich ergehen und wartet noch immer auf eine Antwort.

„Na, um dir zu gratulieren natürlich! Alles Gute meine Kleine“, sagt Robin.

„Lass das scheinheilige Getue!“, entgegnet Judy, ohne ihre angespannte Haltung aufzulösen.

Robin gibt sie frei und tritt einen Schritt zurück, um Judy wieder ansehen zu können, dann setzt sie ein schelmisches Grinsen auf. Den Zeigefinger legt sie sich an die Unterlippe. Mit einem Augenzwinkern sagt sie: „Na gut, hast mich erwischt. Ich soll dir etwas bringen.“ Robin öffnet den Druckknopf ihrer Handtasche und kramt darin herum.

Susen kommt zu ihnen. So gespannt wie Judy betrachtet auch sie den Umschlag, den Robin hervorholt.

Doch ein Geschenk? Judy bleibt misstrauisch. Sie nimmt den Brief entgegen und betrachtet ihn von allen Seiten. Er ist schmucklos weiß, kein Absender, nichts was auf den Inhalt schließen lässt. So öffnet sie ihn:
 

Einladung

Ball zum 18. Geburtstag meiner geliebten Tochter. Sie erwartet ein exklusives Klavierkonzert und ausgesuchte Speisen im Anwesen…
 

Judys Augen weiten sich. ‚Geliebte Tochter‘? Hat sie das gerade richtig gelesen? Ist sie damit gemeint? Moment, ihr Vater lädt zu einem Ball ein, zu einem Ball ihr zu Ehren? Er will es wohl einfach nicht verstehen? Sie ist doch nicht von zu Hause abgehauen, um jetzt fröhlich mit ihm zu feiern. Warum kann er nicht endlich hinnehmen, dass sie nichts mehr mit ihm und Seinesgleichen zu tun haben will? Ständig schickt er irgendwas, oder hetzt ihr seine Leute auf den Hals. Dieser verdammte Mistkerl! Judy zerknüllt die Karte in ihrer Hand. „Nein! Ganz bestimmt nicht! Ich will mit euch nichts zu tun haben! Richte ihm das aus! Auch seine Bodyguards kann er abziehen. Ich weiß ganz genau, dass sie mir folgen. Ich habe seinen Schutz nicht nötig und auch diese Party will ich nicht. Genau so wenig wie sein Geld und diese feinen Schnösel aus gutem Hause, die er mir als zukünftige Ehemänner vorstellt. Ich habe das alles hinter mir gelassen. Versteht das doch endlich!“ Den Briefumschlag und die Karte lässt sie zu Boden fallen, direkt vor die Füße der Schwester, dann dreht sie sich um und stampf die ersten Stufen der Wendeltreppe hinauf.

„Bist du dir sicher?“, fragt Robin, ihre Stimme klingt siegessicher. Geheimnisvoll fügt sie an: „Er wird nämlich auch dort sein!“

Judy bleibt stehen. Sie weiß sofort, wen ihre Schwester meint, immerhin hat Judy die letzten Wochen nichts unversucht gelassen, um mehr über den Kerl in Erfahrung zu bringen und Robin ist die Einzige, die ihn persönlich kennt. „Enrico wird also dort sein?“, flüstert sie. Ihr Blick wandert unter den Glastisch, zu den dunklen Flecken im Teppich. Es ist sein Blut gewesen, das diese Flecken zurückgelassen hat. Susen hat seine schweren Verletzungen behandelt und ihm damit das Leben gerettet. Als Ärztin hat sie schon viele zwielichtige Typen gerettet, aber keiner war je so gutaussehend gewesen. Die eisblauen Augen und sein warmherziges Lächeln haben Judy bezaubert. Immer wieder hat sie die beiden Schwestern gefragt, wer der Kerl ist, wo er herkommt und was er so macht. Tagelang hat sie ihnen in den Ohren gelegen, aber sie haben kein Wort über ihn verloren. Lediglich seinen Namen konnte sie aufschnappen und dass er irgendwas mit ihrem Vater zu schaffen haben muss. Warum Susen und Robin so ein Geheimnis um diesen Kerl gemacht haben, versteht sie nicht, aber das hat ihr Interesse nur weiter angefacht. Langsam dreht sich Judy nach Robin um.

Die Schwester grinst über beide Ohren. „Du wolltest ihn doch unbedingt wieder sehen, oder? Nun, Vater hat seine Beziehungen spielen lassen. Er wird ein Klavierkonzert auf deinem Ball geben.“

Der Kerl spielt Klavier? Also ist er keiner von Vaters Ganovenfreunden, die in seinem Auftrag Verbrechen begehen? Ein flüchtiges Lächeln huscht Judy über die Lippen.

Robin lächelt zufrieden. „Wir putzen dich ordentlich heraus, ziehen dir einen feinen Fummel an und machen was aus deinen schönen Haaren. Wäre doch gelacht, wenn wir den Jungen nicht für dich begeistern könnten. Wenn du wirklich willst, hast du doch zehn an einer Hand.“ Robin betrachtet sie von oben bis unten. Ein schelmischer Blick schleicht sich in ihr Gesicht: „Naja, zumindest bis zum nächsten Morgen. Mal ehrlich, wie schaffst du es nach dem Schlafen älter aus zu sehen, als Susen und ich zusammen?“

Judy ballt ihre Hände zu Fäusten. Sie will gerade etwas erwidern, als sich Susen zwischen sie und Robin schiebt.

„Ich dachte wir hätten darüber gesprochen, Robin? Der Kerl ist keine gute Partie“, meint sie ärgerlich.

Robin verschränkt die Arme vor der Brust. Sie trippelt mit dem rechten Fuß auf dem Boden. „Sagt die, die mit seinem Bruder zusammen ist!“

Judy sieht von einer zur anderen. Der schmuddelige Kerl, der ständig hier herumhängt, soll der Bruder von Enrico sein? Die sehen sich gar nicht ähnlich, mal von den blonden Haaren abgesehen.

„Das ist doch wohl was ganz anderes. Er arbeitet nicht für Vater!“, beschwert Susen sich.

„Ja, aber auch nur, weil er quasi schon bei dir wohnt. Vater ist übrigens gänzlich gegen diese Verbindung!“, berichtet Robin.

„Ja? Gut so!“, entgegnet Susen und verschränkt die Arme vor der Brust.

Judy kommt die Treppe herunter. Sie mischt sich mit lauter Stimme in das Gespräch ein. „Wie kommst du eigentlich darauf, dass ich nur für einen Kerl Vater besuchen werde?“, will sie aufgebracht wissen.

Robin lächelt sie an. „Ach komm schon, du hast längst angebissen. Ich sehe es doch in deinen Augen.“ Mit dem ausgestreckten Zeigefinger fuchtelt Robin ihr vor der Nase herum.

Judy bläht ihre Backen auf, die angestaute Luft lässt sie in wütenden Worten heraus: „Nein, ich will nicht mit Vater sprechen oder ihn überhaupt sehen müssen.“

„Wer sagt denn, dass du das musst? Es ist ein Maskenball. Wenn wir es geschickt angehen, weiß er nicht mal, dass du da bist. Ich stell dich einfach als eine Freundin vor.“

Ein Maskenball also? Bis zu dieser Information hat Judy die Einladung gar nicht gelesen. Kann sie in der passenden Verkleidung den Vater wirklich überlisten? Wie es ihrem alten Herrn wohl geht? Judy hat ihn nicht mehr gesehen, seit sie mit 16 von daheim weggelaufen ist. Ob Jester wohl noch lebt? Der alte Oberbutler, der immer Kekse für sie hatte und oft wegsah, wenn sie sich nachts aus dem Haus schlich. Vielleicht ist es ja ganz lustig alle wieder zu sehen, ohne selbst erkannt zu werden. Und dann wäre da ja noch das Konzert Enricos. Judy neigt nachdenklich den Kopf.

Susen wendet sich ihr zu. „Dein Ernst? Denkst du etwa wirklich darüber nach dorthin zu gehen? Du wolltest nie mehr nach Hause zurück, schon vergessen?“

„Nein, das habe ich nicht vergessen. Ich will auch nichts mehr von dem wissen, was in Vaters Haus passiert. Ich habe genug gesehen.“ Judy legt die Stirn in Falten. Ihr Blick bekommt etwas Düsteres, als sie an ihren Traum denken muss. Doch in diese Erinnerungen mischt sich immer wieder das lächelnde Gesicht ihres Vaters, wenn sie als Kind auf seinem Schoß saß und die Arme nach ihm ausstreckte. Ihr kommen Spaziergänge in den Sinn, an seiner Hand und Schachspiele im Salon am warmen Kamin, bei dem er sie gewinnen ließ. Judy seufzt. „Nun, manchmal fehlt mir der alte Mann schon…“, sagt sie leise.

„Echt jetzt?“, fragt Susen überrascht.

„Also kommst du?“, will Robin erwartungsvoll wissen.

Judy denkt noch einen Moment darüber nach. Den Vater wieder zu sehen, zumindest aus der Ferne und zu wissen, dass es ihm gut geht, das ist schon verlockend. „Ja, ich komme vorbei, aber wenn er mich erkennt, bin ich sofort weg“, stimmt Judy zu.

„Einverstanden!“, entgegnet Robin und schlägt die Hände freudig ineinander.

~Wir~

Es pfeift durch die Spalten im Dach und dem Mauerwerk, wie ein Unheil bringender Geist. Die alten Dielen knacken, während sie sich unter der Kälte zusammenziehen. Es ist stockfinster hier, der neue Tag hat noch nicht begonnen. Durch die winzige Lucke, die als Dachfenster dient, kann ich ein paar wenige Sterne erkennen.

Starke Arme hüllen mich ein, geben mir das Gefühl von Geborgenheit. Obwohl ich nackt bin und die Decke dünn, reicht seine Körperwärme für uns beide. Ich schließe die Augen und atme seinen vertrauten Duft. Wenn es doch nur immer Nacht bleiben könnte. Ein Hauch von Müdigkeit überkommt mich und entführt mich in einen traumlosen Schlaf.

Sein warmer Atem streift meinen Nacken. „Du musst gehen!“, flüstert er.

Ich weigere mich die Augen zu öffnen, schüttle lediglich sacht den Kopf.

„Aber die Sonne geht schon auf!“, sagt er mit Nachdruck. Seine Hand wandert über meinen Oberkörper und meinen Bauch hinab.

Ein wohliger Schauer durchströmt mich. „Kann nicht sein“, antworte ich und rücke näher an ihn heran. „Da oben sind doch noch die Sterne zu sehen.“ Seine Hand nehme ich am Gelenk und führe sie in meine Mitte. Es ist sicher noch Zeit genug für eine weitere Runde.

Er gibt meinem Drängen nach und packt mir fest in den Schritt – zu fest. Ich zucke zusammen und öffne die Augen.

Durch das Dachfenster ist der Himmel in Rot und Lila gefärbt. Die schäbige Dachkammer ist in schummriges Licht getaucht, der Schrank und das Bettgestell als Schatten bereits zu erkennen.

Sein Griff wird noch fester. „Jetzt steh endlich auf!“, fordert er.

„Aber…!“, presse ich mit zusammengebissenen Zähnen heraus und versuche seine Finger von mir zu lösen.

„Nichts aber! Du hast hier nichts zu suchen. Wenn dich jemand sieht, können wir unser Testament machen. Also geh!“ Er gibt mich frei und stößt mich Richtung Bettrand.

Als ich über die Schulter zurückschaue, ist er bereits wieder in sein Kissen gesunken. Sein Gesicht wird von schulterlangen, schwarzen Haaren verdeckt, sie drehen sich an ihren Spitzen zu kleinen Locken zusammen. Ein Teil der Decke ist zurückgeschlagen und entblößt seinen muskulösen Oberkörper. Von den Brustmuskeln abwärts schlängelt sich ein feuerrotes Drachentattoo abwärts, der Schwanz der Bestie endet genau über der Wurzel seines Gliedes.

Gierig betrachte ich ihn.

Tonis grüne Augen funkeln mich zwischen den schwarzen Haaren heraus an. „Verschwinde!“, verlangt er und schlägt die Bettdecke über sich.

„Ach komm schon! Nur noch einmal!“, bitte ich.

„Nein! Ich habe dich die ganze Nacht gevögelt. Jetzt will ich wenigstens noch eine Stunde pennen, bevor ich Jester ablöse.“ Toni dreht sich auf die Seite, weg von mir.

Ich bleibe unentschlossen sitzen. Mein Blick wandert hinaus aus dem Dachfenster. Die Wolkenstreifen am Himmel sind bereits orange, immer mehr Tageslicht flutet den Raum.

Ich seufze tief. Bevor die anderen Bediensteten aufwachen, muss ich verschwunden sein. Immerhin gibt es keine vernünftige Erklärung, für meine Anwesenheit hier. „Na schön, du hast gewonnen. Dafür nerve ich dich nachher, wenn du Wache schieben musst.“ Zum Schlafen komme ich nach diesem Anblick sowieso nicht mehr.

Aus seiner Richtung kommt nur ein leises Schnarchen.

Habe ich ihm heute Nacht wirklich zu viel abverlangt? Der Gedanke lässt mich schmunzeln, zumindest bis ich es geschafft habe aufzustehen. Der Schließmuskel meines Hinterns schmerzt bei jedem Schritt. „Verdammt…“, murmle ich, während ich darüber nachdenke, ob der Schmerz die Sache wirklich wert war. Vorsichtig bücke ich mich nach meinen Klamotten, sie sind auf dem ganzen Boden verteilt.

Sein Blick folgt mir, ich kann es förmlich spüren. Als ich zum Bett zurückschaue, stützt er den Kopf mit der Hand. Ein breites Grinsen hebt seine Mundwinkel, während er mir auf den Hintern starrt. „Na, willst du wirklich noch mal?“, fragt er spöttisch.

Ich schaue grimmig und werfe ihm mein Hemd ins Gesicht. „Klappe!“, schnauze ich ihn an.

Er nimmt das Kleidungsstück mit unter die Decke und schließt es wie ein Stofftier in seine Arme ein. „Das kannst du da lassen“, sagt er und vergräbt die Nase darin. Leise fügt er hinzu: „Es riecht nach dir…“

Ich stemme die Arme in die Seiten und ziehe einen Schmollmund. „Du spinnst wohl! Wenn ich hier halb nackt rauskomme, sind wir geliefert.“

Er zuckt mit den Schultern und dreht mir den Rücken zu. „Nicht mein Problem!“, entgegnet er herausfordernd.

Dieser Idiot!

Der Himmel wird langsam blau, die ersten Sonnenstrahlen werfen ein Lichtviereck auf den Boden. In den Kammern nebenan sind Schritte zu hören. Verdammt, ich muss mich beeilen! Hastig ziehe ich mir meine Unterhose und Hose an, dann laufe ich zum Bett. Mit den Knien voran stemme ich mich in die Matratze und beuge mich über ihn. „Jetzt gib es schon her!“, verlange ich aufgebracht und zerre an einem der Ärmel.

Toni sieht über die Schulter und grinst verschlagen. Das Hemd wirft er mir um den Nacken und zieht mich damit zu sich. Seine Lippen legt er auf meine.

Ich schließe die Augen und erwidere seinen Kuss. Einen Moment lang - einen kurzen - ist meine Welt in Ordnung.

Doch viel zu schnell löst er sich von mir. Eindringlich betrachtet er mich, als er mich erinnert: „Du musst jetzt wirklich gehen!“

Ich öffne die Augen. „Ich weiß“, seufze ich und klettere vom Bett. Auf dem Weg zur Tür ziehe ich mir das Hemd an. Als ich die Klinke erreiche, bin ich soweit wieder hergerichtet, das ich den Rest mit Verschlafenheit tarnen kann.

„Enrico!“, ruft er mir vom Bett aus zu.

Ich schaue zurück.

„Versuch auch mal ein paar Stunden zu schlafen! Möglichst morgen Nacht, damit ich mal pennen kann.“

Bitter lächle ich. „Ja, klar, wenn es unbedingt sein muss.“ Meinen Blick wende ich von ihm ab. Leise, fast tonlos füge ich an: „War ja sowieso die letzte Nacht…“

Vorsichtig öffne ich die Tür und spähe in den langen Flur.

Die Wände sind kahl und nur dürftig verputzt, an einigen Stellen ist der blanke Ziegel zu sehen. Spinnweben hängen wie Gardinen von der Decke und spannen sich in den Ecken. Der Boden ist staubig und die Holzdielen alt und morsch.

Niemand ist hier, die Türen der anderen Dachkammern sind verschlossen. Nur hin und wieder sind Schritte dahinter zu hören, jemand räuspert sich, ein anderer hustet.

Ich trete hinaus und schließe die Tür leise. Immer wieder lausche ich, doch es bleibt still. Auf Zehenspitzen laufe ich weiter. Bei jedem Schritt verlagere ich gerade so viel wie nötig Gewicht auf die knarrenden Dielen.

Endlich habe ich das Ende des Flurs erreicht. Eine Steintreppe führt nach unten, zu einer schmucklosen Holztür. Von hier an werde ich rennen können. Leichtfüßig steige ich nach unten. Wenn ich es erst durch die Tür geschafft habe und davor noch kein Personal unterwegs ist, dann ist alles gut gegangen.

Über mir ist Gepolter zu hören, Schritte und Fluchen. Eine Tür wird geöffnet.

Ich überspringe die letzten zwei Stufen und drehe den Knauf der schmucklosen Tür.

Helles Tageslicht kommt mir entgegen. Ich muss blinzeln und kann doch nichts erkennen. Trotzdem trete ich rasch hinaus und schließe die Tür nach mir. Eine Hand lege ich über die Augen, so ist es besser.

Nur langsam gewöhne ich mich an die neuen Lichtverhältnisse. Auf den Stufen hinter der Tür sind bereits Schritte zu hören.

Ich sehe mich um.

Ganz allein stehe ich in dem langen Flur, der von zwei großen Fenstern erhellt wird. Der Boden ist mit weichem Teppich ausgeschlagen. Edle Tapeten zieren die Wände. Bilder und Gewehre hängen überall dazwischen. Ein Dutzend Türen gehen von hier aus ab. In der Ferne ist die erste Stufe der Treppe ins Erdgeschoss zu sehen.

Wohin jetzt am besten?

Die Bibliothek ist am nächsten, also eile ich dorthin.

In dem Moment öffnet sich die Tür zum Dachboden.

Ich gehe langsamer, tue so, als wenn ich eben aus meinem Zimmer gekommen und ganz zufällig hier unterwegs wäre. Wie beiläufig schaue ich zurück.

Eine der Küchenmägde tritt in den Flur. Sie gähnt ausgiebig und streckt sich. Als sich unsere Blicke treffen, nimmt sie Haltung an. Ihr Körper wird stocksteif, sie faltet die Hände und beugt den Oberkörper. „Guten Morgen, junger Herr!“, stammelt sie.

Ich nicke und flüchte in die Bibliothek. Die Tür werfe ich nach mir zu und lehne mich mit dem Rücken an das schwere Nussbaumholz. Meine rechte Hand lege ich mir an das hämmernde Herz. „Verdammt, das war echt knapp“, murmle ich.

Mein Blick wandert durch die endlosen Regalreihen, die bis unter die Decke mit Büchern gefüllt sind. Ob Aaron die alle gelesen hat? Der Hausherr hat eine übertriebene Sammelleidenschaft. Die Wände voller Waffen und Kunstwerke und hier überall diese alten Schinken. Ich passe so gar nicht in diese Welt, in diesen feinen Zwirn auf meiner Haut und diesem zu viel von allem. Warum nur hat der Pate einen solchen Narren an mir gefressen, dass er selbst seine Tochter mit mir verheiraten will?

Mein Blick wird von einem schwarzen Flügel eingefangen. Da ist sie wieder, diese verdammte Realität, vor der ich heute Nacht zu flüchten versucht habe.

Langsamen Schrittes gehe ich auf den Hocker zu, der zum Sitzen einlädt. Im Vorbeigehen streiche ich über den blank polierten Flügel, bis ich bei den Tasten des Musikinstrumentes ankomme. Schwer wie ein nasser Sack, lasse ich mich auf den Hocker fallen.

Ich lerne das Klavierspielen gerade mal seit ein paar Wochen, wie soll ich da ein ganzes Konzert spielen und dann auch noch vor ein paar Dutzend reicher Schnösel? Die Notenblätter schauen mich mahnend an. Ich habe viel zu wenig geübt, doch diese klassische Musik macht einfach keinen Spaß. Da bricht man sich die Finger. Ganz besonders dieser verdammte Mittelteil, den werde ich nie hinbekommen, dabei erwartet Aaron eine fehlerfreie Darbietung.

Ich lege meine Finger auf die Tasten und spiele die Stelle, es klingt so schief wie immer. „Verdammte alte Künstler“, murre ich und schlage das Notenbuch zu.

Toni hat mir geraten, meine eigene Musik zu spielen, doch das wird Aaron mit Sicherheit auf die Palme bringen. Ich sehe den alten Mann schon vor mir, wie er tobt und schreit und mir den Tod androht - wie er es schon so oft getan hat. Und? Ich lebe immer noch!

Meine Finger beginnen über die Tasten zu tanzen, den Körper wiege ich im Takt der Melodie. So sollte Musik klingen: Lebendig, laut und immer wieder anders, angefüllt mit den Emotionen dieses Momentes. Voller Hass, voller Wut und Freude und so unfassbar traurig.

Ich will diese Judy nicht heiraten! Ich will nicht in den Schoß dieser Familie! Wenn die Stadt da draußen nicht voller Mörder wäre, die nur auf einen Fehler von mir warten, ich hätte mit Toni längst das Weite gesucht. Scheiß auf Geld und Ansehen und wenn wir uns wieder aus Mülltonen ernähren müssten - alles ist besser als das hier!

~Frauengespräche~

„Nicht dein Ernst, oder? Da kann ich ja gleich nackt gehen!“ Judy betrachtet das trägerlose, schwarze Kleid, sie hält es an ihren Körper. Es ist so kurz, dass es kaum ihren Intimbereich bedeckt. „Hast du nicht was Längeres?“, will sie von Robin wissen.

„Ich dachte du willst ihm gefallen?“, fragt Robin und kramt in ihrem großen Kleiderschrank.

„Ja schon, aber er soll nicht glauben, dass ich leicht zu haben bin.“ Das Kleid lässt Judy sinken und betrachtet sich im Spiegel. Nur in BH und Unterhose dreht sie ihren Körper, um ihn von allen Seiten ansehen zu können. „Das hier, muss er sich schon verdienen.“ Judy ist ganz zufrieden mit ihrer Figur, schlank, flacher Bauch, runde Brüste. Sie braucht eigentlich keinen BH, die Mädels stehen auch ohne, aber sie hat ja Anstand, ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester.

Robin nimmt den Kopf aus dem Schrank, von oben herab betrachtet sie Judy. „Ja klar, du hast ihn das letzte Mal, als wir bei Susen waren, doch schon mit den Augen ausgezogen.“

Judy stampft auf und füllt ihre Wangen mit Luft. „Gar nicht wahr!“, schimpft sie.

Robin schenkt ihr ein flüchtiges Lächeln, dann verschwindet sie wieder hinter der Schranktür. „Was ist eigentlich mit diesem Sam? Läuft da noch was zwischen euch?“, fragt sie.

Judy wendet sich vom Spiegel ab, sie wirft das kurze Kleid über die Schranktür. „Wenn es nach ihm geht, schon“, antwortet sie.

„Und, geht es nach ihm?“, fragt Robin.

Judy seufzt und versucht die Probleme, die sie mit Sam hat, bei Seite zu schieben. „Er ist gut zu mir…“, sagt sie leise.

Ihre Schwester wird fündig, sie zieht ein langes, weißes Kleid aus dem Schrank. Der Stoff fließt wie Seide an dem Bügel herab, der es hält, Blumenspitze ist darin verarbeitet. „Aha? Ist das schon alles? Er ist nur gut zu dir?“, fragt Robin und hält ihr das Kleid hin.

„Er hat vor einer Woche um meine Hand angehalten“, erwidert Judy kühl.

Robins Gesicht verliert an Farbe, ihr Atem setzt aus, den Mund öffnet sie für eine stumme Frage.

Judy schmunzelt amüsiert. „Ich habe noch nicht ja gesagt.“

„Willst du den wirklich heiraten?“, fragt Robin nach Luft schnappend.

Judy nimmt ihr das Kleid ab und betrachtet es besonders lange, sie legt es sich über den Arm. Erstaunlich das ihre Schwester auch was Hübsches zwischen dem ganzen nuttigen Schund hängen hat. „Ich kenne ihn schon seit wir Kinder waren. Als ich von zu Hause weg bin, hat er zu mir gehalten und bis jetzt auf mich aufgepasst.“ Sanft streichelt Judy den weichen Stoff des Kleides und versucht sich dabei nur an die schönen Momente mit Sam zu erinnern.

„Was du da beschreibst, klingt nach einem Hund, nicht nach einem Mann“, kommentiert ihre Schwester.

Das trifft es ganz gut, Judy lächelt bitter. Was immer sie verlangt, Sam tut es für sie, ohne Fragen zu stellen. Wenn sie beim Vorbeigehen im Schaufenster eines Geschäftes etwas entdeckt, bringt er es spätestens am nächsten Tag in einer Geschenkpackung mit. Jetzt wo Sam seine Ausbildung beendet hat und in einem großen Kontor arbeitet, reicht sein Geld auch aus, ihnen ein Haus zu bauen und sie beide zu ernähren.

Robins Hand berührt sie am Kinn, sie hebt ihr Gesicht, bis Judy sie ansehen muss. „Liebst du ihn?“, will sie wissen.

Judy schweigt. Liebe ist so ein großes Wort. Sie schätzt was er tut und findet es im selben Moment auch zum Sterben langweilig. Wieder schweigt sie.

Robin sieht ihr noch einen Moment lang tief in die Augen, dann sagt sie feststellen: „Also nicht!“ Sie wendet sich wieder dem Schrank zu. „Sag mal, war das nicht auch der, der schon vom bloßen draufsetzen gekommen ist?“, fragt sie abschätzig.

Judy läuft feuerrot an. Sofort schimpft sie: „Man, das habe ich dir im Vertrauen gesagt!“

„Ja, und? Hier sind doch nur wir beide.“

Trotzdem ist es Judy peinlich darüber zu sprechen. Solche Dinge flüstert man höchstens, es laut aus zu sprechen ist unanständig. Susen würde sofort die Nase rümpfen und sie dafür tadeln. Mit der großen Schwester kann sie solche Themen nicht mal andeuten, ohne gemaßregelt zu werden. Doch Robin hat Recht. In ihrer Villa sind sie unter sich und schon lange brennt Judy dieses Thema auf dem Herzen. „Ist das eigentlich normal bei Männern?“, fragt sie vorsichtig und setzt sich auf das große Ehebett in der Mitte des Raumes, das Kleid faltet sie in ihrem Schoß.

Robin schließt die Schranktüren, in ihrem Blick liegt etwas Verschlagenes.

Judy scheut sich ihr in die Augen zu sehen. Mit dem großen Zeh zieht sie kleine Kreise auf dem Boden.

Die Schwester nimmt sich eine Bürste vom Schminktisch und setzt sich hinter sie. Langsam beginnt sie Judys lange Haare zu kämmen. „Mit Susen kann man nicht gut über solche Dinge reden, oder?“, fragt sie.

„Nicht wirklich…“, antwortet Judy seufzend und beobachtet ihren Zeh beim Kreise drehen.

„Nicht alle Männer sind so leicht zufrieden zu stellen. Normalerweise halten sie länger durch“, erklärt Robin.

Das erleichtert Judy. Bisher war Sam der einzige Mann, mit dem sie intim war. Beinah hat sie angenommen, dass es eben so sein muss.

„Wenn mit seinem Penis schon nichts anzufangen ist, kümmert er sich dann sonst wenigstens um dich?“, fragt Robin geheimnisvoll.

Judy spürt die Hitze in ihren Wangen pulsieren. Das ist wahrlich kein schickliches Thema, für Mädchen aus gutem Hause, wie sie beide. Doch Robins Andeutung, dass es da noch mehr geben muss, macht sie neugierig. „Wie meinst du das?“, fragt sie.

„Naja, läuft da noch was, nachdem er fertig ist?“

Es gibt also wirklich noch mehr? „Nein, er will sich immer gleich waschen gehen oder er pennt ein.“

„Legst du dann wenigstens selbst Hand an?“

„An mir?“, fragt Judy entrüstet.

„Ja!“

„Natürlich nicht!“ So weit kommt es noch! Brave Mädchen tun so etwas nicht, behauptet Susen zumindest.

„Ach Kleines, du verpasst ja so viel“, sagt Robin lachend.

Judy zieht einen Schmollmund, sie wippt mit den Beinen. „Na du musst es ja wissen!“, entgegnet Judy brummend.

Robin hatte so viele Männer, Judy hat längst aufgehört mitzuzählen. Kein Wunder das sie keiner heiraten will. Obwohl sie bereits 27 Jahre alt ist, hat Judy noch vor ihr einen Antrag bekommen. Selbst Susen hatte mehr ernsthafte Beziehungen.

„Ja eben drum! Ich weiß wovon ich rede“, versichert Robin ihr.

„Ach was, so was Besonderes ist Sex nun auch wieder nicht“, erwidert Judy und spürt dabei den fragenden Blick der Schwester im Nacken.

„Hattest du überhaupt schon mal einen Orgasmus?“, will Robin wissen.

„Einen was?“

„Ich meine dieses Glücksgefühl, wenn ein Mann richtig zärtlich zu dir ist...“ Robin schweigt kurz und zuckt mit den Schultern. „… naja, oder wenn du es eben zu dir selbst bist.“

Angestrengt lässt Judy die wenigen intimen Momente mit Sam an sich vorüberziehen. Meistens war es ja schon vorbei, bevor sie ihn wirklich gespürt hat. Da war eigentlich nur dieses eklige heiße Zeug in ihr, dass ihr wenig später die Beine runter gelaufen ist. Wie ein Glücksgefühl kam ihr das nicht vor. „Keine Ahnung, wovon du sprichst“, entgegnet sie und lässt ihre Beine knapp über dem Boden baumeln.

„Du bist ja noch viel ärmer dran, als ich dachte.“

„Hör auf dich über mich lustig zu machen!“ Judy nimmt sich eines der Kissen und schlägt nach der Schwester.

Robin lacht vergnügt und wehrt das Kissen mit den Händen ab. Dass sie dabei noch Freude zu empfinden scheint, macht Judy noch wütender. Aufgebracht sagt sie: „Als wenn deine Typen so viel besser wären!“

Robins Gesichtszüge werden ernst.

Das lässt Judy inne halten.

„Der Letzte, den ich hatte, der war zwar noch sehr jung, aber echt gut. Vielleicht sogar etwas zu gut. Ich war danach echt fertig. Besonders mein Hintern tat voll weh.“

Hintern? Hat sie sich etwa da…? Judy schüttelt es bei dem Gedanken. „Bäh du bist so ekelhaft!“, sagt sie angewidert und dreht sich von ihrer Schwester weg. Warum muss Robin immer gleich so pervers werden? Können sie nicht mal normal über diese Dinge sprechen? Was muss ihre Schwester auch einen so unerhört schmutzigen Charakter haben?

Doch Robin denkt gar nicht daran aufzuhören. „Und lecken konnte er – wie ein Gott“, schwärmt sie und lacht dabei.

Judy will sich gar nicht ausmalen woran der Kerl geleckt hat. Mit dem Kissen schlägt sie nach der Schwester, das Kleid fällt ihr dabei von den Oberschenkeln. „Du bist so versaut! Ehrlich! Kein Wunder das es kein Mann lange mit dir aushält.“

Robins Lachen erstirbt, sie wehrt sich nicht mal gegen das Kissen. Stumm fällt sie rückwärts aufs Bett und starrt an die Decke. Ihre Augen bekommen einen gläsernen Glanz.

Judy hält inne. Augenblicklich tut ihr leid, was sie gesagt hat. „Robin? Sorry ich wollte nicht… ich…“, stammelt sie.

Robin setzt sich auf, sie fährt sich mit dem Handrücken übers Gesicht und wischt sich die Tränen weg. Ihre Stimme ist wehmütig, als sie leise sagt: „Du kannst echt froh sein, wenn das mit Enrico klappt. Er ist etwas Besonderes.“

Judy schaut misstrauisch. Warum sagt sie das denn so seltsam. „Hattest du etwa was mit ihm?“ Die beiden trennen mindestens zehn Jahre, doch zuzutrauen wäre es ihrer Schwester.

Robin wird ganz ernst. „Nein!“, sagt sie bestimmt, „Ich kenne ihn einfach nur sehr gut. Im letzten Jahr habe ich ziemlich viel Mist mit ihm erlebt.“ Robin unterbricht sich einen Moment lang. „Mhm wobei…“ Auf ihren Lippen wächst ein spöttisches Lächeln. „… er kann genauso nervig sein wie du. Vielleicht verdient ihr ja einander.“

Das klingt alles ziemlich merkwürdig für Judys Ohren. Seit Wochen versucht sie etwas über den Kerl herauszufinden, da sagt Robin keinen Ton und nun will sie sie auf einmal verkuppeln. Irgendwas stimmt doch da nicht. „Robin, mal Hand aufs Herz. Was hat es mit deinem Sinneswandel auf sich? Erst willst du nicht über ihn sprechen und jetzt klingst du schon so, als wenn ich den Typen mal heiraten werde. Da ist doch was faul“, vermutet Judy.

Robin sieht peinlich berührt weg, sie steht auf und geht zum Schminktisch. Mit der Bürste kämmt sie ihr Haar.

Das hat sie schon immer gemacht, wenn sie etwas verbergen wollte. Judy steht ebenfalls auf und tritt hinter sie. Ihre Arme stemmt sie rechts und links in die Seiten und fragt geradeheraus: „Hat Vater was damit zu tun?“

Robin atmet hörbar aus, das ist Judy Antwort genug.

„Was hat er denn bitte davon, wenn ich mit dem Kerl zusammenkomme?“, will Judy wissen.

Robin seufzt. Sie legt die Bürste weg und dreht sich um. Ihr Blick ist aufrichtig, als sie sagt: „Er hält ihn eben für eine gute Partie.“

„Es ist unfassbar! Ich bin nicht von daheim abgehauen, um zu tun, was Vater will. Und ganz bestimmt werde ich niemanden heiraten, den er ausgesucht hat!“

„Aber du hast doch die ganze Zeit gebettelt Enrico zu treffen. Wo ist dann jetzt das Problem?“

„Ja, ich finde ihn interessant, das heißt aber noch lange nicht, dass ich was mit ihm anfangen will. Ich bin mit Sam verlobt!“ Demonstrativ hebt Judy ihre linke Hand, an der ein Ring mit einem Diamanten in der Mitte sitzt.

Robin legt den Kopf schief. „Du hast doch noch nicht mal zugestimmt ihn zu heiraten“, erinnert sie Judy.

„Na und? Deswegen fange ich doch nicht gleich was mit einem Anderen an. Wie kommst du überhaupt dazu die Kupplerin für uns zu spielen?“

Robin erhebt sich, sie drängt sich an Judy vorbei. „Hey, ich habe mir das auch nicht ausgesucht. Vater hat mich darum gebeten, ihn dir vorzustellen“, erklärt Robin.

„Oh Mann Robin! Hör doch endlich mal auf, Vater aufs Wort zu gehorchen! Nach allem was passiert ist, hat er deine Treue nicht verdient. Er ist ein elender Mörder!“

Robin zieht die Augenbrauen tief ins Gesicht, Wut flammt in ihren Augen. „Ich gehorche ihm nicht aufs Wort, ich tue, was ich für das Richtige halte. Auch wenn ich inzwischen ausgezogen bin, besuche ich ihn wenigstens regelmäßig und habe ein warmes Wort für ihn übrig. Er war immer gut zu uns, hat uns geliebt, hat uns beschütz. Auch Susens Praxis unterstützt er jeden Monat mit einer großzügigen Spende, weil so wenige sich von einer Frau behandeln lassen wollen. Er hat euren Hass nicht verdient. Das Mutter umgebracht wurde, ist nicht seine Schuld. Glaubst du denn er macht sich deswegen nicht selbst genug Vorwürfe? Es tut mir im Herzen weh zu sehen, wie er jeden Tag einsam in diesem riesigen Anwesen sitzt und seine Töchter vermisst. Der Mann zerbricht daran, auch noch euch beide verloren zu haben, aber was kümmert es euch? Ich habe zugestimmt, weil ich es auch für eine gute Idee hielt. Ich will dass du nach Hause kommst, das wir endlich wieder eine richtige Familie sind. Seit Mutters Tod ist alles auseinandergebrochen. Und egal wie sehr ihr ihn verachtet, ich liebe ihn, okay? Ich werde auch weiter alles versuchen, dass wir wieder an einem Tisch sitzen können, so wie früher!“ Ein Meer aus Tränen flutet Robins erzürntes Gesicht.

So aufgelöst hat Judy sie noch nie erlebt. Sie ist doch immer so taff und unnahbar. Dass ihr der Vater so viel bedeutet, das hat Judy nicht gewusst. Sie macht einen Schritt auf die Schwester zu und schließt sie in eine Umarmung ein. „Ich werde heute Abend mitkommen“, verspricht sie, „Um ehrlich zu sein, ein bisschen fehlt Vater mir auch.“

~Männergespräche~

Die Tür der Bibliothek öffnet sich. Ein alter Herr, mit am Ansatz ergrautem Haar, tritt ein. Er trägt einen teuren Anzug und in der Hand ein Glas mit Whisky.

Ich ignoriere Aaron und spiele unbeirrt weiter.

Er geht zu einer, mit weißem Stoff bezogenen Bank und setzt sich. Das Glas schwenkt er in der Hand, er trinkt einen Schluck. „Das ist nicht das Stück, das du üben sollst“, stellt er nach Strenge ringend fest.

Dieser Beethoven und Mozart-Mist kommt mir schon zu den Ohren raus. Ich kann es nicht mehr hören, doch mit Aaron darüber zu diskutieren habe ich aufgegeben. Seit kurzen fahre ich auf dem Gebiet eine neue Taktik: Ich schweige beharrlich.

Aaron lehnt sich zurück, er schließt die Augen. Seine Gesichtszüge entspannen sich. So schlimm kann meine Musik also gar nicht sein.

„Es ist schon verrückt, wie schnell du dich mit dem Instrument vertraut gemacht hast. Ich habe deutlich länger dafür gebraucht“, berichtet er.

Wieder schweige ich.

„Ich hoffe heute Abend bist du gesprächiger. Es wird viele Menschen geben, die dich kennenlernen wollen.“

Eigentlich meint er doch nur einen Menschen, dem ich näher kommen soll. Ich atme schwer und nehme die Hände von den Tasten.

Aaron öffnet die Augen.

„Was ist, wenn sie mich nicht leiden kann?“, frage ich gerade heraus. Noch immer habe ich die Hoffnung, Judy könnte mich nicht wollen und ich würde um die geplante Hochzeit herum kommen. Aaron legt den Kopf schief, eine tiefe Falte furcht seine Stirn. „Du wirst selbstverständlich sehr charmant sein, zuvorkommend und einfühlsam. Du wirst ihr keinen Grund geben, dich nicht zu mögen!“ Seine Worte gleichen einem Befehl.

Ich rolle mit den Augen. Meine Aufmerksamkeit wandert durch den Raum, sie bleibt an einem Bild auf dem Sekretär hängen, der neben der Bank steht. Es zeigt zwei junge Frauen in deren Mitte ein Mädchen steht, das einen weißen Sommerhut trägt. Sie lächelt schüchtern in die Kamera.

„Wie ist sie überhaupt so?“ Bisher habe ich noch kein Wort mit ihr gewechselt. Die kurzen Momente, in denen ich sie bei Susen gesehen haben, waren keine Hilfe, mir ein Bild von ihrem Charakter zu machen. Hätte ich geahnt, dass ich sie mal heiraten soll, hätte ich mich mit ihr unterhalten.

Aarons Stirn bekommt eine zusätzliche Falte. Er nimmt einen Schluck Whisky. „Sie ist ein gutes Kind“, sagt er wenig überzeugend, „Sehr lebhaft, aber auch stur. Was sie sich in den Kopf setzt, das zieht sie durch.“ Aarons schwenkt die Flüssigkeit mit großer Aufmerksamkeit. „Schon ganze drei Jahre lang…“, fügt er leiser an.

Das klingt doch nicht verkehrt. Eine Frau, die weiß was sie will. Aarons angespannter Haltung nach zu urteilen, sieht er das anders.

„Machst du dir Sorgen um sie?“, frage ich.

Aaron atmet hörbar aus, sein Blick verliert sich zwischen den Regalreihen. Er braucht einen Moment, bis er antwortet: „Sie wohnt ja zum Glück bei Susen und nicht auf der Straße. Aber ich sähe es lieber, sie würde in den Schutz des Anwesens zurückkehren. Außerdem habe ich etwas gegen den Mann, mit dem sie durchgebrannt ist.“ Seine buschigen Brauen wandern tief in seine Gesichtsmitte, die dunkelbraunen Augen richten sich auf mich. „Und genau da kommst du ins Spiel!“

Mir schnürt sich die Kehle zu. Warum ausgerechnet ich? „Und wenn sie den Kerl liebt?“, halte ich dagegen.

Aaron wendet sich ab, er schmatzt abfällig. „Er war nur Mittel zum Zweck, da bin ich mir sicher. So schlecht kann der Geschmack meiner Tochter nicht sein“, entgegnet er abfällig.

„Wer ist der Kerl überhaupt?“ Wenn ich es hinbekomme, dass er Aaron von sich überzeugen kann, bin ich vielleicht aus dem Schneider.

„Ein armer Schlucker aus der Vorstadt, der meint sich in der Geschäftswelt einen Namen machen zu können.“

„Aaron, ich bin auch nur ein Straßenkind!“ Was sich in meiner Geldbörse befindet, stammt aus Diebstählen und Einbrüchen.

Der alte Herr richtet seine Augen wieder auf mich. Ein unheimliches Lächeln ziert seine Lippen, als er sagt: „Aber nicht doch Enrico. Du bist auf dem besten Wege ein Capo zu werden. Du hast selbst vor Diego, Vincent und Giovanni bestanden. Mein lieber Junge, stelle dein Licht nicht immer so unter den Scheffel.“ Er erhebt sein Glas auf mich.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich geschmeichelt fühlen soll, oder ob er mich nur aufzieht. Die anderen drei Capos haben doch überhaupt keine hohe Meinung von mir. Diego muss die Fabrik mit mir teilen und kotzt deswegen ab, Giovanni hält mich für einen unbedeutenden Grünschnabel, er ignoriert mich und Vincent, der sieht mich lieber tot als lebendig, weil ich mich dagegen gewehrt habe, sein Lustknabe zu werden.

„Ich hoffe du weißt, was es für eine große Ehre ist, dass ich dir meine Jüngste anvertraue“, verkündet Aaron.

Ich spüre seinen durchdringenden Blick auf mir. Wie eine Ehre, fühlt es sich gar nicht an. „Wie man es nimmt …“, murmle ich und wende mich ab.

„Wie war das?“, fragt er harsch.

„Ja, klar! Eine Fremde heiraten, war schon immer ein Herzenswunsch von mir“, erwidere ich leise. Den Sarkasmus kann ich nicht aus meinen Worten verbannen. In der Hoffnung die Unterhaltung damit zu beenden, spiele ich eine unheilvoll klingende Melodie.

Aaron nimmt das Bild vom Sekretär, das Whiskyglas stellt er an seine Stelle. Mit der freien Hand fährt er über Judys Gesicht. „Ich weiß gar nicht, was dich stört. Das Mädchen ist schön, wie ihre Mutter.“ Seine Augen bekommen einen gläsernen Glanz, doch nur für einen kurzen Moment. Als er zu mir schaut, wandern seine Brauen tief in die Gesichtsmitte: „Du solltest dich glücklich schätzen!“

Glücklich? Wirklich? Ich unterbreche das Klavierspiel und sehen in stur an: „Warum ausgerechnet sie Aaron? Du hast drei Töchter. Hätte ich nicht wenigstens aus den Dreien wählen können?“ Robin wäre mir lieber. Sie weiß um mich und Toni und hilft uns dieses Geheimnis zu bewahren. Mit ihr wäre alles viel einfacher. Selbst mit ihr zu schlafen ist irgendwie geil gewesen.

Aaron legt den Kopf schief, sein Blick durchbohrt mich. „Was willst du damit sagen, Enrico?“, fragt er ernst.

