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Warum Pechvögel fliegen können.

Die Schutzengel-Trilogie 1
von

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Im sechsten Himmel

Als der Karma-Engel Camael aus Langeweile heraus hinab auf die Erde schaute, da sah er einen Menschen, ganz allein auf dieser Welt. Er fragte sich, wo denn sein Schutzengel war, wo er denn geblieben war. Wie lange schon war dieser Mensch allein? Camael beobachtete den Menschen noch ein wenig, er schien ganz und gar gesund zu sein. Seltsam. Normalerweise überlebten Menschen nicht sehr lange auf der Erde ohne ihren Schutzengel. Aber vielleicht würde der Mensch bald sterben, demnach nähme alles seinen natürlichen Lauf. Camael beschloss, seine Todesgeschichte mitzuverfolgen.

Pechmanu und Glücksnadine

Wenn sich der Schmerz einmal eingenistet hat, dann bleibt er. Und dann macht er dich irgendwann kaputt. Die Frage ist nicht, ob du durchhältst. Die Frage ist, wie lange du durchhältst. So gesehen bin ich gerade dabei, mich vollkommen dem Schmerz zu überlassen und in den Abgrund zu stürzen. Ich heiße Manu. Manuela. M-A-N-U-E-L-A. Bin fünfzehn Jahre alt, wohne in einer einfachen Gegend, nicht weit entfernt von der Stadt, aber auch nicht in der Pampa. Es gibt eigentlich nicht so viel über mich zu erzählen. Außerdem interessiert es sowieso niemanden. Ich bin ein einfaches Mädchen mit einfachen Bedürfnissen. Hunger, Durst, Liebe. Punkt.

Schade, dass die Welt kein einfacher Ort ist. Für mich zumindest nicht. Ach ja, das Wichtigste habe ich glatt übersehen: Ich bin ein Pechvogel. Und wenn ich das sage, dann meine ich das auch so. Ich habe keine Pechsträhne, kein Scherbenglück, nein, ich bin ein Pechvogel. Bestes Beispiel ist: der jetzige Moment.

Mein Bus ist nämlich gerade an meinem Zimmerfenster vorbeigefahren, den kriege ich nicht mehr. Scheiße. Das ist der letzte, zumindest der letzte, der pünktlich zu Unterrichtsbeginn ankommt. Als mir das bewusst wird, beeile ich mich umso mehr, werfe mir x-beliebige Klamotten über, stopfe alle Bücher, die herumliegen, in meinen Rucksack und stürme zum Schuppen – um mein knallgrünes, gebrauchtes Mountainbike nach langer Zeit mal wieder zum Einsatz zu bringen. Mit diesem originellen Drahtesel, ausgestattet mit oberpeinlich grinsender Froschmaulklingel (weil ich es nie geschafft habe, das Ding abzuschrauben), kann ich mehr oder weniger rechtzeitig ankommen. Die Schule ist circa eine halbe Stunde zügige Radlerei von unserem Mehrfamilienhaus entfernt. Zur ersten Stunde schaffe ich es damit nicht mehr, aber zur zweiten. Das ist wichtiger.

Denn: Heute schreiben wir einen total wichtigen Mathetest, der ein Drittel der Zeugnisnote ausmacht, und nach der elendigen Büffelei habe ich echt keine Lust mehr, ihn nachzuschreiben. Also gucke ich, dass ich vom Fleck komme und trete in die Pedale, was das Zeug hält. Fahre durch den Wald als Abkürzung. Unter normalen Umständen radele ich recht gerne hier entlang, aber es ist ziemlich dunkel (scheiß Herbst), was mich, ehrlich gesagt, mehr als beunruhigt. Dem ist hinzuzufügen, dass ich über keinerlei Licht verfüge, da meine Fahrradlampe vor zwei Monaten kaputt gegangen ist und ich vergessen habe, sie reparieren zu lassen. Deswegen weiß ich auch nicht, ob ich überhaupt den richtigen Weg nehme (irgendwann kommt eine Gabelung). Aber das ist auch völlig egal, weil ich plötzlich mit dem Vorderreifen an einem fetten Stein abrutsche und es mich hochkant in die Atmosphäre schleudert. Einen Moment lang komme ich mir schwerelos vor, dann holt mich die Realität ein und ich pralle prompt auf dem harten Feldweg auf.

Von wegen schwerelos, ich fette Kuh sollte wohl lieber mal eine Diät machen! Die spitzen, weißen Steinchen bohren sich in meine Haut, wo sie nur können. Meine Hände brennen fürchterlich, sind ganz heiß und nass. Ach du heilige Scheiße, jetzt auch noch das. Dabei muss ich doch zur Schule! Ich bin auch so schon die vollkommene Mathe-Niete, ich kann es mir nicht leisten, zu spät zu kommen!

Vorsichtig rappele ich mich auf und inspiziere meine Wunden. Die fiesen, scharfen Dinger haben es nicht durch meine Kleidung geschafft, allerdings durch die Innenhaut meiner linken Handfläche. Manche finden es dort ganz gemütlich, so dass sich das vertriebene Blut über meinen ganzen Ärmel ergießt. Man könnte meinen, ich hätte gerade ein Reh erwürgt. Ich versuche, die Hand zu bewegen. Aua. Hätte ich nicht tun sollen. Aber Schreiben mit rechts müsste noch gehen. Vorsichtig tupfe ich das Blut mit Taschentüchern ab. Die kleinen Steinchen kriege ich so nicht raus. Aua, auu!

Nach der dürftigen, unärztlichen Behandlung schaue ich mich nach meiner sattgrünen Alu-Gurke um. Ist in der Wiese gelandet. Lenker sieht etwas schief aus. Die Froschmaulklingel lacht mich immer noch an.

Na prima. Jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Der Sattel ist nass. Würde gerne weiterfahren, kann aber nicht. Kann nicht freihändig fahren. Wie erbärmlich. Also schiebe ich mein Froschmaul-Bike bis zur Schule.
 

Bin pitschnass. Bin zu spät. Bekomme einen herzlichen Empfang. »Also Manuela, du siehst ja aus wie ein begossener Pudel!«, sagt mein Deutschlehrer Herr Trotz, der immer irgendeinen Spruch drauf hat, den dann alle toll finden.

»Sie sieht nicht so aus, sie ist einer«, sagt irgendeine Jungenstimme aus dem Schülerpulk. Gelächter. Ich zeige mein schönstes Grinsen, lasse es wieder verschwinden und begebe mich auf meinen Platz. Dass ich geblutet habe, bemerkt keiner.

Zum Glück ist der Mathetest erst in der zweiten Stunde. Die jetzt anfängt, es hat geklingelt. Tische auseinander, nicht schummeln, blablabla. Aber das ist ja gar nicht Herr Quarks, der uns da die Blätter austeilt! Eine fremde Person hat ihre Tasche auf dem Pult abgelegt und legt nun eifrig unsere unbeschriebenen Schulaufgaben aus. Die fremde Person ist groß, größer als ich, hat milchkaffeefarbene Haut, kurze schwarze Haare. Er schaut mich an, lässt dann seinen Blick über die Klasse schweifen. Ein schönes Profil.

»Guten Tag, mein Name ist Herr Sommer. Ich vertrete ab heute Herrn Quarks, der in den Mutterschaftsurlaub gegangen ist.«

Stimmt, na klar. Habe ich völlig verpennt. Quackie (Schülerspitzname) ist heute im Krankenhaus bei seiner Frau, die einen Mini-Quackie in sich trägt, der ab heute wohl planmäßig die Nase voll davon hat, in Frau Quackies Bauch zu wohnen (Kaiserschnitt und so). Jedenfalls strahlt mich Herr Sommer einen Moment lang an, bevor er was von Kopf faselt und sich der gesamten Klasse zuwendet. Dann drehen alle auf Kommando die Blätter um, und ich nehme das Geklacker von Taschenrechnern wahr. Klacker Klacker Klacker. Da macht es Klick! Waah, ich muss doch auch anfangen.

Okay, keine Panik Manu, du schaffst das.

Ich schaue mir die erste Seite an.

Ich glaube, die überspringe ich erst einmal.

Zweite Seite.

Wieder blättere ich um.

Lese die dritte Seite, will zur Vierten.

Es gibt keine Vierte. Drehe den Test nochmal um. Habe alles vergessen. Brühte mit Schweißperlen auf der Stirn über den Aufgaben. Vergebens.

»Noch eine viertel Stunde!«, ruft Herr Sommer.

Oh nein, ich habe ja nicht einmal meinen Namen drauf geschrieben! Und den Schulaufgabenkopf auch nicht. Schnell erledige ich das.

»Noch fünf Minuten! Langsam solltet ihr zum Ende kommen!«, sagt Herr Sommer munter. Noch einmal lese ich mir die erste Aufgabe durch. Da ist es wieder! Ich weiß die Lösung! Ich greife nach dem Stift …

»Bitte legt jetzt die Stifte weg.«

Oh Mann.
 

»Und wie lief es bei dir?«, hört man das Geschnatter auf dem Pausenhof, überall wo Leute aus meiner Klasse stehen.

»Ganz okay, viel leichter im Vergleich zur letzten.«

»Super! Ich habe schon vier Aufgaben richtig!«

»Ich denke gut, diesmal war es echt leicht.«

Sind die Antworten, mich fragt natürlich keiner. Okay, das ist übertrieben, mich haben zwei Menschen gefragt, aber das ist ein Nichts im Vergleich zu dem ganzen Gebrabbel hier. Überall wird über die Aufgaben diskutiert. Da tippt mir jemand von hinten auf die Schulter. Ich drehe mich um, keiner da. Spüre den Atem auf der anderen Seite.

»Oh, Hi!«, sage ich zu dem Schultertipper namens Tobi, der mich belustigt angrinst. Jaa, ich falle immer wieder drauf rein, na und? Jetzt muss ich zurückgrinsen, das ist bei ihm einfach ansteckend.

»Wie lief es bei dir? Ihr habt doch heute Matheschulaufgabe geschrieben, hat Nadine erzählt.«

Numero drei und die Stimmung ist abrupt im Keller. Okay, jetzt habe ich gleich drei Gründe, um schlecht drauf zu sein. Numero eins, ich habe es verhauen. Numero zwei, Tobi ist ein Mathe-Ass. Numero drei, er hat zuerst mit Nadine geredet.

»Och, ganz gut«, schwindle ich.

»Dann ist’s ja prima!«, strahlt Tobi mich an mit seinem einzigartigen Ich-strahle-heller-als-die-Sonne-Grinsen. »Immerhin hast du den letzten verhauen … «

Okay, Stimmung in der Kanalisation. Woher zum Teufel weiß er das?!

»Hey Manu!«

Nadine! War ja klar. Tobi wendet sich ihr zu, die beiden halten ein kleines Pläuschchen, Nadine lacht sich halb tot und er grinst sie noch breiter an als mich. Ich wäge ab, ob ich einfach verschwinden soll – um die beiden ungestört miteinander flirten zu lassen – oder im Auge behalten soll, um im Extremfall einzugreifen.

Zu spät, Extremfall eingetreten. Er hat den Arm um sie gelegt. Nadine schaut mich an, unsere Blicke treffen sich. Sie grinst. Aber es ist kein Ich-will-heller-strahlen-als-die-Sonne-Grinsen. Es ist eher eine Art Zähnefletschen. Eine unglaubliche Leere macht sich in mir breit. Ich haue ab, gehe mit raschen Schritten in die Aula, hole mein Zeug. Es klingelt. Gutes Timing, wenigstens etwas Gutes heute. Jetzt ist Französisch angesagt. Niemand mag es (um genauer zu sein, alle hassen es), aber ich mag es doch irgendwie. Es ist das einzige Fach, das mir direkt zugeflogen ist. Mal so im Vergleich:

Mathe – Niete

Englisch – Niete

Deutsch – So lala

Sport – Niete

Chemie – Niete

Und so weiter. Man sieht also: Mein Zeugnis sieht nicht gerade sehr gut aus. Gar nicht gut, um genau zu sein. Aber in Französisch, da habe ich immer meine gute Zwei. Und wenn ich mich anstrenge, dann kann ich sogar eine Eins schaffen, hat Frau Wolke mal erwähnt.

Nadine kommt zu spät, sie kann sich nicht von ihren Fans losreißen. Okay, das ist übertrieben, aber ich bin einfach nicht gut auf das Thema Nadine anzusprechen. Heute nicht und sonst nicht. Sie ist beliebt. Sehr beliebt. Bei Jungs und Mädels. Bei Tobi … Sie ist selbstbewusst und hat eine scharfe Zunge. Und Modegeschmack. Und Geld kackt sie anscheinend auch, so teuer sieht ihr neues Halstuch aus. Ich bemerke: Es ist leicht verrutscht. Nanu?

Da trifft mich der Schlag: Ein Knutschfleck. Ich versuche, meine Gedanken zu blockieren und an etwas anderes zu denken. Pense positive! Pense positive! Pense positive! [Übersetzung: Denk positiv!]

Knuhuhutschfleck!

Funktioniert nicht, meine Gedanken schreien mich selbst an. Es hilft mir auch nicht viel weiter, dass sie unglücklicherweise neben mir sitzt, wegen dem ach-so-pädagogischen-Sitz-Auslose-Verfahren.

»Manuelle, est-ce que vous avez un petit ami?«, fragt Frau Wolke mich aus heiterem Himmel. [Übersetzung: Manuela, hast du einen festen Freund?]

Alle drehen sich zu mir um, starren mich an. Nadine feixt schadenfroh. Sie weiß, dass ich keinen Freund habe. Dass ich noch nie einen hatte. Ich bin noch nicht einmal geküsst worden und verliebt war erst recht noch keiner in mich. Allerdings kann sich ja was geändert haben, nicht wahr?

»Oui, j’ai un petit ami«, antworte ich flüssig.

[Übersetzung: Ja, ich habe einen festen Freund]

Die Klasse hält den Atem an. Nadine steht die Überraschung ins Gesicht geschrieben.

»Ach echt? Wie heißt er denn?«, fragt sie nach einer kurzen Atempause.

So weit hatte ich noch nicht gedacht. »Ähm … ja … er heißt … wie soll ich sagen … «, bringe ich stammelnd hervor. Was mache ich jetzt? Gott hilf mir!

»Du lügst doch nicht, oder?«, brüllt sie die Frage fast durch das Klassenzimmer, so dass es sogar die, die geschlafen haben, jetzt neugierig aufhorchen.

»Ne-ne-ne-nein! Natürlich nicht!«, stottere ich. Tja, das ist meine Macke. Wenn ich nervös werde, dann fange ich an zu stottern und sinnloses Zeug zu labern. Game Over.

»Ich denke, wir alle wollen ihn mal kennen lernen, so ist es doch, was?« Gemurmel, die Mehrheit brummt: »Ja!« In der Reihe vor uns kann ich ein paar Fetzen verstehen: » … nicht geglaubt … die, einen Freund …mit der … nee … er  … Vollschaden … die … so hässlich … «

Die Leere ist abgehauen, und der tiefe Schmerz in meinem Inneren dringt langsam an die Oberfläche. »Hört auf!«, schreie ich mit tränenerstickter Stimme. »Hört auf!« Ohne es bemerkt zu haben, bin ich aufgestanden. Ich weiß nicht was ich tue, da bin ich schon an der Klassenzimmertüre angelangt und renne, renne so weit es geht. Raus aus der Schule, weg von meinen Mitschülern, weg von Nadine.
 

Die Puste geht mir erst auf dem Feldweg aus, der zum nächsten Stadtteil führt. Es hat aufgehört zu regnen, Sonnenstrahlen brechen vereinzelt durch die Wolkendecke. Es stört mich nicht, dass das Gras nass und feucht und matschig ist, ich lege mich einfach hin. Kann nicht mehr. Da wird mir bewusst, was für eine Scheiße ich da angerichtet habe. Tränen bahnen sich den Weg über meine Wangen, und als ich sie wegwischen will, klebt Blut an meinen Fingern. Ich zucke vor Schmerz zusammen. Scheiße. Meine Handwunde ist wieder aufgerissen. Taschentücher habe ich natürlich keine dabei. Ich muss nicht büßen, ich muss bluten. Meine Schultasche liegt im Klassenzimmer. Samt Taschentüchern, Tampons und dem, was ein Mädchen eben sonst noch so braucht, wenn überall Blut rausspritzt.

Ich sollte zurückgehen. Sehe auf meine Armbanduhr. Vierte Stunde – gleich ist kleine Pause. Dann sind alle im Hof oder in der Aula. Und danach haben wir Sport. Schwänzen würde ich gern, aber kommt nicht in Frage, sonst bringt mich spätestens meine eigene Mutter um, sobald sie den entsprechenden Schulverweis im Briefkasten entdeckt. Ich werde die Scham ertragen müssen oder einfach behaupten, dass ich wirklich einen Freund habe, wer kann schon das Gegenteil beweisen?

Also gehe ich zurück. Kurz vor dem Klassenzimmer passiert es. Ich sehe Tobi. Er hört meine Schritte, dreht sich um. Was macht er noch hier? Er hat doch jetzt auch gleich Sport. »Hey Manu«, ruft er mir zu.

»Hey«, erwidere ich und bete zu Gott, dass er in der Pause nichts von meinem imaginären Freund gehört hat.

»Ich habe gehört, du hast einen Freund« Es klingt eher wie eine Feststellung als eine Frage.

»Ich habe gehört, du hast eine Freundin«, entgegne ich so locker wie möglich, etwas Besseres ist mir auf die Schnelle nicht eingefallen. Innerlich zittere ich als würde ich einem Bär gegenüber stehen.

»Ok, ich gebe mich geschlagen.«

Fail. System fährt runter. Das ist mehr als nur ein Schock. Der Schmerz ergreift Besitz von mir. Er lässt mich nicht mehr los, verschlingt mich von innen heraus. Unendlicher Schmerz. Ich sage: »Ach so.« Und haue einfach ab. Gehe betäubt von Schmerz ins Klassenzimmer, hole meine Tasche.

Tobi hat eine Freundin.

Ich gehe auf das Mädchenklo.

Tobi hat eine Freundin.

Wasche meine Hände.

Tobi hat eine Freundin.

Weine leise. Kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Wische Blut und Tränen weg.

Tobi hat eine Freundin.

Pilgere zur Turnhalle und bin die Letzte in der Umkleide.
 

»Jetzt aber husch!«, huscht mich unsere Sportlehrerin Frau Göttinger. Sie trägt heute ein Stirnband, das wohl unterstreichen soll, wie sportlich sie ist – ist sie nämlich nicht.

Meistens machen wir zum Aufwärmen bei ihr so eine Art Schwangerschaftsgymnastik, zumindest sehen die Übungen so aus, und danach lässt sie uns entweder eine Ballsportart ausüben oder ein paar Runden im Kreis laufen. Als ich jedoch heute die Halle betrete, trifft mich der Schlag. Ach du lieber Himmel, das hatte ich ganz vergessen: Heute haben wir zur Abwechslung mit den Jungs gemeinsam Sportunterricht (wollten unsere Lehrer schon länger mal machen).

Wir haben gerade das gleiche Thema, Volleyball, deshalb ist die Gelegenheit günstig. Also stehen da jetzt die Jungs rum und wollen mit uns Volleyball spielen. Super Idee, mit meiner kaputten Hand. Davon abgesehen tut es mir auch so echt Leid, sorry, ich hasse Sport. Sport ist Mord. Mord ist tot. Tot ist schlecht. Fazit: Sport = Schlecht. Das bedeutet, ich bin schlecht darin.

Aber da bin ich die Einzige, Nadine zum Beispiel ist total sportlich. Macht alle möglichen Sportarten, ihr Favorit ist Reiten, das war doch einmal eine Adelssportart, oder? Jedenfalls bin ich die Niete und werde mich mal wieder blamieren.

Schluck, da ist Tobi. Tobi, der eine Freundin hat. Vermutlich sogar eine echte, im Gegensatz zu mir. Im schlimmsten Fall ist es sogar Nadine. Für den Sportunterricht hat sie ihr sündhaft teures Seidenhalstuch sogar abgelegt … gut, die Göttinger hat sie bestimmt dazu gezwungen. Der zwei-Euro-Stück-große Bluterguss ist für mich aus zwanzig Metern Entfernung immer noch gut sichtbar, er springt mich förmlich an. Ich sehe nur diesen dämlichen Knutschfleck, der im schlimmsten Fall von Tobi ist. Von Tobi, der in der Pause einen Arm um sie gelegt hat, um dieses Biest.

Frau Göttinger labert irgendwas und zeigt erst auf mich, dann auf Tobi. Wir sind in einer Mannschaft. Auch das noch. Ich habe gar keine Zeit dazu, mich aufzuregen, oder wieder einmal festzustellen, dass Tobi eine Freundin hat, da fängt das Spiel bereits an.

Eine Weile geht es hin und her, mich nimmt der Ball vorerst nicht ins Visier. Wir machen einen Punkt (nicht, dass ich etwas dazu beigetragen hätte). Bei der gegnerischen Mannschaft wird Nadine eingewechselt. Aufschlag. In hohem Bogen fliegt der Ball auf mich zu, ich hebe die Arme, berühre ihn. Zack! Gegen das Netz. Punkt für die anderen.

»Dankeschön Manu! Gut, dass du nicht in meiner Mannschaft bist!«, freut sich Nadine. Die anderen im Team murmeln einstimmig. Eine aus meiner Parallelklasse, Lilly, zischt: »So dumm ist auch nur Manu, echt!«

Ich senke den Kopf, um meine Scham zu verbergen. Auch Tobi ärgert sich, das habe ich gesehen, aber er sagt nichts.

Wir spielen weiter und er holt fünf Punkte für uns. Aber dann macht er einen Fehler und Nadines Hände schlagen nach ... Schneller als ich »Ball« rufen kann, hat sie mir das Ding mitten ins Gesicht geschleudert. Mein Gesicht brennt, die verdammte gelb-blau-weiße Kunststoffkugel fällt zu Boden. Fassungslos betaste ich meine Wange, mein Auge, die Stirn, eben da, wo sie mich getroffen hat.

»Sorry. War keine Absicht«, sagt sie einfach so.

Frau Göttinger fragt mich, ob alles okay ist, weil ich einfach nur so da stehe.

Ich nicke. »Ich komme schon klar.«

Es geht weiter, Nadine zielt wieder auf mich, wirft den Mikasa-Ball aber nicht so heftig und schnell wie zuvor, trotzdem bekomme ich ihn nicht in die Finger. Und wenn doch, pitche ich ihn – abermals – gegen das Netz. Ich bin wütend auf mich selbst. Wieso bekomme ich das nicht auf die Reihe? Wieso tut meine Hand nur so weh?

»Mit Manu in der Mannschaft wird das nie was.«

»Tobi hat die Punkte umsonst geholt.«

»Hey, aber was erwartet ihr, sie war doch immer schon eine komplette Niete.«

Zustimmende Kommentare.

»Das kann echt nicht so weitergehen.« Das hat Tobi gesagt. Mein Herz wird zu Stein.

Dann hat Nadine so viele Punkte geholt, dass ich ausgewechselt werde. Ich weiß nicht, ob ich das gut oder schlecht finden soll. Wenige Zeit später wird auch Tobi ausgewechselt (stand ja neben mir). Er lächelt, doch ich sehe, dass er es schlimm findet, dass wir so schlecht sind. Wegen mir. Er sagt nichts weiter, schweigt.

Das kann ich auch.

Am Ende der Sportstunde begeben wir uns zu den Umkleiden. Die Mädchen tuscheln. Lilly, Chantal und Nadine tuscheln nicht. »Mensch Manu, was war denn das für eine Aktion! Mit so was kann man niemanden beeindrucken!«

Vielleicht will ich das auch gar nicht.

»Also wirklich, so schlecht kann man doch gar nicht spielen. Nicht einmal getroffen, so was gibt’s doch nicht!«

Doch, anscheinend schon.

»Das ist echt asozial von dir, dass du unser Team so im Stich lässt. Wenn du kein Bock drauf hast, dann musst du was sagen, dann sorgen wir dafür, dass du nicht mitmachen musst.«

»Ich wäre echt lieber in Nadines Mannschaft gewesen! Hinterher wirkt sich das auch noch auf die Noten aus!«

Alle hören es, so laut, wie sie das durch die Kabine schreien. Mein Gesicht tut immer noch weh.
 

Völlig fertig tapse ich aus dem Turnhallengebäude. Ich glaube, ich will zum Arzt gehen. Meine Backe schwillt langsam an. Ich lasse mein Froschmaul-Bike vorerst am Fahrradparkplatz der Schule stehen, nehme den nächsten Bus, der kommt. Steige ein. Denke mir, was für eine Welt. Was für ein Tag.

Tobi hat eine Freundin.

Meine Hand schmerzt, ich habe sie zur Faust geballt. Ich bin da, steige aus. Will nicht mehr zum Arzt. Will zur anderen Straßenseite.

Höre ein Hupen. Ein Quietschen. Es kommt immer näher. Und näher. Ohrenbetäubender Lärm, überall um mich herum. Und plötzlich ist es still.

Der Aushilfs-Schutzengel

Schon den ganzen Tag hatte Camael den kleinen Menschen beobachtet, inzwischen hatte er Gefallen an dem bemitleidenswerten Wesen gefunden. »Oh je, dieser Mensch braucht wahrhaftig einen Schutzengel!«

Da tippte ihm ein anderer Engel auf die Schulter. Es war Azrael aus der Todesabteilung. Wie immer machte er ein mürrisches Gesicht – oder die Schwärze seines piekfeinen Sakkos erweckte diesen Eindruck, Camael wusste es nicht so genau. »Ich störe Sie ja nur ungern, aber wie Sie wissen, hätte ich hier gerne eine Unterschrift«, sagte Azrael, rückte sich die schwarze Rechteckbrille zurecht und hielt ihm ein Klemmbrett vor die Nase.

»Muss das denn wirklich sein?«

»Sie hat keinen Schutzengel. Sie darf nicht weiterleben. Mir ist egal, wie jung sie ist, wenn die Zahlen nicht stimmen … «, antwortete er und drückte ihm zwangsweise das Klemmbrett in die Hand.

»Doch wenn sie einen hätte, bliebe sie verschont«, erwiderte Camael leise.

»Naja. Nach höchstens 120 Jahren muss ich sie eintragen, es sei denn, dies widerspräche der Akasha-Chronik in irgendeiner Hinsicht – dann würde ich sogar vorher noch aufkreuzen, das wisst Ihr.«

»Das genügt mir, mein lieber Azrael. Ich, Camael, der Meister des Karmas, werde dafür sorgen, dass sie sofort einen Schutzengel erhält und ihr restliches Leben geruhsam verläuft, bis zu ihrem Tode.«

So machte Camael sich auf die Suche nach einem geeigneten Schutzengel, denn er selbst war nicht befugt, die Erde zu betreten. Am liebsten hätte er einen der Angeloi damit beauftragt, doch im ersten Himmel traf er, außer am Empfang, niemanden an.

»Wo sind denn alle?«

»Wir haben gerade Erntezeit, außerdem gibt es zu wenig Naturkatastrophen und somit Baby-Boom«, erklärte die geflügelte Empfangsdame mit sanfter Stimme. Camael schüttelte den Kopf und stapfte in den zweiten Himmel. Doch dort sah es ähnlich mager aus.

»Wo … ?«

»Im Moment haben die Wachen hier aller Hand zu tun, Meisterin Anael hat neuerdings verstärkte Kontrollen verordnet«, plapperte die zweite Empfangsdame drauf los.

Er seufzte. Vor gut fünfzig Jahren hätten in diesen beiden Himmeln noch eine Menge arbeitsloser Angeloi herumgelungert. Was muss die Menschheit auch so fortschrittlich sein. Obwohl es ihm widerstrebte, höhere Engel als Angeloi um Hilfe zu bitten, betrat Camael den dritten Himmel. In Shechaqim ruhten die verstorbenen Seelen, sowohl die guten, als auch die schlechten.

»Guten Tag, ist jemand da … ?«

Doch hier war sogar nur die Empfangsassistenz anwesend, die die Seelenfragment-Beauftragten mit Snacks für zwischendurch versorgte. »Bedauere, wir sind hier alle total im Stress. Jede Sekunde müssen wir eine neue Reihe aufziehen, und Dalquiel ist sogar ausgefallen, deshalb bin ich am Tresen alleine für eine Weile.«

»Danke, ich schau mal im vierten vorbei.«

»Viel Glück.«

Der vierte Himmel war – neben dem siebten – der größte von allen. Hier lag das himmlische Jerusalem, die Stadt der Engel. Umso hoffnungsvoller war Camael, als er gleich am Eingang der ersten Mauer auf Hakem traf. »Gott sei Dank! Hast du eine Minute, Hakem?«

»Aber nur eine. Wir haben gleich ein Meeting über den Missbrauch der Kirche«, meinte dieser und wedelte hektisch mit den Händen.

»Oh. Ist das heute?«

»Offensichtlich … «

»Sag, gibt es hier irgendjemanden, der Zeit für eine Aufgabe hätte?« Noch hatte Camael die Hoffnung nicht aufgegeben.

»Wie lange?«

»Lebenslang.«

»Keinen.«

Reichlich frustriert marschierte der Karma-Engel in den fünften Himmel. Allmählich war es ihm egal, was die hohen Engel davon halten würden, Schutzengel spielen zu müssen.

Endlich. Da saß einer. Mitten im Wolkenmeer. Eifrig schrieb der Engel Noten auf ein Blatt nieder. Camael schloss daraus, dass es sich um den sagenumwobenen Janiel handeln musste, den Komponisten des Engelschors für die Dienstags-Konzerte. Bisher hatte Camael über ihn gehört, dass Janiel mit niemandem ein Wort sprach, seit er sein Amt im Himmel angetreten hatte. Und das sollte auch nicht allzu lange her gewesen sein.

»Mein treuer Janiel.«

» … «

»Ein neuer Auftrag für dich führt mich zu dir, Janiel«, betonte Camael. »Folge mir!«

Janiel sah kurz von seinem Notenblatt auf, starrte Camael sekundenlang an und widmete sich dann wieder dem Komponieren.

»Wahrlich, er ist so anstrengend, wie sie sagen«, dachte sich Camael. Dann probierte er, es dem Strahlenden auf die harte Tour beizubringen: »Nun denn, du möchtest dich doch nicht mit dem Meister des Karmas anlegen, junger Engel.«

» … « Gekonnt ignorierte Janiel den Meister des Karmas.

»Ach herrje.« Camael seufzte, bückte sich und entriss Janiel schließlich seine neueste Komposition. »Du hast jetzt eine neue Arbeit. Für ein Menschenleben lang schicke ich dich auf die Erde, ob du willst oder nicht. Meine Aufgabe als Meister des Karmas ist es, das Wesen der Akasha-Chronik zu wahren, und du als Neuling machst mir garantiert keinen Strich durch die Rechnung, weil du als Promi giltst. Du kommst jetzt sofort mit.«

Völlig entsetzt glotzte Janiel die zerrissenen Notenblätter an, erhob sich daraufhin mit gesenktem Haupt. Er hatte zu folgen. Endlich sah er das auch ein. So begleitete Janiel Camael zum Schauplatz und bekam das Menschenmädchen gezeigt, das der Meister des Karmas auf der Erde entdeckt hatte.

»Siehst du diesen Menschen? Er lebt schon seit einer langen Weile ohne einen Schutzengel«, sagte er.

Abfällig linste Janiel herunter. Seine Augen wanderten umher, bis er schließlich die Gestalt erkannte, auf die Camael deutete. Janiel riss schockiert die Augen auf. »Das … kann nicht sein … «

Camael erstaunte. Janiel hatte ja … gesprochen? Die ersten Worte, die Janiels Mund verließen … hatte er, Meister Camael, gehört! Damit würde er demnächst mächtig angeben können. »Nun denn, um diesen Menschen beschützen zu können, junger Strahlender, gewähre ich dir eine Sondergenehmigung auf ein Pentagramm samt Schutzengelpass. Pass gut darauf auf, denn falls du eines dieser Dinge verlierst, wird unser Okkultismus-Engel kommen, um dich zurechtzuweisen. Der sechste Himmel ist zuständig für die Wahrung des Wesens der Akasha-Chronik, wir sind sehr bemüht, uns möglichst daran zu halten, ist das klar?«

»Ich … kann das nicht … Meister Camael.«

»Du bekommst das Grundregelbuch für angehende Schutzengel. Es ist genauso ein Beruf wie B-Promi im Engelschor. Du wirst dich doch dazu herablassen können, junger Strahlender.«

» … «

Camael seufzte. »Du machst es mir wirklich nicht einfach.« Er drückte dem schockierten ehemaligen Komponisten das Grundregelbuch in die Hand, das er scheinbar mit einem »Puff!« aus der Luft gezaubert hatte. »Pass auf, ich erkläre es dir sogar: Kein Mensch kann von Natur aus auch nur einen Monat ohne Schutzengel überleben. Menschen sind von Natur aus stur, dumm und töricht. Das neue Zeitalter der Technik bestärkt dies, es macht sie noch unvorsichtiger und leichtsinniger als je zuvor. Die natürliche Art des Menschen bewegt sie dazu, immerzu ihren Platz in der Rolle des Stärkeren zu sichern, sei es in der Karriere oder in einer Jungenbande. Das ist es, was die Menschen gefährlich und gewalttätig macht. Wenn Menschen sich nicht gegenseitig vernichten, dann tun es Dummheit und Naturkatastrophen. Schutzengel sind da, um die Menschen vor jenen Gefahren zu beschützen. Dieser Mensch hier ist von übernatürlichem Glück gesegnet worden, denn er lebt noch. Doch mit jeder Minute die verstreicht, rückt sein Ende näher. Der liebe Azrael wartet nebenan, klopft mit seinem Bleistiftrücken auf seine Todesliste. Willst du dafür verantwortlich sein, dass dieser Mensch stirbt? Seine Seele ist so rein und unschuldig wie die eines frisch geborenen Kindes. Ohne einen Schutzengel ist dieser Mensch hilflos seiner eigenen Dummheit ausgeliefert.«

Janiel sah immer noch herab, auf die Erde. Ihm war mulmig zumute. Schwindlig. Er hätte nie gedacht, dass er jemals zurückkehren könnte. Unter diesen Umständen.

»Ich mache es.«

»Danke, mein lieber Janiel. Wir gehen am besten in mein Büro, für den Papierkram … «

»Warten Sie, Meister!« Völlig von der Rolle beobachteten die beiden, wie das seiner eigenen Dummheit ausgelieferte Mädchen bei Rot über die Ampel ging.
 

Ich fliege. Es ist warm, es flimmert rot-orange vor meinen Augenliedern. Wind umfängt mich, ein leises Klirren erklingt. Ein süßlich-heißer Geruch weht mir entgegen. Wenn es sich so anfühlt, tot zu sein, dann darf das bitte so bleiben.