Verdammt, ich habe zu viel verraten. Wenn er erfährt, dass ich was mit Robin hatte, wird ihn das mit Sicherheit auf die Palme bringen. Ich schweige und drehe mich zum Klavier.

„Enrico!“, schnauzt er drohend.

„Ich mein ja nur. Robin ist auch eine tolle Frau“, entgegne ich kleinlaut.

„Das mag sein. Aber sie ist zehn Jahre älter als du!“

Spielt keine Rolle, sie sieht trotzdem umwerfend gut aus. Ihr nackter Körper taucht vor meinem inneren Auge auf. Meine Wangen werden warm.

Auf Aarons Lippen bildet sich ein spöttisches Lächeln. „Außerdem wage ich doch stark zu bezweifeln, dass sie Interesse an einem Jungspund wie dir hat.“

Spannend, jetzt bin ich wieder nur ein Jungspund? „Ja, genau“, sage ich und schmunzle bei dem Gedanken an die Nacht mit ihr.

„Glaube mir, Robins Talent verschwende ich bestimmt nicht an irgendeinen Mann. Dafür ist sie zu wertvoll!“

„Also darf sie nie heiraten?“, frage ich überrascht.

„Der Mann, der für sie gut genug wäre, der muss erst noch geboren werden.“

Ich muss wieder schmunzeln. Ja der Mann oder die Frau, Robin ist da nicht so wählerisch. Die Partys in ihrer Villa kommen mir in den Sinn. Der einzige Ort an dem Toni und ich mal sein können, wie wir sind. Wenn ich Robin das nächste Mal sehe, muss ich sie unbedingt danach fragen, wann die nächste stattfindet.

„Enrico, mal unter uns…“, sagt Aaron. Er tauscht das Bild gegen das Whiskyglas.

Mir graut bei seiner tiefen Stimmlage. „Ja?“, frage ich vorsichtig.

„Die Gerüchte, die Erik streut, sind die wahr?“

„Das ich in seinem Bordel war?“, frage ich und versuche unschuldig zu klingen.

„Ja!“

„Ich bin keine Jungfrau mehr, falls du das wissen wolltest.“

„Ich finde es ja gut, dass du Erfahrungen sammelst, aber wenn das mit meiner Tochter was wird und man dich noch mal in so einem Etablissement erwischt, drehe ich dir den Hals eigenhändig um. Ich habe meine Augen und Ohren überall, wie du weißt.“

„Bei allem Respekt Aaron. Noch bin ich nicht mit ihr ausgegangen, oder gar verheiratet. Mit wem ich in die Kiste steige, geht dich nun wirklich nichts an.“

Aaron holt Luft, um etwas zu erwidern, als es an der Tür klopft. Die Klinke bewegt sich. Jester, sein Butler tritt ein. „Das Frühstück ist jetzt angerichtet“, erklärt er.

Aaron erhebt sich.

Ich schlage das Notenbuch auf, die ersten Noten spielend, sage ich: „Ich muss noch üben!“

„Netter Versuch. Los, Abmarsch!“

Ich stöhne und erhebe mich. Essen, noch so ein Thema auf das ich verzichten kann. Ob noch Platz in der hinteren linken Palme ist? Sicher nicht, mein Abendessen wird sie noch nicht verdaut haben. Ich muss dringend durchsetzen, dass die Wachhunde ins Haus dürfen.

Langsamen Schrittes folge ich Aaron nach nebenan. Auf einem langen Tafeltisch sind etliche Speisen aufgetischt. Obst, Brot und Brötchen, Marmeladen, Honig, Wurst und Käse. An den beiden Stirnseiten ist Besteck und Geschirr hergerichtet. Aus den Tassen dampft es, der Duft von Kaffee und Tee liegt in der Luft.

Mir wird schlecht. Ich brauche all meine Beherrschung, mir nichts anmerken zu lassen und zu meinem Platz zu gehen. Am Fenster neben meinem Stuhl steht Toni. Er schaut hinaus in den Garten. Die Arme hat er hinter dem Rück verschränkt. Der schwarze Anzug schmeichelt seiner Figur.

Ich sehe weg und setze mich. Aaron geht auf den Stuhl am anderen Ende des Tisches zu, als der Butler herein kommt.

„Master, ein Telefonat!“, sagt er.

Aaron hält inne, er runzelt die Stirn. „Um diese Uhrzeit?“

„Es scheint dringend zu sein.“

Der alte Herr verlässt den Raum.

Ich atme auf. Wenn er nicht da ist, fühle ich die Last seiner Erwartungen nicht mehr so deutlich auf meinen Schultern. Doch Hunger habe ich trotzdem nicht. Lustlos betrachte ich das Spiegelei und den gebratenen Speck auf meinem Teller. Ich zersteche das Eigelb und sehe dabei zu, wie es auf dem Teller zerfließt. Wenn Toni nicht hier wäre, könnte ich das Frühstück aus dem Fenster werfen. Scotch und Brandy würden sich sicher freuen. Ich stütze den Kopf mit der Hand und seufze.

„Du siehst heute noch genervter aus als sonst. Ist was passiert?“, will Toni wissen.

Eigentlich ist es uns gar nicht erlaubt miteinander zu reden, doch wir sind ja allein, also antworte ich: „Ja! Wenn ich je eine von Aarons Töchter heiraten muss, häng ich mich auf. Mit ihm als Schwiegervater brauche ich keine Drachen mehr als Feinde.“

„So schlimm?“

„Du machst dir kein Bild! Der alte Mann kann einem den ganzen Morgen versauen.“

Toni schmunzelt. „Dann vergiss den Morgen und denke an vergangene Nacht“, schlägt er vor.

Seine Worte entlocken mir ein Lächeln.

~Das Konzert~

Majestätisch erhebt sich das Anwesen vor Judy. Zwei Stockwerke hoch, mit einem großen Balkon in der Mitte, rechts und links zwei Türme mit spitzem Dach.

Judy atmet tief durch, sie greift nach der Maske. Obwohl sie nicht verrutscht ist, fühlt sie sich nicht sicher hinter ihr. Die Hunde im Zwinger haben sie längst erkannt. Aufgeregt laufen sie hinter den Gitterstäben auf und ab und wimmern kläglich.

Die erste Stufe der Steintreppe hat Judy betreten, zu mehr fühlt sie sich nicht in der Lage. Der Vater wird sie ganz sicher erkennen. Als wenn er glauben wird, dass sie nur eine Freundin von Robin ist. Es ist ein Fehler gewesen hier her zu kommen.

Die Schwester steht hinter ihr, ihre Hand liegt auf Judys Schulter. „Nur keine Sorge. Ich habe ihm gesagt, dass du nicht kommen wirst“, flüstert sie.

Judy runzelt die Stirn. „Wer‘s glaubt …“ Wenn der Ehrengast des Abends nicht erscheint, was hätten die Gäste dann für einen Grund so zahlreich zu erscheinen?

Wieder halten Kutschen und Fahrzeuge hinter ihnen. Ein Strom an Gästen kommt den weißen Kiesweg hinauf. Sie alle sind festlich gekleidet und wirken ausgelassen. Mit Masken im Gesicht, kann Judy nur die wenigsten von ihnen identifizieren. Sicher alles Geschäftsfreunde ihres Vaters, mit denen hat sie schon als Kind nichts anfangen können.

Die Tür des Anwesens steht weit offen. Der Butler empfängt jeden Gast mit einem Kopfnicken und nimmt ihnen die Mäntel und Jacken ab. Immer wieder schaut er Judy an. Seine braunen Augen scheinen ihre Maskerade zu durchschauen, ein wissendes Lächeln liegt auf seinen Lippen. Dem Mann hat sie noch nie etwas vormachen können. Er weiß es, ganz sicher.

Robins Hand wandert in Judys Rücken, mit sachtem Druck schiebt sie sie die Treppe hinauf. „Wehe du kneifst jetzt“, flüstert sie, „Wir haben Stunden für dein Make-up und die Haare gebraucht – das soll nicht umsonst gewesen sein.“

Judy gibt dem Drängen nur wiederwillig nach. Als die Treppe hinter ihnen liegt bleibt sie stocksteif stehen.

Jester hält die Hand auf. „Junge Lady…?“, sagt er betont langgezogen. So hat er sie früher schon immer genannt. Keinen der anderen Gäste hat er so begrüßt. Judy macht auf dem Absatz kehrt, sie will gehen doch die Schwester steht ihr im Weg.

Robin schaut sie eindringlich an.

„Ich kann das nicht!“, sagt Judy.

Robin legt ihr beide Hände auf die Schultern. „Doch, du kannst! Außerdem, schau mal da hinten!“ Sie hebt den rechten Arm, mit ausgestrecktem Zeigefinger deutet sie ins Innere des Anwesens hinein.

Judy schaut über die Schulter zurück, vorbei an all den Gästen, durch den Flur hindurch bis zur Treppe die in den ersten Stock führt. Unter all den Menschen ist nur einer nicht maskiert. Ein junger Mann in einem schwarzen Smoking. Das Jackett trägt er offen, über dem weißen Hemd fehlt die Krawatte. Seine kurzen blonden Haare sind heute frisiert und nicht so wüst wie sonst. Ein Lächeln liegt in seinem schönen Gesicht, beinah glaubt Judy trotz der Entfernung die eisblauen Augen leuchten zu sehen.

Ihr Herzschlag erhöht sich, was sie tun und sagen wollte ist ihr entfallen. Als Robin sie weiter schiebt, betritt sie das Anwesen. Während sie ihren Blick nicht von dem jungen Mann abwenden kann, nimmt Robin ihr das Seidentuch von den Schultern und reicht es Jester.

Der Butler und sie tauschen vielsagende Blicke.

Judy achtet nicht auf sie. Im Geiste sucht sie die richtigen Worte, mit denen sie Enrico ansprechen und was sie ihn fragen könnte. Ihre Füße laufen von allein den bekannten Weg durch den Flur, vorbei an den Gästen und der Anrichte mit den goldenen Aufschlägen, vorbei auch an dem Schemel mit der großen Vase, in der ein prächtiger Strauß Blumen blüht. Sie hat ihren Schwarm fast erreicht, als ein breitschultriger Mann die Treppe herab kommt. Seine Schritte sind fest und seine Haltung angespannt.

„Vater …“, haucht Judy und bleibt abrupt stehen. Ein Stich fährt ihr durchs Herz, sie fasst sich an die Brust und tritt hinter die Vase. Eine der Blumen biegt sie herab, um an dem Blätterwerk vorbeisehen zu können.

Die Haare des Vaters sind am Ansatz ergraut, seine Stirn ist in Falten gelegt, die buschigen Augenbrauen hat er tief ins Gesicht gezogen. In der Hand hält er eine Krawatte mit der er vor Enrico stehen bleibt. Ärgerliche Worte richtet er an ihn und deutet auf das weiße Hemd des jungen Mannes. Unablässig schimpft er, während er die Krawatte schwenkt. Der junge Mann wirkt neben ihm wie ein Kind.

Enrico rollt mit den Augen, die Wut Aarons ändert nichts an seiner aufrechten Haltung. Wiederwillig knöpft er die obersten beiden Knöpfe des Hemdes zu und reißt dem Paten die Krawatte aus der Hand.

Das ruft Erinnerungen in Judy wach. Auch ihr hat der Vater immer wieder vorschreiben wollen, wie sie sich angemessen zu kleiden hat. Ein flüchtiges Schmunzeln huscht ihr über das Gesicht.

Es tut gut, den Vater wohlauf zu sehen. Judy prüft seine Haltung und jede Bewegung. Alles ist flüssig, nichts deutet auf eine Verletzung hin. Auch im Gesicht des Vaters findet sie keine Anzeichen für Schlafmangel oder Sorgen. Obwohl er noch immer mit Enrico schimpft und dem Jungen dann hilft die Krawatte zu binden, erscheint er ihr viel zufriedener, als bei ihrer letzten Begegnung. Irgendetwas muss ihn verändert haben.

Robin schiebt sich in ihr Sichtfeld, sie greift Judys Hand. „Na komm, wir gehen in den Salon. Wenn er dich hier wie ein scheues Reh hinter den Blumen sieht, erkennt er dich doch sofort.“
 

[align type="center"]…~*~…[/align]
 

Wie ich das Tragen von Krawatten hasse! Auch das Hemd bis zum Kragen zu schließen ist eine unerträgliche Qual. Als Aaron endlich zufrieden ist, fahre ich mit dem Zeigefinger unter den Krawattenknoten und versuche ihn zu lockern.

Der Pate schlägt mir auf die Hand. „Lass das gefälligst! Heute lasse ich dir deine Unsittlichkeiten nicht durchgehen.“

Ich rolle mit den Augen. Als wenn der feine Anzug darüber hinwegtäuschen könnte, dass ich nur ein Straßenkind bin.

Unablässig betreten neue Gäste das Anwesen. Es sind so viele, dass ich längst den Überblick verloren habe. Keines der Augenpaare, die durch die Masken schauen, ist mir bekannt. Auch die übertrieben festliche Kleidung der Anwesenden lässt mehr an einen Ball am Königshofe als auf eine einfache Geburtstagsfeier schließen. Wieder kommt mir der Gedanke, dass diese Menschen nur das Beste vom Besten gewöhnt sind. Hier werden die teuersten Spirituosen und die edelsten Zigarren angeboten. Kaviar und auserlesene Früchte werden vom Dienstpersonal verteilt. Viele der angerichteten Speisen habe ich noch nie gesehen.

Mir ist als wenn nicht nur die Krawatte und das Hemd mir die Kehle zuschnürt, sondern auch dieser verdammte Abend.

„Hast du den Mittelteil noch mal geübt?“, fragt Aaron mich mit mahnendem Blick.

Den ganzen Tag habe ich nichts anderes gemacht, aber wirklich besser bin ich nicht geworden. Meine Hände sind kalt und feucht. Ich öffne und schließe sie, sie fühlen sich taub an und krampfen. Wie soll ich so die richtigen Noten treffen?

„Enrico! Ich habe dich etwas gefragt“, sagt Aaron ungehalten.

Ich zwinge mich zu antworten: „Ja ich habe geübt, mir tun immer noch die Pfoten von dem verdammten Stück weh. Kann ich nicht was anderes spielen?“

Aarons Hand packt mich fest, seine Finger krallen sich in meine Schulter, tief sieht er mir in die Augen. Während er sich zu mir herabbeugt und mir ganz nah kommt, sagt er: „Du wirst heute einen umwerfenden Auftritt hinlegen und von deinem selbstkomponierten Geklimper will ich nichts hören. Haben wir uns verstanden?“ Sein Griff wird zunehmend fester.

Schmerz flutet meine Schulter. Ich beiße die Zähne festaufeinander und sage: „Ja, schon gut. Reg dich wieder ab!“ Seine Hand versuche ich von mir zu lösen, doch er gibt mich nicht frei.

Er dreht mich Richtung Salon. „Gut, dann Abmarsch!“ Mit der flachen Hand schlägt er mir hart in den Rücken.

Ich stolpere einen Schritt nach vorn.
 

[align type="center"]…~*~…[/align]
 

Robin hat sich im Salon auf das Sofa gesetzt, sie klopft auf den leeren Platz neben sich.

Judy schaut noch immer zur Treppe und ist sich nicht sicher, ob sie bleiben oder flüchten soll. Sie hat den Vater gesehen, es geht ihm gut, muss sie noch mehr wissen? Ihre Aufmerksamkeit wird von einem großen schwarzen Flügel eingefangen. Für gewöhnlich stand der immer in der Bibliothek. Die Bedienstet müssen ihn wohl hier runter geschleppt haben.

Judy geht dicht an ihm vorbei. Sie streicht über das lackierte Holz.

Als sie noch ganz klein war, hat sie auf dem Schoß des Vaters gesessen und ihm beim Spielen zugesehen. Seine Finger tanzten über die Tasten und erzeugten wunderbare Melodien. Für einen Moment sieht sie sich bei ihm sitzen, von seinen starken Armen gehalten. Es ist lange her, dass sie sich so sicher und geborgen gefühlt hat. Auch wenn sie es nicht gern zugibt, dass Leben außerhalb der schützenden Villa hat auch ihre Schattenseiten. Als Tochter des Paten hat sie schon mehr als einen Entführungsversuch hinter sich. Ohne die Bodyguards, die ihr der Vater hinterher schickt, wäre sie längst einen der unzähligen Feinde der Locos in die Hände gefallen.

„Judy, komm setzt dich zu mir!“, sagt Robin.

Judy ist wie aus einem Traum gerissen. In jedem Winkel dieses Anwesens wartet eine verdrängte Erinnerung auf sie. Es hatte schon seine Gründe, warum sie nicht hier her kommen wollte. Seufzend lässt die vom Flügel ab und geht zu ihrer Schwester. Neben sie setzt sie sich und schlägt die Beine übereinander. Die Arme verschränkt sie vor der Brust und wippt mit dem Fuß. „Ich bleibe nur um mir das Konzert anzuhören.“

Robin beugt sich zu ihr, ein verschlagenes Lächeln liegt in ihrem Blick. „Sicher? Und wenn er dich zum Tanz auffordert?“

„Sehr witzig. Wie soll er das denn als Pianist machen?“

„Wart’s ab!“ Robin rückt in eine gerade Haltung zurück, sie nimmt einem der Bediensteten ein Glas Sekt vom Tablett und nippt daran.

Judy wird das Gefühl nicht los, dass Schwester und Vater noch deutlich mehr geplant haben. Besser sie verschwindet sobald sich eine Gelegenheit bietet.
 

[align type="center"]…~*~…[/align]
 

Direkt am Klavier zu sitzen macht mein Unwohlsein auch nicht besser. Mir ist so kalt, nicht mal das Feuer im Kamin zu meiner rechten kann daran etwas ändern. Ein imaginärer Kloss im Hals lässt mich immer wieder schlucken. Mit Blick auf die schwarz-weißen Tasten wird mir ganz flau im Magen. Ich hätte doch etwas essen sollen. Das leere Gefühl sticht unerträglich, mir ist schon ganz schlecht davon. Die aufmerksamen Blicke der Gäste machen es nicht besser.

Überall diese Masken, wie in einem Horrortheaterstück. Was Aaron ihnen wohl über mich erzählt hat? Die denken doch sicher ich bin irgendein Wunderkind, das ihnen jetzt die große Show abliefert.

So wie meine Hände zittern, werde ich ihnen nicht mal eine kleine liefern können. Ich lächle bitter.

Unter all den Menschen hier erkenne ich nur Robin. Sie sitzt direkt vor dem Flügel auf dem Sofa. Als sich unsere Blicke treffen deutet sie mit einem Schwenk ihres Kopfs auf die junge Frau neben sich. Wir haben ein stummes Zeichen vereinbart, mit dem sie mir meine zukünftige Frau zeigen soll. Das junge Ding mit der verschlossenen Haltung ist also Judy? Mit der Maske und der neuen Frisur hätte ich sie nicht erkannt. Ich präge mir ihr Kleid mit der Blumenspitze und die weiße Maske mit den Sternen auf der linken Wange ein, um sie später unter den Gästen wiederfinden zu können.
 

Aaron tritt in die Mitte des Raumes. Er hat ein Glas und einen Löffel in der Hand, die er klangvoll gegeneinander schlägt.

Die Gespräche verstummen, alle Augen richten sich auf ihn.

„Wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte!“, sagt er laut, „Es freut mich, dass Sie alle so zahlreich erschienen sind. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass unser Ehrengast sich heute hat entschuldigen lassen. Meine Jüngste liegt mit einer schweren Grippe im Bett.“ Aarons Blick schweift umher, er bleibt an Judy hängen. Ein wissendes Lächeln legt sich in seine Mundwinkel.

Als sie sich seines Blickes bewusst wird, greift sie den Arm Robins und versteckt sich hinter ihrer Schulter.

„Nichtsdestotrotz …“, fährt Aaron fort, „… lassen wir uns diesen Abend nicht verderben.“ Seinen rechten Arm breitet Aaron weit aus und lässt ihn in meine Richtung schwingen. „Wie versprochen beginnen wir diese Tanzveranstaltung mit einem Konzert meines neuen Schützlings.“ Er dreht sich ganz zu mir um.

Ich halte die Luft an.

„Enrico River – ein Naturtalent am Klavier mit einem absoluten Gehör!“

Mein Körper fordert sein Recht, ich atme hektisch, stoßweise. Das wird niemals gutgehen!

„Es ist sein erster Auftritt vor Publikum, also seien Sie etwas nachsichtig mit ihm, wenn er nicht jede Note trifft!“

Fröhliches Gelächter bricht aus den Reihen der Gäste hervor.

Ich werfe Aaron einen feindseligen Blick zu. Die Anspielungen auf meine Probleme mit dem Mittelteil hätte er sich sparen können. Jetzt fühle ich mich noch unsicherer. Hilfesuchend sehe ich mich nach Toni um. Er steht mit einigen anderen Bediensteten weit abseits der Gäste, vor der großen Verandatür. Die Arme hat er hinter dem Rücken verschränkt, er nickt mir vertrauensvoll zu.

„Nun dann ohne weitere Umschweife, genießen wir eine der schönsten Symphonien von Beethoven.“ Der Pate tritt beiseite und gewährt den Gästen einen ungehinderten Blick auf das Klavier, während er sich in seinen Lieblingssessel setzt.

Ich lege die Hände auf die Tasten und schließe die Augen. Tief atme ich durch. Seit Wochen habe ich diesen Mist geübt, dass bekomme ich schon hin, rede ich mir ein. Die Noten kenn ich längst auswendig, ich kann sie blind spielen, doch um auf Nummer sicher zu gehen, öffne ich die Augen und sehe ins Buch. Langsam beginne ich zu spielen. Es klingt abgehackt und unsauber. Ich brauche eine ganze Notenzeile um in das Stück hineinzufinden.

Aarons Stirn legt sich bereits in Falten.

Ich bemühe mich flüssiger zu spielen. Die Musik erfüllt den Raum, doch nicht mein Herz. Alles in mir sträubt sich gegen diese Melodie. Das hier passt genau so wenig zu mir, wie der Anzug und alles andere auch.

Ich treffe jeden Ton, das Stück klingt genauso, wie Aaron es mir vorgespielt hat.

Die Gesichtszüge des Paten entspannen sich, er schließt die Augen und lauscht zufrieden.

Die Gäste hören zu, doch nicht für lange. Die ersten leisen Unterhaltungen beginnen. Getränke und Speisen werden konsumiert, die Blicke wenden sich von mir ab. Nur wenige scheinen sich noch für die Musik zu interessieren.

Ob das an mir liegt? Aaron scheint zufrieden zu sein und bisher habe ich jede Note getroffen und trotzdem scheint mir die Stimmung im Raum zu entgleiten. Ob die Anwesenden das Stück wohl ebenfalls langweilig finden? Sicher haben sie es selbst schon einmal zu oft gehört. Was mache ich denn jetzt? Ratsuchend blicke ich zu Toni.

Er schaut mich durchdringend an und schüttelt sacht mit dem Kopf. Er hat mir geraten meine eigene Musik zu spielen, aber Aaron hat mir genau das verboten.

Ich lasse meinen Blick über die Gäste schweifen. Die Unterhaltungen sind lauter geworden, die Menschen die noch zuhören weniger. Das ist sicher nicht der Auftritt den Aaron erwartet hat und wenn ich hier keinen Eindruck schinde, wer weiß was er dann mit mir und meinen Leuten anstellt. Wir leben doch alle nur, weil ich in seiner Gunst stehe.

Meine Hände lasse ich auf den Tasten ruhen, die Musik verklingt.

Die Gespräche verstummen, alle Blicke richten sich fragend auf das Klavier. Auch Aaron schaut mich an, er durchbohrt mich mahnend mit seinem Blick.

Ich meide es ihn oder die Gäste zu betrachten. Ein letztes Mal hole ich Tonis Rat.

Er nickt mir zu, wohlwissend was ich vorhabe.

Ich atme aus und schließe die Augen. Toni hat gesagt ich soll alles vergessen und mir vorstellen nur für ihn zu spielen. Bei dem Gedanken an die vergangene Nacht muss ich lächeln. Ganz von alleine beginnen meine Finger ein neues Lied.

Jede neue Note untermalt seine Gestalt in meinem Kopf. Seine schönen Augen und den starken Körper, seinen Mut und seine Leidenschaft. Mir ist als wenn ich die vergangenen zwei Jahre mit ihm noch einmal erlebe.

Während meine Finger über die Tasten tanzen, glaube ich ihn damals vor meiner Schule stehen zu sehen, verschwitzt mit den klammen Haaren im Gesicht. Wie wir uns am Tag darauf auf dem Basketballplatz trafen und ich haushoch gegen ihn verlor, weil er beim Zielen einfach alles trifft auch einen Korb von der Dreipunktelinie aus. Unser Tag am See, als wir uns eine Zwille bauten und auf Schilfrohre schossen. Unser erster Kuss, als er bei mir übernachtete.

Eine fröhliche Melodie erklingt im Raum, sie lässt mein Herz höher schlagen und erfüllt mich ganz.

Die Zeit war so wunderbar friedlich. Ich gäbe was dafür noch einmal so unbeschwert zu sein. Doch unser Leben ist nicht mehr so wie damals.

Mir kommt der Tag in den Sinn, als ich Toni dabei beobachtet habe, wie er einen Menschen umbrachte.

Nach Unheil klingende, dunkle Töne mischen sich in meine Musik.

Ich konnte es nicht glauben, ich wollte es nicht wahrhaben, aber ich hatte es mit eigenen Augen gesehen. Doch viel schlimmer als das, war der Abend, der darauf folgte, als er kam, um mich zu töten, weil ich als Zeuge nicht leben durfte. Er hat die Waffe auf meinen Schreibtisch geknallt und bitterlich geheult, weil er es nicht über sich bringen konnte. Aber dafür sollten wir nun beide sterben. Ein finsterer Mann kam mit ihm und schlug ihn fast tot. Der Moment als ich Tonis Waffe nahm und den Angreifer damit erschoss.

Alles flammt in mir gleichzeitig auf und lässt den Raum in eine düstere Melodie versinken. Unsere Flucht vor den Kerlen, die ihren getöteten Chef rächen wollten, treibt meine Musik an. Seit diesem Moment sind wir vogelfrei und leben auf der Straße, immer verfolgt von den Männern zu denen Toni einst gehört hat.

Unweigerlich drängen sich mir die Bilder in den Sinn, als ich mich in ihrer Gewalt befand und sie mir mit einer Säge fast mein Bein abgetrennt haben, nur um zu erfahren, wo Toni sich aufhält. Ich verziehe das Gesicht, glaube ich doch den Schmerz erneut spüren zu können.

Was für ein beschissenes Jahr liegt da eigentlich hinter uns? Auch Toni befand sich schon in ihrer Gewalt und hat schrecklich leiden müssen. Sein Blut an meinen Händen, das kann ich einfach nicht vergessen. Hätte ich ihn an diesem Tag verloren, ich wäre sicher nicht mehr hier. Ohne ihn wüsste ich gar nicht, wieso ich noch jeden Tag aufstehen sollte. Aber mit ihm…

Meine düstere Stimmung hellt sich auf, beschwingte und heitere Töne fließen in die Melodie.

All die Nächte mit ihm spuken mir durch den Kopf. In seinen Armen liegend, mit seinem holzig wilden Duft in der Nase und seinem harten Glied in meinem Hintern. Ich beiß mir auf die Unterlippe, Hitze steigt mir in den Kopf. Ob sich meine Musik wohl so anzüglich anhört, wie es in meinem Kopf aussieht?

Ich sehe mich um. Die Augen meiner Zuhörer sind gläsern. Einige der Frauen wischen sich mit Taschentüchern die Tränen von den Wangen. Während alle Blicke auf mir ruhen, spricht niemand mehr. Einige der Gäste haben die Augen geschlossen und lauschen mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht, andere ringen mit ihren feuchten Taschentüchern.

Zögerlich wandert meine Aufmerksamkeit zum Sessel Aarons. Der Mund des Paten steht weit offen, er betrachtet mich mit einer Mischung aus Erstaunen und Wut.

Mir kommen seine Worte in den Sinn - ich sollte meine Musik nicht spielen. Augenblicklich nehme ich die Hände von den Tasten und setzte ein verlegenes Lächeln auf. Ich kratze mich am Hinterkopf und schaue entschuldigend. „Sorry“, presse ich tonlos hervor.

Aarons Finger krallen sich in den Sessel, er drückt sich hinauf.

Die Gäste scheinen sich zu fangen, ein zaghaftes Klatschen ertönt, dann ein zweites. Die Frauen legen die Taschentücher beiseite und stimmen mit ein. Schließlich beginnt der ganze Salon unter lautem Beifall zu erbeben.
 

…~*~…
 

Beethoven? Wirklich? Das ihr Vater immer auf diese alten Schinken bestehen muss. Dabei gibt es so viel schönere Musik. Rock‘ n Roll zum Beispiel. Judy seufzt ergeben. Jeder hier erwartet bei einem Klavierkonzert diese alten Meister zu hören und egal wie gut der Pianist auch ist, für Judy hört es sich immer gleich an. Als die bekannten Töne erklingen gähnt sie herzhaft und wendet sich ihrer Schwester zu. „Und für diesen langweiligen Mist hast du mich her gebracht?“

Robin legt den Kopf schief, sie betrachtet Enrico. Leise sagt sie: „Ach Vater, wirklich? Du weißt doch dass das nicht seine Stärke ist.“

„Bitte was?“, fragt Judy, die nicht versteht was Robin damit zu sagen versucht, doch ihre Schwester ist ganz auf den Pianisten konzentriert. „Jetzt mach schon, wiedersetze dich, wie sonst auch immer“, murmelt sie.

Judy schaut zurück zum Klavier. Verbissen versucht Enrico die Töne zu spielen, die ihm das Notenbuch vorgibt. Er scheint fast ein bisschen überfordert damit. Das könnte ja selbst sie leidenschaftlicher spielen.

Die ersten Gäste wenden sich bereits ab, leise Gespräche beginnen, die Bar im Globus und das kalte Büffet auf der Anrichte werden geplündert.

Judy betrachtet die Bemühungen Enricos noch einen Moment lang, dann ist auch ihr nach Alkohol und etwas zu Essen. „Wollen wir uns was vom Buffet holen?“, fragt sie an Robin gewandt. „Ich hatte schon lange nichts mehr, was aus Jesters Küche stammt.“

Robin reagiert nicht, angespannt schaut sie zwischen Aaron und dem Pianisten hin und her.

Judy stemmt sich aus dem Sofa, wenn Robins nichts will, dann holt sie sich eben allein was. Alles ist besser als zuhören. Als sie den ersten Schritt machen will, hält Robin sie am Arm fest. „Warte!“, sagt sie.

Das Musikstück verklingt, die Hände Enricos ruhen auf den Tasten.

Schon vorbei? Die Symphonie hat Judy deutlich länger in Erinnerung. Ob Enrico schon nicht mehr kann?

Die Gespräche der Gäste verstummen, alle betrachten den jungen Mann am Flügel.

Enrico schließt die Augen, er atmet tief durch, dann beginnt eine neue Melodie.

Judy versucht sie einzuordnen. Das ist auf keinen Fall von Beethoven, sicher auch nicht von Bach oder Schubert. Sie setzt sich.

Das hört sich gar nicht schlecht an, viel fröhlicher als das andere Stück. Es stimmt sie heiter, ihre Beine beginnen zu wippen. Dazu kann man bestimmt gut tanzen.

Bewegung kommt in die Gäste, die ersten beginnen bereits im Takt der Musik die Hüften zu schwingen, als die Stimmung der Melodie von einem auf den anderen Moment kippt. Düstere Töne erheben sich in den Raum. Wie vom Donner gerührt erstarren alle Anwesenden.

Das Gesicht Enricos wird leidend, seine Haltung verspannt sich.

Von einem Moment auf den anderen fühlt sich Judy in ihren Alptraum zurückversetzt. Sie sieht den toten Mann im Büro des Vaters und die sterbende Mutter in den Armen Aarons. Tränen steigen ihr in die Augen. Die Musik klingt nach Leid, Verlust und Qual und untermalt alle Gefühle, die sie so gut verdrängt glaubte. Judy greift sich an ihr schmerzendes Herz. Die Mutter, die so grausam aus ihrem Leben gerissen wurde, scheint ihr auf einmal ganz nah zu sein. Je länger die Musik spielt umso deutlicher kann sie sie in jedem Winkel des Salons entdecken. Am Globus aus dem sie eine Whiskyflasche zieht und dem Vater einen Drink einschenkt. Am Kamin als sie sich die Hände wärmte, auf dem weichen Teppich sitzend mit einem Buch in der Hand, aus der sie Judy vorgelesen hat. Traurigkeit und das Glück vergangener Tage wechseln sich in Judy ab. Wie auf ein geheimes Stichwort ändert sich auch die Musik Enricos. Eine sanfte Melodie erfüllt den Salon, für Judy fühlt sie sich fast wie eine Umarmung der Mutter an. Noch mehr Tränen lassen ihren Blick verschwimmen.

Die Musik endet abrupt, die Umarmung der Mutter verschwindet, als wenn es sie nie gegeben hätte.

Ein zaghaftes Klatschen erklingt, ein zweites folgt, schließlich erheben sich die Gäste die noch sitzen und fallen mit lautem Beifall ein.

Die Schwester schwenkt ein Taschentuch vor Judy, mit einem breiten Lächeln sagt sie: „Er ist gut, oder?“

Judy nimmt sich das Taschentuch. Sie kämpft noch immer mit den Tränen und fühlt sich nicht zu einer Antwort fähig. Sie hebt die Maske leicht an, um ihre Wangen zu trocknen. Was ist das nur für eine Musik gewesen? Bisher hat sie noch kein Klavierstück so tief in ihre Vergangenheit gezogen. Irgendwie unheimlich.

~Nächtlicher Spaziergang~

Aaron erhebt sich, sein Gesicht spiegelt Zorn und tiefe Verachtung.

Ich werde auf meinem Hocker immer kleiner. Habe ich mal wieder zu viel gewagt?

Alle Gäste bis auf Judy und Robin erheben sich, erst zaghaft dann immer lauter klatschen sie. Selbst das Dienstpersonal stimmt in den Beifall ein.

Ich betrachte die vielen Gesichter nacheinander.

In ihren Augen liegen Tränen, sie spiegeln Emotionen, die ich zuvor nur in mir gespürt habe. Kann es denn wirklich sein, dass ich diese reichen Schnösel mit meiner Musik erreicht habe?

Aaron bleibt abrupt stehen, er sieht sich um. Seine Augen weiten sich, der Mund bleibt ihm offen stehen. Er scheint etwas sagen zu wollen, doch kein Laut kommt ihm über die Lippen. Seine haselnussbraunen Augen wandern auf mich, Unglaube liegt in ihnen.

Ich lächle versöhnlich und zucke mit den Schultern. Auch ich habe nicht mit so viel Zustimmung gerechnet.

Einige der Gäste lösen sich aus dem Kreis der anderen. Eine junge Frau und zwei ältere Herren halten auf mich zu. Sie bleiben vor mir stehen. Die Frau faltet die Hände ineinander. „Das war wunderschön!“, sagt sie.

„Von welchem Künstler stammt dieses Lied?“, fragt der Alte mit der Glatze.

„Ja, das muss ein Ausnahmetalent gewesen sein“, sagt der Andere.

Ich fühle mich geehrt und unwohl zur gleichen Zeit. Ob sie das wirklich ernst meinen? Was soll ich ihnen antworten? Werden sie mir die Wahrheit glauben? Ich schaue Aaron ratsuchend an.

Er kommt zu mir, seine Hand legt er auf meine linke Schulter, seine Finger gräbt er fest hinein.

Ich verziehe das Gesicht und beschließe besser stumm zu bleiben.

„Der Junge hat es selbst komponiert. Eigentlich war es noch nicht reif für eine Vorführung“, sagt Aaron. Sein Griff wird fester.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht aufschreien zu müssen.

„Das sehe ich aber ganz anders!“, sagt ein Mann in feinem Smoking. Er hält ein Sektglas in der Hand und kommt zu uns. Seine Haltung ist stocksteif, seine Stimme aufgesetzt und förmlich.

Das falsche Lächeln in seinen Mundwinkeln bereitet mir Unbehagen. „Vincent…“, flüstere ich voller Abscheu. Dieser Kerl hat schon mehr als einmal versucht mich loszuwerden. Was führt er wohl dieses Mal im Schilde?

„Es steckt scheinbar doch Talent in diesem Straßenköter“, fährt Vincent fort.

Aarons Mine verfinstert sich, eine stumme Drohung liegt in seinem Blick.

Vincents Lächeln wird breiter, als er sagt: „Ich würde den Kurzen gern fördern. Lass ihn mich für meinen Geburtstag buchen. Dann können ihm ein paar wichtige Leute zuhören.“

Gänsehaut überzieht meinen Körper, mir wird schlagartig eiskalt. Keinesfalls werde ich auf dem Geburtstag dieses perversen Kinderschänders Klavier spielen. Der sucht doch nur wieder nach einem Grund mich in sein Apartment zu locken. Mit dem Kopf schüttelnd sehe ich Aaron an, doch er beachtet mich nicht.

„Das ist eine großartige Idee!“, sagt er stattdessen.

„Was? Kommt nicht in …!“, entfährt es mir.

Aaron legt mir seine Schaufelhand über den Mund. Er flüstert mir zu: „Du tust was ich dir sage! Schlimm genug, dass du mir wieder nicht gehorcht hast, aber in dieser Sache dulde ich kein Nein!“

Ich balle die Hände zu Fäusten, meine Fingernägel grabe ich in das Leder des Hockers.

„Oh, man kann den jungen Mann also buchen?“, fragt die Frau und schlägt freudig die Hände zusammen. Auch die älteren Herren bei ihr schauen interessiert. Es gesellen sich immer mehr Gäste zu uns, die wild durcheinander reden und Aaron über mich ausfragen, die Termine für ein Konzert vereinbaren wollen. Ein heilloses Durcheinander an Stimmen entsteht. Ich kann längst nicht mehr zuordnen, wer etwas gefragt hat und was von mir gefordert ist. All meine Sinne raten mir schnell das Weite zu suchen, doch mit Aaron im Rücken, kann ich der allgemeinen Aufmerksamkeit nicht entkommen.

Schließlich hebt Aaron den Arm und sagt laut: „Aber, aber, meine lieben Freunde. Heute sind wir zusammen gekommen, um den Geburtstag meiner Jüngsten zu feiern.“ Er wirft einen flüchtigen Blick zu Judy, die noch immer auf dem Sofa sitzt.

Als sich ihr Blick mit dem des Vaters trifft, verschränkt sie die Arme und schaut demonstrativ zur Seite weg. Sie wippt mit dem Bein, das sie über das andere gelegt hat.

„Heute Abend“, fährt Aaron mit einem Lächeln im Gesicht fort, „Wollen wir uns amüsieren. Über das Geschäft und weitere Auftritte meines Mündels sprechen wir ein anderes Mal!“ Aaron bedeutet mir mit einem Schwenk seiner Hand, dass ich aufstehen und ihm Platzmachen soll.

Ich lasse ihn ans Klavier und entferne mich von den vielen Menschen, hinter dem Flügel suche ich Schutz vor ihnen.

„Ich schlage vor, wir eröffnen den Tanzabend mit einem Walzer“, sagt Aaron und legt die faltigen Hände auf die Tasten. Seine aufmerksamen Augen wandern zu mir, mit einem Schwenk seines Kopfes deutet er zum Sofa auf seine jüngste Tochter.

Erwartet er etwa, dass ich mit ihr tanze? Ich schüttle sacht mit dem Kopf.

Seine Gesichtszüge verhärten sich, tief zieht er die Augenbrauen ins Gesicht. Als er zu spielen beginnt, wird mir klar, ich habe keine Wahl. Seufzend umrunde ich das Klavier.
 

…~*~…
 

Sie hat es die ganze Zeit gewusst, der Vater weiß Bescheid. So wie er sie gerade angesehen hat und seine Anspielung auf ihren Geburtstag, das lässt keinen anderen Schluss zu. Es ist ein Fehler gewesen hier her zu kommen. Unruhig schaut Judy sich um. Welcher Weg ist wohl der beste, um ungesehen zu verschwinden?

Ein langsamer Walzer erklingt. Judy kennt ihn gut. Er lief in ihrer Kindheit oft, während Mutter und Vater im Salon dazu tanzten. Wie gemein von ihm, ausgerechnet diese Melodie zu spielen. Der Vater weiß genau, welch schöne Erinnerungen Judy damit verbindet. Wenn sie abends ins Zimmer schlich um die Beiden zu beobachten und er sie hinter der Tür entdeckte, holte er sie zu sich. Den Tanz unterbrach er dafür und stellte Judy auf seine Füße um anstelle der Mutter nun mit ihr zu tanzen.

Judy wippt aufgebracht mit dem Fuß. Wenn sie durch die Glastür der Veranda geht, ist sie in wenigen Schritten am Tor. Blöd nur, dass sie dann den ganzen Weg bis zum Haus Susens laufen müsste. Das grenzt in ihren hochhakigen Schuhen an Folter. Ob Robin sie deswegen gezwungen hat, genau diese anzuziehen? Sie will die Schwester gerade mit einem bösen Blick strafen, als Enrico vor ihr auftaucht. Er streckt seine Hand nach ihr aus. Ein freundliches Lächeln liegt in seinem Gesicht. Da sind sie wieder diese eisblauen Augen, die sie schon bei ihrer ersten Begegnung in den Bann gezogen haben.

Augenblicklich schlägt ihr das Herz bis zum Hals.

„Hast du vielleicht Lust zu tanzen?“, fragt er.

Tanzen? Hier vor all diesen Leuten? „Bist du dir denn sicher, dass du das kannst?“, kommt ihr spontan über die Lippen. Den abwertenden Ton bekommt sie dabei nicht aus der Stimme. Bisher hat noch keiner der Männer, die Aaron ihr vorgestellt hat, tanzen können. Auch Sam bewegt sich auf der Tanzfläche wie ein Stein. Warum sollte es bei Enrico anders sein? Herausfordernd sieht sie ihn an und weigert sich seine Hand zu greifen, lediglich die Verschränkung der Arme lässt sie sinken.

Sein Lächeln wird siegessicher, er nimmt ihre Hand ohne ihr Einverständnis und zieht sie in einem Ruck auf die Beine. „Lass es uns herausfinden!“, sagt er.

Seiner Kraft hat sie in ihrer Überraschung nichts entgegenzusetzen. Im selben Moment steht sie bereits und wird von ihm auf die leere Fläche im Raum, zwischen Sofa und Flügel, gezogen.

Enrico und Robin tauschen einen vielsagenden Blick, sie nicken sich zu.

Judy sieht zwischen den Beiden hin und her. Wieder wird sie das Gefühl nicht los, dass zwischen ihnen mehr läuft, als die Schwester zugibt.

Enrico legt seinen Arm um ihre Taille, er zieht sie nah zu sich. Seine rechte Hand greift die ihre, im Takt der Musik beginnt er sich zu bewegen.

Schon nach den ersten zwei Schritten wird Judy klar: Er kann es und er weiß sie sogar zu führen. Unwillkürlich schleicht sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Der Vater ist aus ihren Gedanken verschwunden. Sie sieht nur noch diese schönen Augen, ist eingehüllt von seinem frischen Duft. Der Klang der Musik erhebt ihr Herz, ihre Bewegungen fließen in seine. Was für ein herrliches Gefühl sich im Takt der Musik zu verlieren, auf nichts achten zu müssen, als auf dieses Lächeln und die schönen Augen.

Bald sind sie nicht mehr die einzigen Paare auf der Tanzfläche, doch egal wie viele Menschen neben ihnen tanzen, er führt sie sicher an allen vorbei.

Aaron spielt bereits den dritten Walzer, doch für Judy scheint der Moment wie stehengeblieben.

Enrico ist nur unwesentlich größer als sie, sie müsste sich nicht auf Zehenspitzen stellen, um ihn küssen zu können. Moment, was denkt sie denn hier? Hitze flutet ihr Gesicht. Judy ist froh, dass ihre roten Wagen unter der Maske verborgen bleiben.

Enrico kommt ihrem Gesicht ganz nah.

Ihr stockt der Atem. Er wird sie doch nicht etwa auch küssen wollen? Sein Atem berührt ihre Wange, ein Schauer fährt ihr in den Körper.