Bleibt es natürlich nicht. Das wohlige Sommerbrisen-Kokon-Gefühl macht sich vom Acker, dem weicht knallharter Schmerz. Mal wieder. Warum nur? War das heute nicht schon genug Leid? Ich fühle mich, als wäre ich voll Karacho gegen eine Wand gelaufen. Zögernd öffne ich meine Augen. Es riecht nach Benzin.

Ich liege seitlich auf hartem Asphalt. Meine linke Schulter ist scheinbar dagegen geknallt. Ein Sprinter blockiert die Straße, der Depp von Fahrer hat sich einmal quer über die Straße gestellt. Ja, so mach ich das auch mal, wenn ich Lieferantin bin. Theoretisch gesehen könnte ich das sogar werden, mit meinen miserablen Noten. Als ich mich bewegen will, merke ich, dass jemand auf mir drauf liegt. Und auf einmal weiß ich wieder, was passiert ist. Ich wollte doch über die Straße … und habe nicht wirklich auf die Fußgängerampel geachtet … Oh Mann, ich Genie. Das hätte ein böses Ende nehmen können. Schwein gehabt! Jetzt muss ich das mit dem bekloppten Lieferwagenfahrer zurücknehmen. Ich will mich unbedingt bei dem Fremden bedanken, der mich zur Seite gestoßen hat. Immer noch liegt er auf mir, zumindest zur Hälfte, und präsentiert mir seinen stolzen Hinterkopf. Es ist ein Junge, höchstens ein, zwei Jahre älter als ich. Soweit man eine Person von hinten beurteilen kann.

»Alles okay?«, frage ich, weil er sich nicht rührt.

Da wendet er mir endlich sein Gesicht zu. »Alles okay? Haha. Das sollte ich wohl lieber dich fragen.« Er lächelt. Lächelt, glücklich darüber, dass wir beide noch leben. Die Sonne hat wieder angefangen zu scheinen, ihre Strahlen berühren unsere Gesichter und tauchen sie in ein goldenes Licht. Ich erröte (noch so eine Macke) und bedanke mich für die Rettung. Er steht auf, reicht mir die Hand. »Ist doch keine Ursache. Das wäre doch sehr traurig gewesen, wenn dir etwas passiert wäre.«

Nein, denke ich. Nein. Es wäre ein Grund zum Feiern gewesen. Eine ganze Schul-Volleyballmannschaft hätte sich daran ergötzt.

Er sieht mich an und mir fällt auf, was für ein hübscher Kerl er ist. Die goldblonden Haare fallen ihm ein wenig ins Gesicht, dazu einladend, einmal kräftig durchzuwuscheln. Da fährt der Lieferwagen einfach davon.

»So ein Arschloch. Begeht einfach Fahrerflucht!«

Dem kann ich nur zustimmen. Inzwischen sind eine Menge Leute stehen geblieben und starren uns an.

»Hey Leute, hier gibt es nichts zu sehen, lauft weiter!«, ruft er in die Runde. Tatsächlich hören die Passanten auf zu glotzen.

»Nochmals vi-vielen Dank«, stammele ich. »Ich hab’s! Als Dankeschön lade ich dich auf eine Tasse Tee oder Kaffee ein!«

»Ein Kaffee gegen ein Leben?«, sagt er und lacht auf. Meine Nervosität löst sich in Luft auf. Zusammen mit dem Schock. Sein Lachen ist kein Du-bist-so-dumm-und-naiv-Lachen, es ist ein Du-hast-so-süße-Gedanken-Lachen.

»Ja oder Nein? Oder hast du noch etwas anderes vor als Menschenleben zu retten?«, frage ich.

»Ich begleite dich gerne in ein Café. Nicht, dass dir unterwegs was geschieht.«

Jetzt muss ich zurückstrahlen. »Das ist süß von dir.«

»Ich könnte jetzt sagen, ‚Genau wie du‘ aber das käme etwas zu schmalzig rüber.«

»Ja, da hast du Recht.« Wieder muss ich grinsen. Manchmal muss man etwas verlieren, um etwas anderes zu gewinnen. In meinem Fall: meinen Verstand. »Da fällt mir ein: Wie heißt du eigentlich, mein Schutzengel?«

Eine Sekunde lang kommt es mir so vor, als würde er mich verwundert ansehen, dann sagt er: »Janiel.«

»Was ist denn das für ein Name?«

»Ein hebräischer.«

»Also bist du Jude?«

»Nein, Christ.«

»Hey, das bin ich auch!«

»Ach wirklich?«

Wir schlendern durch die Stadt, auf der Suche nach einem Schuppen, der gemütlich aussieht. Es ist das erste Mal, dass ich mit einem Jungen in ein Café gehe. Und dann auch noch mit einem Helden. Möglicherweise hat sich mein Pech nur darauf vorbereitet, sich in pures Glück zu verwandeln. Möglicherweise ist jetzt meine Zeit gekommen. Möglicherweise habe ich mir nicht nur die Schulter, sondern auch den Kopf gestoßen. Ich grinse glücklich vor mich hin. Dauerhaft.

»Ladies first.« Janiel hält mir die Tür auf. Ein Gentleman ist er auch noch. Ich würde mich glatt in ihn verlieben, wenn …

… Tobi hat eine Freundin.

Das Grinsen verschwindet.

»Geht’s dir gut?«, erkundigt sich Janiel.

»Ja. Ja. Alles in Ordnung.« Wir suchen uns einen Platz, lassen uns in einer Sesselecke nieder. »Ich glaube, ich habe nur ein paar blaue Flecken, nichts weiter.«

Er atmet erleichtert aus, legt den Kopf nach hinten. »Da bin ich froh!«

Die Bedienung kommt, wir bestellen uns beide eine heiße Tasse Kaba (für Kaffee fühle ich mich noch zu jung und er sich scheinbar auch).

»Gehst du eigentlich immer über die Straße, ohne nach rechts und links zu gucken?«

Ich könnte mich jetzt gemobbt fühlen, aber sein Tonfall ist zu sanft dafür. Allgemein klingt seine Stimme so … melodisch.

»Oft aber selten.«

»Spektakuläre Antwort.«

»Rettest du eigentlich jeden Tag irgendwelche Mädchen vor dem Dummheits-Tod?«

Er zuckt. »Hoffentlich nicht.« Habe ich da irgendeinen Nerv getroffen? Leider bin ich nicht feinfühlig genug, um weiter darüber nachzudenken.

»Ich möchte gern etwas mehr über dich erfahren.«

Bitte, was? Das wollte noch nie jemand. Ich bin Manuela, und wer ich bin, das interessiert sowieso keinen. »Und was genau?«

»Wie wäre es mit deinem Namen?«

»Manu. Manuela. Aber alle nennen mich Manu.«

»Und dein Alter?«

»Ich bin fünfzehn, und du?«

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich jetzt denken, dass er ernsthaft überlegt. Janiel kratzt sich an der Schläfe, antwortet langsam: »Ich bin siebzehn. Was machen deine Eltern?«

»Meine Mutter ist Altenpflegerin.«

»Und … «

»Wird das hier etwa ein Verhör?!«, sage ich einen Tick zu laut, so, dass die Gäste neben uns kurz aufhorchen.

»Nein. Ich war nur neugierig, wer mir gegenüber sitzt.«

»Sorry. Frag mich einfach … etwas anderes … «

»Dann erzähl du doch lieber etwas?«

Ich schlucke. Okay. »Ich bin … der wohl größte Pechvogel auf Erden. Schon seit Jahren passiert mir jedes denkbar mögliche Unglück. Es ist meistens nichts Großes, es sind nur viele Kleinigkeiten. Öffentliche Verkehrsmittel erwische ich grundsätzlich nicht, Teller zerspringen fast von allein … Fettnäpfchen lasse ich keins aus, Vogelkacke landet auf mir, genau wie Eiszapfen, Schneebälle, Wasserbomben, Dreck, Holzspäne und Erbrochenes, zumindest wenn ich es wage, einen Freizeitpark zu besuchen.«

»Das hört sich nach einem spannenden Leben an.«

»Ha. Hahaha.«

»Also war heute die Krönung.«

»Heute war die Krönung.«

»Hast du schon mal darüber nachgedacht, woran dein Pechvogeldasein liegen könnte?«

»Du meinst Genetik oder so was?«

Er zwirbelt eine Haarsträhne um seinen Zeigefinger und lacht schief. »Du bist genau so, wie du aussiehst.« Ich würde mich ja freuen, weiß aber nicht, was ich von diesem Kompliment halten soll.

»Ähm … wie sehe ich denn aus?«

»Geheim.« Sein Zwinkern verrät mir, dass er es mir nicht verraten wird.

»Dann bist du jetzt dran. Erzähl mir, wie man so ein toller Held wird«, sage ich.

»Ha. Ha. Ha.«

»Schieß los. Du kannst mir natürlich auch erzählen, was sich deine Eltern bei deinem Namen gedacht haben.«

»Mein Name ist völlig normal. Sie waren nun mal … sehr christlich. Im Prinzip hat mir Gott meinen Namen gegeben.«

»Bist du auch gläubig?«

In dem Moment bringt uns die Kellnerin die ersehnten Heißgetränke. Wir bedanken uns beide brav.

»Also ich … denke ja.«

»Du bist dir also nicht ganz sicher.«

»Gott hat einen Plan für uns alle, das ist sicher.«

Ich nehme einen Schluck aus meiner Tasse, während ich beobachten kann, wie Janiel gedanklich abdriftet und mehr eine stumme Konversation mit der Fensterscheibe abhält, als mit mir. Komischer Kerl. Streng religiös erzogen. Das muss hart sein, den ganzen Tag Bibel lesen und so. Und die Gottesdienste jeden Sonntag erst. Ich weiß wovon ich rede, ich habe mir letztes Jahr die Konfirmation angetan, um meine Mutter zu beruhigen. »Ich glaube nicht an Gott«, gebe ich zu.

Janiel wacht aus seinen Gedanken auf. Ich fahre fort: »Wenn es einen Gott gibt, sicher nicht für mich. Ich kann einfach nicht an einen guten Gott glauben, der so viel Unglück auf der Erde zulässt.«

»Was Glück und was Unglück ist, ist doch eher Ansichtssache, findest du nicht?«

»Wenn jemand stirbt … dann ist das niemals Glück … «
 

Sieben Stunden später. Ich liege im Bett und denke nach. Tobi hat eine Freundin. Nadine hat einen Knutschfleck. Und ich? Ich habe … ach du Scheiße. Ich habe einen imaginären Freund, den ich demnächst meiner Klasse vorstellen soll. Das habe ich völlig außer Acht gelassen. Oder besser gesagt: Vollkommen vergessen. Außerdem hat meine liebe Mama mich vorhin zur Schnecke gemacht, weil die Schule angerufen hat, mit der Aussage: »Ihre Tochter hat die Schule geschwänzt« was ja mal überhaupt nicht zutrifft, weil ich nur eine einzige Stunde abwesend war (in der ich mich im Prinzip nur für den Sportunterricht aufgewärmt habe).

Jetzt habe ich Hausarrest. Aber ich würde sowieso nirgendwo mehr hingehen. So kann ich mich doch nicht in der Öffentlichkeit blicken lassen, die Lüge haftet stets an mir. Ich dumme, dumme Kuh! Hätte ich doch einfach gesagt: »Non, je n’ai pas un petit ami.« [Übersetzung: Nein, ich habe keinen festen Freund] Aber nein, ich bescheuertes Miststück muss gleich sündigen gehen. Ich bin so erbärmlich. Und fett (ich muss unbedingt mit der Diät anfangen). Und hässlich (kurzer Blick in den Spiegel zur Bestätigung: Jep). Und dumm (siehe mein Fast-Tod vorhin). Kein Wunder, dass mir immer das Pech ins Gesicht springt.

Ob man da was dagegen machen kann? Ich habe wahrscheinlich so was wie eine magische Anziehungskraft darauf. Janiel kommt mir wieder in den Sinn. Er würde vermutlich beten. Haha. Oh Mann, ich sollte mich nicht so über seinen Glauben lustig machen. Nach unserem Abschied tauschten wir keine Nummern. Warum auch. Er hat mich gerettet, ich lebe noch. Die Pechsträhne kann wieder weitergehen. Als ich das Licht ausmachen will, fällt mein Blick zufällig auf den Kalender. Der zehnte Oktober. Sein Todestag.
 

Am nächsten Morgen tut mir wieder alles weh. Auf meiner linken Schulter zeichnet sich ein fetter Bluterguss ab und meine Hände schmerzen immer noch, obwohl ich die Steine zu Hause noch rausspülen konnte (sie steckten nicht wirklich tief). Meine Wange ist ganz geschwollen, jetzt sehe ich aus wie ein Monster. Wieder fallen mir die Sätze aus der ersten Reihe ein. Ja, ich bin nicht schön. Was dagegen?

Sollen sie doch nur reden. Ich habe nämlich einen Entschluss gefasst. Ich werde meiner Klasse meinen nicht vorhandenen Freund vorstellen. Jawohl, das werde ich! Ich habe zwar noch keinen blassen Schimmer, wie ich das anstellen soll, aber mir wird schon irgendwas einfallen. Hoffe ich zumindest. Jedenfalls können die sich alle auf was gefasst machen.

Mit diesen Gedanken schlüpfe ich in meinen Krümelmonster-Hoodie und beginne so meinen neuen Tag. Diesmal habe ich dazu gelernt und den Wecker eine ganze Stunde früher gestellt, meine Sachen am Abend raus gelegt und meinen Rucksack gepackt. Deswegen schaffe ich es auch pünktlich zum Bus. Heute scheint mein Glückstag zu sein, denn der Busfahrer hält direkt vor meiner Nase, so dass ich die Erste im Pubertiertransporter bin und den letzten freien Platz erwische.

Im Klassenzimmer werde ich zunächst ignoriert, na ja, zumindest, bis Nadine kommt. »Hast uns allen wohl doch was vorgelogen, wie?«, entgegnet sie mir spitz.

Ganz cool bleiben, Manu. Du schaffst das. »Nein, ganz und gar nicht. Wenn du magst, kannst du ihn ja gern kennen lernen. Aber wundere dich nicht, wenn es das dann auch war.«

Diesen Gesichtsausdruck, den Nadine gerade macht, werde ich niemals vergessen, das schwöre ich.

»Sofern es ihn überhaupt ge-gibt!«, haspelt sie. Hätte nicht gedacht, dass ihr das mal passieren könnte, das mit dem Gestotter. Ist ja eher mein Ding.

»Ach komm, lass sie doch jetzt endlich mal in Ruhe«, unterbricht uns Karin, die sich bis eben noch mit Hanna und Sophie unterhalten hat.

»Genau, wenn Manu mit ihrem Freund glücklich ist, dann geht das doch niemanden etwas an«, pflichtet Sophie ihr bei.

Danke ihr beiden, ich könnte euch küssen! Nadine gibt sich ihrer Mimik nach zu urteilen geschlagen, ist aber dennoch sauer auf mich. Wie immer eben. »Dass ihr auch alles glaubt, was man euch erzählt.«

Da mischt sich auch noch Hanna ein: »Hör mal Nadine, Manu hat nicht gelogen. Ich habe die beiden gestern zusammen in der Stadt gesehen und es hatte nicht gerade den Anschein, als stünden sie sich nicht Nahe. Nur weil du der Meinung bist, dass sie eine Niete ist, heißt das noch lange nicht, dass andere Menschen das genauso sehen. Also hört jetzt beide auf mit den Zickereien! Inzwischen geht das jedem hier auf die Nerven.«

Gute Rede, Applaus! Perfekt, sie hat mich und Janiel wohl gestern im Café gesehen. Momentchen Mal – Hat sie gerade gesagt, wir sollen »beide« mit den Zickereien aufhören?! Ich habe ganz gewiss nicht so ein Affentheater veranstaltet! Aber bevor sie mir noch weiter in den Rücken fällt, halte ich doch lieber die Klappe. Genau wie Nadine, aber im Gegensatz zu mir hat es ihr einfach nur die Sprache verschlagen. Bevor ich in die Pause gehe, warte ich auf Karin, Hanna und Sophie vor dem Klassenzimmer. Die drei trödeln öfter mal.

»Danke! Danke, fürs Einmischen! Ich hätte echt nicht gewusst, wie ich damit fertig werde!«
 

Mmmh na ja, vielleicht ist das ein bisschen zu viel Dank gewesen. Denn die Geschichte mit meinem Freund hat sich wie ein Lauffeuer auf dem Pausenhof verbreitet. Zum Beispiel haben sich auf einmal Menschen, die mich eigentlich ignorieren, zu mir gesellt, um mich auszufragen. Denkste. Was man selber nicht weiß, kann man auch keinem erzählen.

»Wie heißt er denn?«

»Seit wann seid ihr zusammen?«

»Wie lange geht das schon?«

»Wie habt ihr euch kennen gelernt?«

»Sieht er gut aus?«

Das sind so die häufigsten Fragen. Damit meine imaginäre Liebesaffäre mit Hannas Fakten übereinstimmt, habe ich eine kleine Geschichte zusammengestellt, die so ziemlich der Wahrheit entspricht. Bis auf die Tatsache, dass ich immer noch Single bin. »Vor zwei Wochen bin ich ganz ahnungslos in die Stadt gegangen und so verpeilt wie ich bin, bin ich aus Versehen bei Rot über die Ampel, und naja, es hätte mich beinahe erwischt, wenn er mich nicht zurückgezogen hätte. Natürlich habe ich mich dafür revanchiert und ihn auf einen Kaffee eingeladen. Das ist alles.«

Mehr muss man dazu auch nicht sagen, Menschen lieben es doch, sich nicht-wahre-Dinge auszudenken und es dann »romantisch« zu nennen. Ich finde das Schauspiel-Stück echt gelungen. Vielleicht sollte ich es ja an die Schülerzeitung schicken?

Jedenfalls hat sich mein Imaginärer-Freund-Problem in Luft aufgelöst und bei der Fragestellung »Wie heißt er?« musste bislang eben Janiels Name in der Kurzform hinhalten. Also »Jan«. Wird, denke ich, kein Problem sein, da ich ihn sowieso nie wieder sehen werde. Wenn ich genauer darüber nachdenke, dann finde ich das eigentlich ziemlich schade. Er war ja schon nett, außerdem würde ich hier gar nicht mehr auf diesem Stein sitzen und nachdenken können, wenn er nicht gewesen wäre. Und sein Lächeln. Steht plötzlich kopfüber vor mir. »Hallo!«

Ich schrecke zurück, purzele rückwärts über den riesigen Stein, auf dem ich hocke. Hier gibt es einen Haufen davon – die sollen darstellen, dass unsere Schule sich mit moderner Kunst befasst.

»Alles okay?« Gleicher Satz, falsche Stimme.

»Tobi! Wie konntest du nur!«, ziehe ich ihn zur Rechenschaft und schaue ihn ganz, ganz böse an. Was erlaubt sich das Kerlchen eigentlich?!

»Sorry, ich wollte dich nicht so erschrecken, dass du vom Stein fällst«, entschuldigt er sich. »Kannst du mir verzeihen?«

Och nein, jetzt kommt der olle Hundeblick. Dem ich hoffnungslos verfalle. »Mal sehen.« Schweigen. »Na gut okay, ich verzeihe dir! Bist du jetzt zufrieden?!«

Jetzt strahlt er mich wieder an wie ein Honigkuchenpferd. Dieser Bengel treibt mich noch in den Wahnsinn …

»Ach, ich wollte dich noch etwas fragen … «, beginnt er und gesellt sich zu mir auf den Stein. Ich frage mich, wie der sich wohl fühlt, wenn hundert Kilo auf ihm sitzen. Bestimmt ist ihm kotzübel.

»Wie ist das nun mit deinem Freund? Du bist gestern ganz einfach weggerannt.«

Wenn ich der Stein wäre, dann hätte ich mich gerade übergeben. »Ist eigentlich nicht so wichtig«, antworte ich mit einem Hauch von Trauer, den er hoffentlich nicht gehört hat. Hat er.

»Was ist denn los? Habt ihr etwa Streit?«

Da geht mir plötzlich ein Licht auf: Ich kann ja Schluss machen und sagen, mein Freund will nichts mehr mit mir zu tun haben. Dann muss ich ihn auch nicht Nadine zeigen – Sie besteht immer noch darauf, ihn kennen zu lernen, obwohl sie eigentlich kein Recht dazu hat. Ich schaue Tobi an. Mir fällt wieder Nadines Knutschfleck ein. So vergrabe ich mein Gesicht in meinen Armen und nuschle: »So in etwa.«

Plötzlich geschieht das Unglaubliche. Tobi umarmt mich. »Das wird schon wieder. Und wenn nicht, dann hat er dich nicht verdient.« Für eine Sekunde bleibt die Welt stehen, ich fühle mich so geborgen wie noch nie zuvor. Das hat noch nie jemand zu mir gesagt. Gleichzeitig fällt mir ein: Jetzt oder nie. »Tobi … und was ist mit dir?«

Er löst sich von mir, sieht mich verwundert an. »Was soll sein?«

»Na …«, sage ich vorsichtig. »… mit deiner Freundin.«

Seine Reaktion ist anders als erwartet. Er zieht die Augenbrauen zusammen, lächelt. Tobi-typisch. »Welche Freundin?«

Meine Augen weiten sich. Schock-schwere-Not. »Du hast keine Freundin?«

»Habe ich nie behauptet.«

»Ach so … haha. Dummes Missverständnis.«

»Scheint so.«

Es klingelt. »Wir sollten reingehen.«

»Ja.«
 

Der Rest des Tages verläuft relativ normal, und wenn ich normal sage, dann meine ich, dass der Tag super ist! Niemand verliert mehr ein böses Wort über mich und ignoriert werde ich auch nicht. Nur Nadine schweigt, aber das ist was Positives. Immerhin gibt es momentan ein weitaus interessanteres Thema: unseren Dr. Sommer. Okay, er hat keinen Doktortitel, aber es ist nun einmal der perfekte Spitzname für unseren heißen Referendar (oder ist er schon Lehrer? Kann ich mir nicht vorstellen, er sieht doch viel jünger aus als Quackie). Nun denn, man weiß immer, wann wir Mathe haben, da wir dann Besuch von Chantal und Lilly aus der Parallelklasse bekommen, die echt nichts Besseres zu tun haben als zu spannen. Sogar nach dem Unterricht kleben die Mädels noch an ihm, solange, bis er auf dem Parkplatz in seinem schwarzen VW verschwindet. Während ich das beobachten darf, erwische ich im Nachhause-Bus zum wiederholten Male den letzten freien Zweisitzer. Und sobald ich zu Hause ankomme, fängt es an zu schütten wie aus Eimern. Schon wieder ein Heidenglück gehabt. Ist gar nicht typisch für einen Pechvogel wie mich. Ich entscheide mich dazu, nicht weiter darüber nachzudenken und das Glück einfach zu genießen.

Am Nachmittag kuschele ich mich zusammen mit einem guten Horrorbuch (Ich mag Horror, was dagegen?) in mein warmes, weiches Bett und lasse die Oktober-Atmosphäre auf mich wirken.

Der Himmel tönt die Erde in ein sanftes Grau, während die ersten Regentropfen herunterprasseln. Dunkler. Es färbt sich dunkler. Die Zweige wiegen sich hin und her, unfreiwillig schleudert der Wind sie in seiner stürmischen Melodie vor und zurück. Pfeifen. Lauter. Donner. Der Sturm brettert gegen die Hauswände. Es hagelt. Knallt. Muss ich jetzt Angst haben? Hängt noch Wäsche draußen?

Peng! Die Tür knallt zu. Moment, das ist wirklich passiert. Das ist mir einen Tick Horror zu viel. Da geht das Licht aus (Danke, Murphys Law). Ich halte den Atem an, das vierhundertseitige Monstrum namens Buch zwischen den Fingern verklemmt. Das Geräusch einer quietschenden Kreide hallt durch die Wohnung. Fassungslos starre ich mein Buch an. Das wird jetzt bitte nicht real. Der Schmöker handelt von Poltergeistern, die eine Vorstadtfamilie heimsuchen.

Da-da-das ist unmöglich! U-N-M-Ö-G-L-I-C-H!

Vorsichtig schlage ich die Decke beiseite, wehe das ist ein böser Scherz.

»Ahuuu!«

Was war das? Ein Jaulen? Um zu überprüfen, was hier vor sich geht, tapse ich trotz Finsternis aus dem Zimmer. Böser Fehler. Binnen Sekunden stoße ich gegen mindestens drei Gegenstände mit meinem kleinen Zeh. Es poltert, scheppert. Aua. Falls ich einen Einbrecher treffe, wird der mich zuerst einmal auslachen. An die Geister aus meinem Buch glaube ich nicht wirklich. Darauf beharre ich zumindest.

Im Flur ist niemand. Da ertönt das Jaulen schon wieder. Es kommt von der Haustür. Ein Kratzen. Bedacht darauf, es alleine mit einem Einbrecher oder Versicherungsvertreter aufnehmen zu müssen, schnappe ich mir einen Regenschirm. Ich schleiche lautlos zum Hauseingang. Kann ein Röcheln wahrnehmen. Na warte!

Mit einem Ruck reiße ich die Türe auf, habe damit das Überraschungsmoment auf meiner Seite. Es donnert und blitzt, ich schrecke auf. Schreie.

Da steht eine Katze. Das Viech starrt mich mit großen, runden Augen an und zeigt nicht einmal ein Anzeichen von Angst. Grrrr, dabei habe ich so lange daran gearbeitet, bedrohlich auszusehen. Wenn hier tatsächlich ein Einbrecher aufgelauert hätte … ich will gar nicht daran denken.

Das Fell der Katze glänzt pechschwarz, die Kulleraugen leuchten bernsteinfarben. Schwarze Katze von links, Unglück bringt’s … Warum muss so was immer mir passieren?! Ich will die Katze verscheuchen, aber sie findet unseren Fußabstreicher ziemlich komfortabel und weigert sich, ihr neues Plätzchen zu verlassen. Seufzend begebe ich mich in die Hocke und streichele ihren Kopf.

»Du hast wohl nicht vor, so schnell von hier zu verschwinden.«

Die Katze schnurrt. Ich seufze.

So, da ich die Katze erfolglos vertrieben habe, plündere ich den Kühlschrank und gebe ihr ein Stück Lachs. Irgendwie komisch. Katzen mögen Fische, aber kein Wasser. Wie sind sie vor ihrer Rolle als Haustier überhaupt an welchen rangekommen? Kann mir egal sein, die Katze will nicht abhauen. Ein Halsband hat sie auch nicht. Vielleicht einen Chip? Ich beschließe, sie morgen Nachmittag gleich zum Tierarzt zur Untersuchung zu bringen. Bestimmt wird sie schon von ihrem Besitzer vermisst.

Auf einmal steigt mir ein ungeheurer Geruch in die Nase. Was stinkt hier so? Böse schaue ich die Katze an. »Du hast doch nicht etwa … !?«

Zu spät. Das Mistvieh hat eine schöne gelbe Pfütze auf unserem Fußboden hinterlassen (ich bin so glücklich, dass wir uns in der Küche befinden und nicht im Wohnzimmer, wo Teppich ausgelegt ist). Prompt packe ich das Pfützen-Vieh am Hals und werfe es in die Badewanne. Die Katze wehrt sich.

»Du hast mir den Gestank ins Haus gebracht, ich habe ein Recht darauf, ihn nicht ertragen zu müssen!«, motze ich das Tier an.

Ein beleidigtes Maunzen.

»Sonst gibt es keinen Lachs mehr, vertrau mir mein Freundchen!«

Die Katze schweigt. Na also.

Ich schrubbe sie gründlich durch, als sich auf einmal das Badewasser verfärbt. Plötzlich ist es genauso rabenschwarz wie die Katze selbst. Ich erschaudere. Ja, ich mag Horror. In Büchern und so. Aber bitte nicht im realen Leben! Da bemerke ich, dass sich nicht nur das Wasser verfärbt hat. Die Katze ist jetzt weiß. Was für ein Spiel wird hier gespielt?! Ich schrubbe weiter am Rücken der Katze rum, und tatsächlich, die schwarze Katze ist in Wirklichkeit eine weiße Katze!

»Bist du etwa in einen Schornstein gefallen, oder was?«

Als ich sie endlich aus der Wanne heraushole, maunzt sie nur zufrieden.
 

»Manuela, du weißt ich habe nicht gerne ein Tier im Haus. Halt, Moment! Wo kommt das überhaupt her? «, wendet meine Mama ein, als sie von der Arbeit nach Hause kommt und bedeutet mir, die Katze rauszuschmeißen. Ich zucke mit den Schultern. Alles schon versucht, die geht nicht so schnell wie sie gekommen ist.

Mama seufzt. »Gut, ich fahre morgen früh mit ihr zum Tierarzt. Bestimmt hat sie einen Chip, dann können wir ihren Besitzer ausfindig machen.«

Rumms! Irgendwie gefällt mir das mal gar nicht. Die Katze ist zwar ziemlich nervig, aber nachdem ich mich um das Vieh gekümmert habe, habe ich doch theoretisch gesehen schon Besitzansprüche darauf, oder?

»Ich möchte mitkommen! Bitte warte, bis ich wieder von der Schule zurück bin!«, werfe ich ein.

»Manuela, darf ich dich daran erinnern, dass du Hausarrest hast?«

»Bitte, Mama!« Trauriger Hundeblick (hab ich von Tobi abgeguckt).

Mama gibt nach. Ahoi Tierarzt! (oder so ähnlich).
 

Juhuu! Meine Katze (äh ich meine, Kater, hat der Tierarzt gesagt) hat wie es scheint keinen weiteren Besitzer außer mir, aber wir sollen trotzdem noch die Tierheime abklappern und dazu befragen, ob sie einen gewissen Ausreißer vermissen. Mama hat gesagt, wenn ich meinen Notenschnitt weiter hoch bekomme, dann darf ich ihn behalten.

Wir haben einen schönen Schulmorgen und ich schiebe meinem brandneuen Katerchen die Wasserschale hin. Gestern Abend nach dem Tierarzt habe ich noch versucht, ihm das In-den-Garten-Pullern beizubringen und muss sagen: Mein Kater ist ein echtes Genie. Er weiß sogar, wie man eine Toilette benutzt (hat mich auch gewundert, er braucht nicht mal ein Katzenklo!). Da sieht man wieder mal, wie schlau Tiere doch sind. Ich frage mich nur, wieso er das Ganze beim ersten Mal nicht gleich demonstriert hat. Seltsames Tier.

Mama schaut mich prüfend an.

»Was?«, frage ich.

»Du weißt schon, dass du das Tier wieder zurückgeben musst, wenn sein Besitzer auftaucht.«

»Und wenn schon.« Darüber will ich nun wirklich nicht reden. Geschweige denn daran denken. MEINS. Schluss. Ende. Fertig. Aus.

»Und überhaupt, falls der Kater länger vorhat, sich hier breit zu machen, braucht er doch einen Namen. Du kannst ihn doch nicht immer ‚Das Vieh’ nennen.«

»Stimmt.«

Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Mmh … ein Name. Janiel! Keine Ahnung, wie der es jetzt in meinen Kopf geschafft hat, aber es ist der Erste, der mir eingefallen ist. Und wie ich meinen Kater so betrachte, fällt mir auf, dass sein weißlich goldenes Fell der Haarfarbe von Janiel ähnelt.

Meine Mutter starrt mich erwartungsvoll an.

»Er heißt Janiel«, beschließe ich einfach.

Meine Mutter starrt mich verdattert an.

Ich gehe einfach zur Schule.

Als ich wieder heim komme, ist Janiel weg. Mama auch. Mir schwant Böses. Ich suche das Kater-Vieh überall, doch er ist verschwunden. Vielleicht ist das seine Tour. Einen auf bemitleidenswert machen und das dann voll ausnutzen. Schade. Ich hatte ihn irgendwie lieb gewonnen.

Da kommt Mama. Mit Janiel.

»Ach Manuela, du glaubst nicht, was für ein Stress das ist, mit den Tierheimen. Die wollen einem immer noch mehr Tiere andrehen.«

Weiter höre ich ihr nicht wirklich zu, weil ich Janiel knuddeln muss. Er hat so ein weiches, warmes, wuscheliges Fell. Hach.

»Aber weißt du, vorhin war er irgendwie seltsam. Wollte ausbüchsen, als eine im Tierheim sagte, sie dachte er wäre eine ihrer Katzen. Dann hat er sich aber wieder beruhigt, als ich wieder gehen wollte.«

Mmh. Ich höre nur so halb zu. Bin zu sehr damit beschäftigt, mein neues Haustier zu streicheln. Mama verstaut einige mitgebrachte Einkäufe, brabbelt was von Stress hier und da. Schließlich hält sie mir eine Pralinenschachtel vor die Nase.

»Für dich. Von Frau Beinhart.«

Weil meine Mutter ein sehr gesprächiger Mensch ist, macht sie sich schnell bei den alten Leuten beliebt und sackt massenweise Geschenke in Form von Schokolade und Weinflaschen ein. Dass ich allerdings davon profitiere, kommt eher nicht vor.

»Danke … wieso das denn?« Immerhin kenne ich die Frau überhaupt nicht.

»Sie hat mich gefragt, ob ich Kinder habe, und ich sagte ihr: ‚Ja, eine Tochter‘, und dann meinte sie, ich solle ihr doch damit eine Freude bereiten. Sie hat auch eine Enkelin in deinem Alter.«

Mein Gott, gibt es nette Menschen. Wieso kann Nadine nicht so sein.

»Sag ihr vielen lieben Dank von mir!«

»Jaja.« Mama verzieht sich ins Badezimmer.

Und ich mich in meins. Mein Zimmer ist ganze fünfzehn Quadratmeter groß, ausgestattet mit Ikea-Kinder-Möbeln, einem Bücherregal und einem antiken PC, den bereits mein Vater besessen hatte. Obwohl ich Stephen King und andere Horrorautoren vergöttere, kriegt jeder, der mein Zimmer betritt, zuerst mal einen Knall: Rosa überall.

Deshalb bringe ich niemals jemanden mit, der meine Kitsch-Hochburg besuchen könnte. Außerdem ist meine Bettwäsche peinlich. Vielleicht sollte ich mal umdekorieren. Den Kater scheint meine Wandfarbe nicht zu stören. Er flauscht sich zwischen die Fleece-Kissen auf meinem Ikea-Bett, um das ich noch vom vorherigen Weihnachten eine Lichterkette gewickelt habe. Ich pflanze mich dazu. »Na gefällt’s dir hier?«

Maunzen. Ich glaube, ja.

»Weißt du was, Kater.« Ich flappe um nach hinten. Liege neben dem schnurrenden Etwas. »Vielleicht habe ich ja doch nicht immer Pech. Vielleicht verändert sich ja jetzt mein Leben.«

Gott hat einen Plan. Das ist sicher. Diese Worte gehen mir plötzlich wieder durch den Kopf. Wenn Gott einen Plan hat, dann will ich ihn nicht hören. Dann kann mich dieser Plan mal. Tropf, tropf.

Der Kater kuschelt sich an mich. Ich presse ihn näher zu mir. Solange dieser Gott allmächtig ist, werde ich ihm nie verzeihen. Dann schlafe ich, Janiel im Arm, ein.
 

Am nächsten Morgen wache ich auf, weil mich Haare im Gesicht kitzeln. Schlaftrunken taste ich nach Janiels weichem Fell, doch da sind nur Haare über Haare. Und Haut. Hä? Ich schrecke zurück, falle vom Bett, stoße mir den Kopf und starre fassungslos auf das, was auf der Matratze zwischen den pink-weißen Kissen liegt.

Das ist nicht Janiel. Oder doch. Der andere Janiel liegt in meinem Bett, eingekuschelt unter der Decke. Wie ist der hier rein gekommen? Und wo ist meine Katze? Ähm, sorry: mein Kater?! Jedenfalls schläft da ein Junge in meinem Bett. Gerade noch neben mir. Ich glaube, ich habe einen Kollaps. Nervenzusammenbruch. Halluzinationen. Fata Morgana. Ja, so was wird es sein. Ich beobachte das absurde Szenario eine Weile, komme zu dem Schluss, dass ich pervers bin und noch träume. Also kneife ich mich.

Aua. Kann man im Traum Schmerz verspüren? Ich glaube nicht. Immerhin hab ich schon geträumt, dass ich gestorben bin, und das hat auch nicht wehgetan. Das ist schlecht. Hoffentlich schneit Mama jetzt nicht hier rein. Ich entscheide mich dazu, den Jungen, der anscheinend Janiel, mein Lebensretter ist, aufzuwecken und rauszuschmeißen. Die Polizei will ich nicht rufen. Wie gesagt, er hat mir das Leben gerettet. Da wacht er schon von alleine auf. Schaut mich an. Verblüfft. Ist das jetzt auch ein Schock für ihn?

»Hi!« Mehr ist mir dazu nicht eingefallen. Immer noch verdattert schaut er an sich runter. Das tue ich auch. Er ist nackt. Schnell hebe ich mir die Hände vors Gesicht, hole tief Luft und will schreien.

Der Nackte in meinem Bett

Janiel ist schneller, springt auf und hebt mir die Hand vor den Mund. »Scheiße«, höre ich ihn murmeln. »So war das nicht geplant.«

Ähm ja … allerdings!

»Jetzt ist es zu spät, ich muss es dir sagen … ach scheiße.«

Will er mich etwa … vergewaltigen?! Hilfe?

Neuer Versuch zu schreien. Fail. Was ist denn das für eine Tour? Erst Leben retten, dann vergewaltigen und dann noch selber umbringen! Als einzigen Ausweg beiße ich ihm in die Hand. Funktioniert. Er flucht. Ich will fliehen, raus, da ruft Janiel: »Warte! Schau her!«

Und ich schaue tatsächlich her – Ich bin so krank …

Aber da steht nicht mehr Janiel. Oder doch. Da steht Kater Janiel, mit dem goldenen, weißen Fell.

»Wie … ? Was … ? Hä?«, stammele ich und kann meinen Blick nicht von meiner Zauberkatze wenden. Fata Morgana verschwinde? Doch da verwandelt sich Janiel vor meinen Augen in den Menschen Janiel, umgeben von goldenem Licht (er ist schon wieder nackt). Also mal zusammengefasst: Janiel (Lebensretter) = Janiel (Kater) und umgekehrt.

»Das ist Magie«, staune ich.

»Na ja, so was Ähnliches. Hast du vielleicht eine Hose für mich?«, fragt er verlegen.

Ich glaube irgendwie nicht, dass er mich vergewaltigen will. Ich meine, hallo – wie klingt das denn: Meine Katze will mich vergewaltigen. Okay, nachdem ich jetzt weiß, dass es NUR meine Katze ist, die in Wirklichkeit ein Mensch ist, bin ich ein wenig beruhigt. Seltsam aber wahr. Trotzdem frage ich mich, wie das sein kann. Und warum, vor allem. Aber zuerst soll sich der Kater-Mensch was anziehen. Da sind wir uns einig. »Warte«, sage ich, als ob es das Selbstverständlichste auf der Welt wäre, dass ein nackter Junge in meinem Zimmer Kleidung von mir haben will. Aber es ist ja nur mein Kater. Dann ist das doch okay, oder? Wenn es ein magischer Kater ist? Langsam bin ich ziemlich verwirrt.

Ich eile in den Keller zu den verstaubten Kisten, die wir glücklicherweise aufgehoben haben. Seit sieben Jahren. Ich öffne eine, finde eine alte Jeans und ein Hemd, fische sie heraus und begebe mich wieder nach oben. Gespannt spähe ich durch die leicht geöffnete Tür. Ist er immer noch da?

Ja, ist er, doch jetzt wieder als Kater, vermutlich, um nicht komplett nackt dazustehen. Ich werfe die Klamotten auf das Bett und knalle die Tür hinter mir zu. Ich bin nicht so pervers, dass ich ihm beim Umziehen zuschaue, auch wenn es nur meine Katze ist!

Da geht die Tür von alleine auf. Janiel steht vor mir, in dem Hemd meines Vaters. Es steht ihm ausgezeichnet.

»Danke. Ich glaube, ich muss dir was erklären«, sagt er.

Allerdings. Wir setzen uns beide auf das pinke Laken und ich sehe ihn gespannt an. »Bist du eine Zauber-Katze?«

Er lacht. Und da ich keine Angst mehr vor ihm habe, denke ich mir, er lacht genauso charmant wie Tobi. Ich finde es schön. »Nein, nicht wirklich. Ich bin … mmh … wie soll ich sagen … «

»Okay, wieso lagst du nackt in meinem Bett? Nein halt, du lagst da, weil du meine Katze bist. Aber wieso ist meine Katze jetzt du? Hä? Ich blicke da nicht mehr durch … « Ich bin verwirrter als vorher. »Versuch du es mal mit der einfachsten Erklärung«, fordere ich ihn auf.

Janiel holt tief Luft, breitet die Arme aus. »Ich bin dein Schutzengel.«

Ich hätte ihm alles geglaubt, wirklich alles, aber jetzt pruste ich los.

»Hey das ist nicht lustig!«

Ich lache mich tot. Falle vom Bett.

»Jetzt kannst du auch mal wieder aufhören.« Der vermeintliche Engel zieht einen Schmollmund. »Immerhin habe ich dich vor dem Lieferwagen gerettet.«

Grinsend wische ich mir eine Träne aus dem Auge.

»Das stimmt vielleicht, aber wie ich dir erklärt habe, bin ich der größte Pechvogel auf Erden. Wenn es einen Menschen gibt, der keinen Schutzengel hat, dann bin ich das. Oder du hast geschlampt.«

Janiel sieht mich bedenklich an.

»Was?«, entgegne ich.

»Du hattest tatsächlich keinen Schutzengel. Man hat mich, erst kurz bevor du fast gestorben bist, zu dir gesandt. Normalerweise hat jeder Mensch einen Schutzengel. Nur du hattest keinen.«

»Was?«, wiederhole ich mich. Der Typ ist doch kein Engel. Aber was er sonst noch so sein könnte, weiß ich nicht.

»Keine Ahnung warum. Und das heute tut mir leid. Ich wollte eigentlich die Gestalt einer Katze behalten, aber da ich noch nicht so viel Übung im Gestaltwandeln habe, habe ich mich in meine erste Form zurückverwandelt. Als Kater hätte ich dich beschützen können wie ein ganz normaler Schutzengel. Aber ich habe versagt. Und die Regeln habe ich gerade auch gebrochen, aber Camael ist mir egal.«

Mit einer gehobenen Augenbraue stelle ich fest: »Du bist wirklich ein Engel, oder?«

»Na, das sag ich doch schon die ganze Zeit!«, regt er sich auf. Das ist irgendwie süß. Ein »Engel«, der sich aufregt.

»Wie meinst du das mit Regeln gebrochen … ?«

»Kennst du etwa einen Menschen, der zu hundertprozentiger Sicherheit von seinem Schutzengel weiß?«

»Ach so, na klar! Jetzt check ich’s! Ist ja ganz normal, dass ich alle Regeln von Schutzengeln kenne!«, meine ich ironisch.

Janiel schüttelt den Kopf. »Du bist echt … «

»Ich bin was?«

»Vergiss es.«

»Nein sag!«

»Lieber nicht.«

»Warum nicht?«

»Egal.«

»Oh Mann.«

Seufzend strecke ich mich. Wie soll das nur weitergehen? Okay, ich sitze hier, mit meinem Schutzengel, auf meinem Bett. Und jetzt? Ich hab keine Ahnung. Aber ich weiß, dass ich jetzt Unterricht habe. Also verhalte ich mich ganz normal, gehe ins Bad, ziehe mich um, putze meine Zähne, esse was. Tue so, als ob er nicht da wäre. Vielleicht träume ich ja noch und werde vor Schreck aufwachen, sobald ich Nadines liebreizendem Gesicht im Klassenzimmer begegne.

Mama ist schon weg. Zum Glück. Ich nehme den Bus zur Schule. Versuche, das Ganze zu vergessen. Je weiter ich mich von zu Hause entferne, desto mehr kommt mir das alles tatsächlich wie ein Traum vor. Bis ich im Klassenzimmer sitze und Frau Wolke reinkommt. Mit einem neuen Schüler.

»Bonjour les élèves. Das ist euer neuer Mitschüler, Jan Engel.«

Der Name passt ja prima. Doch kein Traum. Wieso muss so was immer mir passieren? Mein rechter, rechter Platz ist leer. Da wünscht sich Frau Wolke den Janiel her. Schlecht. Sehr schlecht. Er grinst mich an. Ich denke, ich werde gleich ohnmächtig.
 

Das ist zu viel. Habt ihr das gehört, ihr Götter des Schicksals? Zu viel! Jetzt habe ich ihn in der Schule am Hals. Langsam geht mir diese Sache ganz schön auf die Nerven. Kann nicht einfach alles normal sein? Jetzt werde ich auch noch von meinem angeblichen Schutzengel gestalkt! Zum Glück ist jetzt Pause, ich stehe bei den Mädels aus meiner Klasse.

»Wie findet ihr den Neuen?«, fragt Hanna in die Runde.

Ich mag ihn nicht. Er nervt. Aber das kann ich jetzt nicht so sagen.

»Ich finde ihn voll süß. Ob der wohl eine Freundin hat, so gut wie er aussieht?« Das hat Nadine gesagt. Ich will von hier verschwinden, sofort!

»Ja, er sieht echt voll gut aus. Wenn ich nicht schon einen Freund hätte … «, stimmt Sophie ihr zu.

»Ja, er kommt so ziemlich meinem Traummann nahe«, sagt Karin und lächelt verträumt.

»Ich finde auch, dass er total gut aussieht«, pflichtet auch Hanna bei. Die Mädels sehen mich an. »Du hast so ein Glück, dass du neben ihm sitzt«, schwärmt Karin.

Ähm nein. Nicht wirklich. »Ich mag ihn nicht.«

Jetzt ist es raus. Entsetzt blicken sie mich an.

»Du bist echt merkwürdig, weißt du das?«, sagt Hanna und lacht.

»Aber Hanna, Manu hat doch einen Freund«, wirft Nadine ein und fletscht die Zähne. Die letzte Silbe hat sie absichtlich betont. »Hey, dein Freund heißt doch genauso!«, fällt Sophie ein.

Scheiße. Das hatte ich ganz vergessen. Janiel ist mein nicht vorhandener Freund! Was mach ich jetzt?

Nichts, zu spät: »Aber warte mal … wenn ich mich recht erinnere … dann … dann ist das der Typ, den ich mit dir in der Stadt gesehen habe! Ich wusste doch, ich kenne ihn von irgendwoher!« Hanna hat ihn wieder erkannt.

»Das ist dein Freund?!« Alle sehen mich verblüfft an.

Was ist glaubwürdiger? Ich sage ja.

»Ach deswegen hat er sich neben dich gesetzt!«, ruft Karin, neben der auch noch frei gewesen wäre.

»Wieso sagst du denn nichts? Hattest wohl Angst, wir würden dich zerfleischen«, meint Hanna. »Keine Sorge, dein Geheimnis ist bei uns sicher.«

Das glaube ich ihr gern, aber nicht Nadine, die mich immer noch unglaubwürdig anstarrt. »Da stimmt doch was nicht. Der geht doch nicht mit Manu.«

Stimmt.

»Och Mann Nadine, du gönnst Manu auch echt nichts! Denkst du echt, alle Jungs würden nur auf dich abfliegen und Manu eklig finden? Du bist echt das Letzte!«, diesmal ist Karin der Kragen geplatzt.

»Ich weiß, dass ich Recht habe. Wenn die beiden wirklich zusammen sind, dann soll sie doch mal zu ihm gehen und ihn als Beweis küssen«, sagt Nadine gelassen.

»Wieso muss sie ihre Liebe eigentlich rechtfertigen? Lass sie doch endlich mal in Ruhe!«, verteidigt mich Karin weiter. Ich bin ihr echt dankbar.

Plötzlich steht jemand hinter mir. Ich spüre warmen Atem im Nacken, drehe mich um. Janiel nimmt mich in den Arm und küsst mich. Ich bin überrascht, lasse es aber zu, weigere mich nicht. Das würde mich nur in noch mehr Schwierigkeiten hineinreiten. Theatralisch schließe ich die Augen. Sekundenlang. Wir lösen uns voneinander. Seine Augen leuchten bernsteinfarben, fast golden. Mein erster Kuss. »Gut, dass ich jetzt näher bei dir wohne. Frankfurt war einfach zu weit weg … mein Schatz.«

Nadine bekommt ihre Augen nicht mehr in den Kopf. 1:0 für mich.
 

Später frage ich Janiel, was das sollte. Mich einfach so zu überrumpeln. Jetzt habe ich meinen ersten Kuss von meiner Katze bekommen … zum Heulen ist das! Er meinte nur, das wäre keine große Sache gewesen. Mir soll es recht sein. Wenigstens hat Nadine ein Eigentor geschossen. Bei Karin, Sophie und Hanna ist sie jedenfalls unten durch. Leider nicht bei Tobi.

Ich habe noch mitbekommen, wie sie ihm traurig vorgeschwärmt hat, wie verzweifelt sie doch ist, dass Jan schon eine Freundin (mich) hat und das sie jetzt total deprimiert ist, weil sie sich schon Hoffnungen gemacht haben soll. Tobi hat sie getröstet und in den Arm genommen, ist ihr durch die Haare gefahren und hat sich um sie gesorgt. Das war draußen auf dem Pausenhof, in der zweiten Pause.

Ich hasse sie. Aber wenigstens bedeutet das, dass ihr Knutschfleck nicht von Tobi stammt … hoffe ich jedenfalls … Für Knutschflecken muss man nicht in einer Beziehung sein, oder? Außerdem haben wir heute Nachmittagsunterricht. Kotz. Zurück im Klassenzimmer bemerkt Janiel meine schlechte Stimmung, und versucht mich aufzuheitern, indem er absurde Gestalten auf meinen Block kritzelt. Das ist total lieb, hilft mir aber auch nicht weiter. Ich überlege. Wenn ich Janiel mit Nadine verkuppelt hätte, dann wäre ich beide los gewesen. Aber geht das überhaupt? Ich meine, ein Mensch und ein Engel. Ein Engelskuss. Ist das erlaubt? Janiel malt auf meinen Block einen traurigen Smiley. Und schreibt: »Das ist Nadines Gesicht.« Ich muss lächeln.
 

Janiel ist eine Klette. Auch in der Mittagspause leistet er mir in der Mensa Gesellschaft. »Etwas anderes wäre unnatürlich«, behauptet er. Vermutlich hat er damit sogar Recht. Aber seine Präsenz hält Tobi von mir fern. Obwohl, nun können Janiel und ich endlich ungestört reden, weil keiner zuhört und alle mit sich selbst beschäftigt sind. Außerdem sitzen wir ganz hinten in der Ecke.

»Woher hast du gewusst, dass Nadine mich bloßstellen wollte? Und wieso hast du mich gerettet?«

»Es war nicht schwer zu erraten, zumal ich wusste, dass du dieses Gerücht über mich in die Welt gesetzt hast … «

»Du äh … wusstest das?! Woher? Seit wann … ?!« Das ist jetzt leicht peinlich!

»Erstens haben mich die Jungs aus der Klasse auf das Thema angesprochen. Zweitens bin dir gefolgt von unserer ersten Begegnung an.« Wow. Seit meinem Fast-Tod also werde ich gestalkt.

»Du bist unheimlich, weißt du das.«

»Danke.«

»Das war kein Kompliment!«

Janiel sieht an mir vorbei, hin zur Aula. Ignoriert mich. Ich bekomme langsam Zweifel daran, dass er ein Mensch ist. »Angenommen, du bist wirklich, wirklich mein Schutzengel … heißt das dann, es gibt einen Gott?«

Jetzt habe ich seine Aufmerksamkeit wieder.

»Natürlich.«

»Ich hasse Gott.«

Der Engel fährt sich durch die Haare und massiert sich den Nacken. »Ich weiß.«

Ich sage nichts mehr dazu.

»Ich hole mir was vom Bäcker. Soll ich dir was mitbringen?«, fragt er plötzlich und steht auf. So was passiert einem auch nicht alle Tage. Völlig konfus, labere ich: »Nein, danke«, da stapft er schon los. Ich weiß ehrlich nicht, was ich davon halten soll. Als Janiel binnen fünf Minuten wiederkommt, legt er mir ein Schokocroissant hin.

Er weiß es offenbar auch nicht. So sitzen wir da, in der Mensa. Er mampft ein Käsebrötchen, ich das Croissant. Etwas kommt mir verkehrt daran vor. Es fühlt sich gewohnt an. Aber irgendwie auch fremd.

»Hast du sonst noch Fragen?«, will Janiel wissen, wischt sich den Mund mit einer Serviette ab, obwohl das völlig unnötig ist, nach so einem Käsebrot. Er ist so ein hübscher Kerl. Hohe Wangenknochen, eine schwungvoll verlaufende Wasserlinie. Die Augen nicht zu nah und nicht zu weit auseinander. Eine leicht schräge Nase, ohne Huckel mit kleinen Nasenflügeln. Ein schmaler Mund, der zum Küssen einlädt. Aber dieser Blick. Lässt ihn so alt aussehen. Vielleicht ist er das ja auch.

»Bist du wirklich siebzehn?«

»Nächste Frage.«

»Ich will das aber wissen.«

»Nächste Frage.«

Ich seufze. »Gut. Musst du mich die ganze Zeit verfolgen? Jetzt mal im Ernst, ich finde das wirklich creepy.«

Er kramt in seiner Tasche, packt ein Taschenbuch auf den Tisch und lehnt sich damit zu mir vor. »Das hier ist das Grundregelbuch für angehende Schutzengel. Hier steht klar und deutlich drin, dass ich dich nicht einmal für eine Sekunde allein lassen darf.«

W-was. W-WAS?!!

»Nein jetzt, oder.«

»Doch jetzt.«

Der hat sie doch nicht mehr alle. Böser Traum, ich will aufwachen. Tobi wird mich bis in alle Ewigkeit meiden, wenn dieser Typ da vierundzwanzigsieben bei mir ist!

»Mund zu, sonst kommen Fliegen rein.«

»Ich finde das nicht witzig! Gib mal her, das kann doch nicht dein Ernst sein!«, plärre ich und grabbele nach dem Buch, das Janiel gekonnt wegzieht.

»Ah ah ah. Dazu bist du nicht befugt.«

»Ich kann dir doch nicht jeden Mist glauben, den du da von dir gibst!«

»Stimmt. Musst du auch nicht. Am besten wäre es vermutlich, wenn ich dein Gedächtnis lösche … «, überlegt er, fängt an in dem Taschenbuch zu blättern. Es sieht ziemlich neu aus. Das soll wirklich ein Regelbuch für Engel sein … ? Ich kann es ihm kaum abkaufen. Das Ding könnte vom Design her der neue Bestseller von Charlotte Roche sein.

»Moment – Ich will mein Gedächtnis gern behalten!«

»Ich weiß nicht, du hast mich nackt gesehen … «

»Gut, das können wir streichen. Aber der Rest bleibt!« Wenn so was überhaupt geht.

»Jaja.«

»Fick dich!« So wütend wie jetzt war ich schon lange nicht mehr. So dunkel, wie ich ihn anfunkele, funkelt es zurück.

»Du wirst nie erfahren, dass es mich gibt. Du wirst dein Leben leben können, ohne etwas von der Existenz von Schutzengeln zu wissen. Du wirst glücklich sein, dafür werde ich sorgen – im Verborgenen. Bis zu deinem Tod.«

Ich schüttele wild den Kopf. »Vielleicht will ich das nicht vergessen!«

»Es ist besser für uns beide. Ich werde dir nicht länger auf die Nerven gehen.«

»Du hast gesagt, ich darf dich Sachen fragen.«

Ich balle meine rechte Hand zu einer Faust, klopfe leicht auf den Tisch. Ich frage: »Warum bist du so traurig?«

Er schaut auf. Das erste Mal schaut er auf, seit er seine Nase in dieses Buch gesteckt hat.

» … «

»Gut, das kann ich auch.«

» … «

Wir sitzen da. Ein Engel und ein Mensch.

Wissen beide nichts zu sagen.
 

Es ist Wochenende. Zeit, mich vor niemandem rechtfertigen zu müssen. Vor niemandem, außer meiner Mutter. Neben mir steht Janiel, der Engel. Und gemeinsam stehen wir vor unserem Mehrfamilienhaus. Von außen sieht es aus wie ein Betonklotz. Wie ein liebenswerter Betonklotz, denn unser Dach leuchtet in einem ausgeblichenen Ziegelrot, das mittlerweile schon als Rosé durchgeht. Durch den Kontrast sieht das Hellgrau fast weiß aus. Wenn die Fassade nicht so viele Risse und Putzabfälle hätte, würde der Bau definitiv was hermachen. Bilde ich mir ein.

Ich schließe uns die Tür auf. Den ganzen Weg von der Schule bis nach Hause ist er mir nachgelaufen. Schweigend. Das kann er wirklich gut (ich habe versucht ihn anzuquatschen, vergeblich).

»Willst du jetzt nicht wieder meine Katze werden?«

» … «

»Dann gibt’s heute keinen Lachs.«

» … «

Oh Mann. Er ist echt anstrengend.

Sie ist nicht da. Zum Glück. Noch nicht. Wir schlurfen rein. Ich pfeffere meinen Rucksack in den Flur. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen ist, stelle ich mich direkt vor Janiel. »Was ist jetzt. Wolltest du nicht mein Gedächtnis löschen?«

»Hab’s mir anders überlegt.«

Badadadamm. Was soll das jetzt heißen.

»Ich werde als Kater bei dir bleiben.«

»Woher kommt dieser Sinneswandel?!«

» … «

Oh nein, nicht das schon wieder. Das kann er wirklich gut. Den Blick, den er drauf hat, wenn er schweigt. Man empfindet richtig … Schmerz. Aber gut, dieser Kompromiss soll mir recht sein, damit ich die Erinnerung an meinen ersten Kuss behalten darf. Mal davon abgesehen frage ich mich, wie er das mit dem Gedächtnislöschen anstellen wollte … aber auf diese Frage antwortet er bestimmt genauso offenherzig. Ich seufze. Und während ich seufze, fängt Janiel doch tatsächlich damit an, unsere Schränke zu durchwühlen. »Was treibst du da?! Man macht keine fremden Schubladen auf!«

»Wenn ich hier schon wohnen muss, dann wenigstens in einer sauberen Umgebung.«

»Unterstellst du uns gerade, dass es hier dreckig ist?!«

» … «

Er räumt alles beiseite, was auf dem Boden liegt (Vasen, Fernsehkabel, Pfandflaschen), findet den Staubsauger und mutiert zum Putz-Engel. Echt jetzt?

»Dein bisheriges Pech hast du dir teilweise selbst zuzuschreiben. Allein dein Zimmer. Kein Wunder, dass du nie deinen Bus erwischst, man findet da ja kaum was«, beschuldigt er mich.

»Auf deine Meinung kann ich verzichten! Und wie kommst du überhaupt darauf, dass du hier bleiben darfst?!«, pflaume ich zurück.

Zynisch zieht er eine Augenbraue hoch. »Soll ich dein Gedächtnis lieber doch löschen?«

Mist, er sitzt am längeren Hebel! »Hach, w-weißt du w-was! Verschwinde w-wieder dahin, w-wo du hergekommen bist! Ich komme auch o-ohne Schutzengel gut klar!!«, stottere ich.

» … « Gekonnt ignoriert er mich weiter, während er den Staubsauger anschmeißt.

Ach, scheiß drauf. Mir wird alles zu bunt, ich verziehe mich in mein Zimmer. Sehe mich in der rosanen Hölle um. Stelle fest, dass Janiel Recht hat. Fange an, aufzuräumen.

Zwölf Schubladen, einen Kleiderschrank und einen Bettschrank später ist mein Zimmer komplett umsortiert und entstaubt worden. Und nicht nur das. Als ich die laminierte Treppe zu unserem Wohnzimmer herunter tapse, ist dort alles picobello gesäubert worden. Jetzt kann man vom Boden essen. Das denkt sich bestimmt Kater Janiel, der da jetzt mit eingeringelten Katzenschwanz mitten im Raum steht. »Okay, du hast gewonnen. Bist du jetzt glücklich?«, gebe ich zu.

Die Katze maunzt. Im selben Augenblick dreht sich ein Schlüssel im Schloss, meine Mutter kehrt heim.

»Hi Mama!«

»Hallo Manu! Oh … was ist denn hier passiert?«, staunt sie, lässt ihren Blick durch den Raum schweifen und kommt gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. »Das warst aber nicht du.«

Die Katze miaut. Ich stelle mich demonstrativ vor Janiel, gebe ihm einen Schubs in die Seite mit dem Fuß. »Muss wohl ein Engel gewesen sein«, verkünde ich harsch, woraufhin es widerspenstig miaut.

»Manuela … ich freue mich wirklich sehr. Dankeschön!«, sagt sie mit einem Lächeln in den Augen, stellt anschließend ihren Damenrucksack in die Garderobe und zieht ihre herbstliche Plusterjacke aus. Als sie aus dem Flur wiederkommt, verkündet sie diesmal: »Weißt du was, Manu? Morgen koche ich dein Lieblingsessen, wie wäre das?«

»Ähm … ja … gut?« Ich kann es gar nicht fassen, wie glücklich meine Mutter plötzlich ist. Sie fängt an zu summen, während sie im Raum umhergeht. Sie summt. Sie summt! Das hat sie seit Jahren nicht mehr gemacht.

»I-ich … bin dann i-in meinem Zi-zimmer … «, stammele ich, benommen von der ganzen Sache. Fliehe. Kann trotzdem Janiel nicht entkommen, der mich verfolgt und sich prompt in einen Menschen verwandelt, sobald meine Zimmertür zufällt…. Erstaunlicherweise trägt er aber diesmal Klamotten.

»Was soll das?! Wieso verwandelst du dich jetzt? Wenn meine Mutter dich erwischt, gibt es Ärger! Und wieso hast du eigentlich Kleidung an?!«

»Soll ich mich etwa ausziehen?«, fragt er.

»Nein! Nein!«, plärre ich. »Aber … «

»Schon gut. Ich erkläre es dir: Ich glaube, wir sollten miteinander reden, wie es weitergeht. Funktioniert als Mensch besser, als als Tier, findest du nicht?«

Hrrm. Wie es weitergeht. Ich kann nicht mal die Gegenwart fassen, wie soll ich da über die Zukunft nachgedacht haben? »Dann sag mir doch mal, wie es weitergeht … «

Mit einem Puff! erscheint der Möchtegern-Charlotte-Roche-Bestseller alias Grundregelbuch für angehende Schutzengel in Janiels Händen. Er blättert darin, bis er die ersuchte Stelle findet. »Rein theoretisch müsste Meister Camael nicht mitbekommen haben, dass du über uns Bescheid weißt … Ich möchte vorschlagen, dich auch weiterhin in Menschengestalt zu beschützen. So unüblich ist das gar nicht, soweit ich hier sehe … einige Engel erscheinen den Menschen in selbiger Gestalt.«

»Und warum? Reicht es dir nicht schon, mich als Katze zu stalken? Allgemein kannst du auch wieder zurück in den Himmel fliegen oder wie man das so macht. Bisher bin ich in meinem Leben auch gut ohne Schutzengel klargekommen, weißt du«, erkläre ich ihm.

»Ich kann dich nicht verlassen.«

»Falls das romantisch klingen sollte: Das tat es nicht.«

»Das meine ich auch nicht romantisch. Ich habe einen Vertrag unterschrieben.« Janiel hält mir einen Papierfetzen unter die Nase. Schutzengel-Abkommen. Aha. Das sagt mir ja so viel.

»Du hast doch eh schon die Regeln gebrochen, oder? Was macht da schon eine mehr aus. Fakt ist: Ich brauche dich nicht als Schutzengel«, stelle ich fest und wundere mich über mich selbst. »Mein Pech begleitet mich schon jahrelang … zugegeben, seit du da bist … ist es etwas gemindert … aber ich will dich nicht mein Leben lang bei mir haben. Das ist so was wie eine Heiratsentscheidung und ich bin mit fünfzehn definitiv zu jung für so was! Bisher habe ich es doch auch irgendwie geschafft … ganz allein … « Irgendwie werde ich traurig.

»Du verstehst da was falsch … «

»Nein!«, unterbreche ich ihn. »Du kannst hingehen wohin du willst, ich werde nicht petzen, versprochen! Wem-auch-immer! Und ich verrate keinem von euch Schutzengeln! Würde mir eh keiner glauben … «

Janiel fasst mich an der Schulter. »Manu, es geht nicht darum, dass du mich ertragen musst, es geht darum, ob du lebst!«

Mein … Leben?

»Als ich auf die Erde gekommen bin, tat ich dies, um dein Leben zu retten! Du wärst gestorben ohne mich! Und sobald ich dich verlasse – bist du dem Tod geweiht. Ich darf dich nicht alleine lassen. Es ist meine Pflicht. Und da du mich nicht vergessen willst – möchte ich das als meinen Vorteil nutzen, um dich besser beschützen zu können«, erläutert Janiel, der mir tief in die Augen schaut.

Seine Iris ist so hell. Unmenschlich. Die Sorge leuchtet mich an. Aber diese Sorge. Sie ist nicht echt.

Was ist schon echt?

»Moment … wenn du gehst … sterbe ich also?«

»Jep.«

»Ist das … mit jedem Mensch so? Ist das Gottes Plan, von dem du erzählt hast?«

»Jep. Jeder Mensch hat einen Schutzengel. Wenn ihn dieser verlässt, stirbt der Mensch. Mein Meister entsandte mich, um dir das Leben zu retten und dir fortan beizustehen, bis ich dich eines Tages verlassen muss.«

»Warum … hatte ich denn keinen Schutzengel?«

»Ich weiß es nicht. Ich bin eigentlich kein Schutzengel.«

»Und was dann?«

»Das ist eine gute Frage.«
 

Jetzt habe ich ihn für immer an der Backe. Das ganze Wochenende lang hat Janiel sich brav als Kater getarnt, doch jedes Mal wenn ich ihn sehe, werde ich mir darüber bewusst, dass er mich garantiert nicht mit den Augen einer unschuldigen, dummen Katze wahrnimmt. Ich habe angefangen, meine Kleidung bewusster zu wählen (Ade, Teddybär-Aufdruck-Pyjama), mich weniger gehen zu lassen (Hallo, Dusche!) und freiwillig Mathe zu lernen, anstatt wie üblich Soaps im Fernsehen zu gucken. Der Nachteil ist, ich bewege mich nun in Janiels Gegenwart von A nach B so steif wie geschlagene Sahne. Darf ich vorstellen? Manu, Miss Roboter.

»Warum läufst du denn so komisch? Das geht schon seit Freitag so … «, bemerkt der aufmerksame Janiel, der sich gerade zusammen mit mir für die Schule fertigmacht. Es ist Montagmorgen, Janiel ist gerade mal fünf Minuten lang wieder ein Mensch und geht mir jetzt schon auf die Nerven. »I-ich laufe ni-icht komisch!«

»Wenn du meinst … pass aber auf, wohin du läufst.«

Ich laufe komisch, weil ich mich beobachtet fühle. Ist doch klar. Leider lässt er mich nicht aus den Augen. Dafür darf ich beobachten, wie Janiel sich eine Krawatte bindet. »Hemd, Pullunder und Krawatte? Ernsthaft? Und wo hast du das Zeug überhaupt her?«

Der Engel sieht mich scharf an. »Ein wenig mehr Eleganz würde dir auch nicht schaden.«

Bamm bamm baamm! Ich sehe an mir herunter. Was ist denn an einer zerrissenen Jeans, Sneakers und einem T-Shirt mit dem Aufdruck »Hey ho, let’s go!« so falsch?

»Vergiss es. Dein Gesicht verrät mir deine Gedanken.«

»Nein, jetzt mal ehrlich, was passt dir daran nicht?«

Er seufzt.

Ich seufze.

»Pass auf«, sagt Janiel, geht rüber zu meinem Kleiderschrank. »Eines deiner größten Probleme ist diese Nadine, richtig?«

»Goldrichtig«, bestätige ich nickend.

»Du willst ihr zeigen, dass du kein leichtes Opfer bist. Richtig?«

»Richtig.«

»Dann zerren wir ihr doch am besten Mal den Teppich unter den Füßen weg.« Janiel reißt den Ikea-Schrank auf, geht meine kürzlich feinsortierten Kleider durch. »Wenn du willst, dass die Gerüchte über dich aufhören, musst du etwas dagegen unternehmen. Und am besten auch keine neuen mehr in die Welt setzen.«

»Welche Gerüchte?!« Bis auf das mit meinem imaginären Freund, fallen mir keine ein.

»Oh … du weißt es gar nicht … «

»Was weiß ich nicht?!«, flippe ich aus.

Nach einem Räuspern erklärt Janiel: »Nadine erzählt herum, dass du so arm bist, dass du Pennern die Kleider vom Leib reißt. Beziehungsweise, dass du ausschließlich in Second-Hand-Shops unterwegs bist.«

»Diese … !«, zische ich. »Diese miese … Grrrr!! Das ist so was von ihr Niveau. Und mal davon abgesehen, was ist so schlimm an Second-Hand-Shops?!«

»Das ist also wahr?«, hakt er nach.

» … «, schweige diesmal ich. » … aber das mit den Pennern nicht!«

»Tut mir leid … «, sagt Janiel sich durch die Haare fahrend. »Zieh einfach an, was du möchtest.«

»Nein, jetzt möchte ich wirklich wissen, was du mir andrehen wolltest!«, protestiere ich.