Er flüstert: „Warum versteckt sich das Geburtstagskind eigentlich hinter ihrer Schwester und will nicht gesehen und gefeiert werden?“

Das Lächeln weicht Judy aus dem Gesicht, alle fröhlichen Gedanken sind wie weggeblasen. Der Kerl weiß ganz genau wer sie ist. Hat er sie nur deswegen zum Tanzen aufgefordert? Ist das Aarons Wille gewesen? Sie sieht zum Klavier.

Aaron beobachtet sie zufrieden. Sein Lächeln ist ihr Antwort genug, sie bleibt stehen und schaut ernst. Ihre Hände zieht sie zurück. Sie sollte gehen, so wie sie es schon die ganze Zeit vorhatte.

Enrico lächelt noch immer. „Du kommst wohl auch nicht besonders gut mit deinem Vater aus, was?“, fragt er.

Das hört sich fast so an, als wenn er ebenfalls von Aaron genervt wäre. Ihr anfänglicher Fluchtimpuls wandelt sich in Neugier. „Was hast du eigentlich mit ihm zu schaffen?“

Enrico schaut über die Schulter zum Klavier.

Aaron wird von zwei Männern im Smoking angesprochen, sie unterhalten sich ausgelassen.

Der Blick Enricos wandert wieder zu ihr, ein geheimnisvolles Schmunzeln liegt in seinen Mundwinkeln als er fragt: „Was hältst du davon, wenn wir von hier verschwinden?“

Judy stutzt. Wo will er denn mit ihr hin? „Musst du denn heute nicht mehr Klavier spielen?“, fragt sie.

„Ist mir egal! Ich bin in dieser verdammten Villa seit Wochen eingesperrt und jetzt wo all diese Menschen hier aus und eingehen, wäre der perfekte Moment, um abzuhauen und ich sehe dir doch an, dass du dich hier genauso unwohl fühlst, wie ich.“ Er streckt seine Hand nach ihr aus. „Also, was sagst du? Jetzt oder nie?“

Eingesperrt? So hat sich Judy in diesem zu Hause auch immer gefühlt und sie ist kaum eine Stunde hier und kommt sich schon wieder vor wie ein Vogel im goldenen Käfig. Sie kann gar nicht verstehen, warum sie dem Drang wegzulaufen nicht schon längst nachgegeben hat, doch jetzt mit der offenen Hand vor sich, kann sie nicht länger widerstehen. Dieser Hauch von Abenteuer, der Enrico umgibt erscheint ihr reizvoller als alle Nächte mit Sam zusammen. Sie greift zu und lässt sich von ihm in die Nacht entführen.
 

…~*~…
 

Wir haben die Villa erstaunlich einfach verlassen können. Selbst mein Motorrad hat völlig unbeaufsichtigt auf dem Kiesweg gestanden. Reichlich seltsam, ob Robin da wieder ihre Finger im Spiel hatte? Bisher scheint uns niemand zu folgen. Nicht mal Toni hat mitbekommen, dass ich verschwunden bin. Umso besser, was ich vorhabe ist ohnehin nicht für seine Augen bestimmt.

Ein letztes Mal schaue ich in den Rückspiegel. Wieder kann ich kein Fahrzeug erkennen, dass uns folgt oder mir bekannt vorkommt.

„Wo willst du überhaupt hin?“, fragt Judy laut in den Fahrtwind. Ihre Arme hat sie um meinen Oberkörper geschlungen, ihren großen Bussen drückt sie in meinen Rücken. Körperlich steht sie ihrer Schwester in nichts nach, ich muss mich anstrengen mich auf die Fahrbahn zu konzentrieren. Als wir an einer Ampel stehen bleiben müssen, frage ich: „Was hältst du von einem Spaziergang am Strand?“

„Aha? Also ganz romantisch, oder wie?“, fragt sie mit einem schnippischen Unterton.

„Willst du lieber was anderes machen?“ Ich sehe sie über die Schulter hinweg an.

Sie lehnt ihre Stirn an meinen Oberarm. „Nein, lass uns ruhig zum Strand fahren.“

Sie wechselt ihre Meinung aber schnell. Warum sie wohl so verträumt schaut? Hat sie sich etwa schon in mich verknallt? Das geht irgendwie viel zu schnell. „Gut, dann also zum Strand.“

Die Ampel schaltet um, ich gebe Gas und nehme den kürzesten Weg.

Als wir ankommen steht der volle Mond hoch oben am Himmel. Er wirft sein Spiegelbild in den weiten Ozean und erhellt das Ufer und den ganzen Strand. Zusammen mit den Lichtern der Stadt reicht es aus, uns gefahrlos bewegen zu können. Ich will von der Maschine steigen, doch Judy hält mich noch immer fest umschlungen. Ihre Augen sind geschlossen. Ist sie etwa eingeschlafen? „Wir sind da!“, sage ich laut.

Sie lächelt, rührt sich sonst jedoch nicht. Was mache ich denn jetzt mit ihr? Unschlüssig betrachte ich ihre Hände. Soll ich sie von mir lösen?

„Warum hast du mich jetzt eigentlich wirklich entführt?“, fragt sie, bevor ich mich entschieden habe. Sie hebt den Kopf und löst sich von mir. Ihre haselnussbraunen Augen betrachten mich forschend. Als ich nicht sofort antworte, sagt sie: „Du willst mich dir doch nicht etwa hier draußen zu willen machen, oder?“ Ihre Worte spricht sie voller Vorfreude und Zuversicht aus, aber der Inhalt will für mich nicht dazu passen.

„Was? Nein!“, sage ich schnell und steige ab. „Ich wollte mich einfach nur mal in Ruhe mit dir unterhalten.“

Die freudige Erwartung schwindet aus ihrem Gesicht. „Ach, mehr nicht? Wie langweilig“, murmelt sie in sich hinein.

Ich ziehe eine Augenbraue fragend hinauf. Was stimmt denn mit dieser Frau nicht? Jede Andere hätte sich sicher vor Angst in die Hose gemacht, und sie?

Judy beugt sich weit auf der Maschine nach vorn.

Ich kann in den Ausschnitt ihres Kleides sehen. Ihre runden Brüste liegen eng beieinander, mit den Armen presst sie sie weit aus dem Dekolletee heraus. Ich muss schwer schlucken. Bei dem Anblick wird mir ganz warm im Gesicht und in den Lenden. Vergeblich versuche ich den Blick abzuwenden, es will mir einfach nicht gelingen.

Mit dem Zeigefinger dreht sie kleine Kreise auf dem Tank. „Vater und Robin wollen uns verkuppeln, oder?“, fragt sie.

Ich atme erschwert durch und schaue zu Boden. „Ja“, sage ich.

„Du klingst nicht sehr begeistert.“

Langsam richte ich meinen Blick wieder auf sie.

Judy hat sich aufrecht gesetzt, Enttäuschung liegt in ihrem Blick.

„Nun, wir kennen uns ja kaum.“

„Stimmt!“, sagt sie und streift sich die Schuhe von den Füßen. Eine Woge der Erleichterung geht durch ihren Körper, sie seufzt zufrieden, dann steigt sie von meiner Maschine und vergräbt die nackten Zehen in den Sand. Ihre Gesichtszüge entspannen sich. Sie nimmt die Maske ab. Ebenmäßige Haut, weiß wie bei einer Porzellanpuppe, kommt zum Vorschein.

Judy greift sich in den Zopf, der mit Holzstäbchen kompliziert verknotet ist. Sie löst sie und lässt ihre langen schwarzen Haare offen über die Schultern fallen. Einige Mal schwenkt sie den Kopf, bis sie sich glatt und seidig an sie schmiegen.

Bei diesem Anblick verschlägt es mir den Atem. Robin war ja schon schön anzusehen, aber Judy erst. Ich fahre mit den Augen immer wieder ihren schlanken Körper, die langen Beine und den großen Vorbau ab. Beinah trauere ich darum, dass sie sich nicht mehr über den Motorblock beugt. Verdammt, was macht dieses Weib nur mit mir?

Judy lehnt sich mit den Hüften gegen das Motorrad, sie verschränkt die Arme vor der Brust und sieht hinaus auf das Meer. „Was genau will Vater von uns?“, fragt sie und ist auf einmal ganz ernst.

Ich atme tief durch und verschränke ebenfalls die Arme. Mit dem Fuß trete ich eine Furche in den Sand. „Er will das wir heiraten!“

Judy erhebt den Kopf stolz, ihre Haltung strafft sich. Sie spielt mit einem Ring, der ihren linken Mittelfinger ziert. „Enrico hör mal, bis hier her fand ich es ja noch ganz lustig, aber ich bin verlobt. Verstehst du? Ich bin vergeben.“ Sie streckt mir die Hand mit dem Ring entgegen.

„Nichts für ungut Judy, ich auch!“, sage ich.

Sie wendet den Blick ab. „Ja ich weiß, mit meiner Schwester“, sagt sie mit Abscheu in der Stimme.

„Meinst du Robin?“

„Ja, wen denn sonst!“

Ich muss lachen. „Nein, ganz sicher nicht. Sie hat mir nur gezeigt, wie man eine Frau befriedigt“, sage ich und bereue es im selben Moment. Wenn sie ihrem Vater davon erzählt, bin ich geliefert.

Judy betrachtet mich verstehend. „Ach du bist der Typ, von dem sie geschwärmt hat!“

Ich mache große Augen. „Hat sie?“ Robin hatte schon hunderte Männer und sie war die erste Frau, mit der ich geschlafen habe. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ich sie da beeindrucken konnte.

Judy stößt sich vom Motorrad ab, sie kommt zu mir und läuft mit einem verführerischen Hüftschwung an mir vorbei. Mit dem Zeigefinger winkt sie mich zu sich. „Komm, lass uns ein Stück gehen!“

Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist. Irgendwas stimmt mit mir nicht, wenn ich bei ihr bin. Ich habe ihr schon viel zu viel anvertraut, doch als sie mir ihren Rücken zudreht und mein Blick auf ihre runden Pobacken fällt, setzen sich meine Beine ganz von allein in Bewegung. Als ich sie eingeholt habe, laufen wir eine Weile schweigend durch den Sand. Immer wieder sehe ich ihr ins Gesicht, doch sie beachtet mich nicht. Schließlich halte ich die Stille nicht länger aus und frage: „Warum wolltest du mich eigentlich kennenlernen, wenn du doch verlobt bist?“

Judy sieht erschrocken auf. „Woher weißt du das?“

„Robin!“

Sie ballt die Hände zu Fäusten. „Diese verdammte Quasselstrippe!“, murrt sie.

„Also, warum?“, hake ich nach.

„Mir war langweilig“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. Sie streicht sich eine Haarsträhne hinter das rechte Ohr.

„So langweilig, dass du deinen Verlobten betrügen würdest?“

Ihr Gesicht gewinnt an Farbe, sie wendet den Blick ab. „Ich habe ihn noch nicht betrogen!“

„Noch nicht?“

Judy beschleunigt ihre Schritte, sie eilt mir voraus und bleibt dann abrupt vor mir stehen. Während sie mir den Weg versperrt, muss auch ich anhalten. Sie greift sich in den Nacken und löst die beiden Stricke die ihr Kleid oben halten. Langsam lässt sie es an sich herabfallen.

Ich sehe sie mit großen Augen an, während mein Blick direkt auf ihre entblößten Brüste fällt. Sie trägt nicht mal einen Büstenhalter. In mir wächst der Drang, meine Hände nach ihnen auszustrecken. Sie sehen so weich, rund und einladend aus. Ich weiche einen Schritt zurück. „Was soll das werden?“, frage ich mit bebender Stimme.

Sie steigt betont langsam aus dem Kleid, das sich an ihren Knöcheln gesammelt hat und räkelt sich dabei im Mondlicht. Mein Blick gleitet an ihr hinab. Nur ein schmales Unterhöschen bedeckt ihren Intimbereich.

„Jetzt mal ehrlich. Könntest du dem hier widerstehen?“, fragt sie herausfordernd und legt sich die Arme hinter den Kopf. Ihre Nippel stehen steil von den Brüsten ab, sie reckt sie mir entgegen. Längst kann ich nichts mehr gegen die Härte tun, die meine Hose füllt. Ich will mit ‚Ja‘ Antworten, doch es kommt mir einfach nicht über die bebenden Lippen.

„Dachte ich mir!“, sagt sie und lächelt zuckersüß. „Sam kann das schon seit Wochen und deswegen erteile ich ihm heute eine Lektion!“

~Zu kalt für heiße Nächte~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

~Der Verlobte~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

~Ungestilltes Verlangen~

Als Judy und ich am nächsten Morgen Hand in Hand die Treppe hinunter kommen, sitzen im Wohnzimmer bereits zwei Männer. Im Sessel vor der Verandatür mein Bruder. Seine langen blonden Haare hat er in einen Pferdeschwanz gebunden. Er hält einen Fächer aus Spielkarten in der Hand. Eine legt er gerade auf dem Glastisch ab.

Der Andere sitz mir mit dem Rücken zugewandt. Obwohl ich nur seinen Hinterkopf über der Sofalehne sehen kann, erkenne ich die schwarzen Locken sofort. Schuld frisst sich in mein Herz, ich bleibe auf halber Strecke stehen und flüstere seinen Namen: „Antonio.“

Judy geht die Treppe weiter hinunter, sie bemerkt mein Zögern erst, als sich unser Arme strecken und sie den Wiederstand spürt. Irritiert schaut sie zu mir zurück.

Wie soll ich mich verhalten? Weiter auf verliebtes Pärchen machen, oder ihre Hand loslassen und so tun, als wäre nichts zwischen uns passiert. Ich betrachte unsere ineinander verschränkten Finger und kann spüren, wie sich eine unsichtbare Schlinge um meinen Hals zuzieht und mir den Atem nimmt.

Judy legt den Kopf schief, sie lächelt vertrauensvoll. „Na komm, meine Schwester kennst du doch schon. Sie wird uns sicher nicht den Kopf abbeißen“, sagt sie.

Wie gut, dass sie diese Schlussfolgerung aus meinem Verhalten zieht.

Ich nicke und sehe mich nach Susen um. Sie steht direkt vor uns, doch erst jetzt nehme ich sie bewusst wahr. In der Hand hält sie eine Kanne, aus der es nach Kaffee duftet. Ihr Blick ist mahnend auf uns beide gerichtet, ihre Augenbrauen fragend erhoben.

Kein Wunder. Judys Haare sind noch ganz wirr, ihr Gesicht vom wenigen Schlaf der letzten Nacht gezeichnet. Ich sehe sicher nicht viel besser aus und obwohl ich den Sand aus meiner Hose zu klopfen versucht habe, ist sie noch immer dreckig und nass. Meine Krawatte und das Jackett liegen sicher noch irgendwo am Strand herum, alles in allem gebe auch ich keine gute Figur ab. Ich senke den Blick, trotzdem spüre ich Susens Vorwurf auf mir lasten.

Judy strahlt über beide Ohren, sie schmiegt sich eng an meinen Arm. Lachend sagt sie: „Schau, ich habe mir jetzt auch einen River geangelt.“ Einen kurzen Seitenblick wirft sie meinem Bruder zu.

Beim Klang unserer Nachnahmen muss ich meinen Bruder ansehen. Er hat denselben mahnenden Blick im Gesicht wie Susen. Mir wird erst jetzt die seltsame Konstellation bewusst. Zwei Brüder und drei Schwestern – wer dann wohl noch Robin nimmt? Bei dem Gedanken an die Nacht mit ihr, muss ich schmunzeln. Während die Nächte mit beiden Frauen im meinen Erinnerungen ablaufen, trifft sich mein Blick mit dem Tonis. Seine Mimik ist emotionslos, ich kann weder in seinen Augen noch an seiner Haltung ablesen, was er denkt. Während er mich wortlos betrachtet, zieht er eine Karte aus seiner Hand und legt sie auf den Tisch.

Bei dem allgemeinen Schweigen bekomme ich eine Gänsehaut, die Anspannung in der Luft meine ich beinah greifen zu können.

„Wenn du das nur tust, um Vater eins auszuwischen, dann lass es!“, sagt Susen streng.

Judy stemmt die Hände in die Hüften, sie plustert ihre Backen auf, bereit etwas zu sagen, doch ich komme ihr zuvor.

„Aaron hat nichts gegen diese Verbindung. Er wollte, dass ich Judy kennenlerne.“

Tonis Blick sticht mir im Nacken, ich vermeide es ihn anzusehen.

Susen stemmt die Arme in die Seite, nun sieht sie genau wie ihre kleine Schwester aus. „Das macht es nur noch schlimmer!“, schimpft sie.

Judy streckt ihr die Zunge heraus und sagt: „Mir doch egal!“ Sie kommt die eine Stufe, die uns trennt, hinauf und umschlingt meinen Arm. Verträumt sieht sie mich an: „Er gehört jetzt mir!“

Ich bin mir nicht sicher, ob ich heulen oder mich über ihre Worte freuen soll, vergeblich versuche ich mir ein Lächeln ins Gesicht zu zwingen.

Meinen Arm fest umklammert zieht Judy mich durch das Wohnzimmer Richtung Tür. „Komm! Gehen wir wohin, wo wir keinen mit unserem Glück stören“, sagt sie besonders provokant.

„Enrico!“, hallt uns eine tiefe und bis zum Zerreißen angespannte Stimme nach. Ich erschaudere bei ihrem Klang und bleibe stock steif stehen. Vorsichtig drehe ich mich nach Toni um.

Er sieht mich nicht an, sein Blick ist auf den Tisch mit den Karten gerichtet. Wieder kann ich seine starre Mimik nicht deuten, nur seine Stimmlage ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass er sauer sein muss.

Angespannt warte ich auf den Grund seines Rufens.

„Aaron hat einen Job für uns. Ich bin hier um dich abzuholen. Euren Ausflug werdet ihr verschieben müssen.“ Noch immer schwingt Unheil in seiner Stimme.

„Ist gut“, zwinge ich mich zu sagen, doch meine Lippen zittern vor Anspannung, ich klinge wie ein verschrecktes Kind.

Judy schaut zwischen uns hin und her. „Wer ist der Kerl?“, fragt sie mich.

„Mein Leibwächter!“, antworte ich auch wenn mir Verlobter im Kopf herumspuckt.

„Aha…?“ Sie klingt nicht sehr überzeugt. „Also musst du jetzt gehen?“ Sie lässt mich los.

„Scheint so“, sage ich mit Blick auf Toni.

Er erhebt sich, mit festen Schritten hält er auf uns zu. Neben mir bleibt er stehen, seine Worte richtet er an Judy, doch sein durchbohrender Blick gilt mir: „Wenn du magst, bringe ich ihn dir heute Abend wohlbehalten zurück.“

Wir tauschen vielsagende Blicke. In seinen Augen glaube ich tiefe Verbitterung zu lesen. Wie schwer müssen ihm diese Worte wohl gefallen sein?

Judy macht einen Schritt von uns weg, sie mustert uns beide eingehend, dann erst antwortet sie: „Ja gut, aber pass auch wirklich auf ihn auf. Mein Ex-Freund ist nicht gerade begeistert und ich weiß, welche Aufgaben mein Vater vergibt. Wenn er auch nur mit einer Narbe mehr zurückkommt, bekommst du es mit mir zu tun!“

Ob sie das wirklich ernst meint? Was wird sie dann tun? Meinen Leibwächter vermöbeln, wenn er seinen Job nicht richtig macht? Das Bild, das in meinem Geist entsteht, lässt mich schmunzeln.

„Ist recht!“, sagt Toni und stößt mir in den Rücken.

Das Schmunzeln vergeht mir. Das gibt sicher einen Streit, sobald wir das Haus verlassen haben und unter uns sind. Vergeblich suche ich nach einer Rechtfertigungsmöglichkeit, doch es gibt keine.

Als wir das Haus verlassen und die Tür hinter uns ins Schloss fällt, suche ich verzweifelt nach Worten: „Toni, ich …“

„Ich will es nicht wissen! Ich will nicht darüber reden und von dir auch nichts darüber hören“, sagt er schroff und geht voraus.

„Aber…“ Ist das sein Ernst? Ich folge ihm und muss mich anstrengen mit seinen schnellen Schritten mitzuhalten. Es gibt so vieles, was mir auf der Seele brennt, was wir unbedingt klären sollten und er will, dass ich schweige? Mir ist dabei, als müsste ich platzen. Endlich erreiche ich ihn, ich greife seine Hand und zwinge ihn anzuhalten. „Toni, bitte warte!“

Er dreht sich nach mir um. Sein Blick ist düster und irgendwie gierig. Ich kann nicht deuten, was er denkt. Toni erhebt den Zeigefinger, drohend hält er ihn mir ins Gesicht. „Kein einziges Wort!“

Ich halte den Atem an, versuche meine Gedanken zu stoppen, bevor sie mir über die Lippen kommen.

Seinen Kopf legt er an mein Ohr und sagt leise und mit einer Bestimmtheit, die mir das Blut in den Adern gefrieren lässt: „Und nach unserem Auftrag, gehörst du mir, mir allein! Verstanden?“

Meine Furcht wandelt sich in Neugierde. Ist das eine Anspielung darauf, mir die Frauen aus dem Kopf zu vögeln? Eine harte schnelle Nummer irgendwo hinter verschlossenen Türen? Ich kann nichts gegen das breite Grinsen tun, dass sich mir ins Gesicht zwingt. Eifrig nicke ich und strahle vor Vorfreude.

Tonis Wut dämpft das nicht, noch verbissener wird seine Mimik. „Was gibt es da so blöd zu grinsen?“

„Nichts! Ich freu mich einfach darauf“, sage ich und hebe die Schultern. Langsam gehe ich an ihm vorbei und laufe weiter.

Er schaut mir irritiert nach. „Ich habe nicht vor, dich auch noch zu belohnen!“, schimpft er.

Ich lache und schaue über die Schulter zurück. „Dann solltest du mich besser nicht überwältigen und dir zu willen machen, denn das liebe ich!“ Besonders provokant schwinge ich beim Weitergehen mit den Hüften.

Tonis Blick wird zunehmend ratloser. „Was stimmt denn mit dir nicht?“, fragt er und eilt mir nach.
 

…~*~…
 

Die Beiden sind heute wieder verdammt spät dran, dabei freut sich Vincent schon seit dem Fest beim Paten darauf, den Knaben endlich wieder zu sehen. Aaron davon zu überzeugen, Enrico für ein Konzert zu Buchen, war ein leichtes gewesen. Der alte Mann ist so versessen darauf, den Jungen in den Clan einzuführen, er würde ihn auch an den Teufel verkaufen, wenn das hilft, seinen Ruf zu verbessern. Dummer alter Mann, wenn Vincent erst mit ihm fertig ist, wird Enrico für den Clan nicht mehr zu gebrauchen sein, dann wird auch Aaron einsehen, dass es keine gute Idee war, den in die Familie aufzunehmen. Wenn Aaron sein Interesse an ihm erst mal verloren hat, dann wird er Vincent gehören, bis sein kleiner Körper nicht mehr standhält und sein Herz aufhört zu schlagen.

Angespannt fährt Vincent sich über die Lippen, während er aus dem geöffneten Tor seiner Fabrik hinaus schaut. Die Kisten für die Übergabe sind längst gepackt, sie türmen sich zu seiner Rechten. Geschäftig laufen seine Mitarbeiter um ihn herum und treffen letzte Vorbereitungen. Die erste Ladung wird bereits auf einen Handkarren verladen. Es ist schon immer hilfreich gewesen, Kinder mit seinen Drogenkurierfahrten zu beauftragen, bisher ist dabei noch keines von der Polizei angehalten worden, sicher wird auch jetzt alles gut gehen.

Wieder sieht Vincent die nahe Straße hinunter. Die beiden Jungen sind noch nicht zu sehen, so langsam wird er ungeduldig. Ob Enrico sich wohl nicht traut zu ihm zu kommen? Dabei hat Vincent gerade ihn schicken lassen, um ihm mitzuteilen, wann das Konzert stattfinden wird, dass er in seinem Hause geben soll. Ein Vorwand natürlich, ebenso wie der Auftrag jetzt.

Vincent zieht an seiner Zigarette, sie ist bereits bis zum Filter aufgeraucht. Genervt wirft er sie auf den Boden und tritt sie aus. Während er sich eine neue ansteckt, sieht er wieder die Straße hinunter.

Die Vorfreude auf den Abend in zwei Wochen schwillt in ihm. Den Knaben an sein Klavier zu setzen, ist sein Geschenk an sich selbst. Niemanden hat er dafür eingeladen, auch wird er den Knaben keinem seiner Geschäftsfreunde vorstellen, das wäre ja noch schöner. Solche Straßenratten sind nur für eine Sache gut. Gedanklich wandert Vincent zu jenem Abend vor einem Jahr:

So naiv und dumm wie Enrico war, ist er seiner Einladung auf einen Drink in sein Apartment gefolgt. Der Junge hat noch nie Alkohol getrunken und konnte gar nicht schmecken, was er ihm in das Glas gemischt hat. Es war so aufregend gewesen, als er umkippte und Vincent ihm in aller Ruhe die Fesseln anlegen und ihn auf dem Sofa fixieren konnte. Es war fantastisch darauf zu warten, dass er wieder aufwacht und in seinen Augen die nackte Angst erscheint.

Vincent verzieht das Gesicht, angespannt inhaliert er den Qualm seiner Zigarette, während er den Abend im Geiste noch einmal passieren lässt: Als Enrico aufwachte und er sich über ihn hermachen wollte, war da keine Angst, keine Panik, nur ein wütendes Feuer. Wie der Teufel hat er sich gewehrt, hat um sich geschlagen und ihn von sich getreten, selbst seinen gekonnt geschnürten Beinfesseln hat er kurzfristig entkommen können. All seine Kraft hat nicht gereicht den Jungen zu bändigen. Er musste ihm zusätzliche Drogen spritzen, um ihn endlich ruhig zu stellen. Erst dann konnte Vincent dieses Glitzern sehen, die pure Angst vor ihm. Der Capo lächelt verschlagen. Es war eine solche Genugtuung ihm das Hemd vom Leib zuschneiden und dabei seine Verzweiflung zu sehen. Dieser sündige, junge Körper und diese runden Pobacken. Beinah meint er ihn noch einmal unter sich spüren zu können, wie er sich windet und um Gnade fleht. Vincent war so dicht dran gewesen dem Jungen die Hose von den Schenkeln zu reißen und sich anzusehen, was darin verborgen liegt.

Vincents Zigarette ist abgebrannt, er lässt sie fallen. Seine Gesichtszüge verhärten sich, als ihm der Gedanke an den Leibwächter Enricos kommt. Dass es diese Missgeburt überhaupt gewagt hat, ihn anzugreifen, ihn KO zu schlagen. Es ist eine Schande, dass der Kerl immer noch am Leben ist. Verbissen fischt Vincent nach einer weiteren Zigarette.

Dass Aaron diese Stück Dreck nicht entsorgt hat, kann er bis heute nicht verstehen, aber das wird er ändern. Ein süffisantes Lächeln schlägt sich in seine Mundwinkel. Für das schwarze Wölfchen hat er sich ebenfalls etwas überlegt, denn sicher werden die Beiden wie immer zusammen vorbei kommen. Dass sich dieser Bastard zwischen ihn und seine Beute gestellt hat, dass er auch noch auf ihn geschossen hat, das wird er teuer bezahlen.
 

Zwei Jungen kommen die Einfahrt herauf, Vincent erkennt sie schon von weitem. Vorfreude ergreift von ihm Besitz, er leckt sich über die Lippen. Von oben bis unten fährt er die Gestalt Enricos mit den Augen ab. Er wollte ihn schon, als er ihn das erste Mal gesehen hat und er wird ihn haben, egal was dazu nötig ist, immerhin ist ihm bisher noch kein Kind entkommen. Er grinst breit. „Zumindest nicht lebend“, sagt er leise und verfolgt dabei jeden Schritt seiner Beute.

Dieser selbstsichere Gang und diese Lebensfreude, das Lächeln, das Enrico seinem Freund schenkt. Das alles wird er auslöschen, wie den Docht einer Kerze zwischen seinen Fingern zerreiben. Den Willen dieses Knaben wird er brechen, und wenn es das Letzte ist das er tut! Unter ihm wird er sich winden und zappeln, schreien und heulen, ihn um Gnade anflehen und dann wird er ihn nehmen, hart und gewaltsam, so wie es sich für einen gestandenen Mann gehört, der seiner Lust freien Lauft lässt. Vincents Lächeln wird zu einer diabolischen Fratze. Wenn er doch nur schon Geburtstag hätte und der Junge an seinem Flügel sitzen würde.
 

…~*~…
 

Dass wir immer noch mit diesem Schwein zusammenarbeiten müssen, geht mir gehörig auf die Nerven. Toni hätte ihn doch umlegen sollen, als wir die Gelegenheit dazu hatten. Wenn der Kerl nur kein Capo wäre, als direkter Unterstellter Aarons, wird sein Fehlen sofort auffallen, trotzdem spinne ich jedes Mal, wenn ich ihn sehe einen neuen Plan, wie ich ihn aus dem Weg räumen könnte. Heute ist es der Hudson River und eine sehr, sehr hohe Brücke, von der ich ihn in die Tiefe fallen sehe. „Vincent!“, begrüße ich ihn mit düsterer Stimme, als ich vor ihm stehen bleibe.

Er lächelt vergnügt. „Enrico mein Freund!“, erwidert er mit überschwänglicher Stimme.

Ich schaue noch finsterer. „Ich bin nicht dein Freund!“, entgegne ich todernst.

Sein Lächeln wird verschlagen und falsch, er legt mir seinen Arm über die Schulter. „Aber, aber, bei unserer wundervollen Vergangenheit, da sind wir doch schon längst dicke Kumpels.“ Er lacht mir ins Ohr, sein warmer Atem streift meinen Hals.

Mir wird speiübel bei seinem Geruch und der unangebrachten Berührung. Ich brauche meine ganze Beherrschung ihn nicht von mir zu stoßen und vor seinen Mitarbeitern abzuknallen. Meine Hand wandert bereits an den Griff des Revolvers, den ich Toni auf dem Weg hier her abgeschwatzt habe. Wenn wir schon unbedingt diesem Schwein helfen müssen, dann nicht unbewaffnet und wenn er nicht augenblicklich loslässt, halte ich ihm den Lauf unter die Nase, mir egal, dass er ein Capo ist.

Tonis Haltung spannt sich an. Er kommt einen Schritt auf uns zu, doch ich halte ihn mit einem leichten Kopfschütteln auf.

Das hier kann und will ich allein klären. „Was willst du von uns Vincent? Warum hast du uns herbestellt?“, frage ich und hebe seinen Arm von meiner Schulter.

Er entfernt sich einen Schritt von mir und deutet auf einige Kisten, die sich auf einem Handwagen türmen. „Eine neue Lieferung ist fertig. Die Adressen findet ihr wie immer auf den Päckchen.“

„Das ist alles?“

„Nicht ganz!“ Seine Augen bekommen einen diabolischen Glanz, sein falsches Lächeln wird breiter.

„Was willst du noch?“

„Aaron hat zugestimmt. Am 14. September erwarte ich dich also in meinem Apartment, damit du mich und meine Gäste am Klavier unterhältst.“

Unruhe schleicht sich in mein Herz. Dieses Vorhaben hatte ich bereits erfolgreich verdrängt. Meine Nackenhaare stellen sich auf, alles in mir sträubt sich gegen die bloße Vorstellung. Nie wieder will ich dieses verdammte Apartment von innen sehen. Hat unsere Drohung von damals denn nicht ausgereicht, dass er uns endlich in Ruhe lässt? Muss ich sie wirklich wiederholen?

„Punkt 18 Uhr, bei mir!“, sagt er.

„Ganz bestimmt nicht!“, entfährt es mir.

Er zuckt mit den Schultern. „Es ist bereits beschlossene Sache! Du weißt doch, was Aaron anordnet, wird so geschehen.“ Seine Stimme ist voller Zuversicht.

Ich habe keine Zweifel, dass das stimmt. Aaron war sofort Feuer und Flamme für diesen Plan.

So komme ich also nicht weiter. Ich gehe den Schritt, der mich von Vincent trennt. Ganz nah bei ihm stelle ich mich auf die Zehenspitzen, um auf selber Höhe mit ihm zu sein: „Ich weiß genau, was du vorhast und du solltest dir darüber im Klaren sein, was dir blüht, wenn du es versuchst!“ Ich spanne den Zeigefinger, als wenn er der Lauf einer Waffe wäre und lege ihn an Vincents Bauch. „Wir machen dich kalt, ich schwör‘s dir. Mir egal, dass du ein Capo bist. Toni trifft dich auch aus der Entfernung wie du weißt, notfalls können wir es wie einen Unfall aussehen lassen.“
 

…~*~…
 

Da ist es wieder, dieses Feuer das Vincent so gern beherrschen und dann auslöschen will. Ja, es wird ihm ein Fest sein, den Jungen zu brechen und dann seinen kleinen Leibwächter umzulegen, am besten vor Enricos Augen. Mal sehen, wie mutig er dann noch ist.

~Besitzanspruch~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

~Zimtschnecken~

Wie seltsam, ich fühle mich irgendwie schlapp und mein Magen sticht entsetzlich. Alles ist dunkel, ich muss die Augen öffnen um daran etwas zu ändern. Mein erster Blick fällt auf Holzbretter, die von krummen Nägeln zusammengehalten werden. Das ist die Hütte, die ich mit Toni auf dem Dach des Abrisshauses gebaut habe, aber wie komme ich hier her? War ich nicht eben noch unten in einer der Wohnungen und wollte Toni einen blasen? Was ist denn passiert? Mein Blick schweift umher. Vor dem Eingang des Bretterverschlags sitzt mein Leibwächter, er hat mir den Rücken zugedreht, seine ganze Haltung ist angespannt. Irgendwas Schlimmes muss passiert sein.

Ich versuche mich aufzusetzen, doch die Kraft in meinem Körper ist kaum nennenswert. Ich brauche zwei Anläufe, bis es mir endlich gelingt. Mein Kopf fühlt sich dabei an, als wenn er in eine Schraubzwinge geraten wäre. Ich greife meine Stirn und stöhne kläglich.

Tonis Haltung verspannt sich weiter, laut und angriffslustig fragt er: „Wie lange Enrico? Wie lange hast du schon nichts mehr gegessen?“

Ich fühle mich ertappt und setze ein schelmisches Grinsen auf. „Was?“, frage ich und versuche unschuldig zu klingen.

Toni schüttelt leicht den Kopf. „Du bist wirklich gut darin geworden bei Aaron deine Mahlzeiten verschwinden zu lassen. Ich habe es nicht bemerkt.“ Seine Stimmlage wird immer dunkler und unheilvoller.

„Aber ich esse doch…“, versuche ich glaubhaft zu lügen.

Toni dreht sich nach mir um, in seinen Augen flammt Wut. Er holt weit aus und schlägt mich hart auf die Wange.

Ich fahre zusammen und fasse mir an die schmerzende Haut. Entsetzt sehe ich ihn an.

Toni hält mir drohend seinen Zeigefinger ins Gesicht. „Lüge mich nicht auch noch an! Du bist gerade einfach umgefallen und warst jetzt fast eine Stunde ohnmächtig!“

Ich senke meinen Blick und wage nicht mehr ihn anzusehen. Auch Worte der Verteidigung habe ich nicht auf Lager, also schweige ich.

Tonis Stimme bleibt wütend, als er sagt: „Du siehst aus wie ein Gerippe und gerade beim Sex war deine Gegenwehr erbärmlich. Was glaubst du passiert wenn wir auf einen der Drachen treffen? Denkst du, dann hast du auch nur den Hauch einer Chance zu entkommen?“

Ich drehe den Kopf zur Seite und betrachte ein loses Brett der Hütte. Leise sage ich: „Sollte noch mal so ein Typ vor mir auftauchen, erschieße ich mich selbst bevor ich ihm in die Hände falle.“

„Ich klatsche dir gleich noch eine!“, sagt er ernst.

Ich atme schwer aus und schweige wieder.

„Wir haben jetzt seit über einem Jahr alles dafür getan, um am Leben zu bleiben und nun gibst du einfach auf?“, fragt er vorwurfsvoll.

„Ich habe doch nur einfach keinen Hunger“, sage ich leise. Als wenn mir mein Magen wiedersprechen wollte, knurrt er laut. Das Gurgeln in meinem Inneren wandelt sich in einen stechenden Schmerz. Ich krümme mich zusammen und halte mir den Bauch.

Tonis finsterer Blick lastet schwer auf mir. Er zieht eine braune Papiertüte aus seinem Schoß und hält sie mir unter die Nase. Aus ihr duftet es nach Gebäck und Hefeteig. „Iss!“, sagt er streng.

Wo er die wohl her hat? Ist er extra noch mal los um mir was zu Essen zu besorgen? Ich seufze und nehme ihm die Tüte aus der Hand, doch trotz des betörenden Duftes, bringe ich es nicht über mich sie zu öffnen.

Toni straft seine Haltung, sein Körper versperrt nun komplett den Eingang der Hütte. „Du kommst hier nicht raus, eh du alles aufgegessen hast und wehe du kommst auf die Idee es wieder auszukotzen, dann zwinge ich es dir mit einem Trichter rein, mir egal wie das dann schmeckt!“

Der Gedanke klingt scheußlich, doch so wie Toni schaut habe ich keinen Zweifel daran, dass er seine Drohung in die Tat umsetzen wird.

Ich seufze und lasse die Schultern hängen. Die Papiertüte lege ich mir in den Schoß und öffne sie. Zwei Zimtschnecken und ein Beagle starren mich mahnend an. Ich fische mir eine der Zimtschnecken heraus. Sie sieht wirklich köstlich aus und mein Körper verlangt nach der Nahrung, trotzdem kann ich mich nur schwer überwinden etwas davon abzubeißen. Ich kämpfe schon so lange mit der Übelkeit beim Anblick von Essen, das es schon reine Gewohnheit ist, nach einem Ausweg zu suchen, das Zeug ungesehen los zu werden. Auch jetzt erwische ich mich dabei, wie ich meinen Blick schweifen lasse. Unter der Decke würde sich das Gebäck sicher gut verstecken lassen, doch Toni sitzt genau vor mir und beobachtet mich mit Adleraugen. Ich zwinge mich dazu, abzubeißen und den ersten Bissen hinunter zu schlucken. Die Süße schmeckt nach mehr und mein Körper überschüttet mich nach der langen Zeit ohne Nahrung mit einem Glücksgefühl, trotzdem bleibt jeder neue Bissen eine Überwindung.

Toni beobachtet mich noch einen Moment lang, dann fragt er: „Warum isst du nichts?“

Ich seufze und nutze das Gespräch, um für den Moment mit dem Essen aufhören zu können. Während ich das Gebäck mit traurigem Blick betrachte, sage ich: „Weil mir immer schlecht wird, wenn ich was zu Essen sehe.“

„Das ist aber doch nicht normal. Vielleicht sollten wir Susen bitten, dich zu untersuchen.“ Sorge legt sich in Tonis Blick und löst seine finstere Miene ab.

Ich sehe zur Seite weg. „Sie hat mich schon untersucht!“, sage ich kleinlaut. Susen ist es natürlich nicht entgangen, dass ich immer dünner werde. Sie hat darauf bestanden mich zu untersuchen.

„Und?“, fragt Toni.

„Mir fehlt körperlich nichts. Sie meinte das hat was mit meinem Kopf zu tun.“ Vorsichtig hebe ich den Blick, um Tonis Reaktion abschätzen zu können.

Er schaut fragend.

„Naja wegen den ganzen schlimmen Dingen die uns so passiert sind“, füge ich erklärend an.

„Hat sie auch gesagt, was man dagegen tun kann?“

Ich lasse die angebissene Schnecke in meinen Schoß sinken und schaffe es nicht mehr Toni anzusehen. Während ich vor mich hinstarre, sage ich: „Ich soll mit jemanden darüber reden dem ich vertrauen kann, aber ich will nicht darüber sprechen, oder je wieder daran denken.“ Es reicht mir dass ich jede Nacht davon träume. Schon beim bloßen Gedanken an dieses Zimmer in der Lagerhalle an den Docks, mit dem Tisch und dem Werkzeug darauf, wird mir schlecht. Beinah glaube ich den Schmerz in meinem Bein wieder fühlen zu können. Unweigerlich zwingen sich mir Tränen in die Augen, ich kämpfe sie hinunter.

Toni kommt auf den Knien robbend in die Hütte, stehend hätte er hier drin auch keinen Platz. Er legt sich neben mich und verschränkt die Arme hinter den Kopf. „Lass uns heute einfach hier bleiben, wir brauchen beide eine Auszeit. Vielleicht sollten wir das einfach wieder regelmäßig machen. Mal abhauen, weg von diesen ganzen Mafiatypen. Einfach mal einen Tag uns hier verschanzen.“

„Aaron wird ausflippen!“, gebe ich zu bedenken.

„Seit wann stört dich das? Außerdem hast du doch eure Vereinbarung erfüllt. Judy scheint dir verfallen zu sein und diese reichen Säcke hast du auch von deinem Talent am Klavier überzeugt. Jetzt müssten wir doch wieder nach Hause dürfen, oder nicht?“

Das hatte ich schon fast wieder vergessen. Sollte Aaron uns dumm kommen, werde ich ihm das wirklich vorhalten können. Mit der Aussicht endlich wieder mein eigener Herr zu sein und zu unserem Rudel zurückkehren zu können, entspanne ich mich zunehmend. Schließlich lehne ich mich zurück und lege mich zu Toni. Meinen Kopf bette ich auf seinem Oberkörper. Nicht ins Anwesen zurückkehren zu müssen, macht mir tatsächlich gute Laune. Wenn wir die ganze Nacht hier verbringen und in Zukunft wieder in der Fabrik wohnen, muss ich mich auch nicht jeden Moment darum bemühen, Toni zu meiden. Das wird herrlich werden.

Toni greift nach meiner Hand mit der ich noch immer die Zimtschnecke in meinem Schoss halte. Er führt sie mir zum Mund. „Iss!“, sagt er streng.

Mit der Aussicht hier zu bleiben, habe ich gerade so gute Laune, dass ich den Rest des Gebäcks verschlinge ohne darüber nachzudenken.

~Vincents Geburtstagsgeschenk~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

~Der Müll des Capos~

„Enrico, bitte mach die Augen auf!“, erreicht mich undeutlich eine panische Stimme. „Bitte!“, fleht sie weiter inständig.

Dabei will ich die Augen nicht mehr öffnen, nicht sehen was da vor sich geht. Dort erwartet mich nur Vincents gieriger Blick und seine erbarmungslose Art. Doch so sehr ich auch versuche in dieser Dunkelheit zu bleiben, der Schmerz gräbt sich dennoch in mein Bewusstsein. Meine Kehle fühlt sich an wie zugeschnürt, ich kann kaum Schlucken und bekomme nur schwache Atemzüge zustande. In meinem Kopf schlägt ein Presslufthammer gegen meine linke Schläfe. Ich stöhne gequält und bin dabei so leise, dass ich mich selbst kaum hören kann. Mein restlicher Körper fühlt sich an, wie in eine Fleischpresse geraten.

Lautes Krachen und das Ächzten von Metall, schlägt mir ins Gehör und lässt mich zusammenfahren.

„Nein!“, höre ich die Stimme von eben erneut panisch schreien. Ich brauche einen Moment bis mir klar wird, dass es Toni Stimme ist. Was immer um uns herum vor sich geht, muss ihm wahnsinnige Angst machen. Ich will nicht nachsehen, was es ist.

„Enrico, bitte!“, wird er energischer. Ich spüre seine Finger, wie sie sich um meine Handgelenke schließen und er an mir zieht. Meine Arme strecken sich und ziehen mein ganzes Körpergewicht mit sich. Mein Rücken reibt über einen ledernen Untergrund und brennt dabei wie in Feuer getaucht. Ein deutlich lauteres Stöhnen gebe ich von mir, das ist nicht auszuhalten. Ebenso wie das Krachen und Knallen, Glas geht zu Bruch und regnet auf mich herab.

Nun kann ich doch nicht anders, ich muss nachsehen was hier passiert.

Als ich die Augen öffne, fällt etwas schweres auf mich und begräbt mich unter sich.

Ein schneller Atem hebt und senkt den Oberkörper, der auf mir liegt. Er zittert heftig und bleibt doch schützend über mir liegen.

Der Raum um mich herum wird kleiner, meine Gliedmaßen werden immer enger an meinen Körper gedrückt. Es kracht noch einmal laut, dann schleift etwas über den Boden. Für einen kurzen Moment wird es still. Einen Augenblick später schrillt ein lautes Warnsignal, wie von einer elektrischen Anlage, die einen Fehler meldet. Fluchende Laute einer Männerstimme folgen.