»Na gut.« Mit ein paar Handgriffen pickt er mein zukünftiges Outfit heraus. Meine Mundwinkel gehen nach unten, als die Sachen ausgebreitet auf meinem Bett liegen.

»Das ist ein Kleid!«

»In der Tat.«

»Ich ziehe keine Kleider an!«

Er hebt eine Augenbraue hoch, deutet auf die totalrosa Wand und den anderen pinken Kram in meiner Bude.

»Ich weiß. Aber mir steht kein Kleid! Ich habe nicht die Figur dazu!«

»Warum besitzt du es dann?«

»Das hat mir meine Tante geschenkt! Du weißt schon, eines dieser Weihnachtsgeschenke, die zehn Jahre lang rumgammeln, bevor sie in der Altkleidersammlung landen!«

»Ich finde es hübsch. Es würde dir bestimmt gut stehen. Aber wenn du Nadine keins auswischen willst, musst du es natürlich nicht anziehen«, wehrt er schulterzuckend ab. Und lächelt dabei süffisant. War ja klar, dass die Masche bei mir zieht.
 

Als wir in der Bildungsanstalt alias Schule aufkreuzen, trage ich dieses Kleid. Es betont die Taille, die Hüfte. Der Rock hebt sich ab von meinem Hüftknochen, springt in alle Richtungen weg. Es erregt Aufmerksamkeit. Schon an der Bushaltestelle tuscheln alle, obwohl ich meine schwarze, unauffällige Jacke übergezogen habe, so dass man nur noch den Rock sieht. Und meine quasi-nackten Beine. Ich hasse meine Beine.

Kennt ihr diese spitzen, zarten, zerbrechlichen Knie? Die habe ich nicht. Ich bin gestraft mit Knubbel-Knien. Dicken, weißen Waden, deren Poren so groß sind wie Reißnägel. Gut, vielleicht auch nur so groß, wie die Reißnagelspitze. Meine nackte Haut blitzt Janiel sei Dank nicht hervor, er verordnete mir Kniestrümpfe und eine dunkle, aber leicht durchschimmernde Strumpfhose. Das soll sexy aussehen. Woher der das nur weiß.

»Wer ist das denn?« Tuschel, tuschel, tuschel. Eine Horde Mädchen läuft an uns vorbei, als wir auf dem Weg zum Schulgebäude sind. »Noch nie gesehen … und der Typ erst!«

Offensichtlich machen wir Eindruck. Janiel grinst mich frech an. Der Ich-hab’s-dir-doch-gesagt-Blick. Ich strecke ihm die Zunge heraus.

Vor der Aula sehe ich Tobi, den Arm um Nadines Schultern gelegt. Sie funkelt mich böse an, er bemerkt uns vorerst nicht. Dann realisiert Nadine, dass ich nicht irgendwer bin, sondern ihre geliebte Manu. Schockstarre. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Janiel und ich beobachten, wie Nadines Gehirn rattert. Plötzlich wirbelt sie herum, ihre Lippen berühren fast Tobis Ohr, sie flüstert ihm etwas zu. Dann umarmt sie ihn. Mein Grinsen verabschiedet sich. Was die können, können wir auch. Das denkt sich Janiel hundertprozentig, denn er legt – ebenfalls – demonstrativ den Arm um mich. Wütend schaut Nadine jetzt aus der Wäsche. Daraufhin zieht Janiel mich zu ihnen rüber. Was hat er denn jetzt schon wieder vor?!

»Hallo! Ihr seid Freunde von Manu, richtig? Freut mich euch kennen zu lernen. Ich bin Jan.« Janiel lächelt sein schönstes Lächeln und ich muss zugeben, dass es strahlender ist als Tobis. Doch für mich ist Tobis Lächeln einzigartig. Nur Nadine haut es fast um beim Anblick meines sogenannten »Freundes«.

»Hi! Jep, so könnte man das nennen. Ich bin Tobi, Parallelklasse«, antwortet er und hält Janiel die Hand hin. »Schön, dich kennenzulernen!«

Tobi meint das tatsächlich ernst und freut sich. Freut sich für mich, weil ich einen Freund habe. Weil er mich dann los ist. Tobi sieht Janiel an, lächelt ihn an. Er bemerkt nicht einmal, dass ich zum ersten Mal in der Schule ein Kleid anhabe. Ich will verschwinden, im Erdboden versinken. Ich will alleine sein.

»Und du bist … ?«, wendet sich Janiel scheinheilig an Nadine.

»Nadine. Aber Manu ist nicht meine Freundin. Dafür hat sie viel zu viele schlimme Dinge getan.«

Bamm! Tobi schaut mich entsetzt an, Nadine geht einfach. Doch davor sagt sie zu Janiel: »Wenn ich du wäre, würde ich mich von ihr fern halten. Sonst passiert dir das Gleiche wie mir.«

»Wovon … äh … wovon spricht sie?«, will Tobi von mir wissen.

Ich kann nicht mehr. Die Tränen brechen aus mir hervor. Janiel umarmt mich, Tobi steht nur noch verdattert da.

Sie scheut vor nichts zurück. Sie lässt mir nicht mein Glück. Macht alles kaputt. Mich kaputt. Will mich am Boden sehen. Will mich in tausend Stücke zerbrechen. Dabei habe ich ihr vertraut. Wieso? Wieso macht sie das nur? Warum lässt sie mich nicht endlich in Ruhe? Warum will sie mich fertig machen? Was hat sie davon, mich unglücklich zu sehen?

Ich hasse sie.

Ich hasse sie. Ich hasse sie. Ich hasse sie.

Ich habe ihr vertraut.

Es klingelt.

Ich heule immer noch.

Keiner rührt sich.

»Vielleicht … solltest du dich einfach bei Nadine entschuldigen?« Tobis Stimme.

Die Tränen schießen nur so hervor.

»DU IDIOT! Manu hat gar nichts getan, sonst würde sie doch jetzt nicht weinen!«, entfährt es Janiel. So wütend erlebe ich ihn das erste Mal. Er schweigt immer wenn er sauer ist. Er wird nicht laut. Aber jetzt …

Tobi weicht zurück. »Okay, okay. Ich gehe dann mal.«

Er geht wirklich. Einfach so. Lässt mich im Stich.

»Warum hast du das getan?«, breche ich hervor. Janiel schweigt.
 

Den Rest des Tages strafe ich meinen Schutzengel mit Ignoranz, Flucht und eisernem Schweigen – habe ich immerhin von ihm gelernt. Das funktioniert ganz gut, weil mich ein paar Mädels aus der Klasse in der Pause belagern, um meine Stilveränderung zu begutachten.

»Ich wusste gar nicht, dass du auf so einen Look stehst, Manu!« Hanna staunt. Nun ja, wusste ich auch nicht. Ich versuche, einen gewissen Jemand nicht anzusehen.

»Das ist echt süß! Wo hast du das Kleid gekauft? Du musst mir unbedingt den Laden sagen!«, plappert Karin, das Mädchen unter den Mädchen in der Klasse. Ihr würde mein Outfit definitiv besser stehen.

»Also … es war ein Geschenk, sonst würde ich es wohl auch nicht anziehen«, gebe ich zu.

»Ein Geschenk? Von deinem Freund etwa?«, hakt Sophie nach, die misstrauisch ihre Fingernägel betrachtet. French Nails. Sophie ist immer sehr stylish gekleidet. Sportlich, aber schick. Ein bisschen wie Nadine. Nur, dass Nadine leider, leider meistens hübscher aussieht. Mit Sophie habe ich noch nie alleine geredet. Sie klebt meistens an Hanna und Karin dran.

»N-nein! Niemals! Ich habe es von meiner Tante!«, flippe ich halb aus, füge dann hinzu: »Wirklich!«

»Dein Freund hat aber auch einen ziemlich guten Geschmack«, stellt Hanna fest. Sie spielt an ihrem Bettelarmband herum. »Hach, wie beneidenswert!« Als sie das sagt, nicken auch die anderen beiden Mädchen. »Verrate uns dein Geheimnis, Manu! Wie kriegt man so einen?«

Das ist eine gute Frage. Ich würde ihn ja gern loswerden. Moment. Das ist eine gute Idee. »Hach, ich weiß auch nicht … muss wohl Karma sein«, winke ich ab. In dem Moment rettet mich die Schulglocke. Und Dr. Sommer.

»Herr Sommer, haben sie schon den Mathetest korrigiert?«, belagert Klassenstreber Philipp ihn, sobald er die Schwelle übertritt.

Doch der grinst nur. »Keine Sorge, ich bin noch nicht dazu gekommen, reinzuschauen. Heute widmen wir uns dem ganz normalen Unterricht.«

Und das tun wir. Weil ich zwischen Janiel und Nadine sitze, bekomme ich die ganze Mathestunde über mit, wie Nadine ständig zu Janiel rüber schielt, versucht, ihn mir mit ihrem falschen Lächeln auszuspannen. Ich wage nicht, ihr in die Augen zu sehen. Das käme einer Kriegserklärung gleich. Soll sie ihn doch haben. Die Pute. Vermutlich ist ihr Lächeln nicht mal gespielt. Sie freut sich wirklich. Immerhin geht sie davon aus, dass sowohl Janiel als auch Tobi mich nun hassen. Mit Letzterem hat sie leider Recht.
 

»Mensch Manu, es tut mir leid!«, ruft Janiel hinter mir her, während ich schon zehn Meter weiter bin. Wir sind auf dem Nachhauseweg. »Manu!« Er hat mich eingeholt. »Ich wollte nicht deine Gefühle verletzen. Ehrlich.«

Abrupt mache ich auf dem Absatz kehrt. »Tobi hat mich gemocht! Du kannst mich doch gar nicht leiden, du tust nur deinen komischen JOB! Jetzt mag mich niemand mehr, weil Tobi der Einzige war und das hat mir auch gereicht! Für was hältst du dich eigentlich, dich so in mein Leben einzumischen! Ohne Schutzengel wäre ich besser dran gewesen, lieber wäre ich gestorben, als das zu erleben!«

Ich bin so eine Heulsuse, denn ich habe schon wieder Tränen in den Augen. Nicht so Janiel. »Wenn er dir MEINEN Wutausbruch von heute Morgen anrechnet, dann hat er dich nicht wirklich gemocht. Glaub mir.«

Ich will das nicht hören. Das kann nicht sein. Tobi wird nie wieder mit mir reden. Und das ist Janiels Schuld. Ich weiß es einfach. Ich gehe weiter, lasse Janiel stehen. Wieder rennt er mir hinterher. »Ok, ich mache es wieder gut! Versprochen!«, ruft er. Da habe ich eine Idee. Bleibe dramatisch stehen.

»Janiel.«

»Ja?«

»Ich mache Schluss.«

»Was?!«

»Es ist aus zwischen uns.«

»Okay … wenn das dein Wunsch ist.«

Ich wusste, er rebelliert nicht. Tränen glitzern.

Reflektieren Licht.

Lauter Verrückte

Schon lange genug hatte Camael sich nicht mehr nach dem kleinen Menschen erkundigt, dem er aus Mitleid einen neuen Schutzengel gesandt hatte. Doch eines Tages, nach lang getaner Arbeit, empfing ihn wieder die Lust darauf. So suchte er im fünften Himmel, weit entfernt von seinem Arbeitsplatz, nach einem stillen Ort für seine Auszeit. Lange blieb er nicht alleine.

»Meister Camael. Haben Sie schon die Anwesenheit im fünften Himmel überprüft? Heute ist Mittwoch«, nervte ihn Eiael, der Engel des Okkulten.

Camael schlug die Hände vor die Stirn und rieb sie sich. Mit zusammengekniffenen Augen erklärte er dem jungen schwarzmagischen Engel: »Mein lieber Freund, siehst du nicht diesen zarten Menschen? Ich muss ihm ein wenig unter die Arme greifen, damit er in die Puschen kommt.«

Wie aus dem Nichts zauberte Eiael einen Stapel von Dokumenten hervor. Er wedelte damit vor Camaels Nase herum. »Aber Meister, DARUM müssen Sie sich doch nicht kümmern! Nicht in Ihrer Position! Sie müssen sich DARUM kümmern. Im Übrigen, ist etwas Schreckliches passiert – Diesen. Dienstag. Gab. Es. Kein. LIED!« Um seiner Entrüstung mehr Ausdruck zu verleihen, schürzte Eiael die Lippen.

»Oh, dafür ist doch dieser Janiel … Ah«, entfuhr Meister Camael. »Das geht auf meine Kappe, werter Eiael. Ich entsandte Janiel auf die Erde, um diesem Menschen zu helfen.«

»Sie haben … WAS?! Janiel, unser Strahlender, auf … ich wage es kaum auszusprechen … DER ERDE? Was hat einer der Mächte, nein, dazu auch noch, einer der Wochentagszuständigen, auf der Erde verloren? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Meister Camael! Das ist so – herabwürdigend! Wissen Sie, wie bestürzt wir alle im fünften Himmel sind, die letzten Dienstage keine neuen Lieder mehr gehört zu haben?«, führte Eiael sich auf.

Camael zeigte auf die Erde. »Schau nur hinunter, die Menschen machen auch keine schlechte Musik.«

Ein sehr krächzend hoher Laut des Ärgernisses flüchtete über Eiaels Lippen. »Es geht nicht um Menschenmusik, es geht um Johanns Lieder! Ich will Johanns Lieder hören!«

»Mein lieber Eiael, tu deine Arbeit und kümmere dich nicht darum. Wir sind hier keinesfalls unterbesetzt und können Janiels Abwesenheit für ein Menschenleben leicht verschmerzen. So schwer kann es auch nicht sein, Lieder zu komponieren. Ich mag die Menschenmusik. Du solltest sie dir einmal anhören, wirklich nicht schlecht.«

Abgewürgt, beleidigt und auf seine Art und Weise erniedrigt, stiefelte Eiael weiter, hinab.
 

In aller Frühe machte sich Janiel an jenem Morgen auf den Weg zur Schule. Als er das Mehrfamilienhaus mit dem Rosé-roten Dach verließ, schlief Manu sogar noch. Den ganzen gestrigen Abend hatte sie ihn angesehen. Mit einem überaus bösartigen Glitzern in den Augen. Die Menschen waren wirklich unberechenbare Geschöpfe Gottes. Sie hatte ihn gebeten, sich in der Öffentlichkeit von ihr soweit es nur ging zu distanzieren, um das Gerücht über ihr Paardasein ein für alle Mal zu beseitigen.

Dem hohen Engel war es relativ egal, was Manuelas Mitschüler über ihn dachten. Ihren Freund vorzugeben oder nicht, beides stellte kein Problem für ihn dar. Sehr wohl aber, dass er nun vor dem noch verschlossenen Schuleingang stand. Janiel hatte so herrgottsfrüh aufbrechen müssen, dass der Hausmeister die Pforten der Schule noch nicht geöffnet hatte. So kauerte der Engel in Menschengestalt nun vor der schulischen Eingangstür aus Metall. Allmählich ging die Sonne auf, tauchte den schwarzblauen Himmel in bräunliche Töne, in Rot, in Orange. Vögel zwitscherten ihren Morgengruß.

Womit hatte er das eigentlich verdient. Seinen zweiten Besuch auf der Erde hatte Janiel sich ganz anders vorgestellt. Gar nicht, um genau zu sein. Er hatte immer geglaubt, es würde so bleiben: Jeden Dienstag ein Lied im Himmel. Immerhin war es ihm jahrelang so ergangen.

Das Quietschen eines Hinterreifens unterbrach Janiels Gedanken. Ein Junge mit mattbraunem Haar in Kapuzenjacke schob sein Fahrrad zu dem hölzernen Unterstand in der Nähe des Eingangs. Janiel erkannte ihn sofort. Es war Tobi, Manuelas ach so großer Schwarm. Wegen dem Janiel vermutlich noch viel Arbeit erdulden würde. Eine unglückliche Liebe war wie Gift für eine reine Mädchenseele. Sie war der Inbegriff von menschlicher Dummheit.

Tobi schien allerdings kein Stück klüger zu sein. »Hey«, sprach er den Engel an. »Nadine hat mir gesimst, dass du und Manu nicht mehr zusammen seid.«

»Jap. Manu hat Schluss gemacht.«

»Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich euch nicht allein gelassen.«

»Wie nobel von dir.«

»Ok … « Er wandte sich ab, um das Schulgebäude zu betreten.

»Warte. Manu denkt, dass du sie jetzt nicht mehr leiden kannst. Würdest du mit ihr reden?«
 

»Hast du schon gehört?«

»Dieser Typ, der neu in die zehnte gewechselt ist … «

»Der soll wieder zu haben sein!«

Die Gerüchte-Küche am Morgen danach brodelt nur vor Spekulationen und Verheißungen. Noch bevor ich die Schuleingangstür erreiche, kann ich den Vermutungen meiner Mitschüler um mich herum lauschen. Weil sie das nicht gerade leise tun.

Ja, ich habe mit Janiel offiziell Schluss gemacht. Ihn gebeten, das Missverständnis (oder aber eben meine Lügen) aufzuklären, indem er von nun an meinen Exfreund spielt. Okay, das ist irgendwie eine Folge-Lüge. Losgeworden bin ich ihn bis jetzt zwar nicht, aber glücklicherweise fristet er bei mir zuhause ein tadelloses Katzendasein.

Kaum, dass ich unser Klassenzimmer betrete, horchen alle Mädchenohren auf. Zeit, ihnen mein vorbereitetes Trennungs-Blabla vorzusetzen. »Hey, Manu. Was ist denn los?«, bemerkt Karin, die Feinfühlige, als ich übertrieben schmollend den Weg zu meinem Sitzplatz bahne.

»Genau. Und wieso kommst du heute allein? Wo ist Jan?«, fragt Hanna.

Ich schniefe. Gründe zum Traurigsein habe ich ja genug. »Ich habe Schluss gemacht.«

Nadine dreht sich zu uns um. »Du hast was? Wohl eher er.«

»Mann Nadine! Jetzt hör doch endlich mal auf!«, faucht Karin sie an und nimmt mich in den Arm. »Warum hast du denn Schluss gemacht? Was ist passiert?«

Okay, jetzt kommt Teil zwei meiner Imaginären-Freund-Beziehung. Ich habe gestern noch den ganzen Abend lang daran gefeilt. »Also … ich … es war so, dass er hat … ich hab raus gefunden, dass er mich nicht wirklich liebt.«

»Oh wie schrecklich. Erzähl ruhig weiter, wir hören dir zu«, versichert mir Hanna.

Also fahre ich fort. »Ich weiß, so was macht man nicht, aber ich habe bemerkt, wie seltsam er sich gestern verhalten hat … normalerweise freut er sich immer, wenn er mich sieht, aber … im Laufe des Tages hat er sich immer mehr zurückgehalten … und dann, dann habe ich sein Tagebuch gelesen.« Eindrucksvolle Pause. »Er hat geschrieben, dass er sich nicht sicher ist, ob ich die Richtige für ihn bin, wenn ich so viele schlimme Dinge getan habe«, blubbere ich.

»Hä? Was denn für schlimme Dinge? Das Volleyballspiel hat er ja nicht miterlebt«, scherzt Sophie. Doch Nadine weiß, wovon ich spreche.

»Ach, du redest von der Sache gestern. Das war doch nicht ernst gemeint, nur ein Scherz«, sagt meine Erzfeindin.

Bei der hakt’s doch!

»Was hast du gestern zu Jan gesagt, Nadine? Spuck’s aus, du steckst dahinter!«, sagt Hanna und sieht Nadine scharf an.

»Sie kann nichts dafür! Ich muss ihr danken. Ohne sie hätte ich niemals bemerkt, wie wenig er zu mir steht!«, wende ich ein. Nadine macht ein grimmiges Gesicht. Ihr gefällt es gar nicht, dass ich mich über ihre Streiche freue. »Jedenfalls konnte ich danach nicht mehr mit ihm zusammen sein. Ich meine, wenn er mir nicht mehr vertraut, was ist das dann für eine Beziehung? Keine, das sage ich euch!«, beende ich filmreif die Imaginärer-Freund-Geschichte.

Die Mädchen staunen. »Wow, das ist echt selbstbewusst! Respekt!«, sagt Mona, die sich aus Neugier dazugestellt hat, obwohl sie noch nie ein Wort mit mir gewechselt hat. Genauso wie Elise, die zustimmend nickt. »Hast du echt gut entschieden, Manu!«

»Da ist doch was faul. Jan hat hundertpro Manu sitzen gelassen, nicht andersherum«, stichelt Nadine mal wieder. »Aber mir soll’s recht sein. Dann ist Jan eben wieder zu haben!«

Alle Mädchen im Raum sehen Nadine giftig-grün an. Die ach so beliebte Nadine hat es sich gerade mit allen Klassenkameradinnen verscherzt. Denn obwohl mir alle ihren Respekt zollen, sehe ich in ihren Augen, dass sie es – eigentlich – auf Jan abgesehen haben. Sogar Sophie, Mona und Elise, die vergeben sind. Viel Spaß Nadine.
 

Der Wettkampf ist eröffnet. Jan kann sich kaum retten vor Weibern. In der großen Pause kann ich schadenfroh beobachten, wie Lilly aus der Parallelklasse mit voller Wucht in Janiel reinrennt, damit er ihre Bücher aufhebt. Wie die Klassenschönheit Elise ihn von der Seite anquatscht, um mit ihren riesigen Fake-Wimpern-Augen zu klimpern. Und wie meine Lieblingsfreundin Nadine doch tatsächlich Jans Pausenbrot vom Kiosk bezahlt. Der Engel hat es echt gut auf Erden.

Für mich interessiert sich niemand mehr, und das ist auch gut so. Denn für Tobi interessiert sich jetzt ebenso keine mehr. Kleiner Haken: Tobi interessiert sich auch nicht mehr für mich. Denke ich, als er auf dem Pausenhof einfach an mir vorbeigeht, an den Möchtegern-Kunst-Steinen.

Bis zu dem Zeitpunkt, an dem er aus heiterem Himmel stehen bleibt und sich umdreht. Heute trägt er eine graue Kapuzenweste, darunter einen schwarzen Pullover. Seine typisch kartoffeldeutsche Haut kommt dadurch bleicher als sonst zur Geltung. Er sieht aber auch so niedergeschlagen aus.

»Manu, es tut mir leid.«

Ich traue meinen Ohren nicht. Hat mal jemand ein Wattestäbchen?

Mit leicht gesenktem Kopf nähert er sich mir, kniet nieder, ins noch taufeuchte Gras. »Ich habe in dem Moment automatisch gedacht, ihr hättet einen Streit unter Mädels, darum wollte ich nur, dass ihr euch versöhnt. Ich bin auf keiner Seite oder so etwas.«

»Nadine und ich haben uns nicht gestritten.« Nein, Nadine demütigt mich. Lästert über mich. Verarscht mich. Macht sich über mich lustig. Siegt über mich. Und das seit zwei Jahren. Aber das kann ich ihm so … einfach nicht sagen. Denn sie hat es in dieser Zeit irgendwie geschafft, sich mit Tobi genauso anzufreunden wie ich.

»Ich muss dir was sagen«, presse ich angespannt hervor. Meine Finger krallen sich in das Stück Stoff namens Krümelmonster-Hoodie.

Ich hasse Nadine.

Wir sind überhaupt keine Freundinnen.

Schon lange nicht mehr.

»Ich weiß schon. Ich will nur, dass du weißt, dass ich es wirklich nicht böse gemeint habe gestern und es mir leid tut«, unterbricht er mich. »Übrigens weise Entscheidung, Jan abzuschießen. So ein Schönling passte eh nicht zu dir.«

Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll. Bin sprachlos. »Äh … danke, Tobi.«

Normalerweise wäre ich wohl sauer. Aber alles was ich höre ist: Weil du viel besser zu mir passt. Tobi fängt an, nervös an seinem Pulli-Bändel herum zu zupfen. »Heißt das, es ist alles wieder gut mit uns?«

»Äh … klar.«

»Wirklich?«

»Ja. Klar.«

»Ich kaufe dir das irgendwie nicht ab«, spekuliert der Junge, der vor mir kniet als würde er gleich eine Ringschachtel hervorholen. Was ich im Übrigen sehr begrüßen würde. Er weiß natürlich nicht, dass ich nur so knapp antworte, weil er mir schlicht den Atem und das Gehirn raubt.

»Kann ich es vielleicht irgendwie wieder gut machen? Ich fühle mich echt schuldig, weil du so geweint hast und ich dich dann einfach mit deinem Ex alleine gelassen habe … Das hätte ich nicht tun sollen … da wusste ich aber auch noch nicht, dass es so – endet.«

Ich sehe zu Boden. Tobi trägt Sneakers. Werden die nicht nass? »Hätte ich auch nicht gedacht.«

»Also? Was kann ich für dich tun?«, wiederholt er.

Am liebsten hätte ich jetzt gesagt, dass du mich liebst. Dass du mich küsst. Mich umarmst. Mir vertraust. Keinem Märchen über mich glaubst. Dass du erkennst, was für ein Miststück Nadine in Wirklichkeit ist. Aber ich sage: »Dass du mir nicht böse bist, wenn ich das nächste Volleyballmatch vergeige.«
 

Und so habe ich mir ein Spezial-Volleyballtraining bei Tobi in der Turnhalle für den Nachmittag geholt. Beziehungsweise, ein Date? Ich glaube, ich höre lieber mal auf, mir Dinge einzubilden. Jedenfalls habe ich nach langer Zeit mal wieder einen Grund, um richtig heftig glücklich zu sein und das ist was zählt. Also stapfe ich voller Vorfreude von der Umkleide in die Halle und erblicke Tobi, der mich noch nicht bemerkt, weil er gerade einen Volleyball aufpumpt. Eigentlich dürfen wir gar nicht rein, aber Tobi meinte, er hätte Connections. Von daher sind wir hier, in der Schulturnhalle, gelandet. Tobi sieht mich, winkt. Ich winke zurück. Er nähert sich. Steht vor mir. Grinsend und mit dem prallen Ball unter dem Arm. Scheiße, sieht er gut aus!

»Hey«, sagen wir gleichzeitig, er umarmt mich. Wir sind uns so nah, dass ich seinen Herzschlag spüren kann. Ist schon ein tolles Ding, dass wir überhaupt leben. Das denke ich an guten Tagen wie heute.

»Ok dann wollen wir mal mit der ersten Lektion anfangen, oder?«

Ich nicke. Die Halle hat etwas Trostloses an sich, wenn sich nicht mindestens dreißig Schüler um Bälle ranken oder Dehnübungen machen. Gemeinsam bauen wir das Netz auf, Tobi trägt die Eisenstangen an Ort und Stelle ohne meine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er ist ein totaler Gentleman. Als wir (äh oder eher … er) fertig sind (oder eher ist) mit Aufbauen, meint Tobi, wir sollen zuerst einmal den Aufschlag üben. Demnach platziere ich mich in der hintersten Ecke des durch die gelben Bodenlinien markierten Volleyballfeldes. Von dort aus erscheint es mir plötzlich unmöglich, den Ball bis auf die andere Seite zu befördern. Es ist ein Wunder, wenn ich es überhaupt bis zum Netz schaffe. Und dann noch die Sache mit dem Aus … Oioioi. Aber Tobi sieht die ganze Sache entspannt und will jetzt sehen, wie ich meinen Aufschlag für gewöhnlich mache. Okay, kann er haben.

Erster Versuch: Die Hand, die den Ball ins Nirwana befördern soll, rudert eindeutig am Ball vorbei.

Zweiter Versuch: Die Hand trifft! Der Ball wirbelt durch die Luft (ist das jetzt gut oder schlecht?), schlägt mit einem harten Knall auf Tobis Kopf auf.

»Verdammt! Tobi, alles okay mit dir?«, rufe ich, während ich schon zu ihm eile.

Er reibt sich die Birne und grinst mich an. »Damit hätte ich wohl rechnen müssen … Ich glaube, wir haben da viel Arbeit vor uns.«

Wieso grinst er denn immer noch? Der Junge hat wohl zu viel auf den Kopf gekriegt! »Soll ich einen Arzt rufen?«

Verwirrt starrt er mich an. »Also wirklich, du glaubst doch nicht, dass so ein Ball so viel Schaden anrichten kann!«

»Ach so, dann war das schon vorher!« Wir lachen.

»Ja, da könntest du Recht haben. Wolltest die Schuld gerade bloß auf dich nehmen, was?«

»Natürlich, ich wollte dein Image schützen!«

»Na dann muss ich mich wohl herzlichst bei dir bedanken!« Er verbeugt sich vor mir. »Was kann ich im Gegenzug für die Dame tun?«

Ok, das ist krass. Ich hau ihm (unabsichtlich) auf den Kopf und er bedankt sich, und will sich revanchieren. Wie geil ist das denn?! Zugegeben, in letzter Zeit habe ich zwar immer noch Pech, aber das Glück flattert in gewissen Momenten immer wieder mal vorbei. Janiel hin oder Schutzengel her.

»Würde der Herr der Dame die Kunst des Nicht-Versagens im Volleyball denn schulen?«

»Ganz gewiss, meine Dame, so werde ich Euch diesen Wunsch erfüllen.«

Als Nächstes zeigt er mir seinen Aufschlag, der wohl begründet, was ich so alles falsch gemacht habe. Die nächsten zehn Versuche will es bei mir trotzdem nicht klappen, da legt er die Hand auf meine Schulter. »Ok, pass auf, du musst dich erst einmal entspannen. Der Ball frisst dich nicht und deine Mitspieler auch nicht, du hast Zeit und musst den Ball nicht hektisch loswerden. Du streckst den linken Arm aus, in dessen Hand sich jetzt der Ball befindet … «, erklärt er mir und nimmt meinen Arm, der so wie gesagt, positioniert wird. »Übe die Bewegung erst ein paar Mal, bevor du sie ausführst. Du kannst den Aufschlag entweder mit der offenen Hand am Handgelenk oder der Faust machen, je nachdem, wie es für dich besser ist.«

Ich konzentriere mich und atme tief durch.

Jetzt. Unsere Augen verfolgen den Ball. Er schlägt in der Mitte des Feldes auf. Es hat geklappt! Jubelnd falle ich ihm in die Arme und freue mich einfach nur.

Es hat geklappt, es hat geklappt, es hat geklappt! Ich bin doch nicht so eine Niete!

Tobi streicht mir übers Haar. Das hat er noch nie gemacht. »Das wird noch was. Wir üben jetzt die ganze Zeit, und irgendwann bist du mal ein Profi und die Teams werden sich um dich reißen, ja?«

Ich könnte ihn küssen! Tue ich aber nicht.
 

Abends komme ich total ausgepowert nach Hause, aber das war es wert. Mit Tobi zusammen zu sein macht mich einfach nur glücklich, das ist Fakt. Mama zieht sich gerade die Nachrichten rein, deshalb versuche ich mich heimlich aus dem Staub zu machen, bevor sie mich sieht. Aber es ist bereits zu spät. »Komm Manu, setz dich zu mir, du glaubst nicht, was heute schon wieder alles passiert ist!«

Sorry, aber wenn ich ehrlich bin, interessiert es mich nicht sonderlich, wo schon wieder Öl ins Meer gelaufen ist, wo gerade wieder ein Krieg ausgebrochen ist, oder wo schon wieder ein Mädchen vergewaltigt worden ist. Klar ist das alles furchtbar, aber ich bezweifle irgendetwas an der Situation ändern zu können, also warum sollte ich mir jetzt darüber den Kopf zerbrechen? Aber ich schwöre, wenn ich mal Bundeskanzlerin werde, dann werde ich natürlich alles daran setzen, diese Dinge zu ändern. Doch bevor das passiert, ist es wahrscheinlicher, dass meine Katze zum Mond fliegt. Wobei das gar nicht so unwahrscheinlich ist, wenn ich an Janiel denke.

»Mama ich kann nicht, ich möchte lieber erst duschen«, rufe ich im Vorbeigehen.

»Ist in Ordnung Schatz! Aber pass bitte auf dich auf, ja?«

Ok, daraus schließe ich, dass mal wieder jemand abgestochen worden ist. Ich begebe mich nach oben.

Da huscht die Katze ins Zimmer. »Na, wie fühlt es sich an, Casanova zu sein?«, ziehe ich Janiel auf, der diesen Konversationsstart als Einladung nimmt, um sich in einen Menschen zurückzuverwandeln.

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Ach ja?«

»Ja.« Er zieht mein Mathebuch aus dem Rucksack heraus, der am Bettpfosten lehnt, und erlaubt sich die Frechheit, sich zu setzen. »Hast du schon Hausaufgaben gemacht?«

Ich hebe das Handtuch hoch, das ich soeben aus dem Schrank geholt habe: »Sehe ich etwa so aus?«

Seufzend schlägt er das Buch auf. »Manu, Manu … Das ist wichtig.«

»Dann lern mal schön fleißig, dann kannst du mir ja einsagen.«

»Das ist nicht witzig. Wenn du später mal aufgrund deiner miserablen Noten Putzfrau wirst, steigt dein Sterberisiko und somit mein Arbeitsaufwand.«

»Inwiefern ist der Beruf Putzfrau denn lebensbedrohlich?«

»Naja, ich traue dir zu, dass du deine Wasserflasche mit Putzmittel verwechselst.«

»Bitte werde schnell wieder eine Katze«, verkünde ich, ins Bad schreitend.

Ich liebe unsere Dusche. Es dauert nicht mal einen Wimpernschlag, bis das heiße, laufende Wasser einen wohlig-warmen Dampf innerhalb der Kabine erzeugt. Die dünnen Wasserstrahlen aus der Düse prasseln nieder, perlen an meiner Haut ab und wischen den Schweiß weg, den ich vom Volleyballtraining mit nach Hause genommen habe. Ob Tobi wohl … auch gerade duscht? Ich stelle das Wasser ab, drücke mit aller Gewalt das letzte Tröpfchen Duschgel aus der Tube. Ob er gerade an mich denkt? Denkt er überhaupt an mich? Nach dem Shampoonieren und Auswaschen rubbele ich mich mit meinem peinlich pinken Hello-Kitty-Handtuch ab, das meine Mutter mir gekauft hat »weil es so schön zu den restlichen Sachen passt.« Eigentlich mag ich kein Hello Kitty. Aber hey, es ist rosa.

Selbst wenn Tobi über mich nicht so denkt, wie ich über ihn, dann rieche ich wenigstens gut. Mein Schutzengel denkt anscheinend über mich, dass ich dümmer als Brot bin. Mein Zimmer ist zu einer Nachhilfe-Station umfunktioniert worden. Überall hängen Vokabeln auf rosa Post-Its (okay, wenigstens das), statt meinem My-Chemical-Romance-Bandposter prangt nun eine Weltkarte mit Geschichtsdaten an der Wand, und mitten drin im Chaos sitzt Janiel auf meinem Bett, um sich herum Lernhilfen ausgebreitet. Es sieht hier schlimmer aus als beim Sommerschlussverkauf.

»Was soll das?!«

»Wir lernen jetzt für deine Zukunft.«

»Verwandle dich sofort wieder in eine Katze! Und wo ist mein Poster?!«

Er deutet in die Ecke, setzt ein miesepetriges Gesicht auf und erklärt sachte: »Ich meine es ernst. Deine Noten sind so schlecht, dass dein Vorrücken in die nächste Stufe gefährdet ist. Wenn du jetzt nichts unternimmst, sieht deine Zukunft bescheiden aus. Du kannst entweder meine Hilfe in Anspruch nehmen – oder sitzen bleiben.«

Harte Worte. Aber die richtigen. Genervt hocke ich mich dazu. »Also gut, lass uns lernen.«
 

Am nächsten Morgen werde ich von Sonnenstrahlen geweckt, da ich am Vortag vergessen habe, die Jalousien runterzukurbeln. Am liebsten möchte ich gar nicht aufstehen, es ist so schön warm … Moment, was macht der blonde Haarschopf da?! O je, ich muss gestern beim Lernen mit Janiel eingeschlafen sein! Zum Glück schlummert er noch … Vorsichtig versuche ich, mich aus seiner Umklammerung zu befreien, da geht plötzlich die Tür auf. Entgeistert sieht Mama mich an. Mist!

»Ich kann das alles erklären!«, versuche ich das Schlimmste zu verhindern. Mama hält sich die Hand vor den Mund. »Meine Tochter … ihr, ihr habt doch Kondome benutzt, oder?!«

Oh mein Gott! So was musste ja kommen! »Mama, ich habe nicht mit ihm geschlafen!«, werfe ich ein.

»Manuela, du weißt, wie schnell das gehen kann, und in neun Monaten bin ich dann Großmutter! Denk an deine Karriere, Kind!«

Jetzt wacht auch noch Janiel auf. Buhuu … ich könnte heulen. »Hä? Oh, guten Morgen! Sie müssen Manus Mutter sein!«, begrüßt er meine Mama.

Na super! Der tut auch noch so, als wäre das was ganz Normales! Zum Glück murmelt sie nur noch was von auch »Guten Morgen« und verschwindet dann.

»Spinnst du eigentlich?! Meine Mama denkt jetzt, ich wäre keine Jungfrau mehr!«, motze ich ihn lautstark an.

»Was ist so schlimm daran? Du bist doch sowieso keine von den Gläubigen mit der Kein-Sex-vor-der-Ehe-Mentalität? – Aua! Was soll das?!« Er reibt sich die Stelle, auf die ich draufgekloppt habe.

»Willst du noch eine Kopfnuss?«, entgegne ich harsch.

Er schweigt. Endlich. Ruhe. Wir machen uns für die Schule fertig, unten in der Küche versucht Janiel auf meine Mutter einzureden, was mir so peinlich ist, dass ich mich von beiden weit, weit entfernt halte und heimlich das Haus verlasse. Erst an der Bushaltestelle holt Janiel mich wieder ein.

»Mach dir keine Sorgen, ich habe ihr Gedächtnis gelöscht.«

»Du hast WAS?!«

» … «, schweigt er mal wieder und guckt mich an wie ein Ufo.

»Aber … wie … «

Janiel zieht seinen ockerbraunen Mantel gerade. »Vertrau mir einfach.«

Haha. Der ist gut.

Kaum, dass wir in der Schule ankommen, nehme ich das allseits bekannte Raunen wahr, das mir sagen soll: Alle-verstehen-es-falsch-dass-wir-zusammen-aufkreuzen.

»Janiel, ich hau ab. Wir treffen uns im Klassenzimmer!«, zische ich leise. Und verschwinde. Leider hat irgendjemand namens Lilly noch rechtzeitig in meiner Klasse verbreiten können, dass sie Janiel und mich zusammen im Bus gesehen hat.

»Bist du wieder mit Jan zusammen, Manu?!«, überfallen mich Hanna und Sophie. Mager lächelnd hebe ich die Hände hoch: »Oh Gott, nein!«

Sie wischen sich den Schweiß von der Stirn ab. »Gut, wir wollen nicht, dass du nochmal auf so einen reinfällst!«

Ja, sicher.

Der Unterricht ist mal wieder stinklangweilig, aber was erwarte ich eigentlich noch. Der einzige Trost ist, dass man sich während Mathe die Zeit vertreiben kann, indem man unseren unglaublich gut aussehenden Dr. Sommer anstarrt, aber das war es auch schon. Und für mich ist das eh keine Option. »Manu, wie lautet die allgemeine Exponentialgleichung nochmal?«, unterbricht Dr. Sommer meine Gedanken. Wie unhöflich! Der grinst sich auch noch einen ab, wie ein Honigkuchenpferd! Chantal und Lilly würden in Ohnmacht fallen.

»Ähm … Ypsilon ist gleich ... A mal B hoch X?«, stammele ich langsam hervor.

»Das ist korrekt!« Dr. Sommer wendet sich wieder der gesamten Klasse zu. Die Lernerei scheint irgendwie etwas gebracht zu haben.

»Da ist doch was faul, Manu, du kleine Schummlerin«, flüstert es von der dunklen Seite. Nadine. Soll ich etwas erwidern? Nein, das ist es nicht wert. Ich genieße das Gefühl intellektueller Überlegenheit. Solange, bis Janiel mich am Ellenbogen antippt und triumphierend lächelt.
 

Ich stehe ganz hinten in der Pausenschlange, als ich Tobi kurz vor der Kasse ausmache. Sofort geselle ich mich dazu. »Danke fürs Platz frei halten, Kumpel!«, begrüße ich ihn mit verschmitztem Lächeln.

»Aber immer gerne doch!«, kommt es grinsend zurück. Irgendwie läuft mein Alltag gerade Amok, da bin ich echt froh, dass ich mich auf einen verlassen kann!

»Wollen wir heute Nachmittag mit dem Training weitermachen?«, fragt Tobi beiläufig.

»Klaro! Ich will das nächste Mal nicht noch einmal für unsere Niederlage verantwortlich sein! Und wenn ich die ganze Nacht üben muss«, sage ich entschlossen. Jawohl, Nadine werde ich es zeigen!

Tobi strahlt mich an. »Also gut, dann sehen wir uns später in der Halle.«

»Okay.« Ich bin total happy. Nie wieder werden sie mir die Schuld in die Schuhe schieben können. Und alles Dank Tobi. Ich könnte in die Luft springen, einen Freudentanz ausführen oder anfangen zu singen (aber lieber nicht).

Als ich auf meinem Käsebrot herumkauend durch die Schule schlurfe, bemerke ich plötzlich einen dunklen Fleck, der sich hinter den äußeren Fensterreihen im Gang bewegt. Ich kann nichts Genaues erkennen, vielleicht habe ich auch nur mal wieder zu viel Fantasie. Ich schaue weg, schaue ein zweites Mal hin. Nichts. An der Treppe entdecke ich Janiel, wie er sich mit Karin unterhält. Sie scheinen sich gut zu amüsieren, Karin lacht. Weil wir ja Schluss gemacht haben, kann ich mich ja nicht mehr mit ihm abgeben. Zum Glück.

Karin bemerkt mich. Sie winkt. »Hey Manu! Ich habe gehört, ihr habt beschlossen, trotzdem Freunde zu sein?«

Das klang eher wie eine Feststellung als eine Frage. Hab ich da auch noch ein Wörtchen mitzureden?!

»Ich finde das total cool von euch! Es gibt nicht viele Paare, die das nach einer Trennung schaffen. Ich freue mich für euch, dass ihr euch vertragen habt!«, schwärmt mir Karin vor, während Janiel daneben steht. So ist sie nun mal: hoffnungslos romantisch und verträumt.

»Jaah, ich freu mich auch, dass alles im Ruder ist. Jetzt muss ich aber mit dem Depp vom Dienst ein kleines Gespräch führen!«, breche ich zähneknirschend hervor und sehe Janiel gaanz gaaanz zornig an. Karin schenkt uns ihr optimistisches Smiley-Face. Immer noch. »Ich gehe dann mal!«, ruft sie uns fröhlich zu, schon längst im Begriff, sich vom Acker zu machen.

»Was ist denn los, du musst nicht immer gleich beleidigend werden«, meckert der Engel herum.

»Was fällt dir eigentlich ein, herumzuerzählen, wir wären jetzt beste Freunde!«, pflaume ich ihn an.

»Sind wir das nicht?«

» … «, äffe ich ihn nach.

»Ok, ich spreche so was das nächstes Mal mit dir ab. Zufrieden?«

»Na geht doch. Wieso bin ich eigentlich die Einzige mit solchen Problemen?!«, murmele ich mehr zu mir selbst, als zu Janiel. Der weiß natürlich trotzdem eine Antwort.

»Bist du nicht. Jeder Mensch hat Probleme.«

Ich räuspere mich: »Ach ja? Bringt jeder Mensch seinen Schutzengel mit zur Schule?«

Mürrisch antwortet Janiel: »Was denkst du denn.«

»Keine Ahnung, du erzählst ja nie was.«

Es ist still. Typisch Janiel. Er wird mir auch nichts weiter darüber erzählen. Dabei würde es mich schon interessieren. Wo sind all die Schutzengel der anderen? Sind noch weitere Schüler in Wirklichkeit Engel?

»Eins kann ich dir verraten«, bricht er hervor. »Der Himmel sorgt dafür, dass hier unten alles glatt läuft. Wenn etwas aus dem Ruder gerät, kommen wir auf die Erde, um es zu richten.«

»Gottes beschissener Plan wieder.« Ich beiße mir auf die Lippen. »Da kann ich gern drauf verzichten.« Ich sehe raus aus dem Fenster. Suche nach diesem Fleck, aber finde ihn nicht mehr. Der Schönling mit den goldblonden Haaren tut es mir nach, seine Augen wandern in die Ferne.

»Ich finde es auch nicht in Ordnung wie es ist. Was dich übrigens aufheitern könnte: Nadine hat mich um ein Date gebeten.«

»W-was?!«, jubele ich bereits im Fragen.

»Ich habe natürlich höflich abgelehnt. Du weißt schon, weil wir ja noch Freunde sind.«
 

Happy wie noch mal was gehe ich aufs Klo. Diesen Korb hat sich Nadine gewaltig verdient! Manchmal feiere ich Janiel einfach nur. Unsere Schule ist nicht unbedingt die sauberste, aber wenigstens macht die Toiletten-Frau einen guten Job. Im Mädchenklo. Bei den Jungs habe ich noch nie reingeschaut. Es riecht angenehm, nach einem dieser Lufterfrischersprays. Zitrone. Und Klopapier ist auch immer anwesend. Draußen auf dem Flur steuere ich unser Klassenzimmer an. Davor steht komischerweise Tobi. Mit Janiel. Hö?

»Sorry, aber das geht zu weit.«

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht.«

»Das geht mich sehr wohl etwas an. So was macht man einfach nicht«, vertritt Tobi seinen Standpunkt.

»Da hat jemand die Weisheit mit Löffeln gefressen. Mit sechzehn.«

»Ein Jahr älter zu sein macht anscheinend nicht gerade klüger. Ich sage es dir als guter Freund von Manu: Halte dich von ihr fern«, sagt Tobi. Unfassbar. Das sagt wirklich Tobi. Zu Janiel. Über-überrascht lausche ich den beiden hinter der Ecke vor dem Klassenzimmer. Werde knallrot. Das kann nur eines bedeuten: Tobi ist eifersüchtig auf Janiel!

»Ausgerechnet du … « Janiel verweilt seelenruhig.

»Glaub mir einfach. Freunde zu bleiben, wenn davor romantische Gefühle im Spiel waren, funktioniert nicht. Es tut nur einer Person weh. Ich kann nicht zulassen, dass du das Manu antust«, redet Tobi weiter auf meinen Schutzengel ein, untermalt was er sagt, in dem er mit den Händen fuchtelt. Tobi meint es wirklich ernst. An seiner Stirn hat sich zwischen seinen Augenbrauen diese kleine Falte gebildet, die Sorgenfalte. Er sorgt sich um mich. Janiel lässt sich davon nicht beeindrucken.

»Gut, ich mache dir einen Vorschlag. Unter einer Bedingung rede ich kein Wort mehr mit ihr.«

»Was willst du?«

»Du tust das Gleiche.«

Wie kann er es wagen?! Am liebsten würde ich hervorspringen aus meinem Unterschlupf, ihm an die Gurgel gehen. Mich hindert die Neugier. Was Tobi sagen wird.

»Gut. Wenn eure sogenannte Freundschaft dann ein Ende hat, bin ich bereit dazu«, gibt Tobi mich auf, einfach so. Die beiden Jungen besiegeln ihren Deal mit einem Handschlag. »Abgemacht. Keiner von uns beiden hat länger was mit Manu zu tun.«

Dann verschwindet Janiel im Klassenraum, Tobi im nächsten Gang. Ich habe Janiel definitiv zu früh gefeiert.
 

Kaum, dass ich im Unterricht sitze, erreicht mich eine SMS von Tobi. Er kann heute nicht kommen zum Volleyball. Ich bin so sauer. Haue mit einer Faust auf den Tisch, Nadine schreckt auf. Plärrt mich an. Interessiert mich nicht. Das Einzige was ich tun will, ist meinem selbsternannten Schutzengel den Hals umdrehen. Der tut so, als wäre ich Luft, während unser Deutschlehrer den Rest der Klasse zu Tode redet. Von wegen »beschützen«! Janiel hat irgendeinen Komplex, den er an mir auslässt. Dieser Scheißkerl. Ein richtiger Sadist. Zwingt mich zum Putzen, zum Lernen und zum Alte-Jungfer-Dasein. Ich kann nicht glauben, dass noch wer in diesem Raum oder gar dieser Welt so eine Nervensäge ertragen muss. Aber vielleicht bin ich einfach gesagt immer noch derselbe Pechvogel. Den schlimmsten Schutzengel aller Zeiten: Den kriege natürlich ich.

Es klingelt. Letzte Stunde vorbei. Du willst nicht mehr mit mir reden, Janiel? Dann mach dich darauf gefasst, dass du mir nicht mehr ins Haus kommst! Hastig stopfe ich meine Schlamperrolle, das Deutschbuch »Worte verändern« (genialer Titel, was) und meinen Collegeblock in meinen schwarzen Billigrucksack, der mindestens eine halbe Weltreise hinter sich haben muss, damit er produziert werden konnte, und stürme aus dem Klassenzimmer. Raus. Ich bekomme den frühen Nachhause-Bus, hänge Janiel ab, der bestimmt dumm aus der Wäsche guckt. Ich werde nie wieder einem dahergelaufenen Katzen-Engel vertrauen. Oh nein.

Die Wut lässt nicht ab von mir, ich habe das Gefühl, mit jedem Schritt noch zorniger zu werden. Das Wetter macht es nicht besser. Ein Gewitter braut sich zusammen, die Wolken verdichten sich, werfen Schatten auf die Nachbarschaft. Kurz vor unserem Haus trete ich schließlich volle Pulle gegen die Latten des Nachbarzaunes. Der leicht nachgibt. Oh, oh! Ein Jaulen schreckt mich auf. Seit wann haben die denn einen Hund?! Schnell will ich weg, da legt mir jemand von hinten eine Hand auf die Schulter.

»Du bist also das Miststück«, zischt eine herrische und gleichzeitig herrliche Stimme in mein Ohr. »Die Möchtegern-Madeleine. Siehst ihr leider wirklich ähnlich. Aber Madeleine war hübscher.«

Wie kann jemand so helle, klare Klänge von sich geben und dabei solche Worte gebrauchen? Nicht einmal umdrehen kann ich mich, denn er zerrt an mir, wirbelt mich dahin wo er will. Es ist wie ein Tanzschritt, abgesehen davon, dass ich mich nicht freiwillig füge. Der Fremde hat mein Handgelenk fest im Griff. Jetzt bin ich im Stande ihn zu betrachten. Er ist jung, groß und schlank. Er trägt einen schwarzen Trenchcoat aus Filz, sein Gesicht wäre makellos, wenn er mich nicht mit so einer angeekelten Fratze anstarren würde.

»Was soll der Mist?«, pflaume ich ihn an. »Wieso hältst du mich fest? Lass mich sofort los!«

Der Junge, ich schätze ihn wirklich nicht großartig älter als mich, vielleicht zwei, drei Jahre, blafft daraufhin: »Nein, das werde ich nicht. Mache dich auf etwas gefasst, du Miststück.«

Noch während er spricht, läuft mir ein kribbelnder Schauer bis in die Knochen. Es hört sich so bestimmend an. Gleich darauf will er mich weg schleifen, was ich ihm natürlich nicht einfach so durchgehen lasse. Ich reiße an seinem Arm, zappele wie ein Fisch im Netz. Doch wie der Fisch bin ich bereits gefangen. Der Fremde zieht mich näher an sich heran.

»Keine Sorge, Menschenmädchen, ich tue dir nichts … vorerst«, flüstert er in mein Ohr.

»Was … ?!«, entfährt mir, was so ziemlich das Dümmste ist, was man in so einer Situation sagen kann. Er dreht mein Handgelenk so, dass ich vor Schmerz aufquieke, zu Boden sinke und mich nicht mehr wehren kann. Wovon redet der Irre eigentlich?

Aus seiner Manteltasche holt er ein Messer hervor. Okay, er will mich also umbringen.

»Warte, nein, tu das nicht! Wir können doch auch in Ruhe reden! Du wirst das noch bereuen, die stecken dich lebenslang ins Gefängnis, und du bist doch noch so jung – «, rede ich panisch auf ihn ein.

»Zügle dein Züngelchen, du bist gleich an einem besseren Ort«, unterbricht er mich.

»Da will ich aber nicht hin!«, pampe ich zurück.

Ich will noch nicht sterben. Ich will nicht meine Mutter verlassen. Und Janiel. Nicht einmal Nadine. Und vor allem nicht Tobi. Das ist mein letzter Gedanke, bevor der fremde Schönling dafür sorgt, dass ich mein Bewusstsein verliere.
 

Einmal, vor langer Zeit, war ich mit meinem Vater auf einem Spielplatz. Ich saß auf der Schaukel und er hat mich angeschubst. So hoch bin ich noch nie geflogen. Er sagte, so hoch können nur Engel fliegen. Engel. Er wusste nicht, was er sagte. Ich sei sein Engel. Dann ließ ich los, ich wollte zur Sonne fliegen, in den Himmel, denn ich war ein Engel. Erschrocken eilte mein Vater zu mir, ich war auf dem rauen Asphalt aufgeschlagen, alles an mir schmerzte und mein Innerstes schrie. Ich weiß nicht, wie viele Knochen gebrochen waren. Ich weiß nur, dass ich noch ganz klein war.

Tropf. Tropf. Das Plätschern von Regen weckt mich. Meine Socken sind nass. Alles ist klebrig, eklig, mir hängen nasse Haare ins Gesicht. Ich schüttele meinen Kopf, will die Haare aus meiner Sichtzone beseitigen. Da grabscht eine fremde Hand danach. Gut, so fremd dann doch wieder nicht. Es ist dieses Schneewittchen, der Typ mit dem Messer. Aber ohne Messer. Für den Augenblick.

»Na, endlich aufgewacht, Dornröschen?«, macht er mich dumm an. Als er den Mund aufmacht, hört es sich an wie das Klirren eines Windspiels, melodisch und zart, obwohl sein Tonfall sehr verbittert klingt.

»Was soll der Mist, Schneewittchen?!«, keife ich zurück, stelle im selben Moment fest, dass meine Arme hinter meinem Rücken verschränkt, und meine Hände mit einer rauen Kordel gefesselt sind. Wir sind in einer Art Schuppen, die Tür steht weit offen. Draußen prasselt der Regen in Strömen nieder, es donnert und blitzt. Das Grollen der Götter nimmt Laute an, die ich aus Horrorfilmen kenne. Ich war noch nie bei Gewitter draußen. Schneewittchen weicht kurz zurück, fasst sich dann wieder. »Vielleicht bist du Madeleine doch ein bisschen ähnlich.«

»Ist mir egal, wer soll das überhaupt sein! Und wieso bin ich gefesselt?!«, pflaume ich den vampirhaften Jungen an. Halt. Der wird doch nicht ein Vampir sein … ? Wenn es Engel gibt …

»Damit du nicht wegläufst.« Er grinst bestialisch. Hat er spitze Eckzähne? Es ist so düster, ich kann es nicht erkennen.

»Du bist meine Geisel.«

»Bitte, was?!«

»Geisel.«

»Ich habe schon verstanden!«

»Ach, warum fragst du dann?«

Schneewittchen geht damit offiziell in die Geschichte der nervigsten Vampire ein. Nummer zwei, gleich hinter Edward Cullen. Der Versuch, mich aus der Kordel zu lösen, indem ich hindurchschlüpfe, endet damit, dass ich mir die Haut am Handrücken aufreiße. Es brennt.

»Das mit dem Fliehen kannst du übrigens vergessen. Ich habe einen Bannkreis um den Schuppen hier gezogen. Ist doch ganz nett hier, oder?«, behauptet Schneewittchen, schnappt sich den Schaukelstuhl, der hier rumsteht, und setzt sich wie ein König nieder. Oder wie eine Oma. Eigentlich beides gleichzeitig. Der ist vollkommen irre. Wo ist Janiel, wenn man ihn einmal braucht? Sollte er mich nicht lieber vor solchen Kreaturen beschützen, anstatt vor Tobi?! Wie auf Kommando durchschreitet besagter Schutzengel die Schwelle des Schuppens.

»Janiel!«, rufe ich hoffnungsvoll aus. »Da bist du ja!«

Dieser hat ganz, ganz schlechte Laune. Kraftvoll packt er Schneewittchen am Kragen seines Filzmantels, erhebt ihn aus dem Schaukelstuhl, der nun einsam mit einem sachten Quietschen hin und her wippt. »Was hast du hier zu suchen, Eiael?«

Schneewittchen fletscht die Zähne: »Dasselbe könnte ich dich fragen, Johann.« Binnen Sekunden befreit sich dieser Eiael aus Janiels Griff, taucht wie aus dem Nichts direkt hinter mir auf. Drückt mir urplötzlich sein Messer an die Kehle.

»Was sucht ein Strahlender, einer der Komponisten, auf der Erde? Kannst du mir das verraten?«, richtet er sich an Janiel. Dieser reagiert erstaunlich gelassen.

»Du weißt genau warum. Warst du bei Camael?«

»Was denkst du?«

»Hör auf mit den Kinderspielchen, Eiael. Wir sind nicht mehr zwölf.«

»Ich werde nicht ruhen, bevor du mir dein neuestes Lied im fünften Himmel vorgespielt hast, darauf kannst du wetten.«

Wow. Der hat ja gewaltig einen an der Waffel.

»Wenn du nicht freiwillig zurück in den Himmel kehrst, werde ich sie eben umbringen«, droht Eiael, verpasst mir eine Schramme zur Verdeutlichung.

Eine große Waffel!

»Ah!«, stoße ich aus, ein schmaler Streifen Blut rinnt an meinem Hals herunter. Es tut weh.

»Also, Johann?«

Janiel zögert. Er beißt sich auf die Oberlippe, sieht recht verzweifelt aus. Gar nicht gut.

»Du verlangst von mir, dass ich einen Menschen umbringe, so oder so.«

»Blitzmerker.« Eine Ewigkeit lang sehen sich die zwei in die Augen. Schließlich melde ich mich als Opfer auch mal zu Wort, um mich aus der Sache herauszureden: »Hey Schneewittchen, nimm Janiel ruhig mit in den Himmel, aber halt mich da raus!«

»Äh … eh?«, geben beide von sich, starren mich entgeistert an.

»Da hörst du es, Johann. Lass die Möchtegern-Madeleine hier versauern und komm mit mir!«, freut sich Schneewittchen, hält sich die Hand vor den Mund und flüstert mir zu: »Du wirst mir immer sympathischer!«

»Keine Sorge, ich wollte den sowieso loswerden!«, pflichte ich ihm bei. Fassungslos glotzt Janiel uns an. »Das ist jetzt nicht euer Ernst.«

Aber Schneewittchen und ich sind uns einig. »Wenn du ihn mitnimmst, zahle ich dir sogar was dafür! Ich habe zwar kein Geld, aber ich könnte Kuchen backen«, schlage ich vor. »Mögen Vampire Kuchen?«

»Ich bin ein Engel und ich mag Kuchen. Die Sache steht! Danke für das Vampirkompliment! Meistens werde ich nur für einen Kranken oder Zombie gehalten. Da ist Vampir sehr schmeichelhaft!«, bedankt sich Schneewittchen, hebt das Messer ab von meinem Hals.

»Hallo … ?«, startet Janiel einen schlechten Versuch, auf sich aufmerksam zu machen.

»Hast du eine Vorliebe? Nusskuchen? Schokolade? Obstkuchen?«

»Nuss klingt gut!«, erwidert Eiael.

»Schluss mit dem Unsinn!«, brüllt mein Schutzengel, der nun so sauer wie eine Essiggurke ist.

»Johann alter Freund, wenn du ein Stück vom Kuchen abhaben willst, kannst du auch netter fragen. Mit bitte und danke, du weißt schon, Manieren«, bringt Eiael ihn nur noch mehr auf die Palme. Doch bevor Janiel explodiert (ich sehe schon seinen Kopf qualmen), fügt Eiael hinzu: »Ich habe meine Meinung geändert. Bleibe ein Leben lang auf der Erde, und ich esse nächsten Dienstag mit Möchtegern-Madeleine Nusskuchen. In Ordnung, Johann?«

Ratsch! Schneewittchen schneidet die Kordel durch, die meine Hände gebändigt hat. Ich bin frei. Er erkundigt sich: »Passt Dienstag auch für dich?« Ich nicke. Immer noch total verdattert, fährt sich Janiel durch die Haare. »Zu Lebzeiten hätte ich dir das nicht … Ach was, doch, das hätte ich dir zugetraut.«

Hans-Jürgen

Ich lebe noch. Hurra. Nachdem Eiael wieder abgedampft ist, mit dem Versprechen, nächsten Dienstag zu Kaffee und Kuchen aufzukreuzen, kann ich mich seitdem wieder in Ruhe meiner neuen Lieblingsbeschäftigung widmen: Janiel böse anzustarren, wenn er im Unterricht neben mir sitzt. »Manu, jetzt hör doch mal auf!«, bricht er das selbstherbeigeführte Schweigen, drei Tage nach der Entführung, zwischen uns.

»Was passt dir nicht? Hätte ich dich lieber sterben lassen sollen?«

»Lieber das, als mir Tobi wegzunehmen!«, drücke ich meine Empörung aus. »Ich habe alles gehört, du hinterlistiges Huhn! Von wegen Engel!«

»Hmpf.«

»Was, Hmpf?! Mehr hast du dazu nicht zu sagen?! Ich bin echt schwer enttäuscht von dir! Das war der Gipfel! Du weißt genau, wie viel Tobi mir bedeutet!«, zische ich, denn ich muss aufpassen, dass keiner mitkriegt, dass und was wir reden.

»Ich habe das für dich getan, Manu. Und zwar nicht als Schutzengel. Sondern als Freund«, murmelt er zurück. Ich erstarre. Erröte. Was soll das bedeuten? Bevor ich in Panik ausbreche, fährt Janiel fort: »Weißt du, diese Madeleine … von der Eiael gesprochen hat … ich konnte ihr nicht helfen. Und sie war … dir sehr ähnlich. Ich möchte nicht, dass sich Dinge wiederholen.«

»War sie … etwa auch dein Schützling?«, frage ich vorsichtig. Die Antwort kommt prompt: »Nein.«

Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Muss ich auch nicht. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich froh, dass Nadine sich wie jeden Freitagmorgen neben mich setzt und mich anplärrt, warum ich denn so schlecht gelaunt sei, obwohl ich eher fassungslos bin. Schließlich wirft sie mir das auch vor, wenn ich gute Laune habe. »Also echt Manu, du bist wirklich ein schlechtes Vorbild für unsere Schule! Bei so viel Negativität kann man ja nicht mehr klar denken! Aber es war von dir ja auch nichts anderes zu erwarten, wie immer, ts ts ts … «

»Ja du hast Recht, Nadine.«

Abrupt hält sie inne und sieht mich verwundert an. »W-Was hast du gesagt?!«

Wow, ich bin echt nicht die einzige Stotterin!

»Dass du absolut Recht hast. Ich werde mich zusammenreißen.« Ich lächle sie an. »Danke für den Hinweis!«

Sie wendet sich von mir ab, das war wohl ein zu großer Schock für sie. Frau Wolke betritt den Raum, ein fremdes, hageres Mädchen im Schlepptau. Halt, Stopp, wieso ist da ein fremdes Mädchen? Ich verrenke mir glatt den Hals, als ich versuche, einen Blick auf sie zu erhaschen (sitze in der Nähe des Fensters in der letzten Reihe). Rabenschwarze Haare hat sie schon mal. Und wie es aussieht, die dicksten Brillengläser, die mir je untergekommen sind. Mitten auf der Nase prangt ein glühendroter Pickel, das ist sogar auf die Ferne erkennbar. Und diese Blässe. Es ist nicht so wie bei Schneewittchen. Nein, sie erweckt eher einen krankhaften Eindruck, als ob sie jeden Moment auf der Stelle zusammenbrechen könnte. Die Arme.

»Guten Morgen allerseits!«, wünscht uns Frau Wolke mit ihrem Oma-Lächeln (ich glaube, sie ist wirklich vor kurzem Oma geworden). »Das hier ist Valentine. Sie ist aus Norddeutschland hergezogen und wird ab heute ein Mitglied eurer Klasse sein. Bitte nehmt sie gut in eure Klassengemeinschaft auf!«

Dieser Name ist der unpassendste von allen. Verzeihung, sie sieht eher aus wie ein Hans-Jürgen. Verglichen mit den anderen Mädchen aus unserer Klasse – naja, bis auf mich. Valentine stiert auf den Boden, als wären wir alle Monster, die sie verschlingen würden, sobald sie den Blick hebt. Was sie nicht weiß – sie würden sie wirklich zerfetzen. Die Jungs fangen schon mal damit an, ziehen Fratzen.

»Setz dich doch bitte hierhin«, weist Frau Wolke der Neuen ihren Platz zu. Erste Reihe. Opfer-Reihe.

Valentine wird direkt neben den Klassenstreber Philipp gesetzt. Der sitzt aufgrund seines Streberdaseins aber freiwillig in der Opferreihe. Was Valentine noch erfahren wird: Streber-Philipp ist ein Arschloch. Oh, sie erfährt es jetzt schon. Er unterhält sich mit ihr. Ich verstehe nicht, was er sagt, aber er lacht und mir ist klar, dass er sie gefoppt hat. Frau Wolke denkt anscheinend, die Neue hätte Anschluss gefunden und widmet sich gut gelaunt dem Unterrichtsstoff für die Stunde. Ein Blick zur Seite verrät mir, dass Nadine längst dabei ist, zu überlegen, wie sie unsere Valentine am besten quälen kann. Sie lächelt zuckerbösesüß.
 

Es bimmelt. Die Schüler strömen aus dem Klassenzimmer. Nadine voran, wie immer die Erste! Wahrscheinlich geht sie sich jetzt erst noch bei Tobi ausheulen, weil ich sie so aus der Fassung gebracht habe, bevor sie Valentine mobben geht. Die Neue tut mir leid. Alle rauschen an ihr vorbei. Keiner will was mit ihr zu tun haben. Und das nennt man Klassengemeinschaft … Leider habe ich keine Zeit, mich um sie zu kümmern. Da ist noch ein Hühnchen, das ich rupfen muss.

»Jaaan!«, schreie ich ihm hinterher, weil er mit großen Schritten vor mir wegzulaufen scheint. Er will mich tatsächlich immer noch ignorieren! »ICH AKZEPTIERE DAS NICHT!«, müpfe ich mich weiter auf. »Rede endlich mit mir!«

Ich scheuche ihn auf einen der Feldwege hinter der Schule, wo uns keiner zuhören kann. »Du kannst mir nicht einfach so was erzählen, und mich dann ignorieren als wäre nichts gewesen!«, schimpfe ich, mit den Armen fuchtelnd.

» … «, zieht Janiel mal wieder seine Schweigenummer ab.

»Hör auf damit.« Unruhig trete ich von einem Fuß auf den anderen. »Ich weiß nicht, was dir widerfahren ist … aber münze das nicht auf mich um. Ich bin nicht wie diese Madeleine.«

»Ha. Du kanntest sie überhaupt nicht.«

»Darum geht es nicht. Ich bin Manu.«

Wie in Zeitlupe hebt er den Blick, seine klaren, hellen Augen verschlingen mich fast. Sie erzählen von so viel. Die Engelsaugen.

»Ich verzeihe dir. Aber renk das mit Tobi wieder ein. Wenn ich kein Volleyballtraining mehr bekomme, lose ich nächsten Donnerstag total ab. Musst du das nicht verhindern, als mein Schutzengel?«, sage ich und lächle ihn an. Eine sanfte Brise weht uns um die Nase, sie streicht die Felder um uns herum glatt, berstet sie wieder auf und hinterlässt den Duft von Frische und Natur. Ein Wunder geschieht: Er lächelt zurück. Wer einen Engel lächeln sieht, vergisst das nie. Es ist echt. Echter als an dem Tag, an dem wir uns begegnet sind. Das weiß ich erst jetzt.

»Das hättest du wohl gerne.«

Ich spüre, wie mir ein imaginärer Amboss auf den Kopf fällt. Janiel amüsiert sich ganz offensichtlich über mein überraschtes Gesicht, da ich definitiv eine andere Antwort erwartet habe.

»Es war ganz schön schwach von Tobi, den Kontakt zu dir einfach abzubrechen, nur weil ich das verlangt habe, findest du nicht?«

Ich bin dran mit Schweigen.

»Willst du wirklich was von so einem?«, will Janiel vermeintlich wissen. Ich schweige weiter.
 

Man glaubt es kaum, aber von nun an bin ich abgeschoben. Weder Tobi noch Janiel suchen meine Nähe, und ich muss zugeben, dass ich beide vermisse. Wenigstens Hanna, Karin und Sophie geben sich seit neuestem öfter in den Pausen mit mir ab. Ich bin wohl endgültig erlöst von der Opferrolle in der Klasse. Bekomme gar keine dummen Bemerkungen über mein Aussehen mehr, obwohl ich Janiels Styling Tipps nicht mal mehr befolge. Das einzig Traurige daran ist, dass das womöglich nur so passiert, weil ich genauer gesagt abgelöst worden bin.

»Die ist echt komisch, die Neue«, beginnt Sophie die Lästerrunde. »Habt ihr gesehen, was die für Haare hat? Die waren total fettig!«

Da fällt mir ein, ich muss heute unbedingt duschen.