„Verdammte alte Presse!“, knurrt jemand, dessen Stimme ich nicht zuordnen kann.

„Was ist los?“, fragt ein anderer Mann. Dieser dunkle Tonfall geht mir durch Mark und Bein. Vincent!

„Es muss sich was verklemmt haben, einen Moment!“, sagt der erste Mann.

„Seh‘ zu das sie wieder läuft. Ich will das der Wagen verschrottet und danach sofort eingeschmolzen wird. Bekommst du das nicht hin, kannst du deine Bezahlung vergessen!“

„Ja sicher, einen Moment!“ Schritte bewegen sich über Kiesboden, dann sind Hammerschläge zu hören.

Der Körper über mir erhebt sich, ich kann nun direkt in Tonis grüne Augen sehen. Tränen und panische Angst liegen noch immer in ihnen, aber auch ein Funken Hoffnung.

„Bitte… bitte sag mir, dass du dich bewegen kannst!“, sagt er leise, als wolle er nicht das man uns hören kann.

Ich sehe an ihm vorbei. Um uns herum sieht es aus wie in einem Automobil. Nur das die Türen und Sitze eng zusammengeschoben sind. Die Fensterscheiben sind zerbrochen, ihr Glas verteilt sich um uns herum.

Wie kommen wir denn in ein Auto und warum ist das so kaputt? Hatten wir einen Autounfall?

„Was dauert da so lange?“, fragt Vincent.

„Ich habe es gleich!“, entgegnet sein Komplize, dann sind wieder die Schläge des Hammers gegen Metall zu hören.

Toni bewegt sich rückwärts und greift erneut meine Arme. Er zerrt an mir, doch seine Kraft reicht nicht aus. Flehend sieht er mich an. „Enrico, bitte!“, sagt er immer wieder.

Ich versuche meinen Körper wieder in Besitz zu nehmen, doch jede Bewegung fühlt sich an, als würden mich Fausthiebe treffen. Ich verziehe das Gesicht und versuche meine Füße unter dem Sitz herauszubekommen, um sie gegen den verbogenen Rahmen der Tür stemmen zu können.

„So jetzt müsste es wieder gehen!“, sagt der Komplize, die Hammerschläge hören auf.

Tonis Augen weiten sich, nackte Angst spiegelt sich in ihnen. Als wir erneut Schritte hören können, zerrt er energischer an mir.

Seine Panik jagt auch mir das Adrenalin ins Blut, auch wenn ich noch nicht begreifen kann, was hier vor sich geht, ist mir klar, dass wir wohl sterben werden, wenn wir in diesem Auto bleiben.

Der Schmerz meines Körpers tritt in den Hintergrund, ich schaffe es meine Beine zu befreien und hebe sie auf das Sitzpolster. Meine Finger lege ich um Tonis Handgelenke, so haben wir beide mehr Halt am anderen, denn unsere Handflächen sind kalt und schwitzig. Mit den Füßen stemme ich mich gegen die verzogene Tür, dann ist das Anlaufen eines Motors zu hören und das Bersten von Metall.

Der Raum um uns herum wird noch kleiner, die Türen und Sitzpolster kommen immer näher.

Ich halte den Atem an und versuche rückwärts über den Sitz zu robben. Toni hat die Tür hinter sich aufgetreten und steigt eilig aus, während er weiter an mir zerrt.

Das Dach des Automobils knickt über mir ein, ich schreie, doch meine Stimme wird von dem ächzenden Metall übertönt. Strampelnd bewege ich mich weiter Toni entgegen und schließe die Augen, vor der immer kleiner werdenden Hölle um mich herum.

Der Zug auf meine Arme wird stärker, dann falle ich einen halben Meter tiefer und werde über kalten Metallboden gezogen. Ein ohrenbetäubender Lärm dröhnt mir in den Ohren.

Als ich die Augen wieder öffne, wird direkt vor mir das Automobil, in dem wir eben noch waren, von zwei gigantischen Metallplatten zu einem handlichen Würfel zusammengepresst.

Ich kann noch immer nicht atmen. Wie gelähmt sehe ich diesem Schauspiel zu und werde dabei weitergezogen. Um uns herum schiebt sich auf einmal ein Tunnel in mein Blickfeld, der alles Licht schluckt. Ich will noch einmal schreien, fürchte ich doch in der nächsten Schrottpresse zu landen, doch Toni legt sich neben mich und hält mir den Mund zu. „Keinen Mucks!“, sagt er todernst.

Ich schaue aus der Öffnung zurück zur Schrottpresse. Dabei begreife ich langsam, dass Toni uns in ein großes Rohr bugsiert hat, das für gewöhnlich beim Bau von unterirdischen Wasserkanälen zum Einsatz kommt. In seinem Inneren sind wir vor den Blicken von außen geschützt. Rechts und links davon säumen berge aus Altmetallschrott mein Blickfeld. Wir sind also auf einem Schrottplatz? Will uns Vincent hier etwa wie Müll entsorgen?

Die Schrottpresse öffnet sich und gibt den Klumpen Altmetall in seinem Inneren frei. Ihr gegenüber stehen zwei Männer. Einer von ihnen ist Vincent, der gerade ein Geldbündel an den Schrotthändler übergibt. Der Mann in der fleckigen Latzhose betrachtet die Scheine gierig und lässt seinen Daumen über ihre Kante gleiten.

„Du wirst den Schrotthaufen noch heute einschmelzen! Verstanden?“, befiehlt Vincent.

„Sehr wohl!“, sagt der Schrotthändler und besteigt einen Gabelstapler, mit dem er den Mettallklumpen auflädt.

Vincent dreht sich um, ohne einen letzten Blick zurück verlässt er den Schrottplatz.

„Wir müssen hier weg“, flüstert Toni mir ins Ohr.

Das sehe ich genauso, doch je mehr die Panik in mir abflaut um so deutlicher spüre ich die rasenden Kopfschmerzen und die etlichen Blessuren meines Körpers. Als ich an mir hinabsehe, bin ich noch immer nackt. Mein Körper ist von Schürfwunden und blauen Flecken übersäht, überall klebt getrocknetes Blut. Meine Kehle ist noch immer wie zugeschnürt und kratzt unter jedem Atemzug. Egal wie viel ich auch schlucke, es wird nicht besser. Keine Ahnung ob ich überhaupt aufstehen kann.

Toni sieht über die Schulter weit in das Rohr hinein.

Ich tue es ihm gleich. Am Ende ist Licht zu erahnen, scheinbar kommen wir auf diesem Wege auf der anderen Seite des Schrottberges heraus.

Toni zieht sich sein fleckiges Hemd aus und legt es mir über die Schultern. Seine Körperwärme ist darin gespeichert und lässt es mich krampfhaft umschlingen. Ich schlottere am ganzen Leib und weiß nicht mal, ob vor Kälte oder wegen allem, was hinter uns liegt.

„Komm!“, sagt Toni leise und krabbelt auf allen vieren Rückwärts durch das Rohr.

Ich versuche ihm zu folgen, doch jede Bewegung lässt mich innehalten. Das ist einfach nicht auszuhalten. Mein zugeschwollener Hals macht es nicht leichter, bekomme ich doch einfach nicht genug Luft für große Anstrengungen. Auf der Hälfte des Weges lasse ich mich einfach schwer atmend fallen. Der Boden des Rohres stinkt modrig und mein Atem wirbelt Staub und Spinnweben auf. Käfer krabbeln auf der Flucht vor uns davon. Hier ist wirklich nicht der richtige Ort, um liegen zu bleiben, aber ich schaffe es nicht mehr mich aufzuraffen.

„Enrico?“, fragt Toni und hat bereits das Ende des Rohres erreicht. Seine Gestalt hebt sich dunkel gegen den helleren Hintergrund ab.

Die Erinnerung an meine letzten wachen Momente holen mich ein. Vincent und seine brutale Art, auch mein Versuch ihn umzulegen. Der lässt uns nie in Ruhe. Sobald er weiß, dass wir noch leben, sind wir tot. Aaron ist uns auch keine Hilfe, hat er uns doch erst in diese Situation gebracht. Da draußen gibt es keinen Schutz, keinen sicheren Ort. Warum sich also noch anstrengen?

„Enrico, komm schon!“, bittet Toni mich.

Mich überkommen Tränen, die ich nicht mehr gestoppt bekomme. „Ich kann nicht mehr!“, sage ich mit erstickender Stimme.

Toni sieht über die Schulter zurück und scheint sich auf dem Gelände umzusehen. Schließlich seufzt er ergeben und kommt in das Rohr zurückgekrabbelt. Er robbt bis zu mir und legt sich vor mich, seine Hände greifen die meinen, seine Stirn lehnt er gegen meine.

„Ich bin auch ziemlich am Ende!“, sagt er mit brüchiger Stimme.

Das er so offen zu seiner Schwäche steht, das kommt so selten vor, dass ich den Kopf doch noch mal hebe. Sein Gesicht ist blass und sein Atem geht stockend, Schweiß tropft ihm von der Stirn und lässt den Dreck der Umgebung an seiner Haut haften.

Das Gift kommt mir wieder in den Sinn. Drei Stunden hat Vincent gesagt, sind die schon um? Kann ich ihn noch in ein Krankenhaus bringen? Können wir ihn noch retten? Ich versuche mich aufzurichten, doch mein Körper weigert sich. Da ist keine Kraft mehr, nur noch Schmerz. Keuchend breche ich wieder zusammen. „Toni, du musst gehen. Geh, solange du noch laufen kannst. Geh, bevor dieses Gift dich umbringt…“, sage ich eindringlich.

Toni lächelt mich warmherzig an, seine Hand hebt er an meine Wange und sieht mir direkt in die Augen, als er sagt: „Wenn mich das Zeug umbringen könnte, dann wäre ich schon tot. Vincent muss was verwendet haben, gegen das mich die Drachen versucht haben immun zu machen.“

Ich lege den Kopf schief und verstehe nicht, was er mir damit sagen will. „Immun? Aber du hattest doch Schmerzen und bist zusammengebrochen.“ Das er sich wieder bewegen kann und sich nicht mehr am Boden krümmt, spricht allerdings für seine Theorie. Es scheint ihm immerhin besser zu gehen.

„Die Wirkung spüre ich immer noch, aber ich sterbe offensichtlich nicht mehr daran“, erklärt Toni und setzt ein bitteres Lächeln auf. „Da war Michaels Folter wenigstens einmal für was gut!“, sagt er.

Ich atme erleichtert aus. Toni wird also nicht hier vor meinen Augen sterben, das ist wahrlich beruhigend. Ich lasse den Kopf auf seine Hand sinken und schließe die Augen.

„Enrico? Hey! Bleib wach!“, sagt Toni und rüttelt mich an der Schulter, doch ich schaffe es nicht mehr mich zu rühren.

„Wir können hier nicht bleiben!“, sagt er energischer, doch mit schwindender Stimme.

„Du brauchst einen Arzt… wir müssen… müssen zu Susen…“, sagt er immer leiser. Warme Tränen tropfen mir auf die Wange und Schulter, schließlich legt Toni seinen Kopf auf meinem ab.

„Es… es tut mir so leid! Ich… ich habe dich schon wieder… schon wieder nicht beschützen können!“, murmelt er, während immer mehr Nässe von seinen Wangen fällt. Er ist mindestens genauso am Ende wie ich.

„Wir ruhen uns nur… ein bisschen… ein bisschen aus!“, sage ich und drücke seine Hand so fest ich noch kann, dann lösen sich meine Gedanken langsam auf und nehmen diese grausame Welt mit sich fort.

~Morgenübelkeit~

Als Judy an diesem Morgen bei Tisch sitzt, bekommt sie schon wieder nichts herunter. Ganze drei Tage geht das nun schon so, dass sie sich am Morgen übergeben muss. Ob sie wohl krank wird? Über den Tag geht es dann wieder, aber sobald sie Frühs auch nur an Essen denkt, dann...

Schon allein beim Anblick der Pancakes auf ihrem Teller spürt sie, wie es ihr den Brechreiz in die Kehle treibt. Eilig schiebt sie das Essen weit von sich. Die Arme legt sie übereinander auf der Tischplatte ab und vergräbt das Gesicht seufzend dahinter. Trotzdem hat sie den Geruch noch viel zu deutlich in der Nase und muss noch immer mit sich kämpfen.

„Du siehst heute Morgen schon wieder so blass aus und hast kaum etwas gegessen. Du wirst doch wohl nichts ausbrüten, meine Kleine?“, fragt Susen und klingt dabei mal wieder wie ihre Mutter.

Judy brummt nur unwillig als Antwort und versucht die Übelkeit herunter zu kämpfen.

Susen erhebt sich und kommt um den Tisch herum, ihre Hand legt sie Judy auf die Stirn und fühlt ihre Körpertemperatur. „Also Fieber hast du schon mal keines“, stellt sie fest. Ein überlegendes Seufzen kommt ihrer Schwester über die Lippen, bevor sie fragt: „Hast du was Falsches gegessen?

„Ich habe noch gar nichts gegessen!“, nuschelt Judy auf ihre Arme. „Das geht jetzt schon seit drei Tagen so. Frühs bekomme ich einfach nichts mehr runter. Außerdem habe ich ständig so ein blödes Ziehen im Unterleib“, fügts sie genervt an,

Susens Atem stockt, nur um einen Moment später hektisch wieder einzusetzen. Die Hand der Schwester legt sich auf ihre Schulter, ihre Finger gräbt sie fest hinein.

Irritiert davon sieht Judy auf.

In Susens Gesicht liegt ehrliche Sorge. Weiß sie etwa was ihr fehlt und ist es etwas Ernstes? „Was habe ich mir eingefangen?“, fragt Judy mit einer deutlichen Note der Panik in der Stimme.

Auf Susens Wangen bilden sich rote Flecken, ihr Blick wird unstet und scheu. Das macht Judy nur noch mehr Angst. „Was ist?“, will sie wissen, doch ihre Schwester senkt den Blick und beißt sich auf der Unterlippe herum. Sie scheint nach Worten zu suchen, holt immer wieder Luft, als würde sie sprechen wollen, bleibt aber stumm. Schließlich heben sich ihre Schultern unter einem tiefen Atemzug, dann fragt sie: „Judy, also… die Frage ist etwas ungehörig aber, bist du mit der Männerwelt schon etwas vertrauter umgegangen?“

Judy hebt eine Augenbraue. Fragt ihre verklemmte Schwester sie gerade allen Ernstes, ob sie noch Jungfrau ist? Warum muss sie das wissen? Moment… Judys Augen weiten sich unter der Erkenntnis, die sich in ihre Gedanken frisst. „Nein! Nein! Nein!“, protestiert sie lautstark. Augenblicklich wird ihr bewusst, dass auch ihre Regelblutung ausgeblieben ist. Den zweiten Monat in Folge!

„Sam?“, fragt Susen weiter.

Sam? Mit dem hat sie seit Monaten nicht geschlafen. Sie kann also gar nicht schwanger sein. Erleichterung breitet sich in ihr aus und lässt sie aufatmen. Immerhin keimt nun die Hoffnung in ihr, dass ihr Zustand einen anderen Grund hat, doch dann wandert ihr Blick hinaus durch die Verandatür aufs Meer. Wie ein Blitz durchzuckt die Erinnerung an ihren Geburtstag sie. Hitze steigt ihr in die Wangen, während sich ein imaginärer Kloss in ihre Kehle presst und sie schwer schlucken lässt.

„Hey, das ist okay!“, sagt Susen und sieht an ihr hinab, einen Moment lang betrachtet sie Judys flachen Bauch. „Man sieht noch gar nichts. Sam wollte dich doch eh heiraten. Wenn ihr das schnell tut, wird keiner was merken!“

„Ich habe nicht mit Sam… er kann das nicht… wir haben ewig nicht…“, beginnt Judy stammelnd.

Susens Gesichtszüge entgleisen ihr, bleich wird ihre Haut. „Wer war es dann?“, will sie wissen.

Noch bevor Judy die Kraft findet, ihren Verdacht auszusprechen, wird ein Schlüssel in das Schloss der Haustür geschoben und gedreht, jemand öffnet und kommt herein.

„Guten Morgen Mädels! Ich habe Kuchen und Sekt dabei. Es gibt was zu feiern!“, sagt eine helle Frauenstimme. Robin kommt mit einem kleinen Karton der nahen Bäckerei und einer Flasche in der Hand herein. Als sich ihre Blicke, mit denen ihrer Schwestern trifft, fragt sie verwirrt: „Ist wer gestorben?“

Auch das noch! Was muss Robin ausgerechnet in diesem Moment auftauchen? Kann es denn noch schlimmer werden?

„Okay, okay… keine Panik! Es ist sicher noch früh genug, wenn wir sofort handeln, dann können wir es loswerden!“, sagt Susen bestimmt.

„Was?“, fragt Judy entsetzt und greift sich an den Bauch. Sie springt von ihrem Stuhl auf und bringt schützend Abstand zwischen sich und die große Schwester.

„Judy, ein Kind, noch dazu von einem Mann der dich sicher nicht heiraten wird? Dann kannst du dich nirgends mehr blicken lassen“, sagt Susen aufgebracht, während Robin zwischen ihnen hin und her sieht.

Panisch lässt auch Judy ihren Blick zwischen den Schwestern wandern. Das alles muss ein Irrtum sein. Ganz bestimmt hat sie nur was Verdorbenes gegessen!

Während Susen beginnt im Raum auf und ab zu laufen und etwas Unverständliches in sich hinein zu murmeln, geht Robin seelenruhig auf den Tisch zu und stellt Kuchen und Sekt auf ihm ab. „Unsere Kleine hat sich also Schwängern lassen?“, fragt sie ruhig.

„Habe ich nicht! Mir ist nur etwas schlecht gewesen, mehr nicht!“, protestiert sie.

„Wer ist der Vater?“, will Robin wissen, ohne ihre Worte ernst zu nehmen.

„Ich bin nicht schwanger!“, keift Judy weiter.

„Sie sagt Sam sei es nicht gewesen!“, antwortet Susen für sie.

„Hey! Tut nicht so, als wäre ich nicht da!“, schimpft Judy aufgebracht.

„Seid ihr euch überhaupt sicher? Bevor wir die schlimmsten Szenarien durchspielen, sollten wir das erst mal abklären“, schlägt Robin vor.

Susen hält in ihrer Wanderung inne. Sie betrachtet Judy von oben bis unten, dann will sie wissen: „Deine Regelblutung, bekommst du die noch?“

Judy beißt sich auf die Unterlippe und sieht unter dem strengen Blick der Schwester hinweg.

„Großartig!“, sagt diese, scheint ihr doch Judys Verhalten Antwort genug zu sein.

„Aber wer der Vater ist, wirst du doch wohl wissen, oder?“, fragt Robin. „Vielleicht bekommen wir ihn ja doch dazu dich zu heiraten, ich meine, bevor Vater ihn kalt macht!“

„Ich habe nur… also, ach!“ Judy dreht sich von ihren Schwestern weg und legt das heiße Gesicht in beide Hände. „Ich habe nur mit Enrico geschlafen.“

„Was?“, entfährt es Susen und Robin gleichermaßen laut.

Judy sinkt noch tiefer in ihrer Haltung zusammen. Seit dieser Nacht hat sie den Blonden bisher nicht wieder gesehen und dass obwohl sein bescheuerter Leibwächter behauptet hat, ihn ihr heil zurückzubringen. Da er sich nicht mehr gemeldet hat, dachte sie die Sache wäre einfach bedeutungslos gewesen und hat es abgehakt. Doch wenn dabei wirklich ein Kind entstanden ist, dann ist sie ruiniert. Robins Gedanke breitet sich in ihrem Geist aus. Ihr Vater wird ihn umbringen, also kurz nachdem er sie endgültig und für immer verstößt. Jetzt wo die Gefahr besteht, dass er sie nie wieder sehen will, wird die Sehnsucht nach dem Vater nur noch stärker. Immer mehr Tränen steigen in Judy auf, schließlich kann sie sie nicht mehr bändigen. Warm laufen sie ihr in die Hände.

„Dein Glück das Vater euch eh verkuppeln will. Sehen wir also zu, dass du schnell unter die Haube kommst!“, sagt Robin.

„Aber, aber…“, stammelt Judy aufgelöst. Heiraten? Daran hat sie zwar schon oft gedacht, aber gerade geht ihr das alles zu schnell und ihre Schwestern scheinen sie gerade nur an den erst besten verscharren zu wollen, damit sie nicht mit einem unehelichen Kind geschlagen ist. Susen überlegt sogar, ihr das Kind aus dem Unterleib zu holen und die ganze Zeit scheint ihr im Raum zu schweben, was sie doch für eine Schande über sich und die Familie gebracht hat. Das fühlt sich so beschissen an, dass Judy in die Hocke geht und zu wimmern anfängt.

Davon ungerührt unterhalten sich die Schwestern weiter. „Meinst du wirklich er wird sie heiraten? Der ist immerhin selbst noch ein halbes Kind!“

„Und das ist nicht das größte Problem mit ihm…“, murmelt Robin, als wenn sie etwas über Enrico wüsste, das unangenehm für Judy werden wird.

Die Erkenntnis lässt sie nur noch mehr heulen.

„Judy! Hör auf zu weinen! Wir müssen dafür eine Lösung finden!“, sagt Susen hart und packt sie am Arm. Sie zieht sie auf die Beine und bugsiert sie zu ihrem Stuhl zurück. Eindringlich sieht die große Schwester sie an, als sie ihr die Tränen aus dem Gesicht wischt und will dabei wissen: „Kannst du dir denn vorstellen den Kerl zu heiraten?“

„Na spätestens jetzt hat sie eh keine Wahl mehr!“, murmelt Robin.

„Ihr beiden seid echt zum Kotzen! Ihr redet hier über mein Leben, als wenn es nun vorbei wäre!“, schimpft Judy und versucht sich loszureißen, doch Susens Griff um ihr Handgelenk ist eisern.

Robin zuckt nur mit den Schultern. „Naja, ist es ja jetzt auch irgendwie!“, sagt sie ungerührt.

Judy wendet sich ihr zu, wütend funkelt sie die Schwester an. „Ich hasse dich!“, schreit sie sie an, doch Robin wirft ihr lediglich einen Handkuss zu. Das bringt Judy nur noch mehr auf die Palme. Ihre Schwestern sind zu nichts nütze, ganz besonders nicht in so einer Ausnahmesituation.

Susen legt ihre freie Hand um Judys Wange, sacht dreht sie ihren Blick, bis sie sich ansehen. „Wir können das Problem auch einfach beseitigen. Dann muss Niemand je davon erfahren!“, sagt sie sanft und mit einem fürsorglichen Unterton.

Wie ein Stich fahren ihr die Worte der Schwester ins Herz. Es beseitigen? Judy hat noch gar nicht über Kinder nachgedacht, sie war noch nicht mal wirklich für eine Hochzeit bereit, aber der Gedanke das ungeborene Leben in sich einfach auszulöschen, erscheint ihr so unendlich falsch. Immer wieder flutet die Nacht mit Enrico durch ihre Gedanken. Sie hat sich mit ihm so glücklich und wohl gefühlt, wie kann sie da das Ergebnis aus diesem schönen Moment einfach vernichten? Wieder wandert ihre Hand an den Bauch, legen sich ihre Finger schützend darüber. „Nein!“, schreit sie energisch und reißt sich mit aller Gewalt aus Susens Griff los.

Während Robin in aller Ruhe den Kuchen auspackt und sich eines der Stücken nimmt und abbeißt, fragt sie mit vollem Mund: „Also wenn du es behalten willst, dann sollten wir mit Enrico sprechen. Wenn er dich heiratet, was ja eh geplant war, gibt es doch kein Problem mehr. Naja bis auf Vater, dem sollten wir wohl einreden dass das Kind in der Hochzeitsnacht gezeugt wurde und ein bisschen zu früh auf die Welt gekommen ist!“

Judy fühlt eine imaginäre Schlinge, die sich um ihren Hals zuzieht. Hat sie denn wirklich nur die beiden Optionen? Wieder sammeln sich Tränen in Judys Augen, die sie dieses Mal jedoch schluckt.

„Magst du ihn denn überhaupt?“, will Susen wissen und legt ihre Hand auf Judys Kopf.

Judy schnieft und sieht unter dem Blick der Schwester hinweg auf ihren Bauch, als sie antwortet: „Schon, aber er hat sich ja nicht mehr gemeldet, also wird das wohl nicht auf Gegenseitigkeit beruhen.“ Eine Ehe aus Zwang, weil eben ein Kind unterwegs ist, das wird sie sicher beide nicht besonders glücklich machen.

~Der Wille zu Überleben~

Als ich das nächste Mal die Augen öffne, fühlt sich meine Kehle rau und trocken an. Sie zwingt mich zum Husten und der lässt meinen ganzen Körper vibrieren. Ich stöhne gequält unter dem freiwerdenden Schmerz, der mir in die Glieder fährt. Verflucht! Nur langsam will sich mein Atem wieder beruhigen und lässt mir die Möglichkeit mich umzusehen.

Ich brauche einen Moment mich an das Abwasserrohr und den Schrottplatz zu erinnern. Scheinbar haben wir uns nicht von hier wegbewegt und uns hat wohl auch keiner gefunden. Toni liegt noch so vor mir, wie zuvor. Sein Atem geht gleichmäßig, die Augen hat er geschlossen. Als ich meine Hand nach ihm ausstrecke und auf seine Schulter lege, spüre ich kaum einen Unterschied zu meinen eiskalten Händen. Kein Wunder, er hat mir sein Hemd gegeben und liegt mit nacktem Oberkörper hier. Dafür glaube ich meine Füße und Zehen nicht mehr spüren zu können, so eisig sind sie. Wir müssen hier weg und ins Warme, oder zumindest Kleidung finden.

„Toni!“, spreche ich meinen Freund an und rüttle ihn an der Schulter.

Ein unwilliges Brummen kommt von ihm zurück.

Ich versuche es weiter und spreche lauter mit ihm: „Toni! Wach auf! Wir müssen hier weg!“

Er atmet langanhaltend aus und öffnet die Augen. Einen Moment gehen sie prüfend umher, bis er zu verstehen scheint, wo wir uns befinden. Ruckartig versucht er sich aufzurichten, stößt dabei allerdings an den oberen Teil der Röhre und sackt zurück. „Au!“, murrt er und reibt sich den angeschlagenen Hinterkopf, dann betrachtet er seine Finger, doch es klebt kein Blut an ihnen.

Der Hauch eines Lächelns zwingt sich mir in die Mundwinkel. Manchmal kann er schon süß sein, besonders wenn er nach dem Aufwachen so verschlafen dreinschaut.

„Sind wir etwa eingepennt?“, will er wissen.

„Glaub schon!“, antworte ich.

Tonis grüne Augen richten sich auf mich, er fährt meinen geschundenen Körper ab und zieht dabei die Stirn in Falten. „Wie sieht es aus? Kannst du aufstehen?“, fragt er.

Ich versuche mich zu bewegen. Es fällt mir noch immer schwer, trotzdem ist da nun deutlich mehr Kraft als zuvor. Auch das Luftholen ist nicht mehr so quälend. „Ich glaube schon! Zumindest bekomme ich wieder besser Luft“, sage ich und hocke mich auf alle Viere.

Toni hebt meinen Kopf am Kinn an, bis sich mein Hals streckt. Er besieht ihn sich von allen Seiten. „Die Schwellung ist zurückgegangen. Auch wenn es noch immer schrecklich aussieht“, sagt er.

Ich hebe mein Gesicht aus seiner Hand und schließe für einen Moment die Augen. Nach einem tiefen Atemzug und einem kläglichen versuch zu schlucken, sage ich: „Es fühlt sich auch so an.“

„Lass uns verschwinden und dich zu Susen bringen, sie kann sicher was tun, um deine Schmerzen zu lindern!“, sagt er und robbt rückwärts aus der Röhre. Ich folge ihm kriechend, bis wir das Ende erreicht haben.

Toni klettert hinaus und hält mir seine Hand hin, um mir herauszuhelfen.

Ich brauche all meine Körperbeherrschung, um auf meinen Beinen Halt zu finden und mich aufzurichten. Jeder Muskel ist verspannt und schmerzt. Die Kälte hat auch nicht gerade dazu beigetragen, das zu verbessern. Das Zittern meiner Muskeln, um mich warm zu halten, ist auch nicht angenehmer. Ich schlüpfe mit den Armen in Tonis Hemd und knöpfe es zu, um mich zumindest damit etwas zu bekleiden und der Kälte entgegenzuwirken. Ich brauche mit meinen zitternden Fingern eine gefühlte Ewigkeit dafür. Als ich an mir hinabsehe, reicht es mir bis knapp über die Knie, fast wie ein Kleid. Aber so bedeckt es wenigstens meinen Intimbereich.

Toni richtet noch meinen Kragen und hilft mir mit den letzten zwei Knöpfen.

„Hey! Ihr da! Was habt ihr hier verloren?“, keift eine dunkle Männerstimme. Erschrocken fahren wir beide zusammen und sehen uns nach ihrem Besitzer um.

Der Mann in der blauen Latzhose, der sich von Vincent hat bezahlen lassen, ist es der uns entdeckt hat. Mit eiligen Schritten und einem Stück Metallschrott in der Hand, dass er drohend über seinen Kopf schwingt, rennt er auf uns zu. An seiner Seite läuft ein Rottweiler, der seinen Herrn überholt und ohne Umwege auf uns zuhält.

„Scheiße!“, sagt Toni und nimmt meine Hand. Als er losrennt, reißt er mich mit sich.

„Hektor fass! Schnapp dir die Diebe!“, hören wir hinter uns den Mann seinem Hund zurufen.

Wie nur kommt der Kerl darauf, dass wir was klauen wollen? Wir tragen nichts bei uns als die wenigen Klamotten, wie wir noch anhaben.

Toni sieht sich nach einem Weg runter vom Schrottplatz um, doch er ist an allen Seiten von einem zwei Meter hohen Zaun umgeben. Wären wir fit, würde er dank seines Maschendrahtes kein wirkliches Hindernis darstellen, aber so wie ich mich fühle, traue ich mir nicht zu, dort hinaufzuklettern.

Toni wirft mir einen prüfenden Blick zu und scheint zu demselben Ergebnis zu kommen, denn er zieht mich weiter, bis er eine andere Möglichkeit gefunden hat. Gut zehn Schritte von uns entfernt ist der Drahtzaun am Boden kaputt. Er wölbt sich nach oben und bietet gerade genug Platz, um unten drunter durchkriechen zu können.

Toni zieht mich an der Hand vor sich und stößt mich nach vorn. „Du zuerst!“, weißt er mich an.

Hinter uns sind schon die großen Pfoten des Hundes über den Kies zu hören, sein Knurren wird immer lauter. Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Den Schmerz spüre ich nicht mehr, nur das wilde auf und ab meines Brustkorbs. Ich lasse mich auf alle Viere fallen und quetsche mich unter dem Drahtzaun hindurch. Er reißt am Rücken des Hemdes ein Loch in den Stoff und streift meine Haut. Ich spüre es nur beiläufig und kann es gut ignorieren. Als ich auf der anderen Seite angekommen bin, drehe ich mich nach Toni um.

Mein Freund ist direkt hinter mir und hat gerade den Drahtzaun passiert, als ihn der Hund erreicht und sein Bein zu fassen bekommt. Toni verzieht das Gesicht und schreit auf, er tritt nach dem Tier, doch es gibt ihn nicht frei. Das Loch ist groß genug, dass er ohne Probleme mit hindurch passt.

Panisch sehe ich mich nach etwas um, mit dem ich den Köter abwehren kann. Neben dem Zaun liegt ein Eisenrohr, das wohl von dem übergroßen Schrottberg dahinter gefallen ist. Ich schnappe es mir und schlage es dem Hund auf den Kopf. Der Vierbeiner gibt ein lautes Fiepen von sich und weicht zurück.

Augenblicklich greife ich nach Tonis Arm und versuche ihn auf die Beine zu ziehen. Seine Hand umgreift meinen Arm, so macht er es mir leichter. Als er wieder steht, schlage ich noch einmal nach dem Hund und treffe eine seiner Pfoten, dass lässt ihn durch den Zaun zurückweichen.

„Ihr elenden Kanalratten!“, faucht der Schrottplatzbesitzer und kommt vor dem Zaun zum Stehen, seine Finger krallt er in die Drahtmaschen und funkelt uns finster an.

Toni und ich zögern nicht länger, während ich das Rohr einfach fallen lasse, rennen wir weiter.

„Lasst euch hier nie wieder blicken!“, schreit uns der Mann hinterher. Lautes Kläffen und weitere unverständliche Flüche des Schrottplatzbesitzers folgen uns.

Solange unsere erschöpften Körper uns tragen, laufen Toni und ich weiter, bis wir schließlich schwer atmend in einer Seitenstraße innehalten. Ich stütze mich auf die Oberschenkel und muss immer wieder husten. Meine gereizte Kehle ist noch nicht bereit für einen Dauerlauf.

Toni fängt sich da deutlich schneller wieder. Er reibt mir über den Rücken, während er sagt: „Ich glaube nicht, dass er uns gefolgt ist.“

Als ich langsam wieder zu Atem komme, schaue ich an meinen Beinen vorbei, zurück in die Straße, aus der wir gekommen sind. Niemand ist dort unterwegs und es ist auch kein Hundegebell mehr zu hören. Erleichtert sehe ich zu Toni zurück, zumindest bis meine Aufmerksamkeit an seinem Bein hängen bleibt. Die Hose ist zerrissen und an den zerfetzten Rändern dunkel verfärbt. Ich schiebe den Stoff nach oben. Deutlich sind die Abdrücke der Zähne in Tonis Haut sichtbar. Die Eckzähne haben tiefe Löcher hinterlassen, aus denen sein Blut sickert. Das müssen wir auf jeden Fall desinfizieren lassen.

„Geht schon!“, sagt Toni. Während er das Gesicht verzieht, verlagert er mehr seines Gewichtes auf das unverletzte Bein.

Ich richte mich wieder auf und sehe mich in der Straße um. Wo sind wir hier überhaupt? Die Gegend kommt mir kein Stück bekannt vor. Ich habe keine Ahnung, wohin wir gehen müssen, um zu Susen zu kommen und wie weit das ist. Dafür fällt mir der Eingang zu einer U-Bahn auf. Ich deute mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger dorthin. „Lass uns die U-Bahn nehmen!“, schlage ich vor.

„Aber wir haben kein Ticket!“, gibt Toni zu bedenken.

„Wenn wir einen Schaffner sehen, verziehen wir uns einfach oder steigen aus!“

„Ja, gut!“, sagt Toni und geht langsam weiter. Jedes Mal, wenn er sein Bein belasten muss, zuckt er zusammen. Weite Strecken werden wir beide nicht mehr laufen können. Während wir die Stufen zur U-Bahn hinabsteigen, kommt mir Vincent wieder in den Sinn. Der Angriff des Hundes wird nichts im Vergleich dazu sein, was der mit uns macht, wenn er merkt das wir nicht in der Schrottpresse gestorben sind. Wir brauchen ganz dringend Hilfe, aber Aaron hat uns bisher immer hängen lassen und so langsam zweifle ich an seinem Einfluss. Er hat uns nicht vor den Drachen schützen können und nun sind auch noch seine Leute eine Bedrohung. Er hat uns schon das erste Mal nicht geglaubt, als Vincent uns ans Messer liefern wollte. Das wird jetzt sicher nicht anders laufen. Die Einzige, die uns zugehört hat war Robin. Die Tochter des Paten ist die Einzige, die mir einfallen will, wo wir vielleicht kurzzeitig sicher sind.

Als wir das Gleis erreicht haben, sehe ich mich nach einem Fahrplan um und werde an einer Tafel fündig. Ich brauche einen Moment, um mich zu orientieren. Wir sind verdammt weit weg von zu Hause. Na kein Wunder, dieser verdammte Capo wollte uns sicher nicht in seinem Revier entsorgen. Wir werden einige Stationen fahren müssen, aber wenn wir zu Robin wollen ist es nicht ganz so weit, wie an den Strand zu Susen.

Toni betrachtet ebenfalls den Fahrplan. „Wenn wir die Line 6 nehmen, sind wir in einer Stunde bei Susen“, sagt er und fährt die Strecke mit dem Finger ab, die er nehmen will.

„Nein, wir nehmen die 12 und fahren zu Robin. Dann sind wir nur eine halbe Stunde unterwegs.“

„Was willst du bei Robin?“, fragt Toni.

„Wir brauchen Hilfe!“, sage ich und meine nicht die eines Arztes. Bei dem Gedanken, dass wir noch immer in Lebensgefahr schweben, spüre ich erneut die Panik in mein Herz wandern.

Toni legt seinen Arm um meine Taille und zieht mich nah zu sich. Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn und legt dann sein Kinn auf meinem Kopf ab. „Okay, dann gehen wir eben zu Robin. Jemand anderes will mir auch nicht einfallen!“

Ich schmiege mich einen Augenblick an seinen starken Oberkörper und atme seinen vertrauten Geruch. Er ist so schön warm, dass ich am liebsten die Augen schließen will, aber dann werde ich wohl einschlafen.

„Unsere Bahn kommt!“, sagt er und schiebt mich sacht von sich.

Ich nicke, dann gehen wir zum Bahnsteig. Als die U-Bahn zum Stehen kommt und die Fahrgäste ausgestiegen sind, steigen wir ein und sehen uns nach einem Kontrolleur um, doch in diesem Waggon ist keiner zu sehen. Hoffentlich bleibt das auch so. In der Bahn ist es schon deutlich wärmer und als wir uns einen Sitzplatz gesucht haben, rücke ich wieder näher an Tonis Oberkörper heran. Gerade ist mir ganz egal, was die Leute um uns herum davon halten könnten. Sie sehen uns sowieso alle schief an, weil ich keine Hose trage und er kein Hemd. Sicher irritieren sie auch meine Verletzungen.

Ihren gaffenden Blicken ausgeliefert zu sein, macht mich zunehmen verlegen, so schließe ich die Augen davor und lehne meinen Kopf gegen Tonis Schulter. Den Gesprächen um uns herum kann ich damit aber nicht entkommen.

„Die Jugend von heute, keinen Anstand mehr“, sagt eine gebrechliche Männerstimme.

„Das die sich nicht schämen halb nackt herumzulaufen!“, fügt eine weibliche Stimme an.

„Echt mal und dann stinken die noch und sind ganz dreckig…“

„Mama, kuck mal, der Junge hat gar keine Hose an!“, mischt sich unter all die erwachsenen Stimmen, die eines Kinde.

Ich sinke immer tiefer in mir zusammen und möchte am liebsten im Erdboden versinken.

Tonis Brustkorb hebt sich unter einem tiefen Atemzug. Seinen Arm legt er um mich und zieht mich näher zu sich. Jeder Muskel an ihm ist angespannt.

Ich drehe mich mit dem Gesicht zu ihm und verstecke mich so gut es geht hinter seinem Arm.

„Vielleicht sollte jemand den Schaffner oder die Polizei rufen, der Eine scheint ganz schön verletzt zu sein“, sagt eine Frau.

Ihre Worte erschrecken mich noch mehr als alles davor. Toni scheint es ebenso zu gehen, denn seine Atmung setzt einen Moment lang aus. „Wenn die wirklich aufstehen und jemanden holen, müssen wir an der nächsten Station raus!“, flüstert er mir zu.

„Ist gut“, entgegne ich ebenso leise und vergrabe meine Hände im Stoff des Hemdes. Wenn wir nur schon hier raus wären und endlich bei Robin.

Nach und nach verstummen die Gespräche, die sich um uns drehen. Nur wenn neue Fahrgäste zusteigen oder Kinder an uns vorbeikommen, höre ich noch ihre blöden Kommentare. Dafür macht mich das Klacken der Bahn auf den Schienen zunehmend müde. Ich muss mich zwingen wach zu bleiben, um im Notfall mit Toni die Flucht ergreifen zu können, trotzdem fällt mir immer wieder der Kopf nach vorn, wenn ich kurz eindöse.
 

Tonis Hand fährt mir sanft durch die Haare. „Wir sind gleich da!“, sagt er.

Ich richte meinen Rücken auf und schaue mich um. Die Gegend, die ich durch die Glasscheiben sehen kann, kommt mir wieder bekannt vor. „Ist gut!“, sage ich und versuche aufzustehen. Die Ruhe hat sämtliches Adrenalin in meinem Blut vernichtet. Ich ziehe scharf die Luft ein, als ich aufstehe und die Schwerkraft an meinem Körper reißt.

„Von hier aus ist es nicht mehr weit!“, spricht Toni mir Mut zu, obwohl er selbst Probleme hat, auf seinem verletzten Bein zu stehen.

Ich schenke ihm ein liebevolles Lächeln. „Es geht schon!“, versuche ich glaubhaft zu lügen und trete an die Türen. An der Stange, die daneben angebracht ist, halte ich mich fest, um den Rückstoß beim Bremsen der Bahn abzufangen. Trotzdem brauche ich all meine Konzentration stehen zu bleiben und beim Aussteigen den Spalt zwischen Bahnsteig und Bahn zu überwinden. Auch der Weg zu den Treppen und diese hinauf, erscheint mir unendlich beschwerlich, doch zumindest lenkt mich das von den Blicken der Menschen ab, schauen doch besonders die alten Männer, als wenn wir gerade einen Raubmord vor ihren Augen begangen hätten. So bin ich heilfroh, als wir endlich Robins Villa erreichen.

Toni geht einen Schritt schneller und ist noch vor mir an der Haustür, Während er läutet, erklimme ich gerade die drei Stufen der Veranda. Als ich oben angekommen bin, ist es noch immer still im Haus. Wir warten noch einen Moment, doch es bewegt sich nichts hinter der Tür.

Ein leises Seufzen kommt mir über die Lippen. „Und nun?“, frage ich Toni.

Mein Freund sieht ratlos auf die geschlossene Tür. „Unser Schlüssel war in deiner Hose, oder?“

„Jab“, entgegne ich.

Toni atmet genervt aus, dann geht sein Blick umher und bleibt an der weißen Holzbank hängen, die auf der Veranda aufgestellt ist. Auf ihr liegen einige Kissen und eine gefaltete Decke, auf der Robin ein Buch hat liegen lassen.

„Lass uns einfach warten!“, schlägt er vor und geht zur Bank. Das Buch legt er auf das Fensterbrett und nimmt sich die Decke.

Ich folge ihm langsamen Schrittes.

Toni breitet die Decke auseinander und deutet mir mit einem Schwenk seines Kopfes an, dass ich mich setzen soll.

Ich komme seiner stummen Aufforderung nach und klopfe auf den freien Platz neben mir.

Toni breitet die Decke über meinen Beinen aus und setzt sich dann zu mir. Ich schlage die Decke auch um ihn und kann seinen Arm spüren, den er schützend um mich legt.

Eng schmiege ich mich an ihn und betrachte ihn eindringlich. „Toni!“, sage ich, um seine volle Aufmerksamkeit zu bekommen. Als er mich fragend betrachtet, fahre ich fort: „Bitte, egal was passiert, weiche mir nicht von der Seite. Ohne dich werde ich in dieser Welt verrückt vor Angst!“, gestehe ich ihm und spüre heiße Tränen in mir aufsteigen, die mir schließlich warm über die Wangen rollen.

Er wischt sie mir mit dem Daumen weg. „Geht mir genauso!“, sagt er und legt seine Hand flach auf meine Wange. Mein Gesicht hebt er ein Stück, dann legt er einen flüchtigen Kuss auf meine aufgeplatzte Lippe.

~Der Zusammenbruch~

„Na sieh mal einer an, wen haben wir denn da? Mut hier aufzukreuzen habt ihr ja!“, werden wir von einer vertrauten Frauenstimme angesprochen.

Ich schrecke aus dem Halbschlaf hoch und sehe direkt in Robins wütendes Gesicht. Sie hat sich mit dem Oberkörper nach vorn gelehnt, die Arme in die Seiten gestemmt und sieht uns mahnend an.

„Ihr habt ganz schön Ärger am Hals!“, sagt sie viel zu laut.

In meinem Kopf scheint ihre Stimme von allen Seiten wieder zu hallen und ihn dabei zum Platzen zu bringen. Ich lege meine Hand an die Stirn und atme gequält aus.

„Robin, bitte… wir“, versucht Toni sie zu beschwichtigen. Auch er sieht bleich aus und kneift die Augen zusammen, als wenn er ebenfalls mächtige Kopfschmerzen hat.