»Ich hab vorhin auch schon gehört, wie die Jungs neben mir über ihre Oberweite gewitzelt haben, Schweizer Flachland und so«, gibt Hanna ihren Senf dazu. »Recht haben sie leider.«

Und mir einen Push-Up-BH kaufen.

»Ihre Haut hat auch so eklig geglänzt, und die ganzen Pickel erst … wie eine Pizza«, stellt sogar die sonst so liebe Karin ihren Vergleich auf.

Und ich sollte mehr Geld für Clerasil-Produkte ausgeben.

Wie komme ich eigentlich auf die Idee, dass ich was bei den drei Mädchen zu suchen habe?! Hanna ist die Coole. Karin ist die Süße. Sophie ist die Stylishe. Die sind einfach nicht wie ich. Ich will gehen, da hält mich Hanna auf: »Wo willst du hin, Manu?«

»Ein einsames Dasein fristen gehen«, schießt es spontan aus mir heraus. Ups, habe ich das laut gesagt?!

»Aber wieso denn?«, will Karins süße Stimme wissen, die wirklich erschrocken ist. »Haben wir etwas Falsches gesagt?«

»Wir wollten nicht allzu gemein über die Neue herziehen, falls dich das stört. Wir erörtern einfach nur gern, was so passiert«, klärt Hanna mich auf. »Ist nicht wirklich böse gemeint.«

Sophie sagt nichts dazu. Beobachtet nur mit den anderen, wie ich reagiere.

»D-das ist es nicht! Ich denke nur … « Soll ich das wirklich sagen? Ich glaube, ich war schon lange, lange nicht mehr so ehrlich. » … dass ich keinen Tick besser bin als Valentine. Ich habe auch Pickel, keine Titten und … gut, fettige Haare habe ich nicht, aber ich bin nicht im Entferntesten so hübsch wie eine von euch. Ich bin sehr froh, dass ihr mir geholfen habt, als Nadine versucht hat, mich fertig zu machen … aber … ich bin einfach nicht … äh … gut genug.«

Sechs große, feuchte Mädchenaugen glubschen mich wehmütig an.

»Ochherjee, Manu!« Karin fängt glatt an zu heulen. »Wir würden dich doch nicht einfach abschieben wegen so was!«

»Genau! Wir Mädels müssen zusammenhalten! Schluss mit den Erörterungen!«, stimmt auch Hanna mit ein. »Wir mögen dich, Manu, mach dir keine Sorgen deswegen!«

»Und so hübsch sind wir auch nicht«, sagt Sophie was zu dem Thema. »Aber immer noch schöner als Nadines schwarze Seele.«

Ich muss kichern, frage mich aber gleichzeitig, seit wann Sophie so Anti-Nadine ist. Und frage sie direkt.

»Nun ja, Nadine hat mir meinen Freund ausgespannt.«

»Sie hat WAS?« Gleichzeitig erinnere ich mich an den Knutschfleck.

»Traurig, aber wahr. Und ich dachte erst, wir wären Freundinnen.« So war das also. Gut, dass ich noch nie einen nicht-erfundenen festen Freund hatte, sonst hätte mir so was Dummes auch passieren können. Wir sitzen noch im Klassenzimmer, weil unser entzückender, verpeilter Referendar Dr. Sommer zum x-ten Mal vergessen hat, die Tür abzuschließen, als es klopft und ein Junge mit mattbraunem Haar seinen Kopf durch den Spalt hinein steckt.

»Manu, bist du da?« Es ist Tobi. Es ist TOBI!

Die Mädels wundern sich nicht sonderlich, es ist glaube ich bekannt, dass Tobi und ich (nur) Freunde sind. Ich gehe zu ihm.

»Was gibt’s?« Versuche, locker zu wirken. Denke aber: Er redet wieder mit mir! Er redet wieder mit mir!

»Lass uns woanders hingehen«, bestimmt er, nimmt auf einmal meine Hand und schleift mich nach draußen. Es kann sein, dass Vorbeilaufende uns verwundert nachsehen. Dass jetzt komische Gerüchte entstehen. Doch das alles ist mir egal. Tobi hält meine Hand. Bei den Steinen erst lässt er sie los, lässt sich auf eines dieser Kunstwerke nieder. Ich mache es ihm nach.

»Ich muss mich richtig fett bei dir entschuldigen Manu. Ich bin ein kompletter Idiot«, offenbart er mir. »Hat Jan es dir erzählt?«

Tobis Augen durchdringen mich. Er versteht.

»Nachdem wir beschlossen hatten, dich zu ignorieren, habe ich noch eine ganze Weile darüber nachgedacht … und mir ist klar geworden, dass ich das nicht will. Deshalb möchte ich ehrlich zu dir sein, Manu. Wir kennen uns schon so lange.«

Er hat Recht. Wir kennen uns schon lange.

Vier Jahre lang.
 

Es ist Silvester und es regnet. Noch zwölf Stunden bis Mitternacht, bis das neue Jahr ins Leben gerufen wird. Und was tue ich, Manuela Liedtke, elf Jahre alt?

Sitze in Therapie. Es ist Silvester und es regnet. Ich schaue aus dem Fenster. Die Strahlen rinnen herunter, der Himmel weint. Ich weine mit. Innerlich. Die nette Assistenzdame ruft mich. Begleitet mich ins Zimmer vom Doktor. Der Doktorin. Sie kommt gleich. Blabla. Immer dasselbe. Gleich fragt sie mich ganz viele Sachen. Sachen, über die ich überhaupt nicht reden will. Der Himmel weint, ich weine mit.

Ich werde wieder heil gemacht. Die Doktorin verspricht das. Meiner Mutter. Nach jeder Sitzung. In Wirklichkeit machen wir keine Fortschritte. Die Liege ist weißkalt, steril. Es stinkt nach Desinfektionsmittel. Ich hasse Arztbesuche. Vor allem sinnlose. Da kommt sie. Wie es uns denn heute geht.

Gute Frage. Nächste Frage.

Möchte ich denn nicht reden?

Gute Frage. Nächste Frage.

Sie wird nie wütend, hält ihre Gefühle unter Kontrolle, wie ihren Dutt, den sie streng nach hinten gebunden hat. Die Doktorin ist eine liebe Frau.

Mir ist das egal. Weil mir alles egal ist. Vor gut drei Monaten habe ich angefangen, Gott zu hassen. Wenn ich mich rächen könnte, wäre mir eine Sache weniger egal. Aber ich kann nicht. Ich bin ein Kind.

Nach der erfolglosen Sprechstunde sitze ich nochmal im Wartezimmer. Meine Mama arbeitet bis fünfzehn Uhr. Niemand kann mich abholen. Der Regen hört nicht auf. Er trommelt und trommelt und trommelt. Er feiert Silvester im Voraus.

Da kommt jemand. Ein Junge mit Zahnspange. Er sieht genauso begeistert aus, wie ich. Der Nächste, Blabla. Ich sitze und warte.

Und warte. Und warte. Ich könnte lesen. Aber alles ist mir egal. Also lese ich nicht. Esse ich nicht. Schlafe ich nicht.

Ununterbrochen verfolge ich, wie sich draußen im Hof in den Senken Pfützen bilden. Wie Kreise auftauchen und verschwinden.

Tropf, tropf. Ich weine.

Der Junge kommt wieder. Er bleibt. Setzt sich.

Wartet.

Zwanzig Minuten.

Die Uhr sagt es mir, die neben der Fensterwand hängt.

Der Junge geht.

Zwanzig Minuten.

Der Junge kommt wieder.

Es ist Silvester und es regnet.

Er reicht mir ein Taschentuch.
 

»Du hast nicht mit ihm geredet, oder doch?«, frage ich Janiel beiläufig, während ich gleichzeitig den Tee aufsetze, den Nusskuchen anschneide und mit dem Fuß versuche, die Tür hinter mir zu schließen. Natürlich klirrt es binnen Augenblicken, das Messer ist mir aus der Hand gerutscht.

»Multi-Tasking sollte verboten werden!«, schimpft der blonde Engel und hebt das Messer auf. Wir sind allein zuhause, Mama ist heute länger bei der Arbeit als sonst. Was für ein Zufall (es ist kein Zufall, Mama ist fast immer bis 18 Uhr außer Haus). Manchmal kommt sie sogar erst um acht, weil sie Kaffeekränzchen mit den alten Menschen hält. Ich glaube, das tut ihr gut. In unserer Wohnung, da bin immer nur ich.

»Und um die Frage zu beantworten: Nein, habe ich nicht. Ich traue ihm trotzdem nicht über den Weg.«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Ach ja?«

»Ja.« Da klingelt es. »Ich gehe schon«, ruft er und hastet zur Haustür. Kommt wieder mit Schneewittchen im Schlepptau.

»Hallo Eiael!«, begrüße ich ihn. Ich freue mich wirklich, den Psycho zu sehen. Vielleicht habe ich ja Glück und er nimmt Janiel doch noch mit in den Himmel. Mein Engelchen scheint allerdings meine Gedanken lesen zu können und wirft mir einen finsteren Blick zu. Oder aber, Janiel schaut mich böse an, weil ich gedankenverloren den Tee verschüttet habe.

»Manu, du darfst später auf keinen Fall in der Gastronomie arbeiten«, seufzt mein Schutzengel, sich einen Lappen schnappend, um das Missgeschick zu beseitigen.

»Aber Johann, lass dem Fräulein ihren freien Willen! Was bist du nur für ein Geschöpf Gottes!«, macht sich Eiael über ihn lustig.

»Was bist du nur für ein Geschöpf Gottes, dass du dir erlaubst, deine Macht zu missbrauchen, um Teenager zum Backen zu zwingen?«, kontert Janiel, das Gesicht noch dem Bodenschmutz zugewandt.

»Missbrauch? Ich?«

»Ja, genau du!«

»Pfft! Komm Möchtegern-Madeleine, wir verputzen den Kuchen.« Eiael setzt sich an unseren Küchentisch, den ich zur Feierlichkeit mit einer karierten Tischdecke gedeckt habe.

»Würde es dir etwas ausmachen, mich Manu zu nennen? Und warum nennst du Janiel immer Johann?«, frage ich ihn.

»Ich kann nichts versprechen, mein Gehirn merkt sich Spitznamen einfach besser. Und Johann nenne ich ihn … Na, weil er Johann ist.«

Interessante Antwort. Johann kümmert das nicht, er trägt die Teekanne und drei Tassen auf einem Tablett zu uns herüber. »Ich hoffe, du erstickst an den Nüssen.«

»Er ist so reizend, findest du nicht?«, bemerkt Eiael mir gegenüber.

Ich lache. »Ich bin mal gespannt, ob der schmeckt. Janiel hat so viel reingepfuscht.«

»Dann ist er sicherlich herrlich! Johann, warum spielst du uns nicht etwas auf der Geige vor?«

Janiel ist nicht begeistert von der Idee.

Mir fällt ein: »Wir haben doch gar keine Geige?«

Eiael winkt ab: »Och, das macht nichts. Ich habe eine dabei … « Wie aus dem Nichts zaubert er das Instrument hervor. Es ist schwarz wie Ebenholz und schimmert edel durch den Lack. So stelle ich mir eine Teufelsgeige vor.

»Wow! Was für ein Engel bist du denn?!«, entfährt es mir.

»Ich bin ein okkulter Engel. Ein Hüter der Magie … Aber Psst!«

»Um genauer zu sein, ein schwarzmagischer Engel, der vermutlich bald im Gefängnis landet, wenn er nicht lernt sich gegenüber höheren Engeln zu zügeln, nicht wahr, mein Freund«, bedroht Janiel ihn.

Desinteressiert legt Eiael die schwarze Geige beiseite, zuckert seinen Tee und nimmt einen Schluck. »Vorzüglich.« Erst nach dem Absetzen der Teetasse schaut er Janiel ins Gesicht. »Hast du was gesagt, Angeloi?«

»Wie du siehst, nimmt er nichts ernst«, sagt Janiel zu mir.

Merke ich. »Wie … ist es eigentlich im Himmel?«, versuche ich mein Glück.

Janiel schweigt wie üblich, aber Eiael plappert drauf los. Jackpot.

»Oh, es ist wunderbar! Aber nicht in jedem Himmel. Der Schönste soll der siebte sein, aber ich bin leider nicht befugt, dort einzutreten. Den vierten kann ich wärmstens empfehlen, im ersten und zweiten ist es eher langweilig. Und im fünften kannst du Johann singen und spielen hören, wenn er denn eines Dienstags anwesend ist. Er ist so was wie ein Promi!«

Janiel stöhnt.

»Ein … Promi?!«

»Er singt den schönsten Lobpreis von allen!«

»Janiel … kann singen?!«

»Komm Johann, zeige unserer Möchtegern-Madeleine, was du auf dem Kasten hast!« Eiael hebt ihm die Geige vor die Nase. Widerwillig starrt Janiel das Instrument an, krallt es sich dennoch. Und steht auf. Er bringt sich in Position, lehnt das Kinn an. Spielt drauf los.

Was ich höre, ist die melodischste Geigenmusik, die ich je erlebt habe. Zugegeben, ich habe noch nie einen Geigenspieler live erlebt, demnach verfüge ich über keinen Vergleich. Trotzdem rührt mich das Stück. Das Tempo steigert sich, es tönt dramatischer, heller, dunkler, schriller. Er könnte ewig so weitermachen. Genauso, wie Janiel angefangen hat, hört er auf. Einfach so. Wir klatschen.

»Das war aber ohne Gesang, mein lieber Johann«, bemerkt Eiael spitz, woraufhin Janiel nur harsch grummelt.

»Das war fantastisch!«, rufe ich aus. »Wirklich! Wow! Wo hast du das gelernt? Etwa im Himmel?«

»Nein, Johann war schon als Mensch ein begabter Musiker, nicht wahr?«

Moment. Janiel war einmal ein Mensch?

Bevor ich nachhaken kann, nimmt Janiel die Gabel in die Hand, und stopft Eiael damit ein großes Stück Kuchen in den Mund. »Iss brav auf, mein Freund. Manu hat sich doch so viel Mühe gegeben.«

Das war es dann wohl mit himmlischen Infos. Kaum, dass der Kuchen aufgegessen ist, fliegt Eiael in hohem Bogen raus. Weil Janiel mir nicht noch mehr Geheimnisse verraten will. Gut, dann interessiert es mich eben nicht weiter. Okay, tut es doch. Aber da kann man nichts machen. Ich habe sowieso mit Eiael abgemacht, dass er bald mal wieder zum Tee kommt. Nächstes Mal gibt’s Schokokuchen.
 

Es ist Donnerstag. Volleyball-Tag. Ich bete nie, aber diese Situation erfordert außergewöhnliche Maßnahmen. BITTE, lieber Gott, mach, dass ich mich nicht schon wieder blamiere! Es muss bestimmt total bescheuert aussehen, wie ich vor der Bank in der Umkleidekabine halbnackt knie und den Herrn um Erbarmen anflehe, aber was muss, das muss. Was anderes als beten bleibt mir sowieso nicht übrig.

»Hey Manu, setz heute mal nicht alles in den Sand, ok? Und komm um Himmels Willen auf keinsten in meine Mannschaft!«, schleudert Nadine die Worte durch die Kabine. Zustimmendes Gemurmel.

»Auf keinsten« werde ich darauf reagieren. In der Turnhalle entdecke ich Janiel bei einem Grüppchen von Idioten aus meiner Klasse rumstehen. Er wirft mir einen Ist-Alles-Okay-Blick zu und die anderen lachen ihn aus, weil sie nicht verstehen können, dass wir einmal imaginär »zusammen« waren. Nadine, die neben mir steht, lächelt verzückt und winkt Janiel zu. Sie denkt, der Blick hätte ihr gegolten. Soll sie sich doch nur darin verrennen. Sie beugt sich vor, stellt ihren Vorbau mithilfe ihres viel zu tief ausgeschnittenen Sport-Tops zur Schau. Da taucht Tobi auf der Bildfläche auf, und boxt Janiel freundschaftlich in den Arm. Habe ich was verpasst? Naja egal, denn jetzt werden die Mannschaften ausgewählt. Ich bin nicht in Tobis Team. Dafür aber Nadine, und ich kann es absolut nicht verstehen, als sie plötzlich anfängt, Tobi anzumachen, mit ihren Klimper-Wimpern, wo sie sich doch gerade noch offensichtlich an Janiel rangeschleimt hat. Hust-hust. Janiel bleibt eiskalt, er ist in meiner Mannschaft gelandet. Nadine schielt zu ihm. Aha, jetzt kapier ich’s, sie will ihn eifersüchtig machen, weil …

Janiel kommt zu mir rüber und flüstert mir ins Ohr: »Pass gut auf, wir werden gewinnen!«

Bei dem Klang seiner Stimme läuft mir ein Schauer über den Rücken. Es lag so unglaublich viel Überzeugung in seinem Satz. Ich merke, dass Nadine ihn nicht nur eifersüchtig machen will. Ich merke, dass sie selbst eifersüchtig ist. Auf MICH!

Ach du liebes bisschen … dass jemand einmal auf MICH, Betonung liegt auf MICH, eifersüchtig sein könnte! Das ist unglaublich unglaubenswürdig! Aber dennoch wahr. Auf einmal fühle ich mich verdammt selbstbewusst.

Komm nur her, du Volleyball, dich werde ich mit voller Wucht ins Nirwana befördern oder besser gesagt, in Nadines Fresse. Jawohl, dir zeig ich’s, du Schlampe! Ich weiß, ich weiß, nicht sehr nett, aber es sagt auch keiner, dass ich das bin.

Allerdings wird mir doch ein wenig mulmig zumute, als ich den Aufschlag machen soll. Obwohl wir Gegner sind, nickt mir Tobi ermutigend zu. Wir haben gestern extra nochmal trainiert. Und vorgestern. Und vorvorgestern. Zwischen uns ist alles wieder so, wie es vor Janiels dämlicher Ignorier-Idee war. Tobi sei Dank.

Ich werde das schaffen! – Denke ich und hole weit aus. In hohem Bogen fliegt der Volleyball auf die andere Seite, und weil keiner glauben kann, dass ich etwas auf die Reihe gebracht habe, rührt sich auch keiner, sodass der Ball mitten zwischen den Spielern auf dem Boden aufprallt.

Juhuu! Ich hab’s getan, ich hab’s getan!

Meine Teamkameraden jubeln mir zu, sowohl Tobi als auch Janiel deuten mit dem Daumen nach oben. Tobi hätte das wohl lieber nicht tun sollen, weil Nadine daraufhin übelst sauer wird. Sie sieht so aus, als würde sie ihm gleich eine kleben.

»Punkt für Mannschaft 2, 1:0!«, ruft unsere Sportlehrerin Frau Göttinger. Ich muss nicht einmal zu Nadine hinsehen, um zu wissen, dass sie gerade zähneknirschend rot anläuft.

»Super Manu! Du hast dich ja echt bemüht!«, sagt Karin, die in meiner Mannschaft ist. Nach dem ganzen Abgelästere werde ich seitens meiner Kameraden fast schon mit Lob überschüttet, denn auch die anderen geben ihre Kommentare ab.

»Toll gemacht!«

»Manu rules!«

»Tolle Leistung, mach weiter so.«

»Abwarten Leute, sie muss nochmal einen Aufschlag machen, also beeil dich mal, Manu!« Nadine, wer sonst.

Ich sehe Tobi an. In seinem Gesicht kann ich lesen, dass ich mich ganz und gar nicht beeilen muss. Ich hole aus, zum zweiten Aufschlag. Diesmal rührt sich die gegnerische Mannschaft und das Spiel kommt in Fahrt. Bis zum Ende der Stunde gibt es einen bitteren Kampf, der zuletzt mit einem Unentschieden endet. In der Umkleide klopfen mir Teamkameraden und Gegner anerkennend auf die Schulter, ich fühle mich so gut wie noch nie.
 

Im Chemieunterricht hantieren wir ausnahmsweise mit Wasserstoffperoxid. Das ist das Zeug, das Haare blond färbt. Findet Valentine heraus, als Philipp und Daniel, die Idioten, das Reagenzglas nicht richtig festhalten beim Schütteln. Und woraufhin eine nicht allzu kleine Menge davon Valentines dunklem Haarschopf begegnet. Nachdem die ausgebrochene Panik unter den Schülern (ein paar Tropfen haben Umstehende getroffen) durch Sicherheitsanweisungen unseres Chemielehrers gezähmt wurde, verbleibt Valentine als einzige Leidtragende den Rest der Stunde auf dem Mädchenklo. Ich hatte diesmal Glück, beziehungsweise Janiel. Er war so vorausschauend, sich von den Idioten fernzuhalten.

»Haha, hast du das Gesicht von dem Zombie gesehen?«, kichert Philipp leise, aber nicht leise genug.

Ich schiebe meinen Hocker zurück, ziehe den Chemiekittel und die Schutzbrille aus. Gehe Valentine nach. Was die Jungs da abziehen, ist unmöglich. Nicht nur Philipp und Kevin. Auch die anderen. Daniel hat ihr neulich ein Stück verschimmeltes Brot in die Tasche geschmuggelt. Der darauffolgende Schrei war der schrillste, der mir je zu Ohren gekommen ist. Oder Lukas. Der hat doch tatsächlich ihre Sporttasche versteckt, sodass sie beim Volleyball, anstatt mitzumachen, die ganze Doppelstunde danach gesucht hat. Allein. Weil sonst keiner mit ihr redet.

Mona und Elise, unsere zwei Prinzessinnen, sind viel zu sehr mit sich selbst und ihrem persönlichen Kleinkrieg um die Gunst der Trottel unserer Klasse beschäftigt, als dass sie Valentine tatsächlich wahrnehmen würden. Hanna, Sophie und Karin sind noch unschlüssig, was sie unternehmen sollen, ohne selbst ins Zielfeuer zu geraten. Von Nadine fange ich lieber nicht an. Die hat Lukas geholfen, die Sporttasche zu verstecken. Es liegt an mir. Ich bin die Einzige, die Valentine versteht. Denke ich. Sie wäscht sich gerade die Haare aus. »Verschwinde!«, krächzt sie im Sopran. »Lass mich in Ruhe!«

Okay, das ist nicht besonders freundlich. Egal. Wäre ich an ihrer Stelle bestimmt auch nicht. »Hey Valentine … lass dich nicht von denen fertig machen. Hier!«, sage ich, ziehe ein Tuch aus einem weißen Kästchen und reiche es ihr. Sie nimmt es, trocknet sich die Spitzen ab. Die Brille liegt auf dem Seifenspender. Ohne ist sie ganz süß. Ja, ihre Haut ist nicht die beste. Na und?

Valentine schüttelt sich, jault auf und heult weiter. »Immer passiert mir das!«

»Na na.« Ich klopfe ihr auf die Schulter. »Nur weil es so ist oder war, muss es nicht so bleiben.« Das hat mir wohl Janiel beigebracht. Valentine erinnert mich gerade an mich selbst vor einem Monat.

Ein Hoffnungsschimmer leuchtet in ihren Augen auf. Und verschwindet. »Bei anderen vielleicht.«

Darauf weiß ich nichts zu antworten. Ich warte, stehe daneben, als sie ihre Haare abtrocknet und feststellt, dass sie einen riesigen gelben Fleck auf dem Schopf trägt. Mit Wasserstoffperoxid ist nicht zu spaßen.

Extrem verzweifelt krallt sie sich am Waschbecken fest.

»Valentine … warte hier, ich komme gleich wieder!« Ich habe eine Idee. Renne los. Durch die Schulflure, auf der Suche nach …

… einer Mütze. Damit kreuze ich fast zehn Minuten später im Mädchenklo auf, Valentine hat sich kaum bewegt. Gekrümmt steht sie da, wagt es nicht, noch einmal in den Spiegel zu sehen. Von hinten ziehe ich ihr die Hipster-Mütze über. »Wo … hast du die her?«, fragt sie erstaunt und guckt auf.

»Habe ich einem Fünftklässler geklaut«, erwidere ich. »Derjenige weiß allerdings noch nichts davon, lass dich heute also nicht erwischen!« In der Tat legen Schüler ihre Sachen oft vor das Klassenzimmer oder buchsieren ihr Zeug in der Aula, unbeaufsichtigt. Diebstähle kommen normalerweise selten vor. Den Schülern wird vertraut.

»D-danke … « Sie lächelt mich mild an.
 

In der nächsten Stunde berate ich mich mit meinem persönlichen Schutzengel über die Situation. Es ist nicht schwer, unbeobachtet zu reden, weil wieder mal alle Mädchenaugen an Dr. Sommers heißem, erwachsenen Body kleben. Er trägt heute ein T-Shirt ohne Hemd. Skandalös.

»Hat Valentine keinen Schutzengel?«, nerve ich Janiel zum dritten Mal in Folge. Die Schweigenummer kann er knicken. Diesmal gebe ich nicht nach! »Oder warum hat sie so viel Pech? Kann man da nichts machen? Mhm?«

» … «, Janiel schreibt mit, was an der Tafel steht. Ich boxe ihm in die Seite, er schreckt kurz auf, unterdrückt ein Stöhnen. Das war wohl etwas fest.

»Hör mal«, entgegnet er wütend. »Das geht mich überhaupt nichts an. Ich bin schon froh über jeden Tag, den DU nicht ins Gras beißt. Weißt du noch, als du beim Kuchenbacken vergessen hast, den Backofen auszuschalten? Oder du fast in die Steckdose gelangt hättest, mit einer GABEL? Oder als deine Haare fast Feuer gefangen haben, weil du meintest, du müsstest zur Abwechslung mal Kerzen anzünden?!«

In der Tat macht Janiel seinen Job in letzter Zeit nicht schlecht. »Ich bin vermutlich nicht das beste Beispiel, aber durch Nachdenken lässt sich so was doch auch beheben, oder?«, stelle ich meine Hypothese auf.

»Da hast du deine Antwort.« Er glotzt wieder an die Tafel. »Komm jetzt aber bitte nicht auf die Idee, dich da einzumischen.«
 

Komme ich nicht. Nicht alleine. In der Pause hole ich mir Verstärkung von Hanna, Sophie und Karin.

»Was könnte man da machen?« Wir sitzen auf einer Bank unter den Ahornbäumen. Zur Abwechslung scheint die Herbstsonne, lässt die goldroten Blätterhaufen um uns herum aufleuchten.

»Auf die anderen können wir nicht groß Einfluss nehmen. Philipp, Nadine, Lukas und Co. sind einfach scheiße … da kann man gar nichts machen«, mutmaßt Hanna. Sophie erkennt das Problem: »Und was, wenn wir dafür sorgen, dass sie wenigstens keinen Grund mehr haben, sie zu mobben?«

»Wie stellst du dir das vor?«, fragt Hanna.

Lässig zwirbelt Karin eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger. »Sophie hat gar nicht so Unrecht. Wenn Valentine zum Beispiel so aussehen würde wie Elise oder Nadine, dann könnten sie nicht mehr rumbrüllen, dass sie sie hässlich finden.«

Plötzlich schnippt Hanna mit den Fingern: »Das ist es! Wir stylen Valentine um!«

»Die Streiche hören damit aber nicht unbedingt auf … Ich glaube, die brauchen einfach jemanden zum fertig machen«, werfe ich ein.

Wir seufzen.

»Schade, dass sie das nicht mit Nadine machen.« Ups, das habe ich laut gesagt.

Die anderen sind Feuer und Flamme. »Das wäre mega-witzig! Dann würde es mal jemanden treffen, der es verdient hat!«, erfreut sich Sophie an der bloßen Vorstellung.

»Aber irgendwie wäre das auch falsch, oder?«, findet Karin.

»Schon.« Zustimmendes Gemurmel. »Bleiben wir doch bei dem Styling-Plan!«
 

Gesagt, getan. Natürlich haben die drei Mädels mich vorgeschickt, um Valentine zu überreden. Deshalb warte ich nach dem Unterricht vor dem Nebeneingang. Dazu bereit, sie abzufangen. Janiel wartet mit mir.

»Du weißt schon, dass die Gerüchte wieder anfangen, wenn du mit mir abhängst? Willst du dich nicht lieber verwandeln?«, erwähne ich.

»Da der Deal mit Tobi geplatzt ist, wüsste ich nicht, warum ich dich meiden sollte.«

»Wie wäre es mit: Um meinetwillen?!«

»Gut, dann folge ich euch nicht als Mensch. Versuch heute mal, nicht so viel Dummes wie sonst anzustellen. Ciao!«, gibt Janiel nach, pirscht los und winkt zum Abschied. Komisch, er sagt gar nichts zu der Tatsache, dass ich mich in Sachen Valentine einmische. Mhm. Vielleicht bin ich gar nicht auf dem Holzweg.

Da ist sie. »Valentine!«

»Mh?« Verwundert starrt sie mich an, sie hat wohl nicht damit gerechnet, noch jemanden an der Schule zu treffen. Die Mütze, die ich geklaut habe, hat sie nach Unterrichtsschluss heimlich zurückgelegt und danach solange gewartet, bis sie aus der Schule rausgehen konnte, ohne jemanden aus unserer Jahrgangsstufe anzutreffen. Pech gehabt, ich bin noch da.

»Ich wollte dich fragen, ob ich dich vielleicht ein bisschen an der Schule herumführen soll.«

Stirnrunzelnd zeigt sie auf ihre Frisur. Okay, heute ist ein schlechter Zeitpunkt. Sie will schon weiterlaufen, da packe ich sie am Arm: »Warte! Eigentlich wollte ich dich noch etwas anderes fragen. Hast du heute Nachmittag schon was vor?«

»Nein. Warum?«

»Ähm … also … «, stammele ich sinnlos herum. Spuck’s aus, Manu! Valentine wird immer misstrauischer. »Also … also … Hanna, Sophie, Karin und ich wollen dich umstylen, damit die anderen sich nicht mehr über dich lustig machen können!«, sprudelt es schließlich in einem Zug aus mir heraus.

Hyper-verblüfft rückt Valentine ihre Brille zurecht. »Entschuldige, ich glaube, ich habe mich gerade verhört. Was hast du gesagt?«

Muss ich das wirklich wiederholen. Ich atme tief ein und aus. »Ob du heute mit shoppen gehen magst.« Den ganzen Satz packe ich nicht nochmal.

»Ist das eine Falle?«, will sie wissen. Das arme Ding.

»N-nein! Ich würde so was niemals machen!« Außer bei Nadine vielleicht, aber da würde ich mich vermutlich zu dumm für anstellen.

»Dann liegt das wohl wirklich an mir. Haha«, dreht Valentine leicht durch, lacht unheimlich.

»Unsinn, du kannst doch nichts dafür, dass die anderen einen miesen Charakter haben!«, widerspreche ich leicht aufgebracht. »Aber die anderen kann man schlecht ändern.«

»Ich würde gern mitkommen. Aber ich kann es mir vermutlich nicht leisten, weißt du.« Deprimiert sieht sie mich an. Ich überlege.

»Und wenn … du einfach mal mitkommst? Die drei Mädels sind wirklich nett. Immerhin haben sie mich auch akzeptiert … und denen wird bestimmt was einfallen. Was sagst du?« Ich strecke ihr die Hand aus. Und sie willigt ein.
 

Hinter jeder verdammten Ecke in der Innenstadt blitzt das weiße Fell einer gewissen Katze hervor. Mannomann, kann Janiel uns nicht unauffälliger folgen?! Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Mädels ihn bemerken. Oder auch nicht. Die drei sind ehrgeizig dabei, Valentine aufzupeppen. Ich habe nicht sonderlich viel Ahnung von solchen Dingen, darum überlasse ich den Hauptteil ihnen. Weil Valentine so gut wie keine Kohle besitzt, hat Karin vorgeschlagen, einen Mädchen-Tausch-Flohmarkt zu veranstalten. Sprich, jeder von uns tauscht ein oder mehr Kleidungsstücke mit Valentine. Sophie, unsere Styling-Expertin, schwört darauf, dass die Kombination es ausmacht, nicht die Teile an sich. Bevor wir allerdings anfangen, alle Häuser abzuklappern, einigen wir uns darauf, Valentine auf jeden Fall zum Friseur zu schicken. Koste es, was es wolle. Wir beschließen, das nötige Geld dafür zusammenzulegen, das Valentine fehlt.

Erste Station. Valentine kriegt einen kurzen Bob verpasst. Die restlichen schwarzen Haare werden blondiert. Dann getönt. Kastanienbraun.

Zweite Station. Hanna betrügt den Optiker von nebenan um kostenlose Probe-Monatslinsen. Valentine braucht eine halbe Stunde, um die Kontaktlinsen das erste Mal einzusetzen.

Dritte Station. Karin und Sophie schleppen Valentine in die Drogerie und zwingen sie, eine ganz bestimmte Gesichtslotion und einen Concealer zu kaufen (für insgesamt sechs Euro!).

Selbst ohne Klamottentausch ist aus Valentine eine vollkommen andere Person geworden. Äußerlich zumindest. Hans-Jürgen? Wer soll das sein! Sie lacht, redet, witzelt mit den anderen Mädchen – so, wie es sich für Teenies in unserem Alter gehört. An ihr ist nichts Abstoßendes. War es, denke ich, nie.

Den Tausch-Flohmarkt vertagen wir auf wann anders, es dämmert bereits. Die Dunkelheit taucht die Fußgängerzone allmählich in die Nacht hinein. Wir gehen vorbei an dem Café, in das ich Janiel bei unserer ersten Begegnung eingeladen habe. Weil ich in einer anderen Richtung wohne, pilgere ich alleine zum Busbahnhof. Sobald ich außer Sichtweite bin, kreuzt Janiel bei mir auf.

»Na, hast du was über Stil gelernt, bei den Mädchen?«

»Ich hab gelernt, wie man Optiker bestiehlt.«

»Das ist auch was.«

»Wolltest du mich ursprünglich nicht davon abhalten, Valentine zu helfen?«, will ich wissen.

»Ich wollte dich davon abhalten, mich da mitreinzuziehen! Ich bin DEIN Schutzengel, der im Rahmen der Akasha-Chronik DEINES Lebens handelt. Ich bin nicht dazu befugt, woanders reinzupfuschen.«

»Eine Akasha-was … ?« Noch während ich frage, erkenne ich aus den Augenwinkeln heraus eine bekannte Gestalt. Eins siebzig groß. Mattbraunes Haar. Grauer Kapuzenhoodie.

»Das kann nicht … « Abseits der dritten Bushaltestelle beugt sich Tobi über ein Mädchen, das an dem blauen Gehäuse lehnt.
 

Tränen bahnen sich ihren Weg über meine Wangen. Bevor ich mich von dem Schauspiel loslösen kann, dreht er sich zu mir um. Bemerkt mich. »Warte!«, schreit Janiel, weil ich mit einem Satz ans andere Ende des Busbahnhofs fliehe. Ich renne und renne und renne. Spüre, wie viel zwischen uns ist. Dass es kein »uns« gibt. Scheiße! Alles scheiße! Ich steige in den nächstbesten Bus ein, habe keinen Plan, wo der hinfährt. Bloß weg hier. Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Jetzt weiß er es. Vorausgesetzt, er kann eins und eins zusammen zählen. Er ist zwar gut in Mathe, aber ob das hilft? Aber von nun an wird mir das egal sein. Ich hab es sowieso schon immer gewusst. Schon die ganze Zeit.