„Nix da mit Robin! Ich bin viel zu gutherzig mit euch beiden. Vater ist stink sauer, weil ihr nicht bei Vincent wart. Der Capo kann euch nun noch weniger leiden als zuvor und von Judy fange ich mal gar nicht erst an.“

Vincent behauptet also, wir wären nicht bei ihm gewesen? Ich lächle bitter und wünsche ihm einmal mehr eine Kugel zwischen die Augen. Aber logisch, so kann er behaupten mit meinem Verschwinden nichts zu tun zu haben.

„Und stinken tut ihr auch noch, als wenn ihr von der Müllhalte kommt! Wo habt ihr euch schon wieder rumgetrieben, um euch zu vergnügen? Ihr steht vor Dreck! Das ist ja abartig!“, knurrt Robin und zieht uns die Decke weg. „Und dann nehmt ihr noch meine gute Decke…“, keift sie weiter, doch als ihr Blick auf uns zurückfällt und sie sieht das ich keine Hose trage und mein Körper schon wieder übel zugerichtet wurde, hält sie inne und betrachtet mich einfach nur von oben bis unten.

Ich nehme die Hand aus dem Gesicht und sehe durch meine strähnigen Haare zu ihr auf. „Wir waren bei Vincent…“ Ein abfälliges Lachen entkommt mir, bevor ich anfüge, „… und hätten das fast mit dem Leben bezahlt!“

Robins ratsuchender Blick geht zu Toni.

Der atmet erschwert aus. „Er hat mich mit Gift außer Gefecht gesetzt und dann hat er…“ Toni sieht zu mir, er betrachtet mich einen Moment lang, dann seufzt er und bringt es nicht mehr über sich, seinen Satz zu beenden.

Robins Schultern heben sich unter einem tiefen Atemzug. Sie scheint etwas sagen zu wollen, lässt es aber im letzten Moment sein.

Bei dem Gedanken an die letzten Stunden steigen mir Tränen in die Augen, während die Wut in meinem Bauch wächst. „Ich habe euch so angebettelt nicht dahin zu müssen, weil ich genau wusste, was mich erwartet.“ Mein Blick wandert zu Toni. Der Moment als er neben mir zusammengebrochen ist, kämpft sich in mein Bewusstsein. „Was uns erwartet!“, füge ich an, dann richte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Robin.

„Wenn die Drachen Toni nicht gegen verschiedene Gifte immunisiert hätten, er wäre jetzt tot und ich auch, weil mich dann keiner aus der Schrottpresse gezogen hätte, in der Vincent uns entsorgen wollte. Aber was solls, wir sind ja nur zwei Straßenköter, warum sollte man denen Glauben schenken? Wir haben unsere Seele an den Alten verkauft, weil er uns Schutz versprochen hat, aber einen Scheiß haben wir dafür bekommen. Er hat uns weder vor den Drachen beschützt, noch hat er seine eigenen Leute im Griff. Der Einzige, der mich seit diese ganze Scheiße angefangen hat beschützt, ist Antonio. Also verzeih, wenn mir ziemlich egal ist, dass dein Vater sauer ist. Von mir aus kann deine ganze Sippe zur Hölle fahren!“ Finster sehe ich Robin an, ganz gleich wie viele Tränen mir auch von den Wangen laufen, die Wut in mir ist viel zu stark, um mich und meine Worte zu zügeln.

Robin schlägt die Augen nieder. Kleinlaut sagt sie: „Du wirst aus dieser Familie aber nicht mehr entkommen können… zumindest jetzt nicht mehr!“

„Was meinst du damit?“, will Toni wissen.

Robin atmet schwer aus, sie kramt ihren Schlüssel aus dem Säckchen, das sie als Tasche bei sich trägt und schließt die Tür auf. „Kommt erst mal rein! Geht Duschen, dann versorgen wir eure Wunden und reden darüber, wie wir euch noch retten können.“

Duschen hört sich tatsächlich großartig an. Ich will Vincents Gestank und seine Überreste endlich loswerden. Am besten ziehe ich gleich unter der Dusche ein, habe ich doch jetzt schon das Gefühl, als könnte ich nie wieder richtig sauber werden.

Toni atmet langanhaltend aus. „Ich hatte echt genug schlechte Neuigkeiten für heute…“, murmelt er und steht auf.

Ich kann seinem Gedanken nur zustimmen. Mir reicht das Problem, das wir mit Vincent und Aaron haben, doch Robins Andeutungen nach zu urteilen, gibt es da noch mehr. Großartig!

Während Toni ihr bereits ins Haus folgt, brauche ich noch zwei Anläufe, um aufzustehen. Mehr schlecht als recht schleiche ich den Beiden nach.

Toni nimmt gleich das erste Zimmer links im Flur, das wir meistens nutzen, wenn wir bei Robin zu Gast sind. Das Schlafzimmer hat ein angrenzendes Badezimmer, auf das Toni geradewegs zuhält.

Ich folge ihm dahin und ziehe mir auf dem Weg bereits sein Hemd aus.

Toni entledigt sich seiner Hose, den Socken und der Unterhose, dann steigt er in die Dusche. Mein Blick fällt auf sein Bein, es ist stark gerötet und angeschwollen, aber zumindest blutet sie nicht mehr. Wir müssen die Wunde gründlich ausspülen und dann desinfizieren. Während ich gedanklich schon dabei bin, das noch einmal anzusprechen, schiebt sich Tonis Hand in mein Blickfeld. Als ich die Dusche erreiche, reicht er sie mir, um mir über die Erhöhung hinweg in die Kabine zu helfen.

Ich nehme sie dankbar an und steige zu ihm. Dicht trete ich an ihn heran und suche seine Nähe. Meine Arme winkle ich an und lege sie auf seinem Oberkörper ab, meine Hände vergrabe ich in seiner Brustmuskulatur. Das Wasser wird sicher in meinen unzähligen Wunden brennen, so schließe ich in Erwartung des Schmerzes die Augen.

Toni legt mir einen Arm in den Rücken und zieht mich daran fest an sich, mit der andren Hand dreht er das Wasser auf.

Es ist erst kalt und lässt mich erschaudern, wird dann aber zunehmend wärmer. Wir lassen es einfach eine Weile über unsere Haut laufen, ohne uns voneinander zu trennen oder den Dreck abzuschrubben.

Ich genieße seine Nähe und den Halt seines Körpers. Wenn Robin keinen Plan hat Vincent auszuschalten, ist es vielleicht das letzte Mal, dass ich ihm nah sein werde.

„Sag mal…“, beginnt Toni leise zu sprechen, „… hast du das vorhin ernst gemeint? Dass ich der Einzige bin, der dich beschützen kann?“

Ich öffne die Augen und sehe ihn mit einem warmherzigen Lächeln an, als ich antworte: „Du hast mir auf dem Schrottplatz das Leben gerettet…“ Ich mache eine bedeutungsschwere Pause, bevor ich anfüge, „… schon wieder!“ Eng schmiege ich mich an ihn. Als ich weiterspreche, spüre ich erneut Tränen in mir aufsteigen: „Du bist der Einzige, dem ich mein Leben anvertraue, aber was mache ich denn, wenn dich das irgendwann mal umbringt? Ich habe so Angst, dass du noch vor mir stirbst!“, gestehe ich und kann nicht aufhören zu heulen.

Toni schließt mich fester in seine Arme. „Ich habe auch eine scheiß Angst, irgendwann ohne dich in dieser Hölle zurückbleiben zu müssen“, sagt er mit Verzweiflung in der Stimme, doch als er weiterspricht, mischt sich dennoch Zuversicht in sie, „Aber heute leben wir beide noch. Wir sind diesem Schwein entkommen und ich habe noch einen Tag mit dir!“ Seine Arme lockern sich um mich, er greift mir ans Kinn und hebt meinen Blick zu sich hinauf. Als ich ihm ins Gesicht sehen kann, liegt dort ein warmherziges Lächeln, das sich unweigerlich auch in meine Mundwinkel schleicht, je länger er mich so ansieht. Er hat recht, diesen Tag habe ich noch mit ihm und ich habe mir geschworen, jeden einzelnen so zu leben, als wenn es mein letzter wäre. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um zu ihm hinaufzureichen und küsse ihn.

Toni schließt die Augen und erwidert den Kuss, er öffnet seinen Mund dabei und lädt mich mit seiner Zunge ein. Die leidenschaftlichere Liebkosung erwidere ich nur zu gern, doch als seine Hand streichelnd über meinen Rücken geht, jagt ein heftiger Schmerz durch meinen Körper, der mich den Kuss unterbrechen lässt, um mir mit einem Schrei Luft zu machen.

Toni zuckt zusammen und nimmt seine Hand aus meinem Rücken, dafür dreht er mich an der Schulter um. „Zeig her!“, sagt er. Seine Finger wandern an meiner Wirbelsäule hinab. Der Schmerz da ist noch spürbar, aber scheint um ein paar Zentimeter verlagert zu sein. Scheinbar streicht er neben der Wunde hinab.

„Das ist echt tief, dass muss genäht werden. Das ist sicher von dem beschissenen Zaun gewesen“, sagt er.

Ich seufze tief. Auch das noch, wo ich Nadeln doch auf den Tod nicht ausstehen kann. Um mich davon abzulenken, sehe ich an mir vorbei zu dem Bein meines Freundes. Ich deute darauf, als ich sage: „Das müssen wir auch versorgen!“

Toni bleibt stumm, seine Hand wandert tiefer hinab und landet schließlich mittig auf meinen Pobacken.

Ich fahre erschrocken zusammen. Den Schmerz da habe ich die ganze Zeit versucht zu verdrängen, doch so geht das nicht mehr. Es pulsiert in meinem inneren und das Wasser brennt in meiner Ritze.

„Darf ich?“, will Toni wissen und fügt an, „Das muss auch sauber gemacht werden!“

Ich atme erschwert aus, dass er recht hat, weiß ich und so wie es sich anfühlt, wird die Verletzung wohl eine ganze Weile Probleme machen und mich an diesen beschissenen Tag erinnern. Mit Toni habe ich es ja auch schon ab und an mal übertrieben, aber so wie jetzt hat es sich nie angefühlt.

Seine warmen Hände legen sich auf meine Schultern. „Enrico?“, fragt er vorsichtig an, da ich ihm noch keine Antwort gegeben habe.

Wenn überhaupt sich das Elend jemand ansehen darf, dann er. „Ja, ist gut, mach nur!“, sage ich mit einem Seufzer.

Tonis Hände fahren meine Flanken hinab, während er hinter mir auf die Knie geht. Meine Beine schiebt er etwas auseinander und legt dann seine Hände auf meine Pobacken, um meine Mitte zu öffnen.

Ein fieser Schmerz sticht sich in meinen Schließmuskel, als er sich dabei dehnt. Ich ziehe die Luft scharf ein und beiße mir auf die Unterlippe, um mich auf ein anderes Gefühl zu konzentrieren. „Und? Wie schlimm ist es?“, will ich wissen.

Toni seufzt, dann erhebt er sich und greift nach dem Kopf der Duschbrause, um ihn aus seiner Halterung zu lösen. Eine Hand legt er mir dabei auf die Schulter und gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Das heilt wieder!“, sagt er nur.

„So schlimm, ja?“, schlussfolgere ich.

Tonis Finger graben sich in meine Schulter. „Wenn ich den Kerl das nächste Mal sehe, bringe ich ihn um“, sagt er leise.

„Vergiss es!“, entgegne ich mit dunkler Stimme. „Du darfst ihm gern die Kniescheiben wegschießen, damit er nicht mehr abhauen kann, aber umlegen werde ich ihn!“ All meine wirren Gefühle wandeln sich in abgrundtiefen Hass. Mir egal was Aaron sagt, den Kerl werden wir loswerden und ich will ihm dabei in die Augen sehen, wenn er sein Leben aushaucht.

Toni geht hinter mir wieder in die Hocke. Das er sanft meinen Anus reinigt, versuche ich auszublenden. Der wachsende Schmerz schürt den Hass und die Bilder von Vincents möglichen Ablebens in mir noch. Das dieses Schwein es überhaupt wagt, seinen dreckigen Schwanz da… Es darf nur einer mich dort überhaupt berühren. Schlimm genug das ich gezwungen bin mit Frauen zu schlafen, aber diese eine Sache die… die gehört nur Toni und mir.

Ich sehe an meinen Beinen vorbei hinter mich zu ihm. Die Erkenntnis, was Vincent mir da aufgezwungen hat, frisst sich mit dem Schmerz, den Tonis Berührungen dort verursachen in meine Seele. Je länger ich ihn ansehe und seinen hasserfüllten Blick, den er beim Betrachten meiner Wunden aufgesetzt hat, umso mehr sticht es in meinem Herzen. Die verrückte Idee seine Wut könnte mir gelten, verseucht meine Gedanken und lässt Tränen in mir aufsteigen. Ich musste ihm doch schon untreu sein und habe mir geschworen, dass er zumindest der einzige Mann bleibt… aber… aber nun…

Immer mehr Tränen rollen mir über die Wangen und fallen bedeutungslos in das Nass der Duschkabine. „Es… es tut mir leid!“, presse ich heraus und spüre, wie mir das Erlebte langsam aber sicher den Halt nimmt. Meine Beine geben einfach nach und knicken ein. Vor Toni falle ich auf die Knie und stütze mich mit den Händen auf. Während ich einfach nur hemmungslos heule, schaffe ich es nicht mal mehr ihn anzusehen. „Niemand… niemand darf das… das mit mir machen… das darfst nur du! Ich wollte das nicht! Ich wollte das nicht!“, sage ich schluchzend immer wieder und bekomme mich nicht mehr unter Kontrolle. Mein ganzer Körper zittert vor Scham und Ekel.

Toni sagt nichts zu alle dem, dass lässt mich nur noch mehr wimmern.

Er rückt nah an mich heran, seinen Oberkörper kann ich im Rücken spüren, seine Arme schlingen sich um mich, während er seine Stirn an meine Schulter lehnt.

„Es ist doch nicht deine Schuld!“, flüstert er mir auf die nackte Haut, während ich warm seine Tränen auf mir spüren kann. „Ich hätte dich beschützen müssen und konnte es wieder nicht!“ Seine Stimme verliert sich zunehmend und löst sich ebenso in Schluchzen auf.

Na toll, jetzt hocken wir beide hier heulend und geben uns die Schuld für etwas, was Vincent angerichtet hat. Meine Hände balle ich zu Fäusten und starre das Blut an, das an meinen Beinen hinab läuft und im Abfluss versickert. Ich will diese Schuld nicht und ich will diese Machtlosigkeit nicht, aber die Rache, die will ich und wenn es das letzte ist, was ich tue.

~Robins Plan~

Wenig später sitze ich mit Robin und Toni im Salon. Während die Tochter des Paten uns gegenüber im Sessel Platz genommen hat, haben Toni und ich uns für das Sofa entschieden. Ich sitze so nah bei ihm, dass ich seinen Oberschenkel an meinem spüren kann. Seine Nähe gibt mir Halt, doch dass mich Robin unentwegt anstarrt, macht mich zunehmend nervös. Sie scheint darauf zu warten, dass ich etwas sage. Dabei ist mir so gar nicht nach reden zumute. Meine Augen brennen von dem ganzen Rumgeheule und mein Körper schmerzt. Das Sitzen wird zunehmend zur Qual, ist da doch besonders in meinem Hintern ein viel zu deutliches Überbleibsel von Vincents Gastfreundschaft zu spüren…

Ich unterbreche mich selbst bei diesem Gedankengang und sehe stur vor mich hin, während ich langanhaltend ausatme.

„Okay, jetzt will ich aber was hören. Die ganze Geschichte und von vorn bitte!“, verlangt Robin, als ich weiterhin schweige.

Allein die Aufforderung bringt die grausame Tat in meinen Kopf zurück. Viel zu deutlich steigt die Panik in mir auf, die ich auch gespürt habe, als Toni neben mir umgekippt ist und Vincent verlangt hat, dass ich mich ausziehen soll. Ich bringe es einfach nicht über mich, dass auch noch in Worte zu fassen.

So ist es Toni der für mich spricht. Sein besorgter Blick ruht dabei unentwegt auf mir, als er fragt: „Müssen wir das alles haargenau durchkauen. Ist dir der Ablauf nicht auch so klar?“

Robins strengen Blick fühle ich auch auf uns, ohne sie ansehen zu müssen. Ein Bein hat sie über das andere gelegt, ihr Fuß wippt ungeduldig. Sie will auch weiterhin Antworten auf ihre Fragen.

Toni seufzt, dann sagt er: „Wir waren bei Vincent wie befohlen. Er war natürlich nicht an einem Klavierkonzert interessiert und Gäste gab es auch keine, denen er Enrico vorstellen wollte. Trotzdem hat er uns zu seinem Klavier geführt. Enrico hat auch für ihn gespielt. Gereicht hat es ihm natürlich nicht. Mir war gleich klar, dass er was versuchen wird und ich war wirklich wachsam, aber…“ Toni senkt den Blick, es gelingt ihm nicht mehr mich anzusehen oder weiter zu sprechen.

Ich seufze und hebe den Blick. Was immer an Gefühlen bis eben noch in mir getobt hat, verschwindet. Da ist nur noch ein kaltes Nichts, als ich die Erzählung fortsetze: „Vinzent hat irgendwas Längliches aus der Tasche gezogen und Toni mit etwas beschossen. Keine Ahnung was es war, aber es muss vergiftet gewesen sein, denn Toni ist neben mir zusammen gebrochen. Vincent hat mich dann mit seinem Leben erpresst. Ich sollte mich ausziehen.“ Meinen Blick hebe ich weiter und sehe Robin fest in die Augen, als ich sage: „Was dieser Kinderschänder danach getan hat, kannst du dir sicher denken.“

Robin sieht einen Moment in meine Augen, als würde sie in ihnen lesen, dann schlägt sie die Augen nieder.

Ich schaue zur Seite weg. „Ich habe mich natürlich gewehrt wie der Teufel. Es gibt nur einen Mann, der so was darf…“ Einen flüchtigen Blick werfe ich Toni zu.

Mein Freund atmet ruckartig ein und beißt sich auf die Unterlippe. Seine Hände krallt Toni in das Sitzpolster des Sofas.

Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf Robin. Noch immer hat sie ihren Blick nicht wieder erhoben. Tue ich ihr jetzt etwa leid? Großartig! Das macht die ganze Sache noch unerträglicher. Trotzdem will ich die Geschichte noch zu Ende bringen, in der Hoffnung sie fragt dann nie wieder danach. „Damit ich endlich ruhe gebe hat mich Vincent kopfüber in die volle Badewanne getaucht, bis ich irgendwann das Bewusstsein verloren habe.“ Ich lache freudlos auf und zucke mit den Schultern, während ich die Arme vor der Brust verschränke. „Das war auch besser so, dann habe ich wenigstens nicht mehr mitbekommen, was er noch alles getan hat.

Ein hörbarer Atemzug geht neben mir in Tonis Lunge. Als ich mich zu ihm drehe, laufen Tränen über seine Wangen. Er kaut so fest auf seiner Unterlippe herum, dass sie zu bluten beginnt. Als er sich meines Blickes bewusst wird, wendet er sich von mir ab.

Also war da noch mehr? Großartig! Ich versuche nicht darüber nachzudenken und erzähle stur weiter. „Als ich wieder zu mir kam, lagen Toni und ich in einem schrottreifen Automobil. Ich war noch gar nicht wieder richtig bei Sinnen, da sind wir schon zusammengefaltet worden. Wäre Toni nicht von den Drachen gegen einige Gifte immun gemacht worden und hätte mich da raus gezerrt, wir wären nun ein handlicher Würfel Schrott. Und jetzt sag mir noch mal, dass es Schlimm ist, dass dein Vater wütend ist. Ganz ehrlich, ich habe weniger Angst vor Aaron als vor dem Rest eurer abartigen Sippe!“

Tonis Blick sticht mir von der Seite ins Genick, doch ich meine was ich sage aus tiefem Herzen.

So versucht Toni den Schaden meiner Worte zu begrenzen: „Robin, was machen wir jetzt? Wenn Vincent erfährt das wir noch leben, spätestens dann sind wir tot. Und so wie dein Vater drauf ist, reicht ihm vielleicht schon, das wir mal wieder seinen Befehl ignoriert haben.“ Immer aufgeregter wird Tonis Stimme, gegen Ende zittert sie heftig.

Ich kann seine Angst gerade nicht nachempfinden. In mir ist nur Kälte und ein völliges Dessinteresse daran, was Aaron tun wird. „Von mir aus kann dein Alter uns töten. Das ist immer noch besser als noch mal Vincent in die Hände zu fallen. Eine Kugel im Kopf ist wenigstens schnell und schmerzlos.“ Ich rutsche auf meinem Hintern hin und her und versuche eine Position zu finden, die sich ertragen lässt, doch es bringt nichts. So stehe ich irgendwann auf und wandere durch das Zimmer.

Robin hat noch immer nichts zu all dem gesagt. Lediglich mit dem Fuß wippt sie auch weiterhin und hat die Arme vor der Brust verschränkt. Angestrengt sieht sie vor sich hin. Meine abfälligen Worte scheinen sie nicht weiter zu kümmern. Schließlich erhebt sie sich.

Ich halte in meiner Wanderung inne und sehe ihr dabei zu, wie sie zu einer Kommode geht und die oberste Schublade öffnet. Sie kramt ein kleines Kästchen heraus und betrachtet es mit sanftem Blick. Ihre Schultern heben sich unter einem tiefen Atemzug, dann dreht sie sich nach uns um und kommt zum Couchtisch zurück. Das kleine Schmuckkästchen, dass aus schwarzem Antikholz besteht und in das eine weiße Rose aus Elfenbein eingearbeitet ist, legt sie auf ihm ab. Etwas Wehmütiges liegt in ihrem Blick, als sie sich setzt. Auch ihrer Stimme ist Kummer anzuhören. Die Hände faltet sie vor den Lippen und stützt die Arme auf den Oberschenkeln ab. Sie beugt sich ein Stück nach vorn, dann sagt sie: „Eigentlich dachte ich ja, da Susen sich nicht für einen Mann entscheiden konnte, dass ich die nächste bin, aber das hier ist ein familiärer Notfall.“

Fragend lege ich den Kopf schief. Ich gehöre doch noch gar nicht zur Familie. Was genau will sie also damit sagen?

Robins Blick löst sich von dem Kästchen. Ernst betrachtet sie mich und dann Toni. „Ihr beide hört mir jetzt sehr genau zu!“, verlangt sie. Robins Aufmerksamkeit wandert wieder zu mir. „Besonders du!“, sagt sie streng.

Ich hole schon Luft, um etwas zu erwidern, doch sie kommt mir zuvor:

„Nein, zuhören!“, knurrt sie und betrachtet mich tadelnd.

Was ich sagen wollte, schlucke ich hinunter und warte.

„Du hast Judy geschwängert und ich schwöre bei Gott, ich lege dich um, wenn du sie damit hängen lässt. Dann brauchst du weder Vincent noch Vater zu fürchten. Ich bin schlimmer als sie beide zusammen!“

Schlimmer als die beiden? Wirklich? Ihre strengen Worte und der tiefe Tonfall, lassen mich einen Schritt zurückweichen und die schützende Verschränkung meiner Arme aufweichen.

Als Robin die wachsende Panik in meinem Blick sieht, wird ihr Blick sanfter. Auch ihre Worte spricht sie deutlich ruhiger als zu vor: „Aber zu deinem Glück, ist das vielleicht auch deine Rettung!“ Robin sieht zu Toni. „Eurer beide Rettung!“, bekräftigt sie.

Ich verstehe noch immer nicht worauf sie hinaus will und wie uns das gegen Vincent helfen soll. „Was hat meine Liaison mit Judy denn mit Vincent zu tun und das der uns Tod sehen will?“, frage ich.

„Jetzt streng doch mal dein sonst so kluges Köpfchen an. Judy trägt dein Kind unter dem Herzen und du wirst sie heiraten!“

„Ich…“, versuche ich einen Protest anzubringen und sehe dabei zu Toni.

Der ist in seiner Haltung noch weiter eingesunken. Den Rücken hat er krumm nach vorn gebeugt und die Hände auf den Knien ineinander gefaltet. Das Thema tut ihm mindestens genauso weh, wie mir.

„Nein Enrico! Du wirst! Ich will keine Wiederworte dazu hören. Meine Schwester wird durch dich nicht zum Flittchen und ihre Ehre verlieren. Da lieber lege ich das Baby und dich um!“, faucht Robin.

Ihr Blick sagt mir, dass sie das sehr wohl ernst meint. Doch das kann ich noch viel weniger akzeptieren. „Du würdest was?“, keife ich sie an. Drohend mache ich einen Schritt auf sie zu und richte meinen Zeigefinger anklagend auf sie. „Du rührst mein Kind nicht an, verstanden!“, überkommen mich Worte, die mich einen Moment später selbst überrascht schauen lassen.

Robin lächelt zufrieden, fast schon wohlwollen. „Ja, genau so gefällt mir das. Das ist schon deutlich besser!“, sagt sie zufrieden, während ich noch mit der Erkenntnis zu kämpfen habe, gerade die Tatsache als wahr angenommen zu haben, Vater zu werden. Oh man! Was habe ich mir da nur eingebrockt. Hilfesuchend betrachte ich Toni.

Doch dieser sieht mich nicht mal an. Stur schaut er gerade aus, als er sagt: „Enrico, sie hat recht. Das ist vielleicht unsere einzige Chance!“

„Was?“, frage ich verwirrt. Er will das ich bei dem Schmierentheater mitspiele? Verstört betrachte ich ihn, bis er mich endlich ansieht. In seinen Augen liegt eine tiefe Entschlossenheit, die ich nicht verstehen kann. „Was soll uns denn dieses Kind bringen. Soll ich es als Schutzschild nutzen?“, scherze ich makaber.

„Ganz genau!“, sagt Robin.

Wieder sehe ich sie wütend an, als sie erneut andeutet dieses Kind töten zu wollen.

„Im übertragenen Sinne natürlich!“, schiebt sie nach und dämpft damit zumindest einen Teil meiner Wut. Als ich sie dennoch weiter ansehe, rückt sie endlich mit dem ganzen Plan heraus.

„Du machst Judy einen Heiratsantrag, möglichst heute noch. Das schieben wir auch gleich als Grund vor, warum du Vincent vergessen hast. Dann gehen wir zu Vater und nehmen Judy mit. Wenn du die verlorene Tochter damit in den Schoß der Familie zurück bringst, wird Vater schnell ganz Handzahm werden. Dann haben wir nur noch Vincent als Problem und dem verklickern wir ganz subtil, dass du der zukünftige Schwiegersohn bist.“

„Und nicht zu vergessen, der Vater seines Enkelkindes!“, fügt Toni an.

Robin hebt abwehrend die Hände. „Nein! Nein! Nein! Eins nach dem anderen. Das Judy schwanger ist, muss ich Vater schonend beibringen.“ Robins Blick geht mahnend zu mir. „Das du sie noch vor der Hochzeit und selbst vor der Verlobung geschwängert hast, das darf er nie erfahren. Hast du mich verstanden?“

Ich rolle mit den Augen. Als wenn ich das jetzt noch rückgängig machen könnte. Außerdem wollten sie doch beide, dass ich Judy rumbekomme. Robin hat mir doch nicht umsonst gezeigt, wie das mit den Frauen geht.

„Habt ihr mich verstanden!“, keift Robin mit Nachdruck, als ich nicht antworte.

„Ja, verstanden!“, entgegnen Toni und ich zeitgleich.

„Gut, dann hoffen wir mal, dass Mutters Ring euch alle beschützen kann!“, sagt Robin und klapp den Deckel der Schmuckschatulle auf. In ihr liegt ein silberner Diamantring, der so fein gearbeitet ist, dass er aus Meisterhand stammen muss. Würdig einer Patentochter, aber irgendwie nicht würdig für mich. Um den bezahlen zu können, müsste ich schon eine Bank überfallen.

~Der Antrag~

Während Robin uns mit ihrem neuen Wagen zu Susen fährt, halte ich die kleine Schachtel auf meinem Schoß in den Händen. Eine Weile betrachte ich den kunstvoll verzierten Deckel, dann klappe ich ihn auf. Der Ring glänzt mich im Sonnenlicht an. Ein besseres Symbol für Hoffnung und im selben Maße Verzweiflung kann ich mir nicht vorstellen. Zusammen mit der aufgeschürften Haut an meinen Händen ein passendes Bild. Ich sinke weiter in meiner Haltung zusammen und mache einen Buckel dabei, habe ich doch das Gefühl gerade von der Last meines Schicksals erdrück zu werden.

Warme Hände legen sich über meine kalten. Toni sagt kein Wort, er sieht mich nicht mal an, nur seine Hand drück fest meine Finger.

Ich kämpfe mit den Tränen, als ich an seinem feinen Anzug hinauf sehe. Das Robin uns erst mal neu eingekleidet hat, täuscht zumindest ein bisschen über das Erlebte hinweg. Nur in Tonis Gesicht sind noch ein paar Schrammen zu sehen, der Rest ist unter der Kleidung verborgen. Ebenso wie bei mir.

Ich fühle der Wärme seiner Finger nach und wünsche mir so sehnlichst endlich aus diesem Alptraum zu erwachen.

„Enrico, mach ein fröhlicheres Gesicht. Du hältst gleich um die Hand meiner Schwester an. Wenn du dabei schaust, wie auf einer Beerdigung, wird sie wohl kaum ja sagen.“

Großartig! Nun darf ich dem Gefühl in mir nicht mal mehr Ausdruck verleihen? Finster sehe ich auf und Robin an, ohne meinen Rücken wieder aufzurichten.

„Was?“, will Robin schroff wissen. „Wäre es dir lieber ich fahre dich zu Vincent oder Vater, ohne eine Absicherung? Mal sehen wem Vater mehr Glauben schenken wird.“

Ich lasse den Blick wieder sinken. Das kann doch alles nur ein schlechter Traum sein, es muss einfach! Habe ich denn wirklich nur die Wahl zwischen Pest und Cholera?

„Enrico…“, zieht Toni meinen Namen in die Länge und drückt meine Hand fest.

„Ist ja schon gut!“, sage ich und atme tief durch. „Ich schauspielere ja nicht zum ersten mal!“, füge ich an und drücke den Rücken wieder durch. Noch einen Atemzug nehme ich, dann gelingt es mir auch ein Lächeln aufzusetzen. Die Schachtel klappe ich wieder zu und verstaue sie in meiner Hosentasche.

Als ich aus der Frontscheibe hinaus schaue, kann ich den Strand und Susens Haus bereits sehen. Robin parkt gerade den Wagen. Noch härter schlägt mir das Herz in der Brust.

„Willst du uns eigentlich beim Antrag dabei haben?“, fragt Toni.

Darüber habe ich bisher nicht nachgedacht. Auch nicht wie ich das Thema vor Judy anfange. Einfach vor ihr auf die Knie fallen dürfte wohl kaum ausreichen. „Nein, ich will allein mit ihr reden“, antworte ich mit fester Stimme. Erst mal möchte ich wissen wie sie über die Schwangerschaft und ihre Folgen denkt, vielleicht kann ich darüber das mit der Hochzeit ansprechen.

Robin steigt aus und auch Toni öffnet die Türen des Wagens.

Ich brauche einen Moment länger als die beiden um mich endlich aus dem Auto zu quälen. Als ich die Wagentür nach mir zuschlage, hält Robin mir einen großen Strauß Blumen vor die Nase, den wir unterwegs gekauft haben.

Ich betrachte das ausladende Blumengestrüpp skeptisch. Es erscheint mir so unpassend wie der übereilte Antrag. „Nein, lass sie im Wagen. Das hier ist nicht zum Feiern, auch für Judy nicht. Jetzt wo sie schwanger ist, hat sie genau so wenig eine Wahl, wie ich.“

Robin betrachtet mich eingehend, dann nickt sie verstehend und legt die Blumen zurück in den Wagen.

Als sie die Wagentüren zuschließt und schon auf den Steg zugehen will, der auf die Insel führt, halte ich sie am Arm fest. „Lasst mich das allein machen!“, sage ich und sehe auch Toni eindringlich an.

Er nickt nur, während Robin mich besorgt mustert.

„Bitte!“, schiebe ich hinterher.

„Na schön!“, gibt sie nach.

„Danke!“, entgegne ich schlicht und gehe über den Steg zur Insel und auf die Haustür zu. Noch immer hämmert mir das Herz hart in der Brust. Meine Hand zittert als ich damit den Knopf betätige, der im Inneren des Hauses eine Glocke läuten lässt.

Einen Moment lang bleibt es still, dann nähern sich Schritte der Tür. Susen ist es, die mir öffnet. Ihr Blick fährt mich von oben bis unten ab und bleibt dann missbilligend an meinem Gesicht hängen. „Sieh mal einer an…“, sagt sie in einem herablassenden Tonfall.

„Bitte, erspar mir einen Kommentar. Ist Judy da, kann ich mit ihr sprechen?“, frage ich gerade heraus.

Susens Blick mustert mein Gesicht und geht dann über meine Hände. Sie betrachtet die Schrammen und blauen Flecke.

Mein Gesicht kann ich davor nicht schützen, aber meine Hände nehme ich hinter den Rücken, um sie ihrem Blick zu entziehen.

Susen runzelt die Stirn. Als Ärztin bleibt ihr der wahre Zustand meines Körpers sicher nicht verborgen. Sie seufzt tief, dann geht sie einen Schritt bei Seite. „Judy ist oben in ihrem Zimmer. Den Weg kennst du ja sicher noch!“, sagt sie hart.

„Danke!“, ist alles, was ich erwidere als ich mich an ihr vorbei schleiche.

Das Susen Robin und Toni auch ins Haus winkt und hereinlässt, bekomme ich nur am Rande mit. Wie automatisiert laufe ich zur Wendeltreppe und über sie in den ersten Stock. Ganz von allein finden meine Füße ihren Weg zum Zimmer Judys. Als ich vor ihm stehe, klopfe ich an. Nichts passiert, keine Frage danach wer hier ist und auch keine Schritte. Nur ein schwerer Atem ist zu hören.

„Judy, können wir reden?“, frage ich.

Der Atem stockt, einen Moment lang ist es still, dann kann ich das wischen von Papier und eine Bewegung im Zimmer hören. Es dauert noch einen Augenblick bis sich die Schritte nähern, schließlich wird die Tür geöffnet.

Judys Augen sind rot und ihre Haare zerzaust. Das blaue Kleid, das sie trägt, ist überall zerknittert. Vergeblich versucht sie es glatt zu streichen. „Enrico… ich… ich bin nicht Salonfähig“, sagt sie mit roten Wangen und in einer verlegenen Stimmlage.

Ich sehe an meinem feinen Anzug hinab und dann wieder sie an. Ein gequältes Lächeln setze ich auf, als ich sage: „Ich schon, aber nur äußerlich!“, gestehe ich ihr.

Meine Worte treiben ihr ein flüchtiges Lächeln in die Mundwinkel, doch als sie spricht, verschwindet es wieder. „Weißt du es schon?“, will sie wissen.

Ich senke den Blick, kleinlaut antworte ich: „Ja, Robin hat es mir erzählt.“

Einen Moment schleicht sich Schweigen zwischen uns, dann halte ich die Stille nicht länger aus und sehe sie wieder offen an. „Darf ich rein kommen? Können wir darüber reden?“

Judy sieht von mir zurück in ihr Zimmer. Sorgenfalten bilden sich auf ihrer Stirn. „Es ist nicht aufgeräumt, aber ja, komm rein!“, sagt sie und schiebt die Tür weiter auf.

Mal abgesehen von ein paar Kleidungsstücken, die am Boden liegen und dass ihr Bettzeug unordentlich ist, sieht es doch so aus, als wenn alles an seinem Platz wäre. Mein Zimmer sieht für gewöhnlich deutlich schlimmer aus.

„Unwichtig“, versichere ich ihr und trete ein, als sie mir Platz macht.

Judy schließt die Tür, dann geht sie zum Bett und lässt sich wie ein nasser Sack auf selbiges fallen. Ihre Hände faltet sie in ihrem Schoß und schaut zu Boden. „Es tut mir leid. Ich habe nicht aufgepasst…“, sagt sie mit brüchiger Stimme.

Ich gehe zu ihr und setze mich neben sie. „Also wenn, haben wir daran ja beide irgendwie Schuld.“ Meine Hand lege ich über ihre und lächle sie aufmunternd an.

Judy dreht ihre Finger, bis sie sie in meine einhaken kann. Ein Seufzer der Erleichterung überkommt sie, dann wandern ihre Augen die Schrammen an meiner Hand ab. Ihr Blick hebt sich, bis sie mir ins Gesicht sehen kann. Sorge legt sich in ihre Augen, als sie mich mustert.

Ich wende mich schnell ab und sehe zu Boden, trotzdem spüre ich ihren Blick weiter forschend auf mir.

Sie hebt ihre Hand und greift in den Kragen meines Hemdes, den Stoff schiebt sie ein Stück nach unten.

Ich kralle meine Hände in die Matratze des Bettes und versuche glaubhaft herauszubringen: „Es geht mir gut!“ Dabei kann ich mir meine Worte nicht mal selbst glauben.

Judy richtet meinen Kragen wieder, ihre Haltung sinkt ein Stück tiefer. Während sie versucht mir ins Gesicht zu sehen, faltet sie die Hände in ihrem Schoss. Mit fürsorglicher Stimme will sie wissen: „Was ist passiert?“

Bei ihrer ehrlichen Sorge und der sanften Stimme, muss ich schwer an mich halten, nicht einfach loszuheulen. Das Erlebte ist noch viel zu frisch und auch wenn ich es in den hintersten Winkel meines Geistes zu verbannen versuche, blitzt es immer wieder in kurzen Erinnerungsfetzen auf. „Nicht so wichtig“, bringe ich gerade noch so standhaft heraus, bevor mir die Stimme versagt und ich Vincent schon wieder vor mir sehe.

Nun ist es Judy, die ihre Hand auf meine legt. Eindringlich sieht sie mich von der Seite an. „Ich weiß, wir kennen uns so gut wie gar nicht, aber… also… naja du wirst der Vater meines Kindes und wir… ich…“, versucht sie vergeblich die richtigen Worte zu finden. Schließlich atmet sie tief durch und sagt deutlich gefasster: „Wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann…“

Ich sinke in meiner Haltung noch tiefer zusammen und komme nicht mehr gegen meine Tränen an. Da wütet so viel Angst und Verzweiflung in mir, dass ich nicht aufhalten kann, dass alles auf einmal aus mir heraussprudelt: „Niemand kann mir helfen. Dein Vater hat es nicht geschafft. Toni und ich wären deswegen heute fast drauf gegangen und dein Leben habe ich mit einem Kind zerstört. Es sind schon so viele Menschen meinetwegen getötet worden. Dabei wäre es besser gewesen, ich hätte mich damals einfach erschießen lassen, dann wäre alles längst vorbei. Es tut mir so leid, dass ich dich da jetzt auch noch mit reingezogen habe!“

Immer mehr Tränen fallen mir von den Wangen, selbst das Schluchzen kann ich nicht verhindern, während ich mich auf meinen Oberschenkeln ganz klein zusammenrolle.

Judy sagt nichts zu alledem, sie legt mir lediglich die Hand auf den Rücken und streichelt ihn sanft. Als ich versuche durch meinen Tränenschleier zu ihr aufzusehen, ist ihr Blick noch immer freundlich aber auch mahnend.

Was sie jetzt wohl von mir denkt? Ein Mann der vor ihr heult wie ein kleines Kind. Sicher wird sie jetzt erst recht meinen Antrag ablehnen. Damit habe ich auch noch die letzte Chance verspielt, die Toni und mich hätte retten können. Der Gedanke lässt meinen Blick wieder verschwimmen.

„Du steckst also doch tiefer in Vaters Geschäften mit drin, als Robin mich glauben lassen will“, sagt Judy schließlich in einem neutralen Tonfall.

„Bestimmt nicht freiwillig“, kommt mir spontan über die Lippen.

Judy richtet sich auf, sie erhebt sich und bleibt vor mir stehen. Die Arme verschränkt sie vor der Brust und sieht streng auf mich hinab. „Warum bist du wirklich hier? Doch sicher nicht um mir von deinem beschissenen Tag zu berichten.“

Scheu sehe ich zu ihr auf und wische mir die Tränen aus dem Gesicht, dann krame ich in der Hosentasche nach dem Schmuckkästchen. Als ich es in ihre Richtung reiche, muss ich es nicht mal öffnen. Durch Judys Gesicht geht aus so ein verstehender Ausdruck.

„Ich lasse dich mit dem Kind nicht hängen!“, verspreche ich ihr.

Judys verspannte Haltung lockert sich, doch ihr ernster Gesichtsausdruck bleibt. „Also willst du mir nur deswegen einen Antrag machen?“, fragt sie in düsterer Stimmlage und wendet ihren Blick von mir ab.

Ich wische mir die letzte Nässe aus dem Gesicht und richte mich wieder auf. So gern ich Judy auch etwas vorspielen will, so sehr sie auch verdient hätte, dass mein Grund ein anderer ist, ich kann sie nicht belügen. „Ja und weil du gerade meine einzige Lebensversicherung gegen Vincent bist“, sage ich ernst und verbanne das Zittern aus meiner Stimme.

Judy dreht sich wieder zu mir. „Vincent hat dich töten wollen?“, will sie wissen und fügt noch eine Frage an, „Warum?“

Ich sehe unter ihrem Blick hinweg. „Weil er vertuschen will, was er mit Kindern tut, wenn er sie in die Finger bekommt!“, sage ich in finsterer Stimmlage und grabe meine Finger tiefer in die Matratze, um die Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben.

„Ich verachte diesen Mistkerl!“, sagt Judy diabolisch. Diese Stimmlage kenne ich von ihr noch nicht und es treibt mir einen eisigen Schauer den Rücken hinab. „Der Dreckskerl hat meine Katze auf dem Gewissen“, murmelt sie leise.

Verstört hebe ich den Blick und sehe sie an. In wieweit ist eine Katze bitte genauso Schlimm wie das, was ich ihr gerade angedeutet habe?

Judy hat die Arme fest vor der Brust verschränkt und schaut nach Rache dürstend vor sich hin, dann wandert ihr Blick auf mich zurück. „Wenn wir heiraten und du damit unter meinem Schutz stehst, ob wir ihn damit in den Wahnsinn treiben können?“

Völlig überfordert mit den neuen Informationen betrachte ich Judy und ihre Haltung. Da ist eindeutig Mordlust in ihrem Blick, auch wenn sie es nicht ausspricht, doch was sie sagt passt irgendwie auch nicht dazu. So muss ich es wiederholen, um sicher zu gehen, dass ich sie richtig verstanden habe: „Also das Baby allein wäre für dich kein Grund mich zu heiraten, aber um Vincent eins auszuwischen, dafür würdest du mich heiraten und das alles nur, weil er deine Katze auf dem Gewissen hat?“

„Ja, wieso?“. fragt sie angriffslustig.

„Oh man…“, murmle ich schockiert. Mit der habe ich ja einen Fang gemacht. Aber wie konnte ich auch erwarten, dass aus einer Familie wie der Aarons etwas Niedliches und Pflegeleichtes heraus kommt.

„Was? Du bist auch nicht gerade ein Hauptgewinn!“, murrt sie.

„Na gut, eins zu null für dich!“, gestehe ich ihr zu.

Das lässt sie zufrieden lächeln. Während sie damit beginnt durch das Zimmer zu wandern, sagt sie: „Außerdem, wenn du deine Worte mich nicht hängen zu lassen wirklich ernst gemeint hast, dann werden wir doch eh heiraten. Da kann ich damit doch auch gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.“ Von einem Moment auf den anderen hält Judy inne und sieht mich fixierend an.

Fragend betrachte ich sie, während mir ein neuer Schauer den Rücken hinabjagt.

„Vincent hat nun schon seinen zweiten Fehler begangen. Erst hat er meine Katze umgebracht und jetzt versucht er noch den Vater meines Kindes zu töten. Dagegen habe ich aus Prinzip etwas!“, sagt sie finster.

Ihre Worte geben mir mehr Hoffnung als ich zuvor noch hatte und ihre Entschlossenheit dabei erinnert mich irgendwie an Robin, was sie gleich noch einmal sympathischer macht. So lächle ich sie zufrieden an.

„Was?“, will sie schroff wissen.

„In dir steckt mehr von deiner Schwester als ich dachte, nur das du noch mal deutlich hübscher bist, als Robin!“, verkünde ich ihr.