Ich bin nicht gut genug, das ist nun mal so.

Manche Leute starren mich ganz seltsam an, weil ich Tränen in den Augen habe. Aber keiner spricht mich darauf an. Mir doch egal. Sollen sie doch gucken, bis sie schwarz werden. Ich werde hier jedenfalls seelenruhig sitzen bleiben, bis ich rausgeworfen werde. Trotzig wie ein kleines Kind, habe ich die Arme fest vor mir verschränkt, meine kleine Tasche fest umklammert.

Tobi kann bleiben, wo der Pfeffer wächst! Er hat mich angelogen. Von wegen keine Freundin. Warum nur? Ich kann nicht glauben, dass er ein Typ von der Sorte ist, die mit den Gefühlen anderer spielt. Ich kann es einfach nicht. Deshalb blende ich ihn lieber aus. In meinen Gedanken sehe ich Janiel vor mir, wie er mich fragt, ob ich so einen wie Tobi wirklich will. Er hat Recht gehabt, Janiel hat mich wirklich nur vor Tobi beschützen wollen! Wie dämlich ich bin, ist ja logisch, immerhin ist er mein Schutzengel, wieso sollte er lügen. Janiel kann es nun mal nicht verhindern. Ich bin ein Pechvogel, immer noch. Seit diesem Tag.
 

Der Herbst ist da.

Oktobertypisch.

Der Wagen, den mein Vater fährt, ist ein VW.

Er hat vier Räder.

Ich habe Papa gezwungen, mich zu fahren.

Ich will unbedingt in den Zirkus.

Natürlich will ich in den Zirkus.

Ich bin elf Jahre alt.

Papa macht das Fernlicht an, sonst ist keiner unterwegs.

Es ist keiner unterwegs.

Keiner unterwegs.

Einer.

Es hupt, es quietscht, es ist ein Durcheinander.

Aus Schleudern, Angst und Blut.

Da ist viel Rot.
 

Zurück in der Gegenwart unterdrücke ich den Impuls zu schreien.

Wegen mir … wegen mir …

… ist er …

Es ist meine Schuld. Weil ich es war, die unbedingt …

Ich kann nicht einmal zu Ende denken. Ich kann nicht einmal weinen. Ich kann immer weinen, aus ganz harmlosen Gründen. Aber, wenn ich daran denke, dann kann ich nicht weinen. Werde immer trauriger, aber kann nicht weinen.

Ich hasse mich, ich hasse mich! Ich bin so ein Miststück, dass ich nicht einmal trauern kann!

»Entschuldigung, kann ich Ihnen vielleicht helfen?«, fragt eine Stimme. Ich sehe auf. Ein Mann steht vor mir, er reicht mir ein Taschentuch, obwohl ich doch gar nicht weine … Da taste ich an meine Wange und stelle fest, dass sie nass ist. Ich kann ja doch …

Verblüfft starre ich den Mann an, erkenne, dass er gar kein Mann ist, sondern ein sehr alter Mann. Also ein Opi. Dabei sieht er auf den ersten Blick viel jünger aus. Aber wahrscheinlich sehe ich nur nicht mehr richtig durch die Tränen, von dem ganzen Geheule. Der Opi sieht aus wie ein richtig lieber, netter Opi, der seinen Enkelkindern vor dem Schlafengehen noch etwas vorliest, ihnen an Weihnachten eine Original-Lokomotive schenkt und für seine ebenso knuddelige Ehefrau an ihrem Hochzeitstag immer noch ein edles Schmuckstück parat hat.

Er hat warme, hellbraune Augen, sanft und kaffeefarben. Sie strahlen richtig, lenken mich ab von seinen unzähligen Falten. Seine weißen Haare stehen zerzaust in alle Richtungen ab. Aber nicht so struppig wie bei Tobi, sondern eher … Tobi … Und schon wieder flenne ich.

»Hey, was ist denn los, Kleines«, versucht der Opi, mich zu beruhigen. Seine Stimme klingt ganz sanft, und gar nicht gefährlich, obwohl ich diese Worte den meisten Vergewaltigern in den Mund legen würde.

»Ich … ich bin schrecklich!«, würge ich hervor. Ich frage mich, was der liebe Opi hier noch macht, immerhin bin ich ein Miststück. Auf die Idee, dass er gerade deshalb da ist, komme ich gerade noch nicht.

»Scht. Nein, das bist du nicht, du bist doch ein liebes Mädl, du kannst doch gar nicht schrecklich sein.«

Doch, kann ich.

»Komm, nimm das Taschentuch.« Er klingt so gelassen und tröstend. So freundlich. Immer noch hält er mir das Taschentuch hin. Dankend nehme ich es an. Putze mir die Nase. Bestimmt sehe ich schrecklich aus, ich meine, hallo, ich habe gerade Rotz und Wasser geheult.

»Wie heißt du denn, liebes Mädl? Ich heiße Hans-Jürgen.« So sieht also ein waschechter Hans-Jürgen aus. Glück gehabt, Valentine.

Ich liebe dich (nachträglich)!

»Ich nicht«, antworte ich.

Hans-Jürgen lacht. »Schau, du bist nicht schrecklich, du hast mich zum Lachen gebracht. Dabei wollte ich dich doch zum Lachen bringen.«

Nach all den Tränen hat er mir ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert. »Tja, das hat wohl nicht so gut hingehauen.«

»Schau, ein Wunder ist geschehen.« Er zeigt auf mein Spiegelbild in der Fensterscheibe, das selig lächelt. Hey, so scheiße sehe ich gar nicht aus.

»Ich bin die Heulsuse der Nation, aber Sie können mich auch Manuela nennen. Freut mich, Sie kennen zu lernen«, stelle ich mich artig vor. Die Sorgen verfliegen. Oder besser gesagt: Werden verdrängt. Wetten, nachher im Bett heule ich die ganze Nacht vor Liebeskummer.

»Oh, das ist eine große Ehre für mich. Doch ich bin überzeugt davon, du hast einen triftigen Grund, so aufgelöst zu sein.« Die Worte kommen so locker, leicht und unbeschwert über seine Lippen, wirken dennoch ernst. Das ist wohl die Magie des Alters. Soll ich es ihm erzählen? Ich sehe aus dem Fenster, es muss nicht mehr weit bis zur Endstation von was auch immer sein.

Vielleicht hätte er ja schon längst aussteigen müssen? Das frage ich ihn auch. Mit einem Kopfschütteln zeigt er mir, dass das im Moment nicht so wichtig ist. Ich gehe das Risiko ein. »Ich habe gerade herausgefunden, dass ich seit Jahren unglücklich in einen Freund verliebt bin. Das klingt jetzt nach einem totalen Tussi-Problem und das ist es auch. Und ja, es ist völlig übertrieben, deswegen schluchzend in einem Linienbus umher zu fahren.« Jetzt ist es raus. Gleich fühle ich mich viel besser, es ist, als wäre mir eine große Last abgenommen worden. Erleichtert atme ich auf. Und obwohl wir uns gar nicht kennen und ich normalerweise keine Fremden an mich ranlasse, beugt Hans-Jürgen sich zu mir herunter und legt mir eine Hand auf meine Schulter.

»Niemand kann etwas für seine Gefühle«, flüstert er schon fast. An der Endstation steigen wir beide aus. Tausend Mal bedanke ich mich bei ihm für das Taschentuch und so.

»Ist doch selbstverständlich für einen Gentleman«, erwidert Hans-Jürgen daraufhin, ballt die Faust. »Und weine nicht wegen ihm. Wenn man nicht das bekommt, was man will, dann nur, weil man etwas Besseres verdient hat.«

Innerlich hallen seine Worte in mir wie ein Echo. Etwas Besseres. Gibt es so etwas überhaupt? Wie bei einem Zauber streckt Hans-Jürgen mir seinen Arm aus und öffnet sanft seine Faust. In seiner Hand liegt ein winziger Origami-Kranich, der so elegant gefaltet ist, dass man meinen könnte, Magie umgebe ihn. Hans-Jürgens ganze Erscheinung ist ziemlich schmächtig und mittlerweile bin ich fest davon überzeugt, dass er mich nicht vergewaltigen wird. Hoffnung macht sich in mir breit. Vielleicht hat er ja Recht.

»Dieser Kranich ist ein Geschenk für dich, er wird dir Glück bringen und dir einen ganz besonderen Wunsch erfüllen. Du musst ihn nur drauf schreiben!«, verspricht mir Hans-Jürgen.

»Oh, Dankeschön, ich passe gut darauf auf!«, verspreche ich, nehme den Origami-Kranich an mich. Hey, das Leben geht weiter. Nicht alle Menschen sind so bekloppte Lügner wie Tobi. Zum Beispiel Hans-Jürgen.

»Du bist das Beste, was einem passieren kann!«, erkläre ich ihm strahlend und ohne Hintergedanken. Auf die Ansage hin errötet der niedliche Opi ein wenig, grinst mich aber weiterhin aufmunternd an. Und das alles auf eine entzückende Art und Weise. Und: Nein, ich stehe nicht auf alte Knacker, aber er ist echt zum knuddeln!

»Ich kann doch nicht zusehen, wie ein so schönes Mädchen von Kummer zerfressen wird«, flirtet er mit mir. Halt stopp, Moment! FLIRTET ER MIT MIR?! Mit mir flirtet doch keiner (habe ich von Nadine). Ich bin doch hässlich (habe ich von den Jungs aus meiner Klasse). Ergo: Kann gar nicht sein.

»Das ist jetzt aber kein Flirt oder so was?!«, platze ich aus meinen Gedanken heraus.

»Das hoffe ich doch«, sagt eine Stimme hinter mir. Janiel hat uns eingeholt und mir schützend eine Hand auf den Rücken gelegt, dahin, wo in der Nähe eben noch die Hand von Hans-Jürgen gelegen hatte.

»Jan? Wie kommst du so schnell hierher?«, frage ich verblüfft.

Shit, ich hatte ihn ganz vergessen …

Hans-Jürgen starrt Janiel feindselig an. »Ist er das? Der Casanova?«

Nicht nur ein Hauch von Ärgernis schwingt in seiner Stimme mit. Schnell kläre ich das Missverständnis auf: »Nein, das ist mein äh Cousin, ich hab ihn vor lauter Aufregung am Busbahnhof stehen lassen, und bin einfach weggerannt … Sorry Jan!«

Sofort beruhigt sich Hans-Jürgen wieder. »Na dann … «

Janiel lächelt ihn charmant an. »Ich kann ihn auch nicht leiden.«

Wie bitte?! Und wie war das noch gestern im Volleyball mit dem freundschaftlichen In-den-Arm-Geboxe?! Engel sind echt falsche Schlangen.

»Na dann ist sie ja jetzt sicher in deinen Händen … Ich mache mich auf den Weg, auf Wiedersehen!«

Schwupps, ist er weg! Habe ich gerade mit einem Opi namens Hans-Jürgen geflirtet? »Kann mich mal jemand kneifen?«

»Aua!«, entfährt mir, als Janiel es umsetzt.

Belustigt grinst er mich an: »Zufrieden?«

»Das war Rache, gib’s zu!« Ich werfe ihm meinen bösesten Blick zu.

»Ja«, gibt er zu, aber feixend. »Mich lässt man nicht einfach so stehen. Ohne Folgen.«
 

Janiel wusste, dass Manu nicht wie Madeleine war. Aber er wusste auch, dass sie ihr dennoch verdammt ähnlich war. Zu ähnlich. An jenem Tag legte er Manu seine Jacke um, weil sie am ganzen Leib gezittert hatte. Ohne es zu bemerken.

Madeleine war genauso impulsiv gewesen. So undurchdacht, naiv und spontan. Das war die Sorte Mensch, die es am schnellsten erwischte. Nicht jeder Schutzengel war fähig dazu, seinen Menschen ein Leben lang zu beschützen, besonders wenn dieser – kurz gesagt – extrem dumm war. Extrem gutmütig war. Seiner Meinung nach war Manuela auf jeden Fall zu gutmütig. Sie vertraute sich zu schnell Fremden an. Hans-Jürgen, der Schlingel, war nicht der, für den er sich ausgab. Janiel hatte ihn durchschaut. In Wahrheit fuhr mit diesem Bus der Glücksengel Asinel, der gerade seine alltägliche Arbeit verrichtete: Glück unter den Menschen zu säen. Aber, dass Asinel mit Mantras um sich warf, war auch Janiel neu. Selbsterfüllende Prophezeiungen würden Manu niemals ihren heißbegehrten Wunsch erfüllen. Niemand könnte ihn ihr erfüllen. Nicht Hans-Jürgen. Nicht der Origami-Kranich. Nicht einmal Janiel.

Was dachte er da. Warum sollte er.
 

Liebeskummer ist scheiße. Diese allseits bekannte Weisheit bekomme ich am eigenen Leibe zu spüren.

Tobi hat eine Freundin.

Er hat mich belogen.

Warum? Die Frage tanzt bestimmt zehntausendmal durch meinen Kopf. So bedröppelt, wie ich mich auf meinem Bett hin und her wiege, merke ich erst nach drei Minuten, dass Janiel sich in einen Menschen verwandelt hat und mir ununterbrochen ein Kissen an die Schläfe haut. »Erde an Manu.«

Tobi hat wirklich eine Freundin.

»Manu! Jetzt reiß dich zusammen!« Schwierige Sache. Ich igle mich ein. Janiel kloppt nochmal auf mich drauf. »Du darfst dich davon nicht so unterkriegen lassen! Erstens ist Tobi nicht der Richtige für dich und zweitens … «

»Halt! Woher willst du das denn bitte wissen! Bist du mein Schutzengel oder Amor?«, gifte ich ihn an, stoppe das Kissen und vergrabe meine Finger darin.

»Ich verfüge definitiv über genug Menschenkenntnis, um dir mitzuteilen, dass dieser Typ sich nicht die Bohne um deine Gefühle schert und es auch nicht tun wird.«

Das hat gesessen.

»Mir ist klar, dass du das nicht hören willst. Aber du musst das hören! Das ist keine Liebe!«, herrscht er mich an. Redet sich in Rage. »Er hat nie etwas getan, um sich diese Gefühle von dir zu verdienen!«

»Das ist nicht wahr. Diese Woche erst hat er mir Volleyball-Nachhilfe gegeben.«

»Und sonst? Du weiß es ganz genau, Manu.«

Janiel packt zu, umkrallt meine Handgelenke und zwingt mich dazu, ihm direkt in seine hellen, goldgelben Augen zu sehen. »Du weißt es genau.«
 

Es ist Sommer, Sonnenblumen blühen in Gärten von Leuten, die sich die Mühe machen. Es ist warm, nicht allzu heiß, angenehm. Getreide wiegt sich im Wind. Ich weine nicht mehr. Ich bin nicht mehr allein.

Nadine und ich, wir radeln durch die Ortschaft, wollen Eis essen gehen. Es ist lau, es ist schön. Wir erzählen uns Witze, schneiden Grimassen, noch während wir fahren. Wolken wie Schlieren kriechen durch den grün-blauen Himmel. Reifen quietschen auf eine angenehme Art und Weise. Das Eis schmeckt wie Zuckersand, so gefroren ist es.

Nadine erzählt mir von ihren Träumen. Popstar will sie werden. Oder Model. Oder beides. Auf jeden Fall ein Parfum nach sich benennen. Wenn sie es geschafft hat, nimmt sie mich mit auf ihre Yacht und wir fahren damit von der südfranzösischen Küste bis nach Spanien. Zwischenstopp an jeder Partymeile, natürlich. Ich will wissen, ob sie mir dann einen Butler spendiert. Tut sie.

Wir lehnen an der Mauer hinter der Eisdiele, beobachten von dort aus Passanten. Wie sie Eis kaufen. Gut gelaunt scherzen, lachen und lächeln. Ein paar jüngere Jungs feuern sich gegenseitig mit ihren gelb-rot-blauen Wasserpistolen ab, scheuchen dabei Tauben auf. Sie fliegen panisch davon. Wir amüsieren uns.

Wir sind zwölf Jahre alt.

Keiner von uns denkt darüber nach, dass wir die Fahrräder nicht abgeschlossen haben. Bis wir zurückgehen und meins weg ist. Nadines ist noch da, natürlich.

Mit einem Sorry fährt sie weg, lässt mich im Stich, wie immer, natürlich. Böse bin ich ihr nicht. Vielleicht ein bisschen enttäuscht. Ich weiß, dass sie nicht weiß, was böse ist. Woher denn? Also laufe ich durch die Ortschaft an den Feldern entlang, schaue dem Wind zu, wie er den Sommer durch die Gegend trägt.

An einem Zaun kniet ein Junge in der Hocke. Mit Farbeimer und Pinsel malt er ihn an. Der Junge mit der Zahnspange. Von Silvester. Ich bin zu schüchtern, um hallo zu sagen. Er nicht.

»Hallo. Wir kennen uns doch.«

»Stimmt.«

»Alles in Ordnung? Bei dir?«

»Mir geht es gut.«

»Wirklich?«

»Mein Fahrrad wurde gestohlen.«

»Ach so. Warte hier. Nimm meins.«

Mein Herz geht auf.

»Wie heißt du eigentlich?«

»Tobi, und du?«

»Ich bin Manu.«

Er schenkt es mir, sein Fahrrad mit der Froschmaulklingel.

»Bist du dir sicher?«

»Ja, mach dir keine Gedanken.«

»Danke.«

Tobi schenkt mir sein Mountain-Bike, einfach so.

»Du bist doch in der C-Klasse, oder?«

»Woher weißt du das?«

Tobi hat mich beobachtet.

»Tja, eh … ich habe dich gesehen, in der Schule.«

»Du gehst auf meine Schule?«

Tobi ist in meiner Parallelklasse.
 

Janiel gibt schließlich auf, mich mit Worten aufzuheitern und macht mir Tee. Jede Stunde. Schleppt Schokolade ins Haus und legt mir schließlich einen Stapel DVDs vor die Füße, alles Horrorfilme. Ich werde behandelt, als hätte ich meine Tage. Aber es ist wirklich lieb. Ich bin mir sicher, dass das nicht in dem Grundregelbuch für angehende Schutzengel steht.

Am Samstag muss ich mein Schmollen unterbrechen, wir treffen uns bei Valentine zu Hause, um den Mädchenflohmarkt zu veranstalten. Als ich zu Hause die Kleider dafür zusammensuche, die ich mit Valentine tauschen möchte, wandert als erstes das Kleid meiner Tante in den Müll-Tausch-Sack.

»Das willst du nicht ernsthaft weggeben«, mischt sich mein Schutzengel ein.

»Und wie ich das will. Ich mag keine Kleider und Röcke, das weißt du«, ermahne ich ihn.

»Aber … na gut, ist deine Sache.«

Yeah, endlich sieht er es ein!

»Ich verwandle mich nachher«, verkündet er.

»Warum willst du eigentlich immer als Mensch unterwegs sein, wenn du alles sein kannst, was du willst? Du bist nicht dazu gezwungen, mit mir zu reden«, sage ich.

»Weil ich es will«, antwortet Janiel kurz und knapp.

»Ist der freie Wille nicht den Menschen vorbehalten?«, frage ich.

»Ist er. Aber Engel rebellieren gern, wie du an Eiael gesehen hast.«

Das ist also Janiels Form der Revolte gegen das System. Ich habe eine letzte Frage: »Hasst du Gott?«

»Ich empfinde für ihn wohl dasselbe wie du.« Er packt den Sack, den ich mittlerweile mit allerlei Klamotten gefüllt habe. »Ich trag dir den noch runter.« Er verschwindet aus meinem Zimmer. Als ich ihm nachgehe, steht der Sack vor der Haustüre und Janiel ist weg.
 

Im Bus sitze ich alleine mit meinem müllblauen Kleidersack, frage mich, in was für einer Gestalt Janiel mir gerade folgt. Was seine richtige Gestalt ist. Wie alt er wirklich ist. Wie er als Mensch war. Ob diese Madeleine wohl Janiels Tobi war. Ich frage mich, wie ich Janiel eine Freude bereiten könnte. Aber ich weiß es nicht.

Valentine wohnt in einer sehr städtischen Gegend. Block an Block gehe ich die Reihen durch, lande vor einem Altbau. Königstraße 42. Hier ist es. Ich klingele, man macht mir auf. Das Treppenhaus riecht dumpf, nach Kälte, Holz und letztem Jahrhundert. Sechs Stockwerke muss ich bezwingen, um zu Rapunzel, äh Valentine, zu gelangen. Sie öffnet mir die kastanienbraune Holztür, die mit allerlei Ornamenten geschmückt ist, genau wie die Treppenpfeiler. Jetzt schon sieht sie ganz anders aus als an dem Tag, an dem sie zu uns in die Klasse kam. Sie hat den Concealer aufgelegt. »Hey Manu! Die anderen sind noch nicht da, aber komm rein!«

Neugierig mustere ich die Wohnung. Valentines Eltern scheinen nicht zu Hause zu sein. Im Flur liegen Regenschirme, Schals und Handschuhe zerstreut auf einer Kommode, dazwischen noch mehr Krimskrams, wie Stifte und Post-Its. Der Schuhschrank ist vollgestopft mit Wanderschuhen, Stahlkappenschuhen, Sneakers und Pantoffeln. Der orientalische Teppich bildet eine Falte, ist verrutscht. Es macht keinen ordentlichen Eindruck.

Ich folge Valentine durch das Wohnzimmer. Hier ist es nicht besser. Hinter dem Flachbildfernseher befindet sich die angrenzende Theke, die zur Küche führt. Flaschen liegen herum, leere. Klamotten. Noch mehr Pantoffeln. Und noch ein paar Kartons. Nun gut, man kann es der Familie nicht übel nehmen, sie wohnen höchstens zwei Wochen hier. Es ist nicht einmal alles ausgepackt.

»Das ist das Zimmer von meinem Bruder … und das ist meins«, zeigt mir Valentine. »Und neben der Eingangstür im Flur ist das Bad, nur damit du es weißt.«

»Du hast einen Bruder? Wie alt?«

»Neunzehn. Aber er ist ätzend. Hast du auch Geschwister?«

»Nein.« Vielleicht hätte ich noch welche bekommen, wenn mein Leben nicht so scheiße wäre.

»Wie heißt dein Bruder?«, frage ich.

»Dominik«, sagt sie.

»Und warum ist er so ätzend? Ich stelle es mir cool vor, einen älteren Bruder zu haben.«

»Ist es nicht. Glaub mir.« Wir betreten ihr Zimmer. Hier ist es viel aufgeräumter, Valentine hat sich wohl reingehängt, weil sie wusste, dass wir kommen. Mann, seit Janiel bei mir wohnt, bin ich pingelig geworden. Das ist echt ansteckend.

Valentines Zimmer ist das Gegenteil von meinem, alles ist schwarz-weiß. Schwarze Möbel, weiße Wände. Auch hier stehen noch zwei unausgepackte Umzugskartons in der Ecke. Wenn man von Valentines Fenster rausguckt, kann man über einige Dächer der Vorstadt schauen. Ziemlich cool. Da lohnt sich das Treppensteigen.

»Darf ich dich was fragen?« Valentine wackelt unruhig mit dem Fuß. »Warum hilfst du mir?«

Aus Mitleid. Kann ich das sagen? Nein. »Pechvögel müssen zusammenhalten, schätze ich.«

»Worin hast du denn Pech? Bist du nicht mit diesem gutaussehenden Blonden zusammen?«

Urghs. Sogar die Neue hat das eigentlich abgeschaffte Gerücht mitgekriegt! »Schon lange nicht mehr!«, zetere ich. »Wir sind richtig getrennt. Es ist aus, basta!«

»Aber er hat doch mit dir auf mich gewartet, am Donnerstag?«

»Äh … äh … das ist weil … «, ziehe ich meine Stotter-Nummer ab, bevor ich auf eine Idee komme. »Ok, ich verrate dir was, wenn du schwörst, es niemandem weiter zu erzählen!« Jetzt habe ich Valentines vollste Aufmerksamkeit. »Jan ist überhaupt nicht mit mir zusammen gewesen. Wir sind nur Freunde«, offenbare ich ihr.

Sie zieht scharf die Luft ein. »Hat er dich etwa zurückgewiesen?!«

»Hehe … nein.«

»Ach komm, das kaufe ich dir nicht ab! Du bist wirklich nicht in ihn verknallt? Nicht mal ein kleines bisschen? Er ist mir sofort aufgefallen, schon an meinem ersten Tag!«, gibt Valentine zu. »Bist du etwa mit einem anderen zusammen?«

»Öhm … also … «

»Du bist in einen anderen verliebt! Wusste ich es doch!«, ruft sie glücklich aus.

O je, Gerüchteküche, verdünnisiere dich bitte mal! »Also … «, will ich das Missverständnis aufklären, da unterbricht mich die schrille Klingel. Valentine kichert und springt zur Haustür. O weh. O weh, O weh, O weh.
 

Zur gleichen Zeit tapste eine schneeweiße Katze durch einen sehr ungepflegten Vorgarten voller Brennnesseln. Unkraut hier und dort, der Mensch in diesem Hause war ein ziemlicher Faulpelz. Die Haustür war aus Metall, mattblau lackiert. Keine Katzenklappe. So ein Mist aber auch.

Mit einem Satz sprang die Katze auf das morsche Fensterbrett, lugte durch die milchigen Gläser ins Innere des Hauses. Drinnen sah es nicht schöner aus. Dafür entdeckte die Katze, dass das Küchenfenster leicht offen stand. Volltreffer.

So gelangte sie ins Haus, konnte ihren Plan durchführen. Der Mensch schien nicht da zu sein. Was für einen vergesslichen Schutzengel er wohl haben musste. Das Fenster offen zu lassen. Ts ts ts.

Die Luft war rein, endlich konnte Janiel sich verwandeln. Es war so viel schöner, ein Mensch zu sein. Erleichtert nahm er sein magisches Pentagramm in die Hand. Das reine Gold erstrahlte, als er mit den Fingerspitzen darüber strich. Es war voll aufgeladen mit Magie. Das hatte er mit Sicherheit Eiael zu verdanken. Eiael war nicht nur sein Fan, er war viel mehr als das. Er war derjenige, den Janiel im Moment am meisten hasste, gleich nach Tobi.

Janiel schüttelte sich. Er sollte sich beeilen. Das hier tat er für Manu. Er würde ihr ihren größten Wunsch niemals erfüllen können. Aber er konnte dafür sorgen, dass Manu zumindest etwas mehr Glück im Leben haben würde.
 

Montage sind zum Kotzen, das weiß jeder. Bis auf Valentine, die wird es heute nicht erfahren. Valentine sieht jetzt offiziell aus wie eine Valentine. Als sie das Klassenzimmer betritt, fallen gewissen Idioten die Augen heraus. Manchen davon tropft sogar Sabber aufs T-Shirt. Ich denke darüber nach, dass Nadine fuchsteufelswild sein wird, sobald Valentine ihr unter die Augen kommt, und erfreue mich im Voraus daran. Habe ich schon erwähnt, dass Nadine mit Konkurrenz nicht klar kommt?

»Morgen, Manu!«, wünscht Valentine mir einen guten Morgen, und wirft mir ein bezauberndes Lächeln zu, so dass sich jeder Junge in diesem Augenblick wünscht, an meiner Stelle zu sein. Aufgeregt fangen Lilly und Chantal, die wegen Elise gerade da sind, an zu tuscheln. Neugierig stelle ich mich dazu, während Valentine sich auf ihren Platz setzt und brav ihre Matheaufgaben nochmal durchgeht.

»Woah! Was ist denn mit der passiert? Mutiertes Mauerblümchen?«, staunt Lilly.

»Ich wette mit euch, die hat sich die Woche mit Absicht so hergerichtet, damit sie gleich sieht: Aha, die sind total oberflächlich«, wirft Chantal ein. Elise schüttelt den Kopf: »Also nee, kein Mädel würde sich freiwillig so in der Öffentlichkeit zeigen.«

»Da muss ich dir Recht geben«, pflichtet Lilly ihr bei.

Inzwischen hat sich ein schelmisches Grinsen über meinem Gesicht ausgebreitet. Elise, die Menschenkennerin, bemerkt es. »Hey, du hast doch bestimmt was damit zu tun, Manu! Los, raus mit der Sprache!«

Und weil ich eine Quasselstrippe bin, kann ich mich nicht mehr zurückhalten und erzähle ihnen, dass Valentine schon immer eine Schönheit war und nur ein bisschen Mädchen-Know-How von Hanna und Co. gefehlt hatte, um das aufzupolieren. Die drei Mädchen sind sichtlich beeindruckt.

»Ihr seid ja krass drauf«, meint Chantal.

»Aber Leute, bitte erzählt es nicht so rum, es muss ja nicht unbedingt die Runde machen«, bitte ich. Im Hinterkopf denke ich mir: Oh doch, das sollte die Runde machen! Soll doch jeder wissen, wie hübsch Valentine wirklich ist! Wenn jemand Gerüchte streuen kann, dann sind es wohl die drei Schnatterbacken.

»Was soll lieber nicht die Runde machen?«, unterbricht eine feindselige Stimme unseren Kaffeeklatsch. Nadine, wer denn sonst. Als sie Valentine erblickt, zuckt sie richtig zusammen.

»Was ist denn mit der passiert?!«, krächzt sie in einem unerträglich hohen Ton, so, dass sich Daniel, der daneben sitzt, die Ohren zuhält. Valentine sieht kurz auf, lächelt Nadine mild an und widmet sich dann wieder ihrem Matheheft.

» … « Nadine ist sprachlos. Danke, dass ich diesen Tag noch erleben darf! Es schneien nun Hanna und Karin herein, beide mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht.

»Na Nadine, alles gut bei dir? Du siehst etwas … grün aus!«, bemerkt Karin, hält sich die Hand vor den Mund und kichert. Daraufhin flüstert Hanna Karin etwas ins Ohr.

Nadine fasst sich halbwegs wieder. »Ihr müsst nicht so tun, als ob ihr nicht lästern würdet. Es weiß sowieso jeder.«

Als ob man lästern würde, wenn man ihr ins Gesicht sagt, dass sie scheiße ist! Und schon rauscht sie ab. An ihren Platz. Neben mich. Ich bin echt gestraft, wieso muss ausgerechnet ICH neben ihr sitzen? Götter des Schicksals, habt endlich Erbarmen!
 

Haben sie natürlich nicht. Freitag habe ich geschwänzt, um dieser Situation zu entkommen, aber heute muss ich mich in der Pause unfreiwillig meiner größten Angst stellen. Eine Gänsehaut läuft mir über den Rücken, deshalb drehe ich mich um. Hätte ich nicht tun sollen. Hinter mir steht Tobi. Er hat nicht mal Hallo gesagt, obwohl ich schon eine halbe Ewigkeit hier in dieser blöden Pausenschlange stehe. Hat mir nicht auf die Schulter getippt. Doch deswegen bin ich noch lange nicht unhöflich.

»H-hallo.« Oh Mann, wieso muss ich jetzt schon wieder stottern? Irgendwie überkommt mich eine wahnsinnige Kälte und ich fange tierisch an zu zittern. Irgendwo zieht’s hier, ich schwöre.

»Hi«, erwidert Tobi schwach. Wir haben uns nichts zu sagen. Weiß er was? Er tut so, als wäre ich nicht da, erkundigt sich nach dem Essensangebot. Ach, mir doch egal! Würde sowieso nichts ändern, wenn er es geschnallt hätte. Nachdem ich endlich meine Butterbrezel abbekomme, eile ich zu Valentine, die vor der Mensa sehnsüchtig wartet.

»Hey Manu! Das hat ja ewig gedauert, ist das hier immer so?«

»Mmh eigentlich nicht«, sage ich und beiße in die Brezel. Die große Pause dauert genau zwanzig Minuten. Das ist vermeintlich lang, ich habe jetzt schon keine Lust mehr auf den Unterricht. Wir haben heute sogar gleich zweimal Herrn Sommer, weil Französisch ausfällt! Ich wünschte, ich könnte es mir leisten, zu schwänzen. Ich schaue zur Cafeteria, wo Tobi sich mit der netten Köchin unterhält. Valentine hebt eine Augenbraue. »Kann es sein, dass du in den da verliebt bist?«, fragt sie haarscharf nach, womit sie den Nagel auf den Kopf trifft. Ich erröte zur Antwort. Schelmisch grinst sie mich an. Das ist ein So-so-da-läuft-doch-was-Blick. Mit dem liegt sie aber gründlich daneben.

»WEN liebst du?«, will plötzlich Lilly wissen, die aus dem Nichts aufgetaucht ist.

Zufällig läuft Hanna vorbei, schnappt das Wort »Liebe« auf. »Was? Manu? Du liebst wen?« Bevor ich auch nur den Mund öffnen kann, sind auch Karin und Sophie da.

»Du liebst IHN also? Wen denn, mh?«, stichelt Sophie.

»Ihn!«, kreischt Karin fast los, als sie Janiel irgendwo im Schülergewusel entdeckt. »Du liebst IHN!«, fassen die Mädels ihre Schlussfolgerung im Chor zusammen.

Valentine ist offensichtlich verwirrt.

»Hä? Wen jetzt?«

»Na, Jan!«, stöhnt Lilly, genervt von Valentine. »Sie liebt Jan!«

»Wer liebt mich?«, fragt ein Typ aus unserer Parallelklasse, der zufällig Jan Rottenmeier heißt.

»Nicht dich! Dich liebt niemand!«, wimmelt Sophie ihn ab. Leicht enttäuscht beeilt sich KaRottenmeier, von hier weg zu kommen.

»Ich dachte, der da, der To…«, kapiert Valentine und will auf die Cafeteria deuten. Schnell packe ich ihre Hand nach unten und bringe sie damit zum Schweigen. Woher zum Geier weiß sie seinen Namen?! Ich will nicht wissen, was passiert wäre, hätte sie Tobis Namen ausgesprochen.

»Ihr versteht das falsch! Ich habe Jan am Donnerstag nur zufällig am Busbahnhof … «, kann ich endlich zur Hälfte aufklären. Erfreut über diese Information ziehen die Mädels neue Schlussfolgerungen über mein nicht-vorhandenes-Liebesleben, und lassen mich (schon wieder) nicht zu Wort kommen.

» … also hat Manu … «

» … ihn am Donnerstag am Busbahnhof getroffen und … «

» … erkannt, dass sie ihn liebt!«

Zufriedene Mädchengesichter grinsen mich an.

»Ich liebe ihn n… «, fange ich an alles bestreiten zu wollen, werde allerdings von einem Schultertipper unterbrochen. Drehe mich hin, niemand da.

Auf der anderen Seite steht Tobi.

Mit offenem Mund gaffe ich ihn an. Oh, oh, das muss jetzt ziemlich bescheuert rüber kommen: Typ den ich am Donnerstag getroffen habe und anscheinend liebe … HALLO?!

Er grinst auch nicht, ist eher genauso überwältigt wie ich. Aaaah, wie viel hat er gehört?! Es läutet zur nächsten Stunde und auf einmal haben sich alle aus dem Staub gemacht. Wobei Valentine unschuldig ist, Karin hat sie weggezerrt.

Immer noch sehen wir uns entsetzt an. Geschockt. »D-du … du liebst mich?«, spricht er aus, was mir schon so lange auf der Seele gebrannt hat. Okay, das ist der Beweis, er hat genügend gehört!

Schweigen.

» … nicht mehr«, ergänze ich piepsig. Meine Stimme ist futsch. Ich glaube, ich bekomme gerade eine Erkältung.

Schweigen.

»Ach so … «, sagt er nach einiger Zeit.

Schweigen.

Ungefähr drei Millionen Jahre später räuspere ich mich. Wie abgesprochen drehen wir uns gleichzeitig um, beide purpurrot im Gesicht, und nehmen jeweils Kurs auf die entgegengesetzte Richtung.

Hitzeunempfindliche Kühlbeutel

»Manuela, du weißt, ich sehe das nicht gerne, wenn meine Schüler zu spät kommen«, predigt mir Dr. Sommer, als ich zu spät komme.

»Es tut mir sehr leid, wird nicht mehr vorkommen«, murmele ich in meinen Schal hinein. Immer noch ist mein Gesicht glühend heiß, ich will nicht, dass das jemand mitbekommt. Böse funkele ich Karin und Co. an, während ich die Reihen zu meinem Platz durchquere. Diese zucken jedoch mit den Schultern und werfen mir Blicke à la Wir-können-doch-nicht-zu-spät-zu-hot-Dr.-Sommer-kommen zu. Kann ich auch irgendwie nachvollziehen. Er sieht echt gut aus. Ich frage mich schon seit geraumer Zeit, was er hier als Lehrer macht. Jede Modelagentur hätte ihn sofort genommen! Wie auch immer, Janiel hat bereits die Lage abgecheckt und blickt mich mitleidig an.

»Manuela, woher weiß ich, dass eine Parabel offen ist?«, fragt Dr. Sommers liebreizende Stimme.

»Ähm am Vorzeichen«, erwidere ich, während ich eigentlich ganz wo anders bin.

»Das ist richtig!« Dr. Sommer strahlt bis über beide Ohren und es würde mich nicht wundern, würde gleich hinter ihm ein wuscheliger Hundeschwanz auftauchen, der heftig hin- und her wedelt. Die Mädchenherzen schmelzen dahin … jedoch nicht meines, es ist bereits nicht mehr da. »Ach ja … Manuela, komm dann bitte nach der Stunde noch zu mir«, fällt Dr. Sommer noch nebenbei ein. Daraufhin fährt er mit dem Unterricht fort.

Die Mädels halten den Atem an. Ich. Allein. Mit. Dr. Sommer. Hey, halt, Stopp! Ich bin im falschen Film! Ja, er sieht gut aus, aber ich will doch nix von unserem Lehrer! Er doch nicht etwa von m… Wie zur Bestätigung kreuzen sich unsere Blicke. Er lächelt mich an. Und jeder bekommt es mit! Waah Chaos-Alarm!

Los, Schutzengel, tu was! Ich rüttele an Janiel. Dieser zuckt mit den Schultern. Was-soll-ich-da-machen-er-ist-dein-Lehrer.

»Hey, du sollst mich doch vor Unglück beschützen! Also wirklich!«

»Als ob …«, wispert Janiel. So, für den Rest der Stunde hat er sich mein Anschweigen verdient. Bis zur Stunde der Wahrheit.
 

Dr. Sommer und ich sind alleine im Klassenzimmer. Ich kann nicht mehr klar denken, ich schwöre! Nervös verlagere ich mein Gewicht von einem Bein aufs andere, während Dr. Sommer seine Sachen aufräumt. Er hat unzählige, kleine Sommersprossen auf der Nase, die im milden Sonnenlicht richtig süß zur Geltung kommen … Ok, ich schwärme schon ein bisschen für ihn, aber das ist nichts gegen … Schluck. Was habe ich nur angerichtet? Haha, ich liebe dich … nicht mehr. Super Satz, Manu! Toll gemacht, Bravo! Mein erstes Liebesgeständnis musste ja in die Hose gehen! Zudem …

1. unsere Freundschaft jetzt kaputt ist (wenn sie das nicht schon vorher war).

2. er mich nicht liebt (weil er eine super-gut-aussehende Freundin hat, glaube ich zumindest, weil ich sie nicht so genau gesehen habe).

3. er mich wie Luft behandelt.

4. ich ihn theoretisch gesehen nicht mehr liebe.

Wenn das nicht tolle Voraussetzungen für eine Beziehung sind, dann weiß ich auch nicht.

»Also, du kannst dir sicherlich schon denken, warum ich dich zu mir gerufen habe … «, labert Dr. Sommer.

Nein, kann ich nicht.

»Ich habe eure Mathetests aus einem ganz besonderen Grund noch nicht herausgegeben, Manu. Was du geleistet hast, ist einfach unglaublich!«

Hä? Mein Blatt war doch leer.

»Dass du diese Gleichung gelöst hast, ist ein Fortschritt für die Menschheit!«, überschüttet er mich mit Lob.

»Ähm, Dr. äh nein Herr Sommer, ich glaube, das muss ein Missverständnis sein«, werfe ich ein.

»Nein Manuela, ganz und gar nicht!« Freudig kramt er meinen leeren Mathetest heraus.

Der nicht leer ist. Erstaunt glotze ich den Testbogen an. Seite über Seite gefüllt mit mathematischen Gleichungen … mit meiner Handschrift!

»Wie ist das möglich?!«, rufe ich aus.

Er dachte wohl, ich meine die fette EINS vorne auf dem Blatt. »Manuela, du hast eine Gleichung gelöst, in die ich aus Versehen einen Fehler getippt hatte. Es war eine unlösbare Gleichung! Die klügsten Köpfe der Nation brüten darüber schon seit Jahren und dank dir, Manuela, steht der Herstellung von hitzeunempfindlichen Kühlbeuteln nichts mehr im Wege!«

Ach ja, wann stand der Herstellung von hitzeunempfindlichen Kühlbeuteln denn je etwas im Wege? Dr. Sommer fährt fort: »Deshalb habe ich eine spezielle Gruppe aus den besten Nachwuchsmathematikern unserer Schule zusammengestellt, damit wir gemeinsam nach München zur Preisverleihung für den deutschen Jugendmathematikpreis fahren können! Du bist bereits nominiert worden, Manuela.«

Völlig baff klappt mir die Kinnlade runter. Deutscher Jugendmathematikpreis ?

»Hier liegt bestimmt eine Verwechselung vor!«, versuche ich hektisch zu erläutern.

»Aber nein, ich weiß doch, dass du das geschrieben hast. Du musst nicht so bescheiden sein, es ist keine Scham, gut in Mathe zu sein. Ich werde es auch nicht per Durchsage durchgeben.« Als er das sagt, zwinkert er mir zu, so nach dem Motto, Na-klar-bleibt-das-unter-uns. Ich glaube, bei dem ist alles Reden zwecklos. Also auf geht’s! – Womit auch immer ich das verdient habe.
 

In der Pause nach diesem Gespräch eilen blitzschnell sämtliche Mädels aus meiner Klasse zu mir. Mir ist das total unangenehm, obwohl ich weiß, dass ich mich genauso benehmen würde. »Und? Was wollte Dr. Sommer von dir?«, sprudelt Karin sofort heraus.

Hanna stellt schon Theorien auf. »Bestimmt hat er sich in Manu verguckt und die beiden haben eine heimliche Affäre, deswegen wird sie gleich sagen ‚Nix, er hat sich über meine miserablen Noten beschwert’ oder so was in der Art!«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«, nuschele ich. Das Mädel hat doch ein Rad ab! Die meisten Mädchen halten das allerdings für möglich. Wo bin ich hier gelandet?! Naja, fast alle.

»Pah, das denke ich nicht, Hanna! Eher hat er ihr eine Strafarbeit aufgebrummt, weil sie nie die Hausaufgaben hat«, mault Nadine. Zwar gebe ich es ungern zu, aber in diesem Fall liegt sie goldrichtig. Bei mir kann man an einer Hand abzählen, wie oft ich die Hausaufgaben dabei habe. Vermutlich bin ich deswegen so eine Mathe-Niete.

Weil ich niemandem die München-Sache auf die Nase binden will – dann kommt noch so was wie: Manu und Dr. Sommer in einem Hotelzimmer! –, gebe ich Nadine Recht: »Ja, genauso war es. Nix Spektakuläres« Tatsächlich ist Nadine mir manchmal sehr nützlich.

Seufzen der Mädchenmenge. »Wie langweilig, jetzt hatten wir uns soo über schmutzige Details gefreut«, erwidert Sophie mit einem hinterhältigen Grinsen auf der Fassade. Tja, sorry, da muss ich euch leider enttäuschen! Die Mädels zischen ab, da sieht man mal, wie viele Freunde man hat, wenn tote Hose ist, doch ich bekomme noch durch Zufall mit, wie Karin noch sagt: »Dabei wirft er ihr immer so bezaubernde Blicke zu … ich glaub nicht, dass es da nichts gibt.«
 

Ich muss Tobi in den Pausen gar nicht aus dem Weg gehen, das macht er schon selbst. Indem er Nadine aufsucht. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich froh, ihm nicht zu begegnen. Trotzdem bin ich traurig darüber, dass wir wohl nie mehr Freunde sein werden. Dabei habe ich doch sonst niemanden. Oder, das heißt, doch.

»Hey Manu, was ist denn heute mit dir los? Du bist doch ganz neben der Spur«, stellt meine neue Freundin Valentine in der Pause nach der Stunde fest.

»Ja also … «, beginne ich.

»Ist es wegen deinem Typ?«, unterbricht sie mich.

»Ähm … «

»Keine Sorge, auch andere Mütter haben schöne Söhne!«, versichert sie mir.

»Aber … «

»Kein Aber! Du bist total hübsch und nett, vergiss den Kerl! Der war eh hässlich.«

Das sagt ausgerechnet sie.

»Die … «

»Die inneren Werte zählen, ich weiß.« Sie seufzt. »Dabei wollte ich dich doch nur aufmuntern.« Jetzt ist sie zur kleinen, grauen Maus mutiert. Ich glaube, sie ist schizophren.

Schweigend stehen wir da, so dass ich endlich auch einmal zu Wort komme. »Das hast du«, sage ich lächelnd.

»Darf ich dich was fragen?« Valentine sieht mich schüchtern an. »Was genau ist denn mit Tobi? Ich habe ja gerade nur geraten, was los ist … «

Tja, was soll ich dazu sagen. »Eigentlich nichts Großes. Wir ignorieren uns nur.«

»Ihr habt also nicht Schluss gemacht?«

»Haha. Wir waren doch nie zusammen.«

Sie kapiert es endlich. »Oh Manu, das tut mir leid … «

Tja. Tja. Mir auch.

»Das mit den schönen Söhnen meine ich aber ernst. Schon allein unser Lehrer scheint auf dich zu stehen!«

»Oh Valentine, du nicht auch noch … da läuft wirklich nichts!«

»Von dir aus vielleicht nicht!«, behauptet sie grinsend.

Hach, Valentine …

»Ok, und was ist mit deinem Kumpel Jan?«

»Da wird nie was draus, das schwöre ich!«, schwöre ich. »Niemals!«

»Was findest du denn an Tobi, dass kein anderer in Frage kommt?«, wundert sie sich. Ich stocke bei dieser Schlussfolgerung. Ja, warum kommt denn kein anderer in Frage?

»Weißt du … ich denke, Tobi hat ein gutes Herz.« Diese Antwort scheint sie zu erstaunen. Ich fahre fort: »Von Anfang an hat er mir immer geholfen, wenn es mir extrem schlecht ging. Er hatte da einfach ein gutes Timing, schätze ich.«

Valentine überlegt, zerdrückt den Saum ihres Oberteils dabei. »Aber hilft Jan dir nicht auch… ?«

Mhm. Da hat sie gar nicht mal so Unrecht.

»Du hast es so gut, Manu. Ich beneide dich, wirklich.«

Verdattert starre ich sie an, sage: »Das brauchst du wirklich nicht! Immerhin … « In diesem Moment werden wir von Lilly und Nadine unterbrochen, die sich herausfordernd vor uns stellen.

»Was gibt’s?«, versuche ich harmlos zu klingen.

Böser Fehler.

»Wir wollen nur mal kurz klarstellen, dass ihr zwei euch eure Pläne in den Arsch schieben könnt«, zwitschert Nadine liebreizend. Entsetzt entfährt Valentine und mir: »Was für Pläne?!«

»Wir wissen genau, dass du in Wahrheit hinter Dr. Sommer her bist, aber das kannst du dir abschminken, Manu!«, will mich Lilly irgendwie für dumm verkaufen. Oder auch nicht. Die meint das tatsächlich ernst!

»Genau. Und du, Hässlon, solltest dich mal damit zurückhalten, Philipp anzuschmachten!«, verlangt Nadine von Valentine und zeigt mit dem nackten Finger auf sie. Moment Mal, ist Philipp nicht derjenige, der Valentine bisher am meisten gemobbt hat?!

»Wie kommt ihr auf solche bescheuerten Ideen?! Habt ihr was Falsches gegessen?!«, keife ich mit erhobener Stimme zurück. Die Mädchen zucken zusammen, damit haben sie nicht gerechnet. Ich bin selbst darüber überrascht, dass ich zur Abwechslung einmal den Mund aufbekomme. Meine Stimme lockt Leute an.

Genauer gesagt, ausgerechnet Philipp.

»Was ist hier los, Nadine?«, will er die Lage abchecken und legt eine Hand auf ihre Schulter. Oh Nein, gleich fängt er mit dummen Kommentaren an. Vorsichtig schiele ich zu Valentine, die schon bibbert vor Angst.

»Kommentare kannst du dir sparen, Philipp!«, pflaume ich ihn einfach an, bevor er überhaupt etwas gesagt hat.

»Ich sage doch gar nichts?!«, stellt er korrekterweise fest. Ok. Touché. »Was ist hier los?«

Bedröppelt sehen alle zu Boden. »Manu hat was mit Dr. Sommer!«, zischt schließlich Lilly in die Leere.

»Habe ich nicht!«, protestiere ich.

»Leugnen ist zwecklos! Wir wissen es alle, stimmt’s Nadine?«, stößt Lilly sie am Arm an. Nadine sagt dazu zwar nichts, stiert dafür Valentine extrem bösartig in die Augen. Wenn das nicht mal ein Todesblick ist. Wie ein verängstigtes Kaninchen tapst meine Freundin einen Schritt zurück.

Das bemerkt sogar Philipp: »Was auch immer, aber dafür kann Valentine doch nichts, oder?« Schützend stellt er sich vor sie und unterbricht damit Nadines Augen-Attacke, deren Gesicht gerade zusammenfällt.

Ich bin nach wie vor aufgebracht: »Was heißt hier, was auch immer, ich habe wirklich nichts mit einem Lehrer! Wenn ihr es genau wissen wollt: Ich habe einen Mathepreis gewonnen!«

Jetzt ist es rausgeflutscht. Alle Beteiligten schauen mich ungläubig an. Philipp fängt als Erster an zu lachen. »Bist du nicht eine der schlechtesten aus der Klasse?! Haha, selten so einen guten Witz gehört!«

Lilly und Nadine stimmen mit ein, und zu meinem Leidwesen grinst sogar Valentine. Erde, tu dich auf. Da werde ich gerettet. Es schwirrt herbei: Ausgerechnet Dr. Sommer. »Manuela! Die anderen Schüler, die mitfahren, stehen fest!«, ruft er begeistert aus.

Na und wen interessiert’s. Wichtiger ist, dass Nadine und Co. verdammt dumm aus der Wäsche gucken.

»Wir sind zusammen, ausschließlich mir, zu sechst. Eigentlich hätten viel weniger mitkommen dürfen, aber ich habe das für uns geregelt.« Er grinst mich an wie ein Honigkuchenpferd. Ich gerate in Versuchung, »Gut gemacht, Hündchen!« zu rufen, kann mich nur noch beherrschen, weil er sogleich fortfährt, ohne die Umstehenden zu beachten: »Die anderen fünf sind Jan Rottenmeier 10d, Josefine Tofurah Q11, Tobias Eichendorff 10a, Eduart Gelsenberg Q12 und Jonas Hüpsch Q12. Wir werden im Hotel in einem Zweierzimmer und einem Viererzimmer übernachten, daher versteht sich, dass du mit Josefine dein Zimmer belegen wirst, auch wenn du meiner Meinung nach eine fabelhafte Hotel-Suite für dich alleine verdient hättest, aber dann hätte Josefine auch eine bekommen müssen. Kann man nichts machen. Wir würden Donnerstagmorgen losfahren und Sonntagabend wieder ankommen, also hättet ihr noch am Montag schulfrei, wegen der Anstrengung. Treffpunkt ist hier, am Haupteingang um acht Uhr morgens.«

Jetzt bin ich wirklich ausreichend informiert. Halt mal – Hat er gerade Tobias Eichendorff gesagt?! Oh nein oh nein. Tobi fährt mit nach München. Das wird ja super.

Nadine ist nach diesem Monolog die Kinnlade saftig heruntergeklappt. »Herr Sommer, sagen Sie bloß, Manu hat wirklich was gewonnen?«

»Gewonnen? In der Tat, und zwar nicht nur etwas! Unsere liebe Manuela ist ein wahres Genie, sie wurde für den deutschen Jugendmathematikpreis nominiert!«, prahlt er ungeniert. Mir ist das so was von peinlich, aber wenigstens gibt er es ihr. Noch verdutzter als Nadine ist zweifelsfrei Philipp: »Und Sie irren sich, wirklich nicht?! Stehe ich nicht auf der Liste? Vielleicht haben Sie Manus Test ja vertauscht … mit einem anderen aus der Klasse … «

Tja Philipp, das hättest du wohl gerne. Aber nur so zu tun, als wäre man ein Streber, hilft nun mal nicht bei den Noten weiter (er schleimt immer nur bei den Lehrern herum). Auch Lilly ist ganz aus dem Häuschen: »Sie sind also noch Single?«

Mehr hat sie aus dem Ganzen also nicht herausgehört. Die Frage kommt so unerwartet, Dr. Sommer weiß erst gar nichts darauf zu sagen, erwidert dann aber: »Ähm … ja. Kann ich dir irgendwie weiterhelfen … ?«

Valentine beherrscht sich, nicht loszuprusten und auch ich schmunzele vor mich hin. Das hätte ich so gerne aufgenommen. Schließlich tippe ich Valentine an, wir nutzen die Verwirrung, um abzuhauen. Flüchten raus zu meinen Lieblingssteinen.

»Das war gerade DER HAMMER!«, ruft Valentine überglücklich aus. »Hast du ihre Gesichter gesehen? Sag bloß, du hast Herr Sommer dazu angestiftet!«

»Nein, ich habe wirklich diesen Preis gewonnen … «, gebe ich zu. Habe ich doch, oder? Ich zweifle selbst groß daran. Valentine staunt nur: »Wow, ein Genie bist du auch noch!«

Bevor sie noch mehr Respekt vor mir bekommt, gestehe ich es ihr. »Du, Valentine … um ehrlich zu sein … ich kann mir das mit dem Preis gar nicht erklären.«

»Nicht so bescheiden, Manu!«

»Nein, wirklich! Meine Blätter habe ich nämlich leer abgegeben. Du warst noch nicht an der Schule, als wir ihn geschrieben haben.«

Eine Weile lang weiß sie nichts zu antworten. »Das ist höchst merkwürdig«, gibt sie dann ihr Statement dazu ab. »Warst du vielleicht besoffen oder standest unter Drogen, als du diesen Test geschrieben hast, und erinnerst dich bloß nicht mehr? Manche Menschen hegen tief in ihrem Inneren eine Begabung, die allein in solchen Dämmerzuständen zum Vorschein kommt.«

»Das glaube ich weniger. Da ist wahrscheinlicher, dass jemand den Test vertauscht hat«, entkräfte ich ihre These. »Valentine, ich schwöre dir, da geht was nicht mit rechten Dingen zu. Ich habe diesen Test wirklich nicht geschrieben, aber trotzdem war es genau meine Handschrift!«

»Deine Handschrift?! Und du behauptest immer noch, ihn NICHT geschrieben zu haben?« So wie es aussieht, rede ich gegen einen Zementblock.
 

Genau wie gegen Janiel, der die ganze Zeit nur grinst, während ich ihn durch die Stadt schleife, um Besorgungen zu erledigen, für den Fall, dass ich wirklich nach München fahre. Für den Fall.

Ich bin mir noch nicht sicher, ob die Angst, Tobi zu begegnen siegt und ich doch noch in letzter Sekunde kneife. Dabei würde ich so gerne mitfahren, einfach nur um Nadine einen weiteren Magenhieb zu versetzen.

Nachdem ich mich in der Drogerie mit Damenhygiene-Artikeln eingedeckt habe (ja, das muss sein), treffen wir zufällig auf Hans-Jürgen. Der niedliche Opi erkennt mich sofort wieder. »Hallo, Manuela, wie geht es dir?«, fragt er putzmunter.

»Okay«, antworte ich.

Er merkt, dass etwas nicht mit mir stimmt. »Was ist denn los? Nicht etwa schon wieder dieser Casanova!« Die letzten Worte ruft er empört aus, guckt zwischen Janiel und mir hin und her.

»Nein, gar nicht. Diesmal ist sogar etwas Gutes passiert!«, verrät Janiel ihm.

»Ach ja?«, erwidert Hans-Jürgen neugierig.

»Ich habe einen Preis gewonnen, in Mathe«, vertraue ich ihm an.

Hans-Jürgen zuckt kurz zusammen, freut sich aber für mich: »Na, wenn das nicht eine tolle Sache ist!«

»Aber wenn ich ehrlich bin, kann ich es nicht glauben … dass ich diesen Test geschrieben habe. Weil: Ich habe ihn nicht geschrieben. Aber total sicher bin ich mir nicht, an dem Tag ist viel passiert … « Pause. Ich senke den Kopf.

»Na na! Ich bin mir sicher, du hast das ganz alleine geschafft … Vermutlich musst du nur an dich glauben und wenn das nicht reicht, dann glaube ich für dich daran!«, macht er mir Mut und schielt dabei immer wieder zu Janiel herüber. Wir verabschieden uns wieder, und Janiel murmelt hinterher: »Da hat sich aber jemand gewundert … «
 

Während ich am Abend vor der Abreise in meinem rosaroten Zimmer den alten Reisekoffer meiner Mutter aufreiße, latschen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Ich weiß jetzt: Ich will nicht mit Tobi nach München. Nur dumm, dass Dr. Sommer das will. Mir hätte eigentlich von Anfang an klar sein müssen, dass Tobi in jedem Fall bei so einer Aktion mitfährt. Ich meine, HALLO, Tobi, das Mathe-Ass. Und überhaupt – was mache ich eigentlich, wenn auffliegt, dass ich keine Ahnung von Mathe habe? Wenn sie herausfinden, was ich zu erklären versucht habe? Und wer eigentlich? Langsam schwirrt mir der Kopf.

»Hilfää!«

»Ich bin hier!«, meldet sich mein Schutzengel zu Wort.

Ich gebe keinen Mucks von mir. Was soll der denn da helfen?! Ignorant schreite ich an ihm vorbei und miste meinen Kleiderschrank aus. Nachdem ich endlich alles gerade so verstaut habe, sacke ich in mir zusammen. Das kann ja morgen echt heiter werden! Ich … ich bin am Ende. Er hasst mich bestimmt. Dafür, dass ich ihn »mal geliebt habe«. Und das wird mir jetzt auch noch unter die Nase gerieben. Angewinkelt lehne ich an der Tür, weiß, dass ich nicht so viel in Selbstmitleid schwelgen sollte. Einmal habe ich etwas gewonnen und ich hatte es verdient. Damals … Papa …

Manchmal denke ich, ich bin so kaputt. Dann frage ich mich, wie werde ich wieder ganz? Doch mir antwortet niemand. Nie hat mir jemand geantwortet. Wer kommt von sich aus zu mir? Wen kümmert es, was mit mir passiert? Es war nie jemand da. Das wird mir jetzt bewusst. Am liebsten würde ich ewig so sitzen bleiben, das Gesicht in meinen verschränkten Armen vergraben. Weinen tue ich nicht. Ich wäre doch traurig, würde ich weinen, der Unterschied ist: Ich bin nicht traurig, ich bin verzweifelt. Ich weiß nicht weiter. Ich weiß es nicht.

»Manu, ich glaube an dich. Aber du musst auch an dich glauben.«

Vorsichtig hebe ich den Kopf. Er streckt mir die offene Hand aus, ist bereit, mir zu helfen. »Du hast es so weit geschafft, von ganz alleine, ohne irgendwelche Hilfe. Aber von jetzt an wirst du nie wieder alleine sein. Ich werde dich immer beschützen. Das ist meine Pflicht. Und das verspreche ich dir.«

Endlich ist jemand da, denke ich mir, dabei habe ich es doch gewusst. Janiel glaubt an mich. Als er mir aufmunternd zunickt, merke ich, dass diese alten Zeiten vorbei sind. Ich bin nicht mehr allein. Ich ergreife Janiels Hand und erhebe mich.

Freundschaft minus Tobi

Heute ist der Tag. Ich werde die große Metropole München unsicher machen. Gelangweilt vom Warten auf die anderen, sitze ich auf meinem gepackten Koffer am Parkplatz unserer Schule. Der plötzlich miaut.

»Koffer?« Verwirrt springe ich von meinem Sitzplatz herunter. »Janiel? Hast du dich etwa in meinen Koffer verwandelt?« (ist doch möglich). Ich traue ihm zu, dass er jetzt halb Katze, halb Koffer ist. Es rumpelt.

»Katze?«, frage ich vorsichtig nach.

»Fauch!«

»Jaja, schon gut, Kater!«

Zufriedenes Maunzen. Okay, so wie es aussieht, ist meine Katze in meinem Koffer gelandet.

»Fauch!«

Als könnte er Gedanken lesen. »Oh Mann!«, reagiere ich darauf. Hoffentlich bekommt Dr. Sommer das nicht mit – oder sonst wer. Hinterher werde ich noch wegen Tierquälerei angeklagt.

»Janiel, komm da sofort raus!«, zische ich den Koffer an.

»Manu, du sprichst jetzt nicht schon mit Koffern, oder?«

Wie versteinert halte ich inne. Wende den Kopf. Da steht KaRottenmeier und grinst mich ganz unverschämt an. »Nein, ich habe nur meine täglichen Selbstgespräche absolviert. Weißt du, ich bin voll auf Turkey ohne«, entgegne ich.

»Das habe ich mir schon gedacht, so siehst du nämlich auch aus.«

Rumms! Mann, war das eine Beleidigung. »Sagt die Karotte«, erwidere ich möglichst gelassen.

»Maunz!«

»Was war das?!« Sichtlich verwirrt hält Karotte Ausschau nach meiner Katze. Ich verpasse dem Koffer einen Tritt.

»Scheinst wohl auch nicht ganz bei Sinnen zu sein, was, Karotte? Kann ich dir nicht verübeln, ich meine, seit wann kann Gemüse denken?« Hehe, jetzt grinse ich. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Naja, bis Tobi auftaucht. Dann lache ich nicht mehr. Das Gemüse hält die Klappe. Eisernes Schweigen. Schon wieder. Irgendwie ist Tobi immer öfter die Ursache für Schweigen.

»Miau!«

Ich werde noch verrückt! Glücklicherweise ist das Maunzen nur mir aufgefallen, weil es zu leise ist, um die Entfernung von fünf Metern zu überschreiten. So weit stehen Karotte und Tobi nämlich weg von mir, während wir auf Dr. Sommer warten. Auf den wir nicht lange warten müssen. Hoch vergnügt tänzelt er herum und es würde mich nicht wundern, würde er gleich eine Pirouette drehen.

»So, gleich geht es los! Seid ihr bereit?«

Nee.

»Wir warten noch auf die drei anderen, aber ihr könnt schon mal in den Bus einsteigen.« Gesagt, getan. Ich verschanze mich nach ganz hinten auf die Fünfer-Plätze. Eigentlich will ich nichts mit den anderen zu tun haben. Denkste. Kurz darauf leistet Karotte mir Gesellschaft.

»Willst du dich jetzt hier hinten ganz alleine breit machen?«

Blöde Frage, was tu ich hier gerade.

»Dann hast du Pech gehabt!«, ruft die Karotte und schmeißt sich auf meine Füße. Der Versuch, meine Festung dadurch zu erobern, scheitert durch die Trampel-Attacke, die ich daraufhin loslasse. Leg dich nie mit Manu an!

Karotte fliegt auf den Gang. »Na warte, das gibt Rache!«, seine Augen funkeln kampflustig, er findet das Ganze wohl witzig (hier ein weiterer Beweis für das wirkliche Alter von Männern: fünf). Ok, zugegeben, nach der Kitzelattacke ist mir die Luft weggeblieben, und ich habe ziemlich rumgequiekt, aber ich weiche trotzdem nicht von meinem Lieblingsplatz. Nur durch die plötzliche Vollbremsung des Busses bekomme ich mit, dass wir am Hauptbahnhof angelangt sind, von dem aus wir mit dem Zug nach München fahren.

Hä, Moment, wann sind wir losgefahren? Ich hatte noch nicht einmal die anderen Teilnehmer in Augenschein genommen, abgesehen von Tobi und Karotte. »Bitte alle umsteigen!«, macht Dr. Sommer die überflüssige Durchsage. Also begeben wir uns zu Gleis 1, fahren ICE. Juhuu, ich bin noch nie ICE gefahren! Ich wollte schon immer mal in dem Bordrestaurant essen! Und ja, ich bin sehr verfressen, nicht nur ein bisschen. Das mit der Diät wird also nix.

Wir hieven unsere Koffer in den ICE, doch mir hilft eine helfende Hand. Die Hand hat auch einen Körper mit Kopf, der Dr. Sommer gehört. »Komm, Manu, ich trag das für dich. Ein Mädchen sollte nicht so viel tragen«, erklärt er mir freundlich und nimmt mir meinen Koffer ab. Etwas verwirrt blicke ich mich um, und das Mädchen, das Josefine Tofurah sein muss, schleppt sich mit ihren drei Koffern gerade zu Tode. Der Lehrer hat echt einen Vogel. Wehe, er fängt jetzt an zu pfeifen.
 

Im Zug können sich immer nur vier Personen zueinander gewandt hinsetzen und so kommt es, dass ich mit Dr. Sommer und Eduart Gelsenberg aus der Zwölften in einem Viersitzer lande. Endlich habe ich es geschafft, dem Gemüse zu entkommen. Ein Manko gibt es dennoch: Jetzt bin ich der strahlend guten Laune von Dr. Sommer ausgesetzt. Das darf doch alles nicht wahr sein! Jetzt bin ich gerade vor der verrückten Karotte geflüchtet, da holt mich Mr. Honigkuchenpferd ein. Ich bin doch echt ein Opfer. Dr. Sommer grinst mich an. Ich tue so, als würde ich zurück grinsen. Eduart spielt wie hypnotisiert Tetris auf seinem Handy. Es ist echt nicht böse gemeint – aber unter Eduart stelle ich mir wirklich den absolut typischen Mathefreak vor. Er trägt eine Nerd-Brille, hat eine Knollnase, das Hemd in der Hose (schon, dass er überhaupt ein Hemd trägt), ist eindeutig vom Pizza-Gesicht-Syndrom betroffen und hat kurze, braune, fettige Haare. Ach ja, und spielt die ganze Zeit dieses Handyspiel.

Weil ich mit Dr. Sommers Grinserei nichts anfangen kann (im Gegensatz zu Chantal und Lilly und wer weiß noch wem), beschließe ich, mir das Bordrestaurant anzuschauen. Heute sind ziemlich wenig Passagiere anwesend und das Abteil ist dementsprechend leer. Gut, mehr Essen für mich.

Ich lächle in mich hinein. Armer Janiel. Der kriegt gar nichts mit von diesen Köstlichkeiten hier – habe gerade einen gutaussehenden Erdbeerkuchen entdeckt. Ich hole mir noch ein paar weitere Desserts – einen Melonen-Milchshake, einen Schokoriegel und noch eine Cola – und verziehe mich an ein ruhiges Plätzchen.

Nur, dass ich nicht damit gerechnet hatte, dass es problematisch sein könnte, wenn man sich einfach mit vielen Süßigkeiten in irgendein leeres Kabinchen hockt und keinen Fahrschein parat hat, weil der Lehrer ihn hat. Hochkant werde ich rausgeworfen und Dr. Sommer darf dann das Missverständnis zwischen dem Schaffner und mir aufklären. »Fräulein, da haben Sie aber noch mal Glück gehabt«, brummt dieser.

Oh, oh, ich hoffe dem nicht noch einmal zu begegnen. Hey, hat der gerade gesagt, ich habe Glück? Ernsthaft überlege ich, ob das möglicherweise etwas mit einer eingesperrten Katze im Koffer zu tun haben könnte (nein, ich hege keine Vorlieben für Tierquälerei). Da reißt mich Dr. Sommers Stimme aus meinen Gedanken.

»Ganz schön frech, einfach auszubüchsen! Aber keine Sorge, ich werde unser Mathematikgenie nicht verpetzen.« Und wieder dieses Augenzwinkern. Was hat das zu bedeuten? Hat das überhaupt was zu bedeuten? Für einen Moment glotzt Eduart uns beide an, dann wendet er sich wieder seinem Handy zu.

Den Rest der Zugfahrt verbringe ich mit meinem MP3-Player, um nicht noch mehr Chaos zu stiften. Als wir dann endlich am Münchner Hauptbahnhof ankommen, stürze ich mich sofort mit Karotte und den anderen in ein Café, um mir auf Empfehlung von Dr. Sommer so einen leckeren Frappucino zu holen. Das Zeug ist tatsächlich göttlich. Während wir schlürfend auf unser Hotel-Taxi warten, fällt mir auf, dass ich gar nicht mehr die ganze Zeit über Tobi nachdenke, obwohl er mir gerade gegenüber steht. Er redet zwar immer noch nicht wirklich mit mir, aber es macht mir immer weniger aus. So was wie »Gibst du mir bitte mal meinen Kaffee« zählt nicht.

Dieser Gedankengang stimmt mich total fröhlich. Die Angst, bei diesem Preis-Dingens zu versagen, ist komplett verschwunden. Vielleicht bin ich gar nicht so dumm, wie Nadine immer behauptet? Da hält das Taxi vor uns.

»Soll ich dir