Judys Wangen werden rot. Ihr Blick bekommt etwas gespielt Arrogantes, als sie sagt: „Natürlich bin ich hübscher als sie. Robin läuft ja immer herum wie eine Nutte.“

Ihre Worte und die abgewandte Haltung lassen mich schon wieder schmunzeln. Irgendwie werde ich schon mit ihr klar kommen. Immerhin ist sie auf meiner Seite und das obwohl sie die Wahrheit über meine Heiratsabsichten kennt. So öffne ich die Schmuckschachtel und gehe vor Judy auf die Knie: „Nun dann Judy Longhard, würdest du mir die Ehre erweisen, meine Frau zu werden?“

Judys Blick wandert langsam und von oben herab auf mich zurück. Sie greift in die Schmuckschachtel und nimmt den Ring heraus. Selbst legt sie ihn sich an den Ringfinger der linken Hand und streckt dann den Arm weit aus. Aus der Ferne betrachtet sie den Diamanten in der Mitte und lässt ihn dabei funkelnde Lichtflecken an die Wände werfen.

„Ich denke der ist angebracht. Meine Mutter ist mit ihm am Finger gestorben und mein Mann ist ein Totgeweihter. Ich habe schon ein Glück!“, sagt sie seufzend.

Ich betrachte sie fassungslos. Wie kann sie so was nur so gefühlskalt aussprechen? „Du bist echt nicht normal“, kommt mir spontan über die Lippen.

„Sei froh, dass es so ist. Eine normale Frau würde sich hierauf sicher nicht einlassen.“, sagt sie.

Das lässt mich wieder aufstehen und sie fragend betrachten. „Also war das jetzt ein ja?“, will ich wissen.

Sie lächelt mich zufrieden an und kommt einen Schritt näher. Ihre Arme legt sie mir um den Hals und sieht mich mit einem warmherzigen Lächeln an. „Ja, ich will dich heiraten“, sagt sie fast schon liebevoll. Durchdringend wird ihr Blick. „Weil du ehrlich zu mir warst und mich nicht mit dem Kind hängen lässt“, sagt sie und schiebt noch ein verträumt klingendes, „Und weil ich dich heiß finde…“, hinterher.

Ich umgreife ihre Taille und drücke sie fest an mich. Das sie dabei überrascht schaut, ignoriere ich. „Danke!“, sage ich und meine es ehrlich.

Sie seufzt erleichtert und legt mir ihre Arme enger an den Nacken. „Ich danke dir auch… Ich will keine Ausgestoßene sein, die ein uneheliches Kind bekommt“, sagt sie und lässt sich in meine Umarmung fallen. „Davor habe ich panische Angst…“, murmelt sie deutlich leiser. Warme Tränen spüre ich dabei in meinen Hemdkragen laufen.

Erst jetzt wird mir wirklich bewusst, dass auch sie sich in einer ausweglosen Lage befindet und ihr Leben ohne diese Hochzeit ebenfalls nichts mehr wert wäre. Gesellschaftlich wäre sie ruiniert und kein Mann hätte je wieder Interesse an ihr. Sie wäre für immer von den Launen ihres Vaters abhängig.

„Wir schaffen das schon irgendwie… zusammen“, verspreche ich ihr und suche genauso Halt an ihr, wie sie an mir. „Aber eine Frage habe ich trotzdem noch“, muss ich noch loswerden.

„Welche?“, will sie in meine Halsbeuge genuschelt wissen.

„Wie hat Vincent deine Katze getötet?“, frage ich und stelle mir schon die schlimmsten Morde vor. Überfahren, erschossen, aufgehangen und gehäutet...

Judys Mundwinkel gehen nach oben, ich glaube ihr bösartiges Lächeln auf meiner Schulter durch den Stoff hindurch spüren zu können. „Er hat sie aufgegessen!“, antwortet sie.

„Was?“, frage ich verstört und male mir schon eine gebratene Katze am Spieß aus.

„Ja, sie war aus Schokolade und stand im Wohnzimmer. Mutter hat sie mir gemacht und der Mistkerl hat sie einfach gegessen!“

„Du willst Rache an ihm für eine Schokoladenkatze?“, frage ich ungläubig.

„Ja, hast du ein Problem damit?“, will sie angriffslustig wissen und krallt mir ihre Finger in die Schulter.

„Nein, kein Stück!“, entgegne ich schnell.

Ihre Finger lockern sich, sie legt sie flach auf meiner Schulter ab. „Gut!“, sagt sie versöhnlich.

Eine Frage brennt mir trotzdem noch unter den Nägeln, die ich einfach loswerden muss. „Hat er die Katze eigentlich vor oder nach dem Tod deiner Mutter aufgegessen?“

„Nach ihrem Tod!“, erklärt sie.

Das erleichtert mich etwas, erklärt es doch zumindest ein bisschen warum sie so sauer ist, doch Judy schiebt in dunklere Stimmlage nach.

„Aber ich würde ihn auch hassen, wenn er sie davor gegessen hätte! Einfach aus Prinzip!“

Oh man, auf was lasse ich mich hier nur ein? Wenn sie je von mir und Toni erfährt, brauche ich Vincent sicher nicht mehr fürchten.

~Die Wahrheit~

Als ich vor der Tür des Anwesens stehe, schlägt mir das Herz bis zum Hals. Meine Hände sind so feucht und kalt, dass ich das Gefühl bekomme, dass sie kein Teil meines Körpers mehr sind. Selbst meine Beine scheinen nicht mehr zu mir zu gehören. Keine Ahnung wie sie es schaffen mein Gewicht zu tragen, zittern sie doch so sehr, dass ich meine sie sind zu Wackelpudding geworden.

Die große schwarze Tür, direkt vor mir, mit den silbernen Aufschlägen und dem Knauf in Form eines Löwen, erscheint mir heute wie das Tor zur Hölle. Das letzte Mal, habe ich mich bei ihrem Anblick so gefühlt, als Robin mich das erste Mal hier hergebracht hat.

Schritte kommen die wenigen Stufen herauf, die bis zur Tür führen, jemand bleibt neben mir stehen. Die Hand, die meine Finger greift, ist eben so kalt. Der Arm, der sie führt, zittert. Als ich zur Seite schaue, betrachten mich Judys rehbraune Augen dennoch entschlossen.

„Bereit?“, will sie von mir wissen.

„Nein!“, antworte ich ehrlich.

Ein süßes Lächeln huscht ihr in die Mundwinkel. „Ich auch nicht!“, gesteht sie.

Das auch sie sich so unsicher fühlt und das, wo es ihr Vater ist, dem wir nun gleich gegenüberstehen werden, lässt mich ebenfalls lächeln. Wir sitzen im selben Boot, fühlen die selbe Angst vor der Zukunft und haben die gleichen Feinde. Mal abgesehen von Toni habe ich mich noch nie jemanden so verbunden gefühlt, wie ich es jetzt gerade mit ihr spüren kann. Egal wie Aaron reagieren wird, sie wird mich sicher nicht hängen lassen. Das macht mir Mut.

Ich greife ihre Finger fest und trete näher an die Tür heran. Aus meiner Hosentasche krame ich den Schlüssel und schließe mit ihm auf. Als wir eintreten, ist der Flur dunkel. Ich muss erst den Lichtschalter betätigen, damit wir etwas sehen können. Gespenstige Stille erwartet uns.

„Aber Vaters Limousine steht doch vor der Tür“, gibt Judy zu bedenken und sieht dabei hinaus. Tatsächlich ist das weiße Automobil auf dem Kiesweg vor der Villa geparkt.

„Er ist sicher in seinem Büro!“, vermute ich, als sich uns Schritte nähern.

„Junge Lady?“, fragt die kratzig, raue Stimme Jesters und jagt mir einen Schauer den Rücken hinab.

Judy scheint es ebenso zu gehen, denn sie wird für einen Moment ganz steif, dann dreht sie sich langsam um. Ein tiefer Atemzug geht in ihre Lunge, dann entspannt sie sich langsam wieder. „Hallo Jester! Lange nicht gesehen“, begrüßt sie den Butler.

Jester huscht ein flüchtiges Lächeln in die Mundwinkeln. „Ist dem so?“, fragt er spitzfindig und spielt damit sicher auf den Abend an, als Judy der Einladung ihres Vaters gefolgt ist und sich unter die Gäste gemischt hat.

„Ich weiß nicht, was du meinst“, entgegnet Judy mit einem warmherzigen Lächeln. Die beiden tauschen vertraute Blicke, dann ist es wieder Judy, die zu sprechen beginnt: „Ist Vater da? Wir haben ihm etwas zu sagen.“

Erst jetzt betrachtet Jester auch mich. Von oben bis unten mustert er mich. Seine freundliche Miene verschwindet dabei. Er betrachtet mich als würde er gedanklich bereits eine Waffe auf mich richten. Trotzdem tritt er an die Seite, um uns Platz zu machen. „Der Master ist in seinem Büro und er hat sehr schlechte Laune“, erklärt er uns.

Was Aaron die Stimmung verdorben hat, kann ich mir sehr gut vorstellen. Vincent, dieser Mistkerl! Er war sicher schon hier. Vielleicht ist er es auch immer noch? Allein bei dem Gedanken, dem Mistkerl wieder über den Weg zu laufen, stellt sich mir jedes Haar am Körper auf. Brechreiz steigt mir in die Kehle, den ich nur mit aller Gewalt zu unterdrücken vermag.

Judy wirft mir einen aufmunternden Blick zu, dann gilt ihre Aufmerksamkeit Jester. „Dann ist es ja umso besser, dass wir ihm eine freudige Nachricht überbringen.“

Jesters Blick wird fragend, besonders intensiv mustert er mich.

Ich schlucke schwer und bemühe mich vergebens mein Pokerface wieder zu finden. So wie der Butler mich ansieht, habe ich fast das Gefühl, als wüsste er bereits über die Schwangerschaft bescheid. Wenn dem so ist, verlasse ich dieses Haus auf jeden Fall als toter Mann.

„Würdest du uns ankündigen, so wie es sich gehört?“, fragt Judy und unterbricht damit Jesters prüfenden Blick auf mich.

Der Butler wendet sich wieder ihr zu. Er verbeugt sich leicht. „Gewiss junge Lady!“, sagt er und geht an uns vorbei. Dabei bleibt er ganz nah bei mir stehen und packt mich fest an der Schulter.

Ich zucke merklich zusammen, als mich ein jäher Schmerz durchfährt. Es gibt fast keine Stelle an meinem Körper, die beim Kampf gegen Vincent keinen Schaden genommen hat. Auch meine Schulter ist unter dem Stoff tiefblau. So ist der Griff des Buttlers kaum auszuhalten. Ich muss mir auf die Unterlippe beißen, um nicht aufzuschreien.

Jester scheint das zu spüren, sein Griff wird lockerer, dafür beugt er sich an mein Ohr und flüstert mir zu: „Du wirst eine gute Ausrede brauchen!“

Ich seufze, weiß ich doch nur zu gut, wie recht er hat. Keine Ahnung, ob ich Aaron noch einmal für mich gewinnen kann. Meine Worte muss ich mir auf jeden Fall gut überlegen.
 

Jester geht an mir vorbei und voraus. Wir folgen ihm in einem Schritt Abstand. Judy läuft dabei ganz nah an meiner Seite. „Was wirst du ihm erzählen?“, will sie dabei flüsternd von mir wissen.

Diese Frage stelle ich mir schon, seit wir auf dem Weg zu Aaron sind. Eine glaubhafte Ausrede habe ich bisher nicht gefunden. Nur einen Trumpf habe ich noch und der funkelt an Judys Finger. Ich fahre über den Diamanten, während ich ihre Hand halte. „Tut mir leid, aber du wirst meine Ausrede sein“, gestehe ich ihr.

Judys Blick wandert auf unsere Hände und auf den Ring, schließlich schaut sie mir wieder ins Gesicht. Sie lächelt mich an. „Das ist in Ordnung“, bestätigt sie.

Ich ringe mich ebenfalls zu einem Lächeln durch. Wenigstens mit ihr habe ich mal Glück gehabt. Vielleicht reicht es ja, um den heutigen Tag zu überleben. Das muss es einfach!

Jester führt uns die Treppe hinauf. Als wir oben angekommen sind, beschleunigt er seine Schritte, um uns wie gefordert bei Aaron anzukündigen. So können wir sehen, wie er in der Ferne im Büro verschwindet und die Tür nach ihm ins Schloss fällt. Kurz darauf ist Aarons laute Stimme zu hören: „Wie kann er es wagen?“, schalt sie bis zu uns.

Ich bleibe augenblicklich stehen und auch Judy hält inne. Wir greifen beide die Hand des anderen fest.

Die Tür zum Büro fliegt auf und knallt an die gegenüberliegende Wand. Schritte stampfen heraus. Aarons imposante Erscheinung tritt in den Flur. Unsere Blicke treffen sich mit seinem, doch als er seine Tochter erkennt, ist er es, der zur Salzsäule erstarrt.

Einen Moment verharren wir alle drei in dem letzten Schritt, den wir getan haben.

Das Aarons Wut auf mich jedoch beim Anblick seiner Tochter im Keim erstickt, gibt mir neuen Mut. Auch wenn ich jeder Ader im Körper pulsieren spüren kann und mir das Herz bis an den Hals schlägt, trete ich nach vorn und hebe unsere ineinander verschränkten Hände. „Wir… wir müssen dir etwas mitteilen!“, berichte ich ihm.

Einen quälend langen Moment bewegt sich nichts in Aaron, seine Augen mustern nur unablässig Judy und landen schließlich bei unseren Händen. Von ihnen wandert sein Blick langsam auf mich und wird wieder finster. „Das ist nicht dass, worum ich dich gebeten habe!“, knurrt er.

Was genau er damit meint, erschließt sich mir nicht. Er wollte doch immer das ich Judy heirate und in den Schoß der Familie zurückbringe. Das kann es also nicht sein, was ihn stört. Ob er seinen Auftrag an mich meint, auf Vincents Party Klavier zu spielen? Kein Thema das ich anschneiden will. Verbissen halte ich an meinem Plan fest Judy als Grund für alles Fehlverhalten zu nutzen. Unsere Hände lasse ich wieder sinken und betrachte sie liebevoll, als ich mich an ihn richte: „Aber sie hat ja gesagt!“

„Was?“, fragt Aaron.

Als ich mich wieder ihm zuwende, weicht seine grimmige Miene auf.

Judy tritt neben mich. Sie atmet tief durch, dann ergreift sie das Wort: „Ich wollte nie, dass du mir einen Mann aussuchst. Das war auch ein Grund, warum ich gegangen bin. Aber…“ Judy sieht mich an. Als sie fortfährt, betrachtet sie mich verliebt. „… bei dem hier, konnte ich nicht wiederstehen!“

Ihre Worte lassen mich betreten zu Boden schauen, während meine Wangen immer heißer werden, geht mir doch durch den Kopf, was wir schon alles getan haben und auch was in ihrem Bauch wächst. Unwillkürlich muss ich ihr auf diesen schauen. Vater werden ist für mich noch immer nicht greifbar. Doch gerade ist noch nicht mal sicher, ob ich lange genug leben werde, um bei der Geburt anwesend zu sein. Nur zögerlich lasse ich meine Aufmerksamkeit auf Aaron zurück wandern.

In den Augen des Paten stehen Tränen, seine Stimme ist brüchig, als er fragt: „Also kommst du nach Hause zurück?“

„Ich werde da wohnen, wo mein Mann lebt!“, sagt Judy.

Überrascht betrachte ich sie. Also in unserer Fabrik? Die kennt sie ja noch gar nicht! Oh man, wie sollen wir da ein Kind großziehen? Neben unseren Räumlichkeiten entsteht gerade ein Bordell. Fuck! Ich beiße mir auf der Unterlippe herum.

„Er… er wohnt hier!“, verkündet Aaron schnell.

Judys Blick richtet sich fragend auf mich. Irritation liegt darin, gepaart mit einer stummen Abwehr. Gar nicht gut. Gerade muss eindeutig ihr meine Loyalität gehören, denn noch sind wir nicht verheiratet.

„Das war nur vorrübergehend! Bis mein Bein verheilt ist. Mir gehört eine Fabrik an den Docks, die haben wir zur Wohnung ausgebaut“, berichte ich rasch.

„Unterstehe dich meine Tochter in diese Absteige zu entführen!“, faucht Aaron.

„Dann gib mir endlich die Erlaubnis was Anständiges daraus zu machen und bau nicht auch noch ein Bordell nebenan!“, halte ich dagegen.

Judy macht einen Schritt weg von mir und löst ihre Hand aus meiner. „Was?“, fragt sie aufgebracht.

Na großartig! Das mit dem Bordell hätte ich verschweigen sollen. Ich deute auf Aaron und sage verteidigend: „Das war seine Idee, nicht meine!“ Ich überlege kurz und füge dann an: „Na gut eigentlich war es die Idee von diesem Diego, dein Vater hat nur sein Okay gegeben.“

Judy verschränkt die Arme vor der Brust und betrachtet mich kritisch. „Ich dachte du bist Pianist!“, schimpft sie.

Oh man, das läuft nicht so wie geplant. Dabei bin ich mir sicher ihr gesagt zu haben, dass ich nur ein Straßenkind bin. Ich will gerade etwas erwidern, als Judy fragend anfügt: „Du hängst in seinen Geschäften also richtig tief mit drin, oder?“

Sie klingt nicht so, als wenn sie damit einverstanden wäre, so geht mein Blick ratsuchend zu Aaron. Ist es eine gute Idee ihr die Wahrheit zu sagen?

Der Pate reibt sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel und seufzt gottergeben. Den anderen Arm streckt er aus und deutet in sein Büro. „Los rein da! Wir haben zu reden!“, verlangt er und sieht mich dabei streng an.

Ich seufze und lasse die Schultern hängen, während ich auf ihn zuhalte. „Gib mir wenigstens die Gnade eines Kopfschusses, damit ich es schnell hinter mir habe!“, bitte ich, als ich an ihm vorbei schleiche.

Judys Schritte kommen mir nach. „Glaubt ja nicht, dass ihr das unter euch ausmachen könnt! Das betrifft mich ja wohl auch!“, schimpft sie und kommt mit ins Büro.

Ihre Anwesenheit lässt mich aufatmen. Wenn sie dabei ist, wird er mich wohl kaum über den Haufen schießen.

Aaron sagt nichts zu all dem, er kommt uns mit langsamen Schritten nach. Als wir das Büro betreten, deutet er in den rechten Teil neben der Tür.

„Aufs Sofa!“, ordnet er an.

Ich bin schon so oft hier gewesen, doch dass hier ein Sofa steht, fällt mir erst jetzt auf. Es ist mit dunkelbraunem Leder überzogen. Der Rahmen ist aus schwarzlackiertem Holz gearbeitet. Sicher kann man davon gut Blut abwischen. Ich seufze und lasse mich dennoch darauf nieder.

Judy tut es mir in einigem Abstand gleich. Sie nimmt die Seite ganz links außen und verschränkt die Arme vor der Brust, während sie mich keines Blickes würdigt.

Das sie sauer ist, ist offensichtlich, nur warum genau kann ich nicht einschätzen. Doch es wird mir sicher nicht gegen die Wut ihres Vaters helfen. Meine feuchten Hände wische ich mir an meinen Hosenbeinen ab, dann lege ich die Unterarme auf die Oberschenkel und falte meine Finger ineinander, um mich an irgendwas festhalten zu können.

Aaron holt sich den schmucklosen Holzstuhl, der immer vor seinem Schreibtisch steht und kommt damit zu uns. Er platziert ihn direkt vor uns und lässt sich dann auf ihm nieder. Auch er verschränkt die Hände ineinander und legt sie auf seinen Oberschenkeln ab, dann beugt er sich nach vorn und mustert uns streng.

„Okay ihr zwei, was genau soll das hier werden?“, will er wissen.

Ich werfe einen verstohlenen Blick auf Judy, doch sie vermeidet es noch immer mich anzusehen und eine Antwort auf Aarons Frage, die mich in einem guten Licht dastehen lässt habe ich nicht, also schweige ich.

„Ist es euch wirklich ernst mit einer Hochzeit oder ist das nur ein Schachzug gegen Vincent?“, will Aaron wissen und betrachtet mich eindringlich. Auch Judys Blick richtet sich nun fragend auf mich.

Großartig! Ich bin so was von fällig. Wenn nicht Aaron mich erledigt, dann wird es Judy tun. Aber es bringt alles nichts, da muss ich jetzt durch. Offen betrachte ich Aaron und behalte Judys Reaktion im Augenwinkel im Blick, als ich antworte: „Ich mag deine Tochter wirklich. Sie ist ein großartiger Mensch. Obwohl sie mich kaum kennt, wollte sie mir ganz selbstlos helfen. Ich will sie wirklich heiraten, wenn du mich lässt.“ Einen flüchtigen Blick richte ich auf Judys Bauch. Damit lasse ich sie nicht hängen, das habe ich ihr versprochen und werde ich auch halten.

Bei meinen Worten löst Judy die Verschränkung ihrer Arme, ihre Augen werden wieder sanft. Na wenigstens sie konnte ich damit etwas besänftigen.

Ihr Vater aber schaut mich noch immer ungläubig an. So fahre ich weiter fort: „Aber ja, sie ist auch eine List gegen Vincent.“

„Was ist denn nur dein Problem mit ihm? Du solltest doch lediglich auf seiner Party Klavier spielen! Wieso bist du nicht einfach hingegangen?“, verlangt Aaron zu wissen. Er legt mir seine rechte Hand auf die Schulter und gräbt seine Finger tief hinein.

Ein höllischer Schmerz jagt von seinem Griff ausgehend in meinen ganzen Oberkörper und lässt mich zusammenfahren. Er treibt mir die Tränen in die Augen und lässt mich laut aufschreien.

Aaron gibt meine Schulter augenblicklich frei und betrachtet mich ratlos. Angespannt wartet er auf eine Erklärung.

Mir kommt noch immer keine passende Ausrede in den Sinn und so langsam kann ich diese ganze Scharade nicht mehr ertragen. Während ich mir an die schmerzende Schulter fasse und sie stütze, lasse ich meine Tränen einfach fließen. „Aber ich war doch bei ihm und dabei habe ich dich so oft angefleht, es nicht tun zu müssen. Glaubst du wirklich ich bin in der Position gegen deinen ausdrücklichen Befehl zu handeln? Ich habe versucht es dir zu erklären, aber du glaubst mir ja nicht. Du kennst deine eigenen Capos nicht! Seit dieser Sache mit dem Angriff von Toni auf Vincent, will der mich schon loswerden. Ich hätte auch diesen Besuch fast mit dem Leben bezahlt“, berichte ich ihm wahrheitsgemäß.

Aaron betrachtet mich noch immer ungläubig, so beginne ich mir das Hemd aufzuknöpfen.

„Hey Junger, was soll das werden? Zieh dich gefälligst wieder an!“, knurrt er und lehnt sich zurück, um Abstand zwischen uns zu bringen.

Doch ich denke gar nicht daran jetzt aufzuhören. Das alles lastet schon so lange auf mir und ich habe es satt zu lügen, nur damit mir geglaubt wird. „Nein! Du wirst dir das jetzt ansehen“, sage ich und stehe auf. Während ich weiter mein Hemd öffne, erhebe ich mich. Als der letzte Knopf meinen Bemühungen erliegt, streife ich es mir vom Oberkörper. Die unzähligen blauen Flecke und Schürfwunden sind deutlich sichtbar. Besonders meine Schulter ist fast schwarz.

Aarons Augen fahren die Verletzungen ab, sein Mund öffnet sich, ohne dass ihm Worte entkommen, also fahre ich einfach in meinem Bericht fort:

„Toni hat er versucht zu vergiften und als er mit mir fertig war, landeten wir beide in der Schrottpresse auf irgendeinem Hinterhof. Wäre mein Leibwächter nicht von den Drachen gegen etliche Gifte immunisiert wurden, wären wir jetzt beide Tod.“

Im Augenwinkel kann ich sehen, wie Judy immer bleicher wird, sie schlägt sich die Hände an den Mund und wirkt geschockt. Ins Detail zu dem was passiert ist, bin ich ihr gegenüber nicht gegangen, doch gerade kann ich mich nicht mehr zügeln. Ich will diesen ganzen Dreck endlich zur Sprache bringen, damit er mir nicht mehr die Seele zerfrisst.

Aaron betrachtet mich prüfend, schließlich will er ernst wissen: „Warum erzählst du das erst jetzt? Wieso nicht nach dem ersten Vorfall?“

Wut steigt mir siedend heiß in den Magen, meine Hände balle ich zu Fäusten, während ich ihn anschreie: „Wir haben es dir erzählt! Toni hat es dir erzählt! Aber du hast uns nicht geglaubt, also habe ich mir was ausgedacht, was du glaubhafter findest, damit wir aus deinem Büro lebend wieder rauskommen. Du willst die Wahrheit doch gar nicht hören. Deswegen weißt du auch nicht, welcher deiner Capos dir nach dem Leben trachtet. Du siehst nur das, was in deine Vorstellung von der Welt passt. Ich bin mir sicher, dass Vincent nicht der Einzige ist, der hinter deinem Rücken gegen deine Interessen agiert.“

„Ich… ich kann das nicht… wieder…“, murmelt Judy hinter uns. Ihre Hände liegen nun in ihrem ganzen Gesicht, während sie die Nase hochzieht. Sie erhebt sich und geht langsam ein paar Schritte Richtung Tür. Doch mit jedem weiteren wird sie schneller, bis sie schließlich rennt. An der Tür muss sie kurz halt machen, um diese zu öffnen, dann verschwindet sie eilig auf dem Flur.

„Großartig!“, murre ich und ziehe mir mein Hemd wieder über. Was auch immer Judy damals zum Weglaufen bewogen hat, es scheint mir so, als wenn sie genau das wieder tut.

Eilig schließe ich die Knöpfe und will ihr nachgehen, als Aaron mich an der Schulter festhält. „Enrico!“, sagt er während sein Griff dieses Mal sanft ist, trotzdem schüttele ich seine Finger ab.

„Nein, ich muss meiner Frau hinterher, bevor den beiden noch was passiert!“, rutscht mir raus, dann laufe ich Judy hinterher.

Als ich den Flur betrete, folgen mir keine Schritte, dafür hat Judy bereits die Treppe ins Erdgeschoss erreicht. „Judy, warte, bitte!“, rufe ich ihr nach und beeile mich sie einzuholen, doch sie ist verdammt schnell. Als ich die Treppe erreiche, ist sie bereits auf der letzten Stufe angekommen. „Judy! Bitte warte!“, rufe ich wieder, doch sie dreht sich nicht mal um und mein schmerzender Körper erlaubt es mir nicht, noch schneller zu laufen. Auch die Treppenstufen sind eine einzige Qual. So ist sie längst durch die Haustür verschwunden, eh ich unten angekommen bin.

Dafür bewegen sich Schritte im Erdgeschoss und halten plötzlich inne. „Aaron wir müssen und noch mal über… Enrico?“, fragt eine Stimme, die mir durch Mark und Bein geht.

Auch ich halte abrupt inne. Übelkeit frisst sich in meinen Magen, ebenso wie Furcht und unbändige Wut. Als ich mich nach der Stimme umdrehe, steht Vincent vor der Tür zum Salon. Er hält ein Glas Rotwein in der Hand und betrachtet mich, als wenn er einen Geist vor sich hätte. Dieser verfluchte Mistkerl! Er war bestimmt hier, um sich bei Aaron zu beschweren, dass ich nicht aufgetaucht bin. Das war sicher auch sein Alibi für den Mordversuch an mir und Toni, wären wir nicht wieder aufgetaucht.

Schritte sind im ersten Stock zu hören, ich muss nicht mal hinsehen, um zu wissen, dass Aaron oben an der Treppe steht und uns zusieht. Noch ein Grund mehr hier jetzt nicht kleinbeizugeben. Ich schiebe alle Gefühle bis auf die Wut beiseite und gebe dieser allen Raum in meinem Kopf, das gibt mir die Kraft auf den Mistkerl zuzuhalten. Das Vincent dabei weiß anläuft wie eine Kalkwand, gibt mir noch mehr Mut. Als ich ihn erreiche, packe ich ihn an seiner Krawatte und ziehe ihn auf meine Größe herab. „Komm mir nie wieder in die Quere, sonst lege ich dich um, oder er tut es.“ Einen kurzen Blick wende ich hinauf zur Treppe, wo tatsächlich Aaron steht. Meinen Worten verleihe ich mehr Lautstärke und Kraft, als ich fortfahre: „Denn wenn du noch mal Hand an mich legst, hast du den Schwiegersohn des Paten auf dem Gewissen und ich schwöre bei Gott, dass ich Judy heute noch ein Kind mache, dann hast du auch noch den Vater seines Enkelkindes auf dem Gewissen. Mal sehen ob er dir das auch verzeihen kann!“ Damit stoße ich den Kerl von mir und laufe Judy nach.

~Unerträgliches Warten~

Jetzt warten sie hier schon eine gefühlte Ewigkeit und immer wieder lauscht Antonio nach einem Schuss, oder einem anderen Geräusch, dass den Tod seines Freundes begleitet.

Mit dem Rücken hat Antonio sich an den Stamm eines Baumes gelehnt und den linken Fuß an diesen gestemmt. Die Bisswunde, die ihm dieser verfluchte Köter zugefügt hat, spannt entsetzlich, besonders wenn er Gewicht darauf lädt. Nur in dieser Position ist das lange Warten und Stehen irgendwie auszuhalten. Die Arme vor der Brust verschränkt, sieht er immer wieder am Anwesen hinauf, zu den Fenstern in denen Licht brennt. Ob es Enrico noch einmal gelingt Aaron für sich zu gewinnen?

„Wie geht es dir?“, bricht Robin das Schweigen. Sie hat sie hergefahren und vorgeschlagen Enrico und Judy sollen ihre Neuigkeiten allein überbringen. Antonio ist sich nicht sicher, ob das wirklich eine gute Idee war. Doch selbst wenn er dabei wäre, was soll er schon tun, wenn Aaron seine Waffe zückt. Dann kann er sich höchstens noch vor Enrico stellen und die erste Kugel abfangen, danach wäre die zweite seinem Freund sicher. Antonio seufzt schwer und vergisst bei all seinen kreisenden Gedanken Robin zu antworten.

„Antonio?“, harkt sie nach, als er stumm bleibt.

Erst jetzt gelingt es Antonio seinen Blick von den Fenstern zu lösen und seine Aufmerksamkeit der Patentochter zu schenken. „Was?“, muss er fragen, hat er doch ganz überhört, was Robin von ihm wissen wollte.

„Wie geht es dir, nach allem was passiert ist?“, wiederholt sie und betrachtet ihn dabei mit sorgenvoller Miene.

Antonio senkt den Blick und betrachtet seine Schuhe. Darüber will er lieber nicht nachdenken. Wenn er in seinen Körper hinein hört, fühlt der sich schwach und elend an. Sein Organismus hat das Gift noch nicht gänzlich abgebaut. Eigentlich ist ihm die ganze Zeit schlecht und ab und an ist ihm schwindelig, besonders wenn er sich schnell bewegt. Von dem hämmernden Schmerz in seinem zerbissenen Bein mal ganz zu schweigen. Sein Kopf fühlt sich so an, als wenn ein Presslufthammer ihn bearbeiten würde. Trotzdem antwortet er: „Bei mir ist alles gut!“, dann wandert sein Blick wieder am Anwesen hinauf. Zumindest als Ablenkung von seinem eigenen Zustand, ist die Sorge um seinen Freund gut.

„Du musst vor mir nicht den Helden spielen! Wenn du hier zusammenklappst, ist keinem geholfen“, kommentiert Robin seine Worte.

Sieht Antonio denn so schlecht aus? Als er sich nach der Patentochter umdreht, sieht diese ihn noch besorgter an. Antonio seufzt ergeben. „Es geht schon irgendwie“, lässt er sie wissen.

Robin betrachtet ihn noch einen Moment lang forschend, dann verschränkt auch sie die Arme vor der Brust und richtet ihren Blick auf das Anwesen. „Enrico ist nicht der Einzige, der hat leiden müssen“, sagt sie.

Sie scheint es heute aber auch darauf anzulegen, dass er zusammenbricht. Je mehr Hinweise Antonio auf seine eigene Schwäche bekommt, umso deutlicher kann er sie spüren. Doch auch wenn er weiß, dass sie recht hat, fühlt es sich für Antonio nicht so an. Ja er wurde mit dem Gift außer Gefecht gesetzt, aber Enrico war es an dem sich Vincent… Nein, dieser Gedanke ist auch nicht viel besser. Der schürt nur den Hass auf Vincent und auch auf sich selbst, dass Antonio das alles nicht verhindern konnte. „Lass uns das Thema wechseln!“, schlägt er vor.

Robin holt Luft, um etwas zu sagen, als sich die Haustür der Villa öffnet. Judy ist es, die fluchtartig das Anwesen verlässt und scheinbar kopflos davonläuft. Die Tür lässt sie dabei weit offen stehen. Vergeblich wartet Antonio darauf, dass Enrico ihr folgt, doch sie ist allein. Tränen liegen in ihrem Gesicht und lassen ihre Schminke verlaufen. Verdammt! Was ist da passiert? Antonio stößt sich vom Stamm des Baumes ab und auch Robin bewegt sich in seine Richtung. Sie stellen sich gemeinsam Judy in den Weg.

Die jüngste Patentochter ist so in Eile, dass sie nicht mal aufschaut und ungebremst in ihre Schwester rennt. Ein harter Atemzug geht dabei in ihre Lunge, dann sieht sie panisch auf.

Robin greift die Schwester an beiden Oberarmen und schiebt sie ein Stück von sich, um ihr ins Gesicht schauen zu können. „Was ist passiert?“, will sie wissen.

Die selbe Frage brennt auch Antonio auf der Seele. Beinah glaubt er die Antwort schon zu kennen. Aaron wird Enrico doch nicht vor den Augen seiner Tochter erschossen haben, oder?

Judy schaut zwischen ihm und ihrer Schwester hin und her. Neue Tränen laufen ihr über die Wangen. „Warum… warum müssen die Menschen, die ich liebe, denn immer in Lebensgefahr schweben? Warum können sie nicht einfach einer ehrlichen Arbeit nachgehen? Ich will kein Kind eines Totgeweihten austragen!“, schluchzt sie.

„Was meinst du mit totgeweiht?“, entfährt es Antonio laut und anklagend.

Das Judy zusammen zuckt und ihr noch mehr Tränen über die Wangen laufen, ist ihm gerade herzlich egal. Er packt sie am Handgelenk und zieht sie zu sich herum. „Will dein Vater ihn etwa wirklich umbringen? Oder hat er es schon getan?“, verlangt er zu wissen. Judy betrachtet ihn mit großen Augen, sie bringt kein Wort mehr heraus, dafür laufen ihr immer neue Tränen übers Gesicht.

Ihre Schwester greift Antonios Finger und löst sie von Judys Gelenk, dann dreht sie das Gesicht der jungen Frau am Kinn zu sich, bis sie sie ansehen muss. „Was ist passiert? Ist Vater mit eurer Verbindung nicht mehr einverstanden?“, will sie wissen.

Ist das gerade wirklich Robins einziges Problem? Antonios Aufmerksamkeit wandert zurück zur offen stehenden Tür. Ob er reinstürmen sollte, oder bringt das Enrico nur noch mehr in Schwierigkeiten?

Judy zieht die Nase hoch und wischt sich mit dem Handrücken die Nässe aus dem Gesicht. „Er hat nichts dagegen. Ich glaube er freut sich sogar ein bisschen, aber irgendwer aus seinen Reihen will Vater Tod sehen und auf Enrico hat es Vincent abgesehen.“

„Ist der Mistkerl etwa da drin?“, will Antonio aufgebracht wissen. Er macht schon einen Schritt auf das Anwesen zu, als jemand durch den Flur gelaufen kommt und eilig durch den Türrahmen ins Freie tritt. Auf der Treppe vor dem Anwesen bleibt der blonde Kerl kurz stehen und sieht sich nach allen Seiten um. Schließlich findet er sie neben der alten Tanne. Eiligen Schrittes kommt Enrico zu ihnen gelaufen.

Antonio verfolgt jede seiner Bewegungen und fährt seinen Körper mehrere Male mit den Augen ab, doch er kann keine neuen Verletzungen finden. Sein Freund bewegt sich nicht anders als zuvor. Dass lässt ihn erleichtert durchatmen. Zumindest bis Enrico sie erreicht und er den sorgenvollen Blick seines Freundes erkennen kann.

„Judy!“, spricht er seine Verlobte an.

Die junge Frau meidet seinen Blick und tritt näher an ihre Schwester heran. Den Kopf vergräbt sie an ihrer Oberweite und umgreift ihre Taille. „Geh weg!“, nuschelt sie in den Stoff der Bluse.

Enrico bleibt hinter ihr stehen und legt ihr seine Hand auf die Schulter. „Wieso bist du denn weggelaufen? Ich hatte das Gefühl Aaron glaubt uns und nicht Vincent!“

Judys Finger krallen sich in den Stoff der Jacke, die Robin offen trägt. Sie sagt kein Wort, dafür geht ihr Atem schwer.

„Judy? Was ist denn los?“, versucht es Enrico in sanfter Stimmlage.

Judys Haltung strafft sich, sie löst sich von ihrer Schwester. Anspannung schlägt sich in jede Faser ihres Körpers. Als sie sich nach Enrico umdreht, ballt sie die Hände zu Fäusten und schaut so grimmig, dass Antonio das Verlangen verspürt, sich schützend vor seinen Freund stellen zu müssen. Gerade noch so, kann er sich davon abhalten.

Enrico betrachtet seine Verlobte mit einer Mischung aus Verwirrung und Furcht. Er weicht einen Schritt zurück.

„Was ich habe?“, wiederholt sie aufgebracht und tritt nah an ihn heran. „Du bist wahrscheinlich tot, bevor unser Kind geboren wird!“, schimpft sie und schlägt ihm ihre Fäuste auf den Brustkorb. „Und meinen Vater kann ich sicher gleich mit beerdigen. Warum müsst ihr euch auch mit Verbrechern einlassen? Könnt ihr nicht anständiger Arbeit nachgehen? Warum müsst ihr euch denn unbedingt so schreckliche Feinde machen, dass sie euch tot sehen wollen? Ich will das nicht mehr. Ich will das nicht… Ich will das einfach nicht mehr!“ Immer mehr verlieren sich ihre Worte in Tränen und Schluchzen. Die Fäuste, die sie Enrico immer wieder auf die Brust schlägt, verlieren mehr und mehr an Kraft, schließlich bleiben sie einfach auf ihm liegen.

Obwohl der Schmerz ihrer Schläge Enrico ins verbissene Gesicht geschrieben steht, bringt er nur ein leises Zichen über die zusammengebissenen Zähne. Als Judy sich immer mehr gegen ihn lehnt, schließt er seine Arme um sie. Sein Gesicht bettet er auf ihrem Kopf, in ihren schwarzen Haaren. Ein tiefer Atemzug geht in seine Lungen, bevor er leise sagt: „Ich habe bis jetzt überlebt, dass schaffe ich auch weiterhin.“ Einen flüchtigen Blick wirft Enrico Antonio zu, als wolle er bei ihm eine Bestätigung, dass alles gut wird.

Antonio seufzt und nickt nur, auch wenn es ihm schwer fällt daran zu glauben. Sie sind heute so haarscharf mit dem Leben davon gekommen und bisher war Aaron keine Hilfe. Schlimm genug das ihnen die Drachen im Nacken sitzen, nun auch noch Feinde in den Reihen der Locos zu haben, ist ihr sicheres Todesurteil.

„Ich will unser Kind doch auch kennenlernen und aufwachsen sehen“, fügt Enrico seinen Worten an.

Judy bricht erneut in Tränen aus und schluchzt heftig, während Enrico sie noch fester in seinen Armen einzuschließen versucht.

Je länger Antonio die beiden so ansieht, umso schwerer wird ihm ums Herz. Selbst wenn er dafür sorgen kann, dass sie am Leben bleiben, wird ihnen dieses Leben nicht mehr gehören. Intime Momente oder gar eine Beziehung mit Enrico, erscheinen Antonio gerade in weite Ferne gerückt. Der Gedanke schmerzt ihn mehr, als es die Bisswunde oder die Nachwirkungen des Giftes tun.

~Geld für die Dose~

Als Judy sich wieder gefangen und Robin uns genötigt hat in den Wagen zu steigen, damit sie uns nach Hause und besonders weg von Vincent bringen kann, sitzen wir alle schweigend im Automobil ihres Vaters. Die Stimmung ist so gedrückt, das mir selbst das Atmen zu viel ist. Jetzt wo es so still um mich herum ist, laufen meine Erinnerungen an das Badezimmer und Vincents abartige Berührungen in einer Endlosschleife in meinem Kopf ab. Vergeblich versuche ich an der vorbeiziehenden Landschaft Halt zu finden und all meine Konzentration auf die Häuser, Gehwege und Menschen zu lenken, doch jeder Mann da draußen scheint mir sein Gesicht zu tragen. Das wird eine harte Nacht werden. An Schlaf ist so auf keinen Fall zu denken und das, wo ich schon vor dieser ganzen Scheiße kein Auge zugemacht habe.

„Judy, willst du zu Susen zurück oder soll ich dich wo anders absetzen?“, unterbricht Robin die Stille.

Ich bin froh über die Ablenkung und sehe neben mich. Judy hat wie ich auf der Rückbank Platz genommen. Sie stützt ihr Gesicht mit der Hand und hat den Arm gegen die Fensterscheibe gelehnt. Nachdenklich schaut sie hinaus und scheint die Frage nicht gehört zu haben. So harkt Robin noch einmal nach: „Judy?“

Ein tiefer Atemzug hebt den Brustkorb meiner Verlobten, dann dreht sie sich nach mir um. Einen Moment betrachtet sie mich, als würde sie in mir eine Antwort suchen, dann entgegnet sie ihrer Schwester: „Ich will sehen, wo ich leben muss, wenn ich meinen zukünftigen Mann wirklich eheliche. Kannst du mich dahin bringen?“

Judys Blick geht in den Rückspiegel. Robin sieht von dort zu uns zurück. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich auf mich.

Ich schlucke schwer. Judy will wirklich unsere Fabrik sehen? Dann wird sie auch meine Gang kennen lernen. Allein wie Streuner und Zeng manchmal herumlaufen, wenn sie mal wieder den Kamin auf ihre ganz eigene Art gereinigt haben oder wie sie Ratten fangen und damit Anette erschrecken. Das allein dürfte schon ein abschreckendes Beispiel sein, doch der Supergau wird mein Zimmer sein. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich weder mein Bett gemacht, noch die dreckigen Klamotten auf dem Boden eingesammelt, die ich dort nach einer Nummer mit Toni einfach habe liegen lassen. Kann gut sein, dass wir in unserem Liebesspiel auch mein Bett mit dem ein oder anderen Fleck gekürt haben. Das ist kein Anblick, den ich meiner zukünftigen Frau zumuten kann und will.

„So schlimm?“, will Judy wissen, als mein Gesicht bereits bei der Vorstellung Achterbahn fährt.

„Nun, also… ich habe nicht aufgeräumt!“, sage ich und komme nicht umhin zu Toni zu sehen.

Als sich unsere Blicke im Rückspiegel treffen, schmunzelt er in sich hinein. Er weiß immerhin genau so gut wie ich, wie wir mein Zimmer hinterlassen haben.

Judy seufzt ergeben und betrachtet mich kritisch. „Haust ihr auf schimmligen Matratzen und esst aus dreckigen Metalldosen, wie die Bettler?“, will sie wissen.

„Nicht mehr!“, antwortet Toni belustigt.

Super, das ist keine Hilfe! Finster sehe ich meinen besten Freund an und betrachte sein Spiegelbild warnend.

Toni ignoriert meine offensichtliche Wut und grinst in sich hinein.

„Großartig! Jetzt will ich es erst recht sehen!“, verlangt Judy.

„Na schön, von mir aus! Fahr uns zur Fabrik“, gebe ich nach. Früher oder später muss ich es ihr sowieso zeigen. Wenn sie mir jetzt nicht davonläuft, dann hat das mit uns vielleicht wirklich eine Chance.
 

Robin tut wie ihr aufgetragen. Sie bringt uns zur Fabrik. Vor dem großen Tor stoppt sie den Wagen und betrachtet Toni auffordernd. Mein Freund steigt aus und öffnet das Tor für uns.

Während Robin das Automobil auf den Innenhof lenkt, beugt sich Judy nach vorn, um durch die Frontscheibe alles besser ansehen zu können. Ihre Augen fahren das Fabrikgebäude ab.

Inzwischen sind die Arbeiten an der Außenfassade abgeschlossen. Auch das Grundstück ist aufgeräumt. Es wurde Rasen gepflanzt, der allerdings noch aus Erde und Samen besteht. Gerade mal eine Hand voll der Saat ist bereits aufgegangen und streckt sich als hellgrüne Halme der Sonne empor. Zwischen ihnen sind kleine Büsche und Blumen gepflanzt worden. Ein Weg ist bereits vom Tor bis zum Eingang von Diegos Bereich gepflastert worden. Doch dort, wo er in unsere Richtung verläuft, endet er in einem Trampelpfad. Stimmt ja, das wollte ich dem Kerl ja auch noch auf die Mängelliste setzen. Ebenso wie die Eingangstür, die auf unserer Seite noch fehlt. Dafür hat er aber endlich den Zaun gezogen. Weiße Latten markieren nun die Grenze zwischen seinem und unserem Bereich der Fabrik. Ein kleines Tor ist darin eingelassen, durch das man auf unsere Seite kommt.

„So schlimm sieht es doch gar nicht aus!“, stell Judy fest, während sich ihre Miene aufzuhellen beginnt.

„War auch nicht billig!“, entgegne ich.

Robin parkt den Wagen nah am Zaun, dann steigen wir aus.

Judy schaut sich noch einen Moment lang um, dann suchen ihre Augen nach mir. „Du hast die Restauration bezahlt?“, will sie wissen.

So wie sie klingt, kennt sie die Fabrik, wie sie war, bevor ich mit Aaron wegen ihr einig geworden bin. Mit Stolz in der Stimme antworte ich ihr: „Ja, eine halbe Million Dollar. Den Rest haben Diego und dein Vater bezahlt.“

Judy betrachtet mich, als wenn sie mich in einem ganz neuen Licht sehen würde, doch schließlich wandern ihre Augenbrauen tief in ihre Gesichtsmitte. Ein Vorwurf liegt in ihrer Stimme, als sie fragt: „Will ich wissen, woher ein Straßenkind so viel Geld hat?“

Meine Gedanken wandern zu der Lagerhalle und diesen Kerlen, die wir in Aarons Auftrag ausschalten sollten. Unweigerlich kommt mir dabei auch der Typ in den Sinn, der mich erschießen wollte und dem ich die ganze Munition meiner Trommel in den Körper und besonders ins Gesicht gejagt habe. Dass was von ihm übrig blieb, war ein wirklich schauerlicher Anblick. Ich verziehe das Gesicht, von dieser Erinnerung gepeinigt, und antworte: „Nein, willst du nicht!“

Judy schnaubt abfällig, sagt aber nichts dazu. Stattdessen betrachtet sie das Schild über dem Eingang von Diegos Bereich. Eine Leuchtreklame, die jetzt, mitten am Tag allerdings ausgeschaltet ist. Trotzdem lässt sich der Name des Etablissements noch immer hervorragend lesen: Glory Hole

Der Name allein ist schon aussagekräftig genug, doch die jungen Damen, die sich in den großen Fabrikfenstern umziehen und in ihre spärliche ‚Arbeitskleidung‘ schlüpfen, sind ein nicht zu übersehender Hinweis.

„Ich lebe nicht in einem Bordell!“, keift sie mich an.

Ich seufze ergeben. „Darauf habe ich auch keine Lust, aber dein Vater und Diego haben sich eben dafür entschieden und meine Freunde und ich haben sonst keinen Ort, wo wir hin können“, versuche ich ihr zu erklären.

Judys Blick wird noch verbissener. „Wir werden unser Kind nicht in einem Bordell aufziehen!“, tadelt sie.

„Müssen wir auch nicht, wir wohnen nur nebenan!“, versuche ich sie zu beschwichtigen und gehe zu dem Tor im Gartenzaun. Ich öffne es und halte es ihr auf. Als ich zu meiner Verlobten zurückschaue, betrachtet sie mich noch immer so ernst wie zuvor. „Das ist nicht besser!“, schimpft sie.

„Was willst du jetzt von mir hören? Soll ich noch jemanden umlegen, oder beklauen, damit ich das Geld für einen Hauskauf habe?“, will ich schnippisch wissen.

Judy brummt in sich hinein, dann kommt sie mir nach und zwängt sich an mir vorbei durch das Tor. Ohne Umwege hält sie auf den Rahmen zu, dem die Tür fehlt. Kritisch mustert sie diesen Makel, dann schaut sie zu mir zurück. Ihr strenger Blick reicht aus, das ich mich genötigt fühle zu sagen: „Da kommt noch eine Tür rein! Diego will mir nur wieder auf die Eier gehen.“

Judy schüttelt abwehrend den Kopf, dann tritt sie ein.

„Das kann ja was werden!“, höre ich Toni neben mir sagen. Mit den Händen in den Taschen seiner Hose bleibt er neben mir stehen.

„Wenn sie erst mal mein Zimmer sieht, wird sie mich auf keinen Fall mehr heiraten wollen“, scherze ich.

Tonis Blick bleibt finster. „Was nicht das Schlechteste wäre…“, sagt er und folgt Judy. Die Abwehr gegen meine bevorstehende Ehe ist jedem seiner Worte deutlich anzuhören.

Glücklich bin ich damit auch nicht, aber im Moment ist sie unser einzig wirkungsvoller Schutz vor Vincent und Aaron.

„Enrico, ich habe noch etwas zu erledigen. Kommt ihr hier zurecht?“, will Robin vom Wagen aus wissen.

„Ja, fahr nur, dass hier wird sicher länger dauern“, rufe ich ihr zu. So wie Judy drauf ist, wird sie sich sicher alles in Ruhe ansehen und kommentieren wollen.

Robin nickt mir zu, dann steigt sie in das Automobil und startet den Motor.

Während sie den Wagen vom Hof lenkt, gehe ich Toni und Judy nach. Als ich die Fabrik betrete und dem kleinen Flur folge, der in unseren Aufenthaltsraum mündet, kann ich bereits eine Unterhaltung hören.

„Wer ist das?“, will Streuner mit merkwürdig verschlafener und undeutlicher Stimme wissen. Er zieht die Nase hoch.

Als ich den Flur hinter mir gelassen habe, kann ich den Jungen auf unserem neuen Sofa liegen sehen. Er hat sich eine Wolldecke bis zum Hals gezogen und darin eingerollt. Seine Wangen sind rot und seine blonden Haare nassgeschwitzt. Seine Augen sind gläsern und wirken fiebrig. Großartig! Kann ich nicht wenigstens einmal heimkommen, ohne dass ein neues Problem aufkommt?

„Das ist Streuner, unser jüngstes Rudelmitglied. Streuner, das ist Judy, Enricos… Verlobte“, stellt Toni die beiden einander vor. Damit das letzte Wort auszusprechen, tut er sich allerdings sichtlich schwer. Wenn etwas Ruhe eingezogen ist, sollte ich ihn mir allein vorknöpfen. Wie es nun mit uns beiden weiter gehen soll, dass sollten wir auf jeden Fall mal besprechen.

Judy betrachtet den Jungen mit schief gelegtem Kopf. „Ist er krank?“, will sie wissen, während Streuner im selben Moment fragt: „Enrico wird heiraten?“

Ich gehe zu den Dreien und antworte schlicht: „Ja und ja!“ Dann wandert meine Aufmerksamkeit auf Streuner. „Was ist los? Wieso liegst du hier krank und allein herum?“, will ich von ihm wissen.

Streuner hustet, rau kratzt dabei die ausgeatmete Luft durch seine Lunge. „Die anderen sind auf Beutezug, um Medizin zu besorgen. Naja und ich bin jetzt wohl krank, weil ich gestern mein Glück bei den Schlammwürmern in der siebenden Straße versuchen wollte. Das Wasser da war verdammt kalt“, erklärt er.

Schlammwürmer? Ich brauche einen Moment, bis mir klar wird, was Streuner meint. In der siebenden Straße gibt es ein Baustellenloch, das schon seit Monaten unbearbeitet brach liegt. Dort ist ein offenes Abwasserrohr, aus dem Wasser aus der Kanalisation in den Hutson strömt. Arme Kinder und Jugendliche sind dort mit Sieben und Eimern unterwegs und suchen den Schlamm und das Abwasser nach Wertgegenständen und Lumpen ab, die sie verkaufen können. Hin und wieder finden sie dabei Kohlestücke, Kleidung oder ganz selten auch mal einen Ring oder eine Münze, die jemandem in den Gulli oder in den Ausguss eines Waschbeckens gefallen sind. Das ist eigentlich nicht unser Bereich. Die Ausbeute ist viel zu mager und die Arbeit gefährlich. Nicht nur die Kälte des Wassers ist ein Problem. Die Abfälle, die dort angespült werden, sind neben den abartigen Fäkalien auch giftig oder scharfkantig. Die Kinder, die dort suchen, haben oft entzündete und eiternde Stellen an Armen und Beinen, manchen fehlen Zehen oder Finger.

Judy betrachtet mich schon wieder mahnend von der Seite. Das unser Jüngster so einer Arbeit nachgeht, scheint ihr nicht zu gefallen und mir ebenso wenig. „Ich bin eindeutig zu selten hier“, murmle ich und wende mich Streuner zu. „Ist das Geld schon wieder so knapp, dass ihr jeden Mist machen müsst?“, will ich von Streuner wissen.

Der Junge sieht zu einem Glastisch, der vor dem Sofa steht. Er robbt in seiner Decke eingewickelt bis zum Rand. Seine Arme schält er aus der Decke, dann öffnet er die Dose und hält sie in meine Richtung. Es sind drei 5 Dollarscheine darin und etliche Kleingeldmünzen. Das sie nicht leer ist, beruhigt mich, doch weit kommen wir damit nicht.

Judy tritt neben mich, auch sie sieht in die Dose, dann betrachtet sie mich fragend. Die Arme verschränkt sie vor der Brust, als sie tadelnd sagt. „Eine halbe Million für den Ausbau und nichts für Essen und Medizin?“

„Die halbe Million hat dein Vater sofort eingezogen und mich hat er wochenlang im Anwesen eingesperrt. Meine Leute mussten in der Zeit allein klar kommen. Nicht unbedingt etwas, was sie besonders gut können“, halte ich dagegen.

Judys Miene wird freundlicher. Sie betrachtet mich fast schon mitfühlend, bis sie schließlich ihre Handtasche vor ihren Bauch zieht. Sie öffnet den Verschluss und kramt darin herum. Schließlich holt sie einen Geldbeutel daraus hervor und kramt darin herum. Sie zieht etliche Scheine heraus. Alles fünfziger und Zwanziger. Es sind so viele, dass ich sie nicht mit einem Blick zählen kann. Die Hälfte davon nimmt sie und legt sie in unsere Dose.

Erstaunt betrachte ich sie.

Judy bekommt ein Schmunzeln im Gesicht. „Überrascht, dass deine Frau mehr Geld hat als du? Ich bin die Tochter des Aaron Longhardt. Vater sieht schon zu, dass das hier nie leer wird“, erklärt sie und wiegt den Geldbeutel in der Hand. Dann wird ihr Blick jedoch wieder streng. „Aber wenn du glaubst, ich nehme einen Mann, den ich versorgen muss, hast du dich geschnitten! Mein letzter Verehrer ist gerade Banker geworden, das wirst du schon toppen müssen.“

Ich betrachte sie von Ehrgeiz gepackt. „Egal womit?“, will ich wissen.

Judy runzelt die Stirn. „Lass dich umbringen und ich suche dich in der Hölle heim!“, droht sie.

Ich schaue zur Seite weg. Garantieren, dass mir bei unserer Art Geld zu beschaffen nichts passiert, das kann ich nicht.

„Du kannst nichts Ehrliches, oder?“, will sie resigniert wissen.

„Nicht wirklich!“, gestehe ich ihr.

„Wenn du den wirklich heiraten willst, wirst du damit leben müssen, dass euer Geld vom König der Diebe erwirtschaftet wird“, mischt Toni sich ein.

Judy und ich betrachten ihn beide kritisch. Der Kommentar war nun wirklich überflüssig.

„Kannst du das?“, will er spöttisch wissen.

Judys Aufmerksamkeit wandert auf mich zurück. Sie betrachtet mich ausgiebig. Je länger sie das tut, umso weicher werden ihre Gesichtszüge. „Ja!“, antwortet sie schließlich entschlossen.

Dass sie es mit mir wirklich ernst meint und das bei allem, was sie über mich schon erfahren musste, lässt auch mich lächeln. Dafür verschränkt Toni genervt die Arme und rollt mit den Augen.

„Dann willkommen bei den Wölfen…“ meint Streuner mit schniefender Nase. Er zieht aus der Ritze des Sofapolsters ein Stofftaschentuch, das schon etliche Male benutzt worden sein muss, so nass und zerknüllt, wie es aussieht. Nachdem er noch einmal hineinschnäuzt, fügt er an. „…Mama!“

„Mama?“, wiederhole ich verwirrt und betrachte Streuner, als habe er ein Geheimnis erkannt, dass er nicht wissen darf.

„Naja, wenn du unser Papa bis, ist sie doch Mama!“, fügt Streuner erklärend an und schaut dabei durch seine vom Fieber getrübten Augen, als wäre er nicht ganz klar bei Verstand. Doch was er sagt, scheint er ernst zu meinen. Das Wort ausgesprochen zu hören, macht das Bevorstehende noch deutlich realer und irgendwie beängstigend. „Ich bin nicht euer Vater!“, murre ich daher energischer, als es meine Art ist.

„Aber du sorgst für unser Essen und die Kleidung. Du schlichtest, wenn wir streiten und du schimpfst mit uns, wenn wir was falsch machen. Wenn du uns noch mit einem Gürtel verhaust, ist es genau wie in einer Familie!“, sagt Streuner und muss schon wieder husten.

Ich seufze ergeben und betrachte Judy, die sich die Hand vor den Mund hält und leise hinter ihr kichert. Ihre Reaktion lässt mich schon wieder lächeln.

„Du hast ihn gehört, Papa!“, sagt sie und schlingt ihre Arme um meinen Hals. „Also sieh zu, dass du alles in Ordnung bringst, bevor die Mama hier einzieht!“ Verträumt betrachtet sie mich, während sie mir einen Kuss auf die Lippen legt.

Als ich ihn erwidere, bin ich auf seltsame Art erleichtert. Vielleicht passt sie ja doch ganz gut hier her und Anette wird sich sicher freuen, wenn sie nicht mehr die einzige Frau bei uns ist, die versucht für Ordnung in unserem Männerhaushalt zu sorgen. „Das werde ich!“, verspreche ich ihr, als sie meine Lippen wieder frei gibt. Schon allein um des Kindes Willen, dass in ihr heranwächst, wird es Zeit, dass ich uns eine Sichere Einnahmequelle suche und dafür sorge, dass die letzten Mängel unseres zu Hauses verschwinden.

~Zickenkrieg~

Eilig laufe ich zu dem großen Wäscheberg am Boden vor meinem Bett und sammle die Klamotten ein. Drei Unterhosen, vier Hemden und eine Hose kommen zusammen. Zwei Schritte weiter verteilen sich etliche Socken kreuz und quer. Das Kissen meines Bettes liegt vor dem kleinen Nachttisch ebenso wie die Lampe, die ich im Eifer des Gefechtes beim Liebesspiel mit Toni umgestoßen habe. Die Bettdecke ist zurückgeschlagen und wirft etliche Falten. Im weißen Laken meine ich noch Spuren unserer Nummer zu sehen, also erhebe ich mich zügig und greife die Wäsche mit nur einer Hand, um die Decke über diese verräterischen Spuren zu schlagen.

Schritte bewegen sich durch den Raum. Judy sieht sich prüfend um und geht dabei zum Fenster.

„Tut mir leid, Ordnung liegt mir nicht!“, erkläre ich beschwichtigend und zupfe die Decke noch etwas weiter über die Matratze, dann hebe ich das Kissen vom Boden auf und werfe es an seinen Platz.

Judy sagt nichts zu all dem Chaos. Sie bleibt am Fensterbrett stehen und fährt mit der flachen Hand über das Holz. Dabei bleibt so viel Staub an ihrer Hand kleben, dass sie ihn abstreifen muss. Noch einmal wischt sie danach über die selbe Stelle, dann dreht sie sich nach mir um und setzt sich auf die vom Schmutz befreite Oberfläche. „Mit wie vielen Frauen warst du schon hier?“, will sie wissen und verschränkt die Arme vor der Brust. Ein Bein schlägt sie über das andere und betrachtet dabei ihre Füße.

Die Frage überrascht mich. Die Unordnung macht ihr nichts aus, aber darüber will sie Bescheid wissen? „Wie kommst du denn jetzt darauf?“, stelle ich eine Gegenfrage.

„Nun, du wohnst neben einem Bordell und man hört so einiges über dich.“

Ob sie wohl die Sache mit der Prostituierten meint, die ich flachlegen musste, um Erik und Vincent zu überzeugen nicht schwul zu sein? Das hat sich schon bis zu ihr herumgesprochen? Ich seufze und werfe die Schmutzwäsche in einen Korb, der neben meinem Nachttisch steht. Ihm fehlen schon einige der Stäbe und aus dem Boden ist eine Ecke weggebrochen. Den sollte ich mal austauschen, nehme ich mir vor und vergesse es im selben Moment auch wieder, liegt doch auf den kaputten Stellen nun die Schmutzwäsche.

„Wenn es dich beruhigt, du bist die erste Frau, die ich mit auf mein Zimmer genommen habe.“ Das ist nicht mal gelogen. Selbst Annette darf mein Zimmer nicht betreten. Wenn sie es dürfte, würde es hier sicher deutlich besser aussehen, doch dann findet sie vielleicht Dinge, die sie nicht zu Gesicht bekommen soll. Wie die Dose mit Vaseline, die halb unter das Bett gerollt ist. Als ich sie entdecke, trete ich sie unauffällig ganz darunter.

Meine Antwort scheint Judy zu gefallen, denn sie lächelt schwach, während sie sich weiter umsieht. Neben einem Kleiderschrank, dessen Schubladen und die rechte Schranktür offen steht, gibt es keine weiteren Möbel. Auch im Schrank liegen meine Klamotten kreuz und quer durcheinander. Aus der Schublade quillen meine Unterhosen heraus. Als ich mich hier angezogen habe, war ich so in Eile, dass ich alles offen stehen gelassen habe.

„Ich denke…“, beginnt Judy und lässt ihren Blick noch einmal durch das Zimmer schweifen, „… vorerst bleibe ich bei meiner Schwester wohnen.“

Überrascht betrachte ich sie. Ihre Worte erleichtern mich so sehr, wie sie mich auch wurmen.

„Wenn du unser Zusammenleben anständig geplant hast und dein Leben in geregelten Bahnen verläuft, dann darfst du vielleicht deine zukünftige Frau zu dir holen“, bestimmt sie.

Ich betrachte sie einen Moment mit erhobener Augenbraue. Sie hat echt Ansprüche und seltsamerweise, verspüre ich nach ihren Worten tatsächlich den Drang, meine Angelegenheiten so weit zu regeln, dass sie hier einziehen kann. Irgendwie seltsam. Bei Toni war mir das Chaos immer völlig egal, auch wenn es ihn genauso stört, dass ich keine Ordnung halten kann und er sich ständig darüber beschwert, dass man mein Zimmer nicht gefahrlos betreten kann.

Judy senkt den Blick, sie wippt mit den Beinen und betrachtet dabei ihre Schuhe. „Auch wenn mir ein Haus ehrlich gesagt lieber wäre.“

Ich will ihr gerade antworten, dass die Fabrik teuer genug gewesen ist und ich ganz sicher nicht noch ein Haus bauen werde, als es an meiner Zimmertür klopft.

Noch bevor ich dazu komme, den Besuch herein zu bitten, öffnet sich bereits die Tür. Anette ist es, die eintritt und sich suchend nach mir umsieht. „Enrico, wir brauchen ganz dringend eine…“, beginnt sie zu sprechen, bis ihr Blick an Judy hängen bleibt. Mitten im Satz unterbricht sie sich und bleibt wie angewurzelt stehen.

Auch Judy versteinert einen Moment lang, dann richtet sich ihr vorwurfsvoller Blick auf mich. „So viel dazu, dass keine anderen Frauen in dein Zimmer kommen!“, beschwert sie sich.

Ich rolle mit den Augen, während ich mich verteidige: „Das ist nur Anette, unsere Putzfrau!“

Judy betrachtet Anette noch einmal von oben bis unten, dann schweift ihr Blick im Raum umher, bis er wieder bei unserer Putzfrau hängen bleibt. „Ach wirklich? Die sollten wir entlassen!“ Judy fährt mit dem Zeigefinger durch den Staub auf der Seite des Fensterbrettes, den sie nicht weggewischt hat. Demonstrativ malt sie etwas in ihn hinein. „Hier braucht man nicht mal einen weißen Handschuh, um zu erkennen, das seit Wochen nicht sauber gemacht wurde!“

Anette plustert die Backen auf und stemmt die Arme in die Seiten. „Wer ist die blöde Kuh?“, will sie wissen.

Wenn ich nicht will, dass sie Judy gleich an die Gurgel springt, muss ich hier wohl etwas klarstellen, so erkläre ich: „Für Anette ist mein Zimmer tabu! Wenn sie hier aufräumt, finde ich nichts wieder.“

Judy sieht sich ungläubig um. „Du wirst in diesem Chaos hier wirklich fündig?“, fragt sie mehr sich selbst, als mich.

Ich vermeide es ihr eine Antwort zu geben. Den wahren Grund für diese Regel muss Judy nicht wissen. Dafür bin ich Anette noch eine Antwort schuldig, also wende ich mich ihr zu, während ich auf Judy deute. „Das ist meine Verlobte. Judy Longhard. Sie wollte sehen wie ich wohne.“

Anette sieht zwischen mir und Judy hin und her, dann bekommt sie ein breites Grinsen im Gesicht, das weiter und weiter wächst, bis sie schließlich laut lachen muss. „Du willst den da heiraten? Ernsthaft?“

Judys Blick wird daraufhin finster! Sie starrt Anette so lange böse an, bis diese aufhört zu lachen.

Der Blick meiner Kindheitsfreundin richtet sich wieder auf mich. „Das ist ein Scherz, oder?“

„Nein!“, erwidere ich ernst.

Nun werden auch Anettes Gesichtszüge ernst. Ihre Augen fahren Judy von oben bis unten ab, dann richten sie sich wieder auf mich aus. „Du kannst doch was Besseres finden!“

„Bitte was?“, echauffiert Judy sich und rutscht vom Fensterbrett. Energisch macht sie einen Schritt auf Anette zu.

„Hast du was an den Ohren, oder willst du dir das nur nicht von einer Putzfrau sagen lassen?“, fragt Anette.

„Du bist auf jeden Fall entlassen!“, keift Judy.

Anette hebt stolz den Kopf und verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich bin ein Mitglied der Wölfe und du hast hier gar nichts zu sagen, stimmts Enrico!“

„Ich bin die Verlobte des Chefs und ob ich was zu sagen habe. Los mach ihr das gefälligst begreiflich, Enrico!“

Ich schaue zwischen den beiden Frauen hin und her und murre dann in mich hinein: „Oh man…“ Ich ahne bereits, dass das nicht der letzte Streit der Beiden gewesen sein wird und ich dann erneut zwischen die Fronten geraten werde. „Keiner wird hier entlassen, Ohne Anette wären wir längst im Chaos und unserer Dreckwäsche erstickt“, richte ich mich erst an Judy. Ohne meiner Verlobten eine Chance zu lassen, etwas dazu zu sagen, belehre ich auch Anette: „Und ob es dir passt oder nicht, Judy wird nun sicher oft unser Gast sein, also gewöhne dich an sie.“

Keine der beiden Frauen scheint mit meinen Worten zufrieden zu sein. Während Judy den Kopf stolz erhebt und zur Seite weg schaut, dreht Anette sich um und verlässt mein Zimmer. „Ach, ist mir eigentlich auch egal! Du musst mit ihr klar kommen. Ich habe Antonio“, sagt sie lediglich und wirft die Tür nach sich zu.

Finster ziehe ich die Augenbrauen in die Gesichtsmitte und brumme dunkel in mich hinein.

~Die Mauer der Erinnerung~

Am späten Abend nimmt Judy sich ein Taxi, um zu ihrer Schwester zurück zu kommen. Ich verabschiede sie an der Straße, während Toni einen Schritt hinter mir versetzt steht.

Sie drückt mir noch einen Kuss auf den Mund, dann steigt sie in das Automobil. Bevor sie jedoch die Tür schließt, betrachtet sie mich ernst. „Wir sollten uns morgen bei meinem Vater treffen und die Hochzeitsvorbereitungen mit ihm besprechen. Da gibt es sicher eine Menge zu klären und ich will die Sache so schnell wie möglich über die Bühne bekommen, bevor mir jemand den Grund dafür ansieht.“

Ich nicke lediglich, machen ihre Worte doch nur zu deutlich, dass ich aus dieser ganzen Sache nicht mehr heraus komme und mich diesem neuen Lebensabschnitt nun stellen muss.

Judy lächelt, sie nickt ebenfalls, dann schließt sie die Tür und gibt dem Fahrer Anweisung, wohin sie gebracht werden will. Das Taxi setzt sich in Bewegung und scherrt aus auf die Straße, wenig später wird es in der Ferne immer kleiner.

Ich sehe dem Automobil stumm nach und habe dabei das Gefühl, eine tonnenschwere Last legt sich auf meine Schultern.

Als wenn es diese Empfindung unterstreichen wollte, legt sich mir eine Hand auf die linke Schulter, warmer Atem streift meinen Hals und meine Ohrmuschel. „Folge mir!“, flüstert Toni mir zu.

Ein Schauer rinnt mir den Rücken hinab. Was hat er denn vor?

Als sich seine Hand von meiner Schulter löst und er sich in Bewegung setzt, drehe ich mich um und folge ihm.

Geradewegs hält er auf unseren Teil der Fabrik zu. Wir passieren das Tor im Zaun und laufen über den Trampelpfad zum Türrahmen, der offen ins Gebäude führt. Wir treten ein und folgen dem kurzen Flur, bis wir in unserem Aufenthaltsraum angekommen sind. Anette kommt uns entgegen, als sie Toni sieht, bekommen ihre Augen einen verliebten Glanz. Sie holt bereits Luft, um etwas zu sagen, doch Toni kommt ihr zuvor. Laut und keine Wiederworte duldend meint er: „Nein!“, und greift dabei nach meiner Hand. Schneller als zuvor setzt er seinen Weg fort und zieht mich dabei mit sich.

Anette bleibt mitten in der Bewegung stehen und schaut uns fragend hinterher.

Ich betrachte Toni ebenso forschend. Will er etwas Unanständiges tun oder ist er sauer auf mich? Genügend Gründe für Letzteres habe ich ihm ja in den letzten Stunden geliefert. Immerhin küsse ich ständig Judy direkt vor seiner Nase. Wo immer er mich hinbringen wird, das geht sicher nicht gut für mich aus. „Toni… ich…“, versuche ich ihn zu besänftigen, doch er fällt mir ins Wort.

„Nein!“, richtet er sich eben so streng auch an mich. Dabei geht er ohne Umwege in den Flur, wo wir unsere Zimmer haben. Er hält auf seines zu und öffnet die Tür.

„Toni…“, versuche ich es noch einmal.

Er bleibt abrupt stehen und dreht sich nach mir um. Tadelnd erhebt er den Zeigefinger und betrachtet mich dabei durchdringend. Seine Stimme wird deutlich leiser, dafür aber umso dunkler. „Für heute wirst du mein Zimmer nicht mehr verlassen!“

Sein entschlossener Blick und die dunkle Stimmlage schicken mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Ich muss schwer schlucken und spüre Furcht und Erregung gleichermaßen in mir aufsteigen.

„Mitkommen!“, verlangt Toni, dann zieht er seine Zimmertür auf und reißt mich in den Raum dahinter.

Wie immer ist hier alles aufgeräumt. Das Bett ist gerichtet, seine Kleidung vom Vortag liegt ordentlich gefaltet auf einem Stuhl, der als Nachttisch dient. Neben einer kleinen Kommode, in der sich seine restliche Kleidung befindet, ist der Raum leer. Lediglich seine beiden Gitarrenkoffer füllt noch eine Ecke aus. Wir müssen ihm ganz dringend mehr Möbel besorgen. Das hier ist bald genauso trostlos, wie seine Dachkammer bei Aaron.

Toni gibt meine Hand frei und entfernt sich einige Schritte von mir. Er öffnet den Knoten seiner Krawatte und zieht sie aus seinem Kragen, dann hält er auf seinen Kleiderschrank zu. „Schließe die Tür!“, fordert er streng.

Ich tue ihm den gefallen und schließe vorsorglich die Zimmertür mit dem Schlüssel, der im Schloss steckt, ab.

Toni öffnet den Schrank und kramt darin herum. Er holt einen kleinen Metallkasten aus ihm heraus und dreht sich damit nach mir um. Ein rotes Kreuz ist auf den Deckel aufgemalt. „Zieh dich aus!“, verlangt er.

Seine strengen Worte lassen Bilder in mir aufsteigen, die nicht hier her gehören. Je länger ich Tonis auffordernden Blick betrachte, umso deutlicher meine ich ihn am Boden liegen zu sehen, von dem Gift gequält, während es Vincent ist, der von mir verlangt, mich meiner Kleidung zu entledigen. Ich bringe es nicht über mich, dem nachzukommen.

„Enrico, worauf wartest du? Ich will mir den Schnitt in deinem Rücken ansehen. Dein Hemd ist ganz nass an der Stelle“, setzt Toni nach, doch in meinem Kopf hört sich seine Stimme nach der von Vincent an. Ich meine mich selbst zu sehen, wie ich mich ausziehe, in der Hoffnung dafür an das Gegengift zu kommen. Auch alles was dem folgte, drängt sich mir in den Kopf. Der Schmerz und die Atemnot suchen meinen Körper heim, als wenn es noch einmal geschehen würde. Ich weiche zurück, bis ich die geschlossene Tür im Rücken spüren kann. „Nein… ich will nicht…“, stammle ich und suche mit zitternden Fingern nach der Klinke. Als ich sie finde und drücke, bleibt die Tür verschlossen. Ich kann sie nicht öffnen. Noch mehr Panik drängt sich mir ins Herz, mein Atem beschleunigt sich. Das Gefühl zu ersticken wird immer schlimmer.

„Enrico?“, fragt Toni. Deutliche Sorge schwingt in seiner Stimme mit, doch als er einen Schritt auf mich zu kommt und sein Arm sich nach mir ausstreckt, sehe ich nur noch Vincent, wie er mich packt und unter Wasser drückt.

Dunkel kommt mir ins Gedächtnis, dass ich die Tür selbst verschlossen habe. Ich muss nur den Schlüssel drehen. Meine bebende Hand zwinge ich zum Gehorchen und suche nach dem Schlüssel. Als ich ihn mit den Fingern gefunden habe, schließe ich auf und drücke mit der anderen Hand die Klinke. Die Tür reiße ich auf und flüchte in den Flur. In der Hoffnung dort sicher zu sein, laufe ich eine Tür weiter und rette mich in mein eigenes Zimmer. Lautstark werfe ich die Tür nach mir zu und verschließe sie schnell, dann lehne ich mich an das Holz, um zu verhindern, dass jemand sie gewaltsam öffnen kann.

Schritte folgen mir, jemand bleibt vor der Tür stehen. „Enrico? Was ist denn los?“, fragt Toni. Er klingt weinerlich und fast schon ängstlich, doch das holt mich nur geringfügig aus meiner Panik zurück.

„Geh weg!“, verlange ich mit Nachdruck.

„Aber…“, entgegnet er, dann kann ich das Aufschlagen seiner Fäuste gegen die Tür hören.

Das Geräusch schickt mich noch tiefer in die alptraumhaften Bilder, die mich quälen.

Ich presse mir meine Hände gegen die Schläfen und balle sie dabei zu Fäusten. „Geh weg… geh einfach weg…“, sage ich immer wieder und rutsche dabei mit dem Rücken an der Tür hinab, bis ich auf dem Boden sitze. Meine Beine ziehe ich eng an den Körper und suche hinter meinen Oberschenkeln Schutz, während ich mich ganz klein zusammenkauere. Tränen überkommen mich und trüben meine Sicht. Ich schließe die Augen und schlage mir immer wieder die Fäuste gegen den Kopf, doch das Badezimmer und Vincent wollen daraus einfach nicht verschwinden.
 

…~*~…
 

So ängstlich hat Enrico ihn das letzte Mal angesehen, als er ihm auf das Dach gefolgt ist und Antonio beim Töten beobachtet hat. Doch damals gab es wenigstens einen Grund. Was jetzt mit seinem Freund nicht stimmt, versteht Antonio nicht und dass er ihn wegschickt, anstatt mit ihm zu reden, schmerzt entsetzlich. „Enrico, bitte lass mich rein! Lass uns reden…“, fleht er, doch es kommt keine Antwort.

Dafür kann er seinen Freund schluchzen hören, während etwas schweres gegen die Tür sackt und an ihr hinab rutscht. Es muss Enrico wirklich schlecht gehen und Antonio scheint der Grund dafür zu sein. Das schmerzt noch deutlich mehr und lässt Antonio die Beine weich werden. Kraftlos lässt er sich auf die Knie fallen und bleibt vor der Tür auf ihnen hocken. Das die Wunde in seinem Bein dabei schmerzt spürt er kaum, tobt doch in seiner Seele eine deutlich heftigere Qual. Was nur hat er dieses Mal falsch gemacht? Er wollte sich doch nur Enricos Wunde ansehen und dann endlich mal ausruhen. Er selbst ist am Ende seiner Kraft und seinem Freund geht es da sicher nicht besser. „Enrico, bitte…“, kommt ihm nur noch brüchig über die Lippen und so leise, dass man es durch die geschlossene Tür sicher nicht hören kann.

Dafür ist Enricos Schluchzen laut und deutlich zu vernehmen. Das treibt auch Antonio die Tränen in die Augen. Nach Halt suchend dreht er sich um und setzt sich auf den Boden, mit dem Rücken lehnt er sich an die Tür. Seine Beine zieht er eng an den Körper und legt seine Stirn auf den schmutzigen Knien ab. Den Kasten, in dem er ihre wenige Medizin und das Verbandszeug aufbewahrt, presst er dabei fest an sich.

Schritte bewegen sich auf dem Flur, doch Antonio findet nicht mehr die Kraft, um aufzusehen und nachzuschauen, wer da zu ihm kommt.

Jemand bleibt vor ihm stehen. Es wird deutlich dunkler, als die Person vor ihm in die Hocke geht. „Antonio?“, fragt die helle Stimme Anettes, während sich eine warme Hand auf seine Schulter legt.

Antonio sieht sich nicht im Stande zu antworten oder aufzusehen, schon gar nicht mit Enricos lautem Schluchzen im Hintergrund.

Einen Moment lang bleibt Anette still. Antonio spürt ihren Blick über sich wandern. Schließlich will sie wissen: „Was ist denn passiert und wo wart ihr die ganze Zeit?“

Eigentlich wollten sie nach dem Besuch bei Vincent wieder hier her zurück kommen, doch das Schicksal hat es mal wieder nicht gut mit ihnen gemeint. Antonio bringt es noch immer nicht über sich zu Antworten, nur ein schwerer Atemzug verlässt seine Lunge.

„Du siehst ganz blass aus…“, stellt Anette kleinlaut fest, dann spürt Antonio eine Hand an seinem Hosenbein. Sie schiebt den Stoff hinauf. Als Antonio an seinen Beinen vorbei schaut, hat sie den Verband freigelegt. Er ist blutgetränkt und sein Bein geschwollen. Kein Wunder das es so schmerzt.

Anette schiebt den Stoff wieder über sein Bein, dann hebt sie ihre andere Hand von seiner Schulter und legt ihm ihre Finger an die rechte Wange. Sanft hebt sie seinen Blick, bis er sie ansehen muss. Sorge kann er in den tiefblauen Augen lesen, gepaart mit einem mitfühlenden Lächeln. „Euch ist was ganz Schlimmes passiert, stimmts? Sonst würde Enrico doch sicher nicht so weinen.“

Erst mit ihren Worten beginnt Antonio zu begreifen. Er hat beinah die selben Worte wie Vincent benutzt und damit sicher die noch viel zu frischen Erinnerungen in Enrico geweckt. Doch nun, wo ihm das bewusst wird, beginnen die letzten Stunden auch in ihm zu toben. Er konnte schon wieder nichts tun, um seinen Freund zu beschützen. Zusehen zu müssen, wie Enrico gequält wurde, war schlimmer als die Wirkung des Giftes oder der Biss des Hundes. All der Schmerz, die Angst und Panik der letzten Stunden suchen Antonio auf einmal heim und lassen keinen Platz mehr, um stark zu sein. Schon gar nicht mit diesen sanften, fürsorglichen Augen vor sich. Unaufhörlich laufen Antonio Tränen über das Gesicht. Es werden immer mehr. Seine Stimme ist brüchig und transportiert nur gebrochene Worte, als er zu sagen versucht: „Es… es war die… Hölle…“

Anette gibt seine Wange frei und zieht ihn stattdessen ein Stück von der Tür weg, dann schlingen sich ihre Arme um seinen Oberkörper. Seinen Kopf legt sie sich auf den Busen. Der weiche Untergrund und ihre Wärme sind ein krasser Kontrast zu dem Leid, dass in Antonio tobt. Das lässt ihn nur noch mehr heulen.

~Anettes Fürsorge~

Anette löst sich von Antonio. Sie lehnt sich ein Stück zurück und hält ihm offen ihre Hand hin. „Komm mit mir!“, bittet sie ihn.

Antonio muss sich die Tränen aus den Augen wischen, um besser sehen zu können. Er zieht die Nase hoch, erst dann gelingt es ihm die gereichte Hand zu ergreifen.

Anette erhebt sich und zieht ihn am Arm mit auf die Beine.

Als Antonio wieder auf beiden Füßen steht, jagt nur all zu deutlich ein stechender Schmerz durch die Bisswunde. Er findet keinen Halt auf seinem verletzten Bein und schwankt einen Schritt nach vorn. Dabei ist es nicht nur der Schmerz, der ihn ins Wanken bringt. Auch ein flaues Gefühl in seinem leeren Magen und eine allgemeine Übelkeit überkommen ihn, während sich der Flur zu drehen scheint. Antonios Kraft weicht, doch als sein Körper nachgibt, schließen sich Anettes Arme um ihn. Er lehnt schon wieder an ihren weichen Brüsten und wird fest gegen sie gedrückt. „Langsam…“, flüstert sie fürsorglich und hält ihn aufrecht.

„Langsam…?“, wiederholt Antonio so leise, dass er sich selbst kaum hören kann. Bisher gab es ein langsam nicht in seinem Leben, auch nicht einen Moment, um auszuruhen oder mal durchzuatmen, geschweige denn der eigenen Erschöpfung mal nachzugeben. Dafür spürt er sie nun umso deutlicher in sich. Selbst das Gift tobt noch in seinem Organismus, aber er musste laufen, kämpfen, wach bleiben, damit sie noch einmal die Sonne aufgehen sehen. Bei all diesen Gedanken steigen Antonio erneut Tränen in die Augen.

Anette löst einen Arm um ihn und legt ihre Hand auf seinen Kopf, sanft streichelt sie ihm über die Haare. „Es wird alles wieder gut…“, fügt sie flüsternd an.

Ihre Worte lassen ihn nur noch mehr heulen. Es ist doch noch nie etwas gut geworden, egal was er tut. Antonio fühlt sich elend und gerade gibt es keine Ablenkung mehr davon. „Mir ist schlecht…“, murmelt er und versucht dem Brechreiz entgegen zu atmen.

Die Hand Anettes verlässt seinen Hinterkopf und wandert nach vorn, sie befühlt seine Stirn. „Du bist ganz heiß“, stellt sie fest.

Wirklich? Hat er jetzt auch noch Fieber bekommen? Antonio löst sich von dem haltenden Körper und greift sich selbst an die Stirn. Tatsächlich ist seine Haut warm, deutlich heißer als die an seiner Hand. Das hat ihm gerade noch gefehlt!

„Du musst dich auch mal ausruhen“, tadelt Anette und nimmt seine Hand. „Komm!“, bittet sie ihn und setzt sich in Bewegung.

Als sie losläuft folgt Antonio ihr und ist froh darüber, dass sie gerade zu wissen scheint, was zu tun ist.

Anette steuert seine Zimmertür an und öffnet sie. Gemeinsam betreten sie den Raum. Sie führt ihn zu seinem Bett und fordert ihn auf: „Gib mir den Kasten und leg dich hin!“

Was für ein Kasten? Antonio braucht einen Moment, bis ihm klar wird, dass er noch immer die Metallbox mit dem roten Kreuz auf dem Deckel in der Hand hält. Er übergibt ihn Anette, dann schlägt er die Bettdecke zurück. Die Kraft sich auszuziehen, findet er nicht mehr, so legt er sich einfach mit seiner Kleidung hin. Doch als er die Decke über sich schlagen will, hält ihn Anette davon ab.

„Warte!“, bittet sie und beugt sich über sein Bein. Die Box öffnet sie und stellt sie geöffnet auf der Matratze ab, dann schiebt sie Antonios Hosenbein hinauf. Den Verband entfernt sie. Er ist blutgetränkt. Als sie die Wunde freigelegt hat, ist Antonios Wade geschwollen und um die Löcher in der Haut, haben sich tiefblaue Blutergüsse gebildet. Obwohl sie die Wunden bei Robin desinfiziert haben, eitert es aus zwei der größeren Löcher.

„Wie ist das passiert?“, möchte Anette wissen und kramt aus der Box Desinfektionslösung und einen Wattebausch. Während sie ihn mit der Flüssigkeit tränkt, schaut sie Antonio fragend an.

„Ein Hund hat mich gebissen“, ist seine kurze Antwort, während er sich den Unterarm auf die heiße Stirn legt. Das kühlt zumindest ein bisschen.

Anette reinigt die Wunde. Obwohl sie sich Mühe gibt vorsichtig zu sein, brennt das Mittel. Antonio zieht die Luft scharf ein und zuckt immer wieder, wenn die Watte seine geschwollene Haut berührt.

Kommentarlos fährt Anette fort, bis alles Blut abgewaschen und jedes Loch versorgt ist, dann legt sie einen neuen Verband an. Dabei geht sie so routiniert vor, als wenn sie eine Krankenschwester wäre. Es sind wahrlich nicht die ersten Verletzungen, die sie hier behandelt. Sie kommen alle ständig mit neuen Schrammen nach Hause zurück. Es ist ewig her, dass Antonio mal keinen Verband oder zumindest ein Pflaster irgendwo getragen hat. Wieder kann er nur seufzen und je mehr er in seinen Körper hinein hört, umso deutlich spürt er Hunger, Durst, Schmerz und Erschöpfung. Auch seine Gedanken können nun frei ihre Kreise drehen. Enrico wird heiraten und damit bald ganz Aaron gehören. Als Schwiegersohn des Paten wird er sicher noch attraktiver für einen Angriff sein. Vincent wird sie nun erst recht tot sehen wollen und bald werden sie auch noch Säuglinge lebend durch diese Hölle bringen müssen. Dem allen fühlt sich Antonio nicht mehr gewachsen und das im Nachbarzimmer immer noch Enricos Schluchzen zu hören ist, macht es noch schlimmer.

Ganz egal wie sehr Antonio auch versucht dagegen anzukämpfen, er muss schon wieder heulen.

Die Matratze auf der rechten Seite senkt sich, Anette setzt sich zu ihm und greift ihn an der Schulter. Sie zieht ihn auf ihren Schoß.

Nur wiederwillig gibt Antonio ihr nach, fehlt ihm doch die Kraft sich zur Wehr zu setzen. Als er auf ihren Oberschenkeln zum Liegen kommt, streichelt sie ihm durch die Haare.

Das ist schon wieder viel zu sanft und ganz anders, als alles was er kennt. Selbst Enrico tut das nicht. Wie soll Antonio sich so beruhigen? Ihm laufen nur noch mehr Tränen über die Wangen und immer wieder kommt ihm ein Schluchzen über die Lippen.

„Willst du mir davon erzählen?“, fragt Anette kleinlaut.

Antonio zieht die Nase hoch und schaut fragend auf. „Erzählen?“, will er wissen, ist er doch so in seinem Schmerz gefangen, dass er die Bedeutung ihrer Worte nicht sofort erfassen kann.

„Was euch heute passiert ist und was dich so quält. Ich habe dich noch nie so weinen gesehen“, erklärt sie und streichelt ihm weiter durch die Haare.

Antonio wischt sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Ein wenig hilft das, um klarer sehen zu können, doch die Kraft sich wieder aufrichten zu können, findet Antonio nicht. Dafür toben mit der Frage wieder all die schrecklichen Erinnerungen in seinem Kopf. „Vincent… er… er hat versucht uns umzubringen. Schon wieder!“ Nach Atem ringend versucht Antonio die Kraft zu finden alles auszusprechen, fühlt es sich doch gut an, diesen ganzen Dreck auf diese Weise loszuwerden. „Er hat mich mit Gift außer Gefecht gesetzt und Enrico gezwungen…“ Antonio fehlen die Worte, das Grauen zu beschreiben. Nur mühsam kann er einzelne Brocken der menschlichen Sprache in sich wiederfinden, um zu sagen: „Er sollte sich ausziehen und… und dann, dann… hat er ihm so schrecklich weh getan. Dabei hat er versucht ihn in der Wanne zu ertränken. Ich… ich konnte nichts machen, mein Körper hat mir einfach nicht gehorcht. Als Enrico sich nicht mehr bewegt hat, hat er das Selbe mit mir gemacht. Ich lag dabei die ganze Zeit neben Enricos leblosen Körper und habe gedacht er wäre tot. Und ich… ich wollte auch nur noch sterben. Ich war so froh als endlich alles schwarz geworden ist. Doch dann sind wir in dieser Schrottpresse aufgewacht und der Kampf ging einfach nur weiter. Ich weiß nicht mal mehr, wie wir aus dem Auto rausgekommen sind. Da war nur noch dieser Tunnel. Sterben wie zwei Kanalraten in der Kanalisation, so kam ich mir dort drin vor, aber auch da sind wir wieder aufgewacht. Warum habe ich da nicht einfach draufgehen können? Unser Leben gehört uns doch sowieso nicht mehr. Enrico wird heiraten und Vater werden, dann braucht mich eh keiner mehr.“ Immer verzweifelter wird Antonios Stimme und immer dunkler fühlt es sich in seinem Herzen an. Sterben, um aus diesem Kreislauf aus Leid und Verlust endlich heraus zu kommen, erscheint ihm mehr als verlockend. Das einzig Gute in seinem Leben, ist bald nur noch eine verschwommene Erinnerung. Es war ja jetzt schon beinah unmöglich gewesen, Enrico mal für sich allein zu haben, doch so wie die Dinge sich gerade entwickeln, wird das Schicksal sie noch weiter voneinander wegreißen. Ständig dabei zusehen zu müssen, wie Enrico mit seiner Zukünftigen rumturtelt ist bald genauso beschissen, wie das was Vincent getan hat. Das erträgt Antonio nicht den Rest seines Lebens.

„Ich verstehe dich. Manchmal habe ich auch so große Angst, dass ich lieber mit Mama gestorben wäre…“, sagt Anette und klingt dabei so trostlos, wie Antonio sich fühlt. Das sie solche Gedanken hegt erschrickt ihn. Sie wirkt doch immer so fröhlich und ausgeglichen.

Als Antonio sich die Tränen wegwischt und zu ihr aufsieht, sind ihre Augen leer und gläsern. Glänzende Nässe liegt auf ihren Wangen, die sie eilig mit dem Handrücken wegwischt. „Tut mir leid… ich wollte dich eigentlich aufmuntern… aber…“

Antonio lächelt bitter. „Schon gut. Jetzt wo Enrico bald verheiratet ist, gibt es eh kein Licht mehr in meiner Dunkelheit. Du kannst dir also die Mühe sparen“, erwidert Antonio und lässt sich wieder in Anettes Schoß sinken.

„Es ist also doch wahr… du liebst ihn, stimmts?“, fragt Anette.

Augenblicklich versiegen Antonios Tränen, während ihm ein Stich des Entsetzens ins Herz fährt. Hat er zu viel verraten? Verdammt! Antonio richtet den Oberkörper auf. „Nein, also nicht so wie du jetzt denkst… also er ist nur mein bester Freund und…“, versucht er sich zu verteidigen.

Anette betrachtet ihn mahnend, ihr Blick allein ist schon genug, doch ihre Worte unterstreichen die Erkenntnis noch einmal: „Hör auf mich anzulügen!“

Als Antonio verstummt und sich nervös auf der Unterlippe herumbeißt, senkt sie den Blick. Ein Seufzen entkommt ihren Lippen, dann schaut sie zur Seite weg, an die Wand hinter der Enricos Zimmer liegt und in dem es inzwischen still geworden ist. „Ich weiß das schon eine ganze Weile. Ihr seid ja manchmal auch nicht zu überhören…“

Ein imaginärer Kloss presst sich in Antonios Kehle. Er schluckt ihn immer wieder, doch er will nicht verschwinden. Wenn Anette es weiß, wissen es dann auch die anderen? Noch mehr Unheil sieht Antonio über sich und seinen Freund hereinbrechen. Das scheint sie seinem Gesicht anzusehen, denn sie sagt:

„Nur keine Sorge, die anderen glauben nicht, dass es so ist. Sie haben mich immer verrückt genannt, wenn ich es angesprochen habe.“

So sehr Antonio das auch erleichtert, so deutlich macht es ihm auch, dass seine Alibifreundin nun wohl Geschichte ist. „Dann sind wir jetzt nicht mehr zusammen, oder?“, fragt er ermattet und lehnt sich an die Wand hinter dem Bett.

Anette senkt den Blick, sie knetet ihre Finger. „Waren wir das denn je?“, will sie wissen und klingt traurig dabei.

Antonio seufzt. Er hat die ganze Zeit gehofft seine Maskerade war gut und Anette glücklich dabei, doch da hat er sich scheinbar geirrt. Weil er nichts zu sagen weiß, dass die Situation verbessern würde, schweigt er, bis ihm eine Frage in den Sinn kommt, die ihn nicht loslässt, bis er sie schließlich stellt: „Wenn du es die ganze Zeit gewusst hast, wieso hast du mitgespielt?“

Anette presst die Finger ineinander, bis die Haut an ihnen weiß wird. „Naja… weil… also ich liebe euch beide. Also wirklich und ich wollte… also ich habe gehofft, dass ihr mich vielleicht auch ein bisschen lieb habt, aber da habe ich mir scheinbar was vorgemacht. Vielleicht… vielleicht sollte ich jetzt gehen“, schlägt Anette vor und sieht an den Bettrand vorbei, weg von Antonio.

Bei der Vorstellung gleich allein zurückbleiben zu müssen, fühlt sich Antonio noch elender. Dabei war es gerade fast schön mit ihr. Ganz anders als er es bisher mit Enrico erlebt hat aber trotzdem zu schön, um das jetzt auch noch zu verlieren. „Kannst du bitte bleiben? Nur bis ich eingeschlafen bin, bitte!“, fragt er und fühlt sich dabei fast wie ein Kind das Angst im Dunkeln hat.

Anette hebt den Blick und betrachtet ihn prüfend. „Ich bin dir nicht zu viel, so wie sonst immer?“, fragt sie überrascht.

Antonio zwingt sich ein Lächeln in seine müde Gesichtsmuskulatur. „Nein! Gerade bin ich einfach nur froh, dass du da bist“, gesteht er.

Auch in Anettes Mundwinkel schleicht sich ein flüchtiges Lächeln. „Na gut. Ich bleibe noch etwas“, gibt sie nach.

Antonio betrachtet sie mit großen Augen. „Wirklich?“, fragt er überrascht, „Bist du denn nicht böse auf mich, weil ich dich getäuscht habe?“

Sie rutscht auf dem Bett weiter zu ihm auf, bis sich ihre Arme wieder berühren. „Ich habe versucht böse auf euch beide zu sein, aber ich kann es nicht.“ Wieder zieht sie Antonio an den Armen auf ihren Schoss und als er ihr nachgibt, streichelt sie ihm erneut so wunderbar beruhigend über den Kopf.

Das ist so angenehm, dass Antonio versucht sich nur noch darauf zu konzentrieren. „Als du damals in mein Zimmer gekommen bist und ich dich das erste Mal gesehen habe, habe ich gedacht du bist ein Engel. Ich glaube ich hatte recht damit“, murmelt Antonio, während ihn nach und nach die Müdigkeit einholt. Ihr Lächeln sieht er dabei nicht mehr, doch er kann es in ihren Worten hören.

„Ich liebe dich und kann und will das nicht ändern…“

~Enricos Zuflucht~

Ich brauche eine gefühlte Ewigkeit mich aus meinen Gedanken zu lösen und meine Umgebung wieder wahr zu nehmen. Als ich mich umschaue, bin ich weder in der Schrottpresse, noch in Vincents Apartment. Es ist mein Zimmer in unserer Fabrik, wo ich mich auf dem Boden sitzend wiederfinde. Mit dem Rücken an die Tür gelehnt und die Beine eng an den Körper gezogen, starre ich auf meine Knie. Der Stoff meiner Hose ist überall nass, ebenso wie mein Gesicht und meine Arme. Mit dem Handballen wische ich mir die letzten Reste meiner Tränen von den Wangen. Meine Augen brennen entsetzlich und ich fühle mich schlapp und ausgelaugt. Doch trotz der Müdigkeit in meinem Körper, fühle ich eine solche Unruhe in mir, dass ich mich nicht einfach ins Bett legen und schlafen kann. Das Toni nicht hier ist, irritiert mich zusätzlich. Habe ich ihn so vor den Kopf gestoßen, dass er nicht versucht mir über das Vordach nachzukommen? „Seltsam…“, murmle ich und kämpfe mich auf die Beine. Ob er wohl auf dem Dach wartet, bis ich mich wieder beruhigt habe? Ab und an ist das seine Taktik. Ich laufe am Bett vorbei zum Fenster und öffne es. Mit den Armen stütze ich mich auf dem Rahmen ab und schaue über das Dach, doch auch hier ist er nicht. Dafür kann ich seine und Anettes Stimmen hören. Die beiden unterhalten sich? Das ist mehr als ungewöhnlich. Bisher haben sie doch nur miteinander gesprochen, wenn es gar nicht anders ging. Was sie sagen, kann ich nicht verstehen, dafür sind ihre Stimmen zu leise.

Irritiert davon steige ich auf das Vordach und schleiche mich zum Fenster des Nachbarzimmers. Als ich durch die Scheibe in den Raum blicke, liegt Toni auf seinem Bett und hat den Oberkörper in Anettes Schoß liegen. Während sie ihm über den Kopf streichelt, laufen ihm Tränen über die Wangen. Er sieht fertig aus, seine Haut ist weiß, nur auf seinen Wangen und in seinen geröteten Augen, ist etwas Farbe.

Bei dem Anblick der beiden wird mir schmerzlich bewusst, dass es Toni nicht besser ergangen ist als mir und er schon wieder die ganze Zeit für mich stark sein musste. Seine Schwäche habe ich kaum wahrgenommen, dabei ist er vergiftet und gebissen worden. Doch anstatt für ihn da zu sein, renne ich vor ihm weg. Meine Schultern lasse ich hängen und seufze tief.

Ich bin wirklich kein guter Freund und ein noch beschissenerer Partner. Vielleicht ist es ja gut so, dass Anette sich seiner angenommen hat. Ich bin gerade keine Stütze und in Zukunft muss ich ohnehin den Ehemann für Judy spielen, dann ist es sicher gut, wenn er auch eine Freundin hat.

Ermattet wende ich mich vom Fenster ab und lehne mich mit dem Rücken gegen das Mauerwerk. Meinen Blick lasse ich über die Mauern unserer Fabrik hinweg über die Skyline der Stadt schweifen. So sehr ich mir die Situation gerade auch schönzureden versuche, so sehr schmerzt sie mich auch. Das ist nicht dass, was ich vom Leben möchte und auch nicht das, wofür ich diesen Tag überlebt habe und je länger ich hier so stehe und ihren leisen Stimmen zuhöre, umso mehr fühle ich mich hier fehl am Platz. Irgendwann wird dieses Gefühl so erdrückend, dass sich meine müden Beine wie von selbst in Bewegung setzen. Ich laufe bis zum Rand des Daches und springe dann an ihm herab. Der Schmerz beim Aufkommen auf die Steinplatten am Boden, die den Weg vor der Fabrik markieren, spüre ich nur beiläufig, ist er doch nichts im Vergleich zu dem, was ich in mir spüre. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zwinge ich mich wieder aufzurichten, dann stopfe ich die Hände in die Taschen meiner Anzugshose. Gedankenverloren beginne ich dem Weg zu folgen, ohne aufzuschauen. Wohin ich dabei gehe, dringt nicht in mein Bewusstsein. Ich nehme nicht mal Alpha und Omega wahr, die mir bis zum Tor folgen. Auch wie ich durch die Stäbe hindurch schlüpfe und das Grundstück verlasse, geht beinah unbemerkt an mir vorbei. Ich setze einfach nur einen Fuß vor den anderen und folge der Spur aus Bodenplatten und Pflastersteinen, die den Fußweg markieren. Irgendwann stehe ich vor der Tür eines Hauses irgendwo in einem Hinterhof. Über ihr leuchtet ein Reklameschild. Ich schaue hinauf und lese die Buchstaben:

„Pussycat Deluxe“

Eriks Bordell? Wie bin ich denn hier her gekommen? Als ich den Blick langsam wieder sinken lasse, schaut mich ein hochgewachsener Mann in einem schwarzen Anzug fragend an. Maik ist also heute als Türsteher und nicht an der Bar eingeteilt? Ist Viktor mal wieder verprügelt worden und deswegen nicht hier?

„Du siehst nicht gut aus!“, sagt Maik feststellend.

„Hatte einen beschissenen Tag…“, erkläre ich kurz angebunden und trete einen kleinen Stein beiseite. Während ich ihm mit den Augen folge und dabei zusehe, wie er zwischen den Schlitzen eines Gullideckels verschwindet, erwidert Maik: „Nun, genau für solche Tage ist dieser Club eröffnet wurden.“ Der große Mann tritt einen Schritt bei Seite und lächelt mich freundschaftlich an.

Ich zwinge mir ein aufgesetztes Lächeln ins Gesicht und komme der stummen Aufforderung nach. Dieser Ort ist genau so gut wie jeder andere auch, warum die Zeit bis zum Sonnenaufgang nicht hier verbringen? Ohne wirklich aufsehen zu müssen, finde ich den Weg vorbei an den runden Ledersofas mit den Tischen in der Mitte, vorbei an den leicht bekleideten Damen und den feinen Herrn in ihren Anzügen. Ab und an kann ich einen Blick auf mir spüren, hinter vorgehaltener Hand wird getuschelt, dass ich doch noch etwas zu jung für diesen Club sei.

Ich beschleunige meine Schritte, bis ich die Bar erreiche, nicht das mich noch jemand versucht aufzuhalten. Als ich sie erreiche, lasse ich mich auf einem der Hocker nieder.

Erik ist es, der heute dort bedient. Er füllt gerade ein leeres Glas mit einer gelben Flüssigkeit. Sie schäumt weiß auf und bildet Wassertropfen an der Außenseite, so kalt scheint dieses Getränk zu sein. Als die Schaumkrone den Rand des Glases erreicht hat, schiebt er es einem Gast zu. Ein alter Herr in einem grauen Anzug, der mich eben so forschend mustert, wie die Kerle, deren Blick mir bis hier her gefolgt sind.

Ich versuche ihn zu ignorieren und bitte Erik: „Kannst du mir auch was machen? Irgendwas Starkes, womit man alles vergisst?“

„Sieh mal einer an, das Wunderkind höchst persönlich. Du warst schon eine ganze Weile nicht mehr hier. Was verschafft mir denn die Ehre?“, will Erik wissen und lässt seinen Blick forschend über mich schweifen. Eine Spur Sorge meine ich in seinem Blick zu lesen, als ihm die blauen Flecken an mir aufzufallen scheinen.

Was er mit Wunderkind zu sagen versucht, verstehe ich nicht und es ist mir auch egal. „Vergessen! Sagte ich doch schon!“, murre ich und krame in meiner Hosentasche herum. Doch da ich diese Hose von Robin bekommen habe, werde ich nicht fündig. Verflucht! Ich murre genervt und lege beide Arme auf dem Tresen ab. Nicht mal besaufen kann ich mich. Dabei scheinen Erwachsene das immer zu tun, wenn sie Probleme haben. Das hätte ich gerade auch gern probiert.

„Blank?“, fragt Erik mich.

„Ja, mal wieder…“, gebe ich kurz angebunden zu. Meine Geldbörse ist ebenso wie meine Klamotten bei Vincent zurückgeblieben und dass Geld das Judy uns dagelassen hat, sollte ich nicht hier verschwenden.

„Ich hätte dir auch keinen Alkohol verkauft, du bist zu jung“, lässt Erik mich wissen.

Ich murre in mich hinein. „Tue doch nicht immer so gesetztes treu!“, maule ich.

Erik schmunzelt in sich hinein. „Na gut, für dich hätte ich vielleicht eine Ausnahme gemacht“, schiebt er nach.

Ich betrachte ihn kritisch. In seinen Mundwinkeln liegt etwas verschlagenes. „Für den doppelten Preis, oder?“, frage ich, meine ich den Kerl und seine Methoden doch inzwischen zu kennen.

„Dreifach, wir sind ja immerhin Freunde“, antwortet er und lacht.

„Du bist mir keine Hilfe!“, erwidere ich und bette mein Kinn auf den übereinander geschlagenen Armen.

Erik betrachtet mich einen Moment prüfend, dann geht sein Blick über mich hinweg. Er fixiert etwas, dass sich hinter mir befinden muss, dann wandern seine Augen wieder auf mich herab. „Wenn du Geld brauchst, wie wäre es dann mit einem Job?“, will er wissen.

„Ich bin nicht im Dienst und wenn ich es wäre, müsstest du vorher Aaron fragen“, erinnere ich ihn.

„Nein, mit so was habe ich nichts am Hut, ich meine was anderes“, erwidert er.

Wieder betrachte ich ihn kritisch, doch dieses Mal fehlt der verschlagene Ausdruck in seinen Augen. Er meint es ernst. Erik hat tatsächlich einen Job zu vergeben, der Geld einbringt.

Wenn ich darauf eingehe, dann hätte meine Anwesenheit hier wenigstens einen Sinn, also frage ich: „Na schön, was soll ich tun?“

„Ich habe läuten hören, du wärst ein begabter Pianist. Mein halbes Personal liegt heute mit Grippe flach. Selbst einen Großteil der Mädels hat es erwischt. Die Band, die heute auftreten wollte, hat auch abgesagt und mein Barkeeper muss den Türsteher spielen, weil Viktor letzte Nacht aufs Maul bekommen hat. Die Stimmung ist auf einem Tiefpunkt!“ Erik sieht sich in seinem Lokal um und ich tue es ihm gleich.

Tatsächlich sind nur wenige Gäste da und die sehen gelangweilt den Nutten in ihrem Schritt bei ihrer Arbeit zu. Der schwarze Flügel vor der Bühne ist stumm. Nicht mal die Stangen sind heute besetzt, an denen die Frauen sonst tanzen und auf der Bühne ist auch nichts los. Logisch, ohne Musik lohnt es sich nicht etwas aufzuführen und auch ein Stangentanz ist so nicht besonders reizvoll.

„So lange ich nicht Mozart oder Beethoven spielen muss“, willige ich ein und drehe mich wieder nach Erik um.

Der Barbesitzer schaut auf mich herab und lächelt amüsiert. „Glaubst du wirklich die alten Klassiker würden hier her passen?“, will er wissen.

Nun muss ich auch schmunzeln. Sicher nicht! „Also darf ich spielen, was immer ich will?“

„Ja, lass hören, was die reichen Schnösel bei Aaron so erstaunt hat!“, fordert Erik.

Das lasse ich mir nicht zwei Mal sagen. Musik, die ich spielen darf wie ich will, da sage ich nie nein!

Ich rutsche vom Hocker und halte auf den Flügel zu. Sein Holz weist etliche Macken und Schrammen auf. Auf dem Deckel sind kreisrunde Wasserflecken in den Lack eingearbeitet. Der schützende Deckel über den Tasten hat einen Sprung in der Mitte. Na ob dieser Flügel wirklich gut klingen wird? Ich öffne den großen Deckel am Rücken und lege ihn in die Halterung ein, dann schaue ich ins Innere. Die Saiten sind alle gespannt, aber ob er auch gestimmt ist? Ich gehe zur Klaviatur und öffne auch dort den Deckel. Die weißen Tasten sind vergilbt. Kein Wunder, bei dem ständigen Zigarettenqualm hier. Auch sie sind zerkratzt und fleckig. „Du könntest den echt mal sauber machen!“, rufe ich Erik zu und wische die Brotkrümel von dem Hocker, der vor dem Flügel steht. Sein schwarzes Leder ist rissig, ich kann die Füllung herausquellen sehen. Großartiges Arbeitswerkzeug!

„Du bist hier nicht im Ritz! Wir sind eine anständige Bar!“, ruft Erik mir zu.

Seine Worte lassen mich schmunzeln, fühle ich mich hier doch trotz all der Mängel deutlich wohler, als bei Aaron in seinem fein geputzten Palast. „Ja und das ist auch gut so!“, antworte ich und setze mich auf den Hocker. Ich spiele die Tasten der Reihe nach an und muss schon beim Zweiten und Dritten das Gesicht verziehen, so schief klingen sie. Auch das C in der Mitte der Klaviatur stimmt nicht. „Aber stimmen könntest du ihn mal wieder!“, murre ich nach hinten.

„Ach wirklich, das kannst du hören? Ist mir nie aufgefallen“, will Erik wissen und kommt um die Bar herum gelaufen. Langsamen Schrittes hält er auf mich zu. Als er bei mir ankommt und mir seinen Arm auf die Schulter legt, drücke ich eine Taste immer wieder, doch sie erzeugt keinen Ton. Anklagend schaue ich Erik dabei an. „Das die kaputt ist, ist dir nicht aufgefallen?“, frage ich skeptisch.

„Ja gut, das sollte ich mal reparieren lassen. Bekommst du trotzdem was auf dem Baby zu stande?“, will er wissen.

Ich probiere noch etwas herum. Der Rest funktioniert wie er soll. Ich muss nur bei dem C in der Mitte aufpassen, ist das doch zu einem D geworden.

„Ja, aber erwarte keine Konzertqualität“, antworte ich und lege beide Hände auf die Tastatur.

„Lass einfach mal hören!“, erwidert er.

Ich atme einmal tief durch und schließe die Augen. Dabei versuche ich alles um mich herum auszublenden. Wer hier sitzt und zuhört spielt ohnehin keine Rolle. Hauptsache ich werde all diesen Mist los, der mir auf der Seele liegt. Das hat bei Aarons Klavier auch gut funktioniert, warum sollte das hier nicht ebenfalls klappen?

Ich beginne zu spielen. Wie immer fange ich dabei mit dem Lied an, das Toni komponiert hat. Die Melodie ist mir so in Fleisch und Blut übergegangen, dass meine Finger sie auch aus der Kalten spielen können. Der vertraute Klang gibt mir Sicherheit und lässt meine Hände warm werden. Ich unterlege sie mit neuen Rhythmen und schmücke sie immer weiter aus. Schneller und ausgefallener wird das Musikstück dabei, nur das C das nun ein D ist, ist immer wieder im Weg und lässt mich ab und an das Gesicht verziehen, wenn ich sie fälschlicher Weise treffe.

„Hervorragend! Das wird gut werden“, sagt Erik zufrieden.

Seine Worte lassen mich wieder aufschauen. Ist das sein Ernst? Das bisschen reicht schon, um ihn zufrieden zu stimmen?

Er klopft mir auf die Schulter und wendet sich den Frauen zu, die sich nah der Bühne und am Tresen aufhalten. Einige Male klatscht er in die Hände. „Na los! Bewegung! Bringen wir endlich wieder Leben in diese Bude!“, weißt er sie an. Einige der Frauen gehen zu den Stangen, die sich durch die Bar verteilen, bis nur noch eine frei ist. Zwei andere steigen auf die Bühne und beginnen dort aufreizend im Takt der Musik zu tanzen.

Eine der leichtbekleideten Frauen kommt zu mir. Sie ist die einzige, mit der ich mich bisher unterhalten habe und die ich deutlich besser kenne, als mir lieb ist. Darla wuschelt mir durch die Haare und beugt sich dabei zu mir hinab. „Danke“, flüstert sie mir zu, „Die Bar ist seit zwei Tagen fast leer. Jetzt können wir vielleicht wieder etwas verdienen“, sagt sie und geht zur letzten freien Stange. Während sie mir zuzwinkert, beginnt sie sich an ihr zu räkeln.

Ihre Worte lassen mich lächeln, empfinde ich mich doch gerade nicht mehr als überflüssige Belastung. Meiner Musik gebe ich etwas Anstößiges, das Rhythmus hat, um die Bewegungen der Frauen damit zu unterstützen. Das nutzen sie auch sofort, um sich noch auffälliger zu präsentieren.

Die Männer im Raum erwachen aus ihrem Desinteresse und schauen sich um, lauschen der Musik oder suchen sich eine der Frauen aus.

Die Tür der Bar öffnet sich. Ein Mann mittleren Alters steckt den Kopf durch den Rahmen und wird vom Klang der Musik hereingelockt. Es dauert nicht lange, bis ihm weitere folgen.

Das Musik so eine Wirkung haben kann, ist mir bisher nicht bewusst gewesen und schon gar nicht, dass ich dazu in der Lage bin, so etwas zu produzieren. Irgendwann stört mich nicht mal mehr die Aufmerksamkeit, die sich immer wieder zu mir verirrt. Selbst das Getuschel und die Fragen, die sich an Erik richten, wer ich denn sei, fangen irgendwann an mir zu gefallen, fühle ich mich doch auf einmal wichtig und besonders. Meinem Klavierspiel verleihe ich noch mehr Tiefe und Lautstärke. Von den Bewegungen der schönen Frauenkörper lasse ich mich inspirieren und sehe ihnen gespannt dabei zu, wie sie sich von meiner Musik führen lassen. Seit langem fühle ich mich bei dem, was ich tue, wirklich wohl und ganz gleich wie müde meine Finger mit der Zeit auch werden, ich kann einfach nicht aufhören zu spielen.

~Drei Frauen für Enrico~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]



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Kommentare zu dieser Fanfic (20)
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Von:  Brooky
2024-04-21T05:52:18+00:00 21.04.2024 07:52
Okay, jetzt tut mir Toni noch mehr leid 🙈
Also... ich mein, ich verstehe Enrico wirklich, aber er heiratet jetzt schon Judy, wenn auch unfreiwillig und hat mit Darla und Robin geschlafen und jetzt mit noch zwei mehr?

Weiß nicht, wie ich das finden soll. Aber dass Erik noch in seine Schranken verwiesen wird, das muss kommen. Steht außer Frage, dass der damit nicht durchkommen darf. Reicht, wenn ein Capo Enrico als Spielball benutzt. Dann muss es nicht auch noch nen anderer sein. Zumal er und Diego Enrico ja eh schon einmal als Bein gepinkelt haben.

Na, bin gespannt, wie das jetzt weiter geht. Und glaube auch immer noch, dass es ne Katastrophe gibt, wenn Toni feststellen sollte, dass Enrico nicht in seinem Zimmer ist. Da läuft dann vermutlich echt ein Film ab.
Bin gespannt auf das nächste Kapitel :)
Antwort von:  Enrico
21.04.2024 08:19
Enrico hat sich da nicht gerade ein Beziehungs fördernde Kompensation gesucht. Toni ist hier mal wieder der der all das am Ende aushalten muss, sollte er davon erfahren. Aber es zeigt schon mal, in welche Richtung sich Enrico entwickeln wird.

Ja Erik braucht auf jeden Fall mal einen Denkzetteln. Er hat schon am Anfang von Band zwei versucht Enrico nach dem Pokerspiel übers Ohr zu hauen. Da ist es ihm nicht gelungen. Mal sehen wie es dieses Mal aussieht.

Würde die Geschichte im Heute spielen könnte Antonio ja wenigstens versuchen Enrico auf dem Handy zu erreichen, aber das ist ja nicht möglich. Um so schwieriger wenn Enrico sich einfach ohne ein Wort aus dem Staub macht und nicht mal eine Nachricht hinterlässt. Bleibt zu hoffen das Antonio selbst zu fertig ist, um nach Enrico zu sehen und das Zimmer leer vorzufinden.
Von:  Brooky
2024-04-21T05:44:03+00:00 21.04.2024 07:44
So sehr ich Enrico auch diese Zeit des Vergessens da hönne, so sehr hasse ich sein Verhalten gerade auch. Denn er macht sich überhaupt keine Gedanken über die Konsequenzen. Wenn Antonio jetzt nachher sein leeres Zimmer auffindet oder so, dann denkt der sich doch sonst was, wo sie gerade erst dem Tod von der Schippe gesprungen sind.
Ich versteh ihn ja. Er hat ne scheiß Zeit hinter sich mit Antonio, aber einfach abzuhauen. Puh...
Antwort von:  Enrico
21.04.2024 08:12
Stimmt wirklich weit gedacht hat Enrico da nicht. Er ist einfach mal wieder blindlings drauf los gelaufen. Den kann man echt nicht allein lassen, ohne das er was dummes macht. Antonio kann einem da wirklich leid tun. Am Ende gibt der sich noch selbst die Schuld daran weil er sich eben mal Schwäche zugestanden hat. Ist wirklich keine besonders liebenswerte Charaktereigenschaft von Enrico.
Von:  Brooky
2024-04-17T18:17:53+00:00 17.04.2024 20:17
Jo, hab geahnt, dass Annette die beiden langsam durchschaut hat. Sie ist schließlich nicht blöd. Im Gegenteil. Sie ist eine der klügsten bei den Wölfen. Vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass sie alles weiß und ihnen im Zweifel ein Alibi geben kann. Und wenn die beiden noch eine Vertraute neben Robin haben, die Bescheid weiß und sie dafür nicht verurteilt.
Antwort von:  Enrico
17.04.2024 20:25
Stimmt Anette ist noch eine der schlachten Köpfe. Zenit und Streuner haben zwar Straßenschleue sind aber doch eher naiv veranlagt. Ich fand es hier auch mal schön Antonio jemanden an die Seite zu geben wo er mal halt bekommt und nicht nur geben muss. Anette wird auf jeden Fall noch eine wichtige Verbändete sein. In allen Lebenslagen😉.
Von:  dasy
2024-04-17T06:30:01+00:00 17.04.2024 08:30
Soso, Enrico wird also vernascht...
UND UM SEINE BEZAHLUNG GEBRACHT!!!!
Aber ich gönne ihm das Vergessen, die heilsamen Glückshormone, die Entspannung und den erholsamen Schlaf.
Bleibt zwar die Frage, wie er das Toni beibringt, aber vielleicht ist es gut, wenn sie auch mal getrennt von einander Ruhe finden. Und zum Schluss steht immer noch die Pflicht auf das "Alibi".
Schön geschrieben. Ich freue mich, dass die Wölfe weitergehen.
Schönen Tag Dir, Dasy
Antwort von:  Enrico
17.04.2024 08:50
Das nennt man dann wohl Verführung Minderjähriger. 🤣
Und mal sehen ob Enrico sich so leicht zufrieden gibt und ihm diese Form der Bezahlung reicht.
Aber zumindest hat er so die Gelegenheit mal alles zu vergessen. Die Drei heizen ihm auf jeden Fall ordentlich ein. Das wird sicher hängen bleiben als Ablenkung von seinem Leben. Toni wird da sicher nicht erfreut sein. Da gönnt er sich mal Ruhe und dann das. Aber er muss vielleicht auch nicht alles wissen.

Freu mich aber auch das ich hier so gut voran komme.
Von:  dasy
2024-04-14T13:17:07+00:00 14.04.2024 15:17
Wunderschönes Kapitel.
Wie Enrico es schafft aufzuwachen und wie Musik es schafft, ihn aufzutauen...

Antwort von:  Enrico
14.04.2024 15:19
Ich mag das Kapitel auch sehr gern. Es war seit langem mal wieder eines was mir locker von der Hand ging^_^.
Von:  Brooky
2024-04-01T07:22:59+00:00 01.04.2024 09:22
Diese Erfahrung wird die beiden wohl noch eine ganze Weile begleiten. Und es ist nicht wirklich verwunderlich, dass die beiden jetzt, wo der ganze Trubel vorbei ist, endlich Mal alles Revue passieren lassen und dadurch zusammenbrechen. Annette ist hier in dem Kapitel wirklich lieb.
Traumata sind schon echt beschissen.
Antwort von:  Enrico
01.04.2024 09:27
Ja das wird auch noch lange eine Auaswirkung auf ihre Beziehung und besonders das Sexleben haben. Und ja nun wo sie zur Ruhe kommen wird ihnen erst mal bewusst was sie in den letzten Stunden erlebt haben. Anette wird hier für Antonio eine große Stütze werden. Im nächsten Kapitel werde ich die Grundsteine ihrer Beziehung zu legen versuchen, denn Antonio brauch auch ganz dringen eine Person mit der er sprechen und sich auch mal anlehnen kann.
Freut mich das du hier immer noch dran bleibst^^. Ich hoffe ich schaffe es jetzt auch den Band zu beenden. Das Ende habe ich schon im Kopf ich muss nur noch das dazwischen hin bekommen.
Von:  Brooky
2024-04-01T07:20:21+00:00 01.04.2024 09:20
Oh man. Ich mag das Kapitel nicht. Sowohl Judy als auch Annette reagieren über, wobei es vor allem Judy Schuld ist, dass das eskaliert. Annette ist noch nicht Mal ins Zimmer rein gekommen, sondern stand lediglich an der Türe. Sie ist echt ganz schön eifersüchtig. Ich hoffe einfach Mal, dass sie das mit Tony dann nie rauskriegt und wenn doch, dass sie dann etwas reifer geworden ist. Schließlich heiraten die beiden ja nicht aus Liebe, sondern weil Judy schwanger ist und sie, wenn das rauskäme, von der Gesellschaft geächtet würde. Und das haben sie auch klar gestellt. So gesehen hat Judy also auch eigentlich gar keine Ansprüche auf Enrico, bis auf die Tatsache, dass sie sich beide um das Kind kümmern und diesem ein gutes Zuhause bieten müssen.
Antwort von:  Enrico
01.04.2024 09:23
Ja Judy zeigt sich hier nicht von ihrer besten Seite. Sie ist eben eine verwöhnte Tochter aus reichem Hause die es gewohnt ist Dienstpersonal herumzuscheuchen, wenn es welches gibt. Und Anette fiel dummerweise in diese Kategorie nach Enricos Erklärung und jab sie ist extrem eifersüchtig. Was das Problem mit Toni und Enrico nicht einfacher machen wird.
Von:  Brooky
2023-11-26T08:51:18+00:00 26.11.2023 09:51
Na, dass Enricos Kopfkino jetzt wieder zuschlägt, wo der ganze Mist jetzt erst Mal geklärt ist, das ist nun wirklich nicht verwunderlich. Das wird ihn wohl noch lange in seinen Träumen verfolgen. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie oft er wohl in der ersten Nacht schweißgebadet aufwachen wird. Eben weil er das alles noch einmal durchleben muss. Wieder und wieder. Vincent ist einfach der Widerling der Nation.

Witzig wird es da erst, als Judy sich wünscht, zu sehen, wo sie in Zukunft wohnen werden. Wobei ich mir ja wünschen würde, dass sie wo anders unterkommt, damit Antonio und Enrico weiter an ihrer Beziehung festhalten können, wie sie bisher war. Aber das wird wohl ein Wunschtraum bleiben.
Aber immerhin hält er nicht mit seiner Meinung hinter dem Berg, wenn Judy sich wie ne Prinzessin benimmt. Was erwartet sie denn, dass Enrico der große Macker ist, der Mal eben ne neue Bleibe aus dem Ärmel schüttelt? Ich mein, okay, er hat auch schon ne halbe Million aufgetrieben. Aber trotzdem. Das hat er ja auch nur durch sie von Judy so verhassten Gangstergeschäfte bekommen.
Dass Die Wölfe mal wieder dumme Ideen hatten, was die Geldbeschaffung angeht, ist ja auch nichts Neues. Ich finde es hingegen dann aber wirklich schön, dass Judy das wenigstens am Ende versteht und Geld in die Dose steckt.
Musste allerdings lachen, als Streuner Judy Mama nennt und Enrico Papa. Was das bei Toni auslöst, will ich mir zwar gerade nicht vorstellen, aber war schon irgendwie amüsant.
Was Enrico damit allerdings jetzt schon herannahen sieht, ist auch klar. Denn Vater ist schließlich ebenso ein Begriff in der Mafia wie Pate. Hast auf jeden Fall wieder schön viele Zeichen in die Story eingewebt. Das mag ich ja. Weißt du aber ja auch ;)
Antwort von:  Enrico
26.11.2023 21:57
Enrico wird die nächsten Nächte sicher kein Auge zu machen. Auch weil das mit Vincent nun da er weiß, dass Enrico und Antonio überlebt haben, sicher nicht ruhe geben wird. Den und die Drachen im Nacken plus Aaron das wird sicher nicht einfach. Aber Vincent topt natürlich alles. Denn will man echt nicht nachts im Dunkeln begegnen müssen.

Ich fand es auch mega witzig als Judy wünscht ihre zukünfitige Behausung zu sehen. Enricos Blick als der Achterbahn fährt war sicher mega lustig anzusehen. Wenn er was ist dann ein Chaot, besonders in der "Haushaltsführung". Wo ihm was aus der Hand fällt da bleibt es liegen. Naja und wie so die Bettwäsche aussieht nach ner wilden Nummer mit Toni das will ich mir lieber nicht vorstellen^^.

Da die Prinzessin Judy reinzuwerfen und ich feiere den Begriff, denn ja sie ist nun mal eine verwöhnte reiche Prinzessin mit Ansprüchen ist natürlich ne Nummer für sich. Sie kennt eben nur das Luxusleben, denn auch wenn sie von zu Hause weggelaufen ist, war sie bei ihrer Schwester gut aufgehoben und ihr Vater hat ihr immer wieder was zukommen lassen. Also musste sie sich nie Gedanken machen. Umso schöner das sie dann von ihrem Reichtum etwas abgibt, als sie sieht dass es nötig ist. Ob sie aber mit der Geldbeschaffung ihres Mannes klar kommen wird, das bleibt abzuwarten. Da hat Antonio ja mal wieder die passenden Worte zu gefunden. Musste da beim Schreiben echt viel lachen.
Auch und besonders als Streuner die Beiden zu Mama und Papa erklärt hat und in gewisser Weiße ist zumindest Enrico das für seine Gang ja auch. Und Aaron hat ja auch so seine Pläne das er zum großen Papa werden soll^^.

Freu mich sehr das du hier immer noch dran bleibst, obwohl ich immer so lange für ein neues Kapitel brauche.

LG. Enrico
Von:  Brooky
2023-11-26T08:38:30+00:00 26.11.2023 09:38
Ach, Antonio kann einem wirklich leid tun. Enrico schmerzt das ganze zwar auch, aber ich glaube, Antonio muss unter dieser ganzen Sachen noch viel mehr leiden. Weil Enrico eben schon etwas dir Judy empfindet. Wenn auch nicht so viel, wie für Enrico.
Dass Antonio sich auch noch die Schuld an allem gibt, was bei Vincent passiert ist und seine eigenen Verletzungen als nicht so wichtig abtut, ist nicht gut. Natürlich empfindet er Enricos Leben als wichtiger, schließlich ist er Enricos Leibwächter, wenn es anders wäre, wäre das schlecht. Aber trotzdem. Er muss auch mal etwas mehr auf sich selbst acht geben.
Dass Judy es hasst, dass alle, die sie liebt, sich durch ihren "Beruf" in Gefahr bringen, ist auch nicht verwunderlich. Vor allem, da sie ja jetzt auch noch ein Kind erwartet. Als Frau hatte man zur damaligen Zeit schließlich nicht die besten Karten, vor allem nicht als Mutter oder gar Witwe. Kein Wunder, dass sie da gerade Verlust- und Existenzängste ausbildet.
Antwort von:  Enrico
26.11.2023 21:48
Antonio hat hier echt mal wieder den schwersten Part. Er muss sich das alles mit ansehen und dabei noch Ruhe bewaheren, dabei ist er ziemlich besitzergreifen und auch mega eifersüchtig. Das ist für ihn seine persöhnliche Hölle.
Für Enrico ist es auch schwer, aber er mag Judy und vielleicht flammt da auch ein bisschen lieben für sie. Da ist es einfacher, als wenn er sie gar nicht leiden könnte.
Davon mal abgesehen hat Antonio natürlich noch mit seinem Versagen als Leibwächter zu kämpfen. Er müsste wirklich auch mehr auf sich achten, aber vielleicht ist das auch ein Schutzmechanismus genau das nicht zu tun. Dann würde er merken wie beschissen seine eigene Situation und auch sein körperlicher Zustand ist. So kann er sich aber damit ablenken das es Enrico schlechter geht. (Vermeindlich ist klar) Dann muss er nicht darüber nachdenken das er selbst auch auf so vielen Ebenen verletzt wurde.

Judy hingegen hat auch echt ein schweres Los. Gerade zu der Zeit. Klar sie kann immer wieder zu ihrem Vater als Vormund zurück aber auch nur so lange der lebt. Wenn Enrico was passiert ist sie geächtet, wenn jemand raus bekommt das sie ein Kind erwartet ohne verheitratet zu sein ist sie geächtet. Es muss eine harte Zeit für Frauen gewesen sein. Ein Glück haben wir uns von diesem Lebensentwurf entfertn.
Von:  Brooky
2023-10-12T15:11:54+00:00 12.10.2023 17:11
Endlich wieder ein neues Kapitel. Ich freu mich! Und ich finde es gut, dass Enrico Aaron reinen Wein eingeschenkt hat und Vincent dann eben auch noch was vor den Latz geknallt hat, was längst überfällig war. Bin jetzt nur gespannt, ob Enrico Judy auch dazu bekommt, doch noch bei ihrem Ja zu bleiben, denn ich kann mir schon vorstellen, was da in ihrem Kopf so abgeht. Ist schließlich auch nicht unbedingt alltäglich, was da passiert.
Bin sehr gespannt auf die folgenden Kapitel ❤️
Antwort von:  Enrico
13.10.2023 10:43
Ich hab da immer mal wieder dran gearbeitet, aber jedes mal wenn ich im Flow war, kam mir das Leben dazwischen. Nun habe ich es endlich mal fertig schreiben können. ^^ Ich denke auch das da so einiges drin war, was Enrico unbedingt endlich loswerden musste. Aber ob es so clever war am Ende anzukündigen die Tochter des Paten zu schwängern, währen Aaron alles mit anhört. Blöd ist der ja auch nicht. Na mal sehen wie das Ausgeht und ja Judy hat echt damit zu kämpfen was da schon wieder mit den Menschen passiert, die sie liebt. Ob das nun der Vater ist, auf dessen Leben man es mal wieder abgesehen hat, oder eben nun Enrico in den sie sich wirklich verknallt hat und der steht auch auf der Abschussliste. Nur kann sie bei letzterem nicht einfach weglaufen, immerhin verbindet sie nun das Kind unter ihrem Herzen. Das ist sicher alles schwer zu schultern.
Freu mich aber mega das du trotz der langen Wartezeiten hier noch mitliest^^.

LG. Enrico
Antwort von:  Brooky
15.10.2023 09:01
Nope, das war ganz sicher nicht klug, dass er das so leichtfertig gesagt hat. Wird schon klar durch die Art, wie du es geschrieben hast ;)

Und klar les ich weiter mit. Ich bin auch immer wieder hin und her gerissen, ob ich die nächsten, angefangenen bzw. fertigen Bände schon lesen soll, aber ich will mich nicht selbst spoilern 🙈
Antwort von:  Enrico
15.10.2023 09:28
Das ist aber auch eine böse Versuchung^^. Kann ich gut verstehen. Wobei ich nicht mal weiß ob da wirklich alles so bleibt in den folge Bänden. Ist ja doch schon lange her wo ich das geschrieben habe. Kann sein das ist dann auch nicht mehr passend. Aber die grundlegende Story wird sicher gleich bleiben.


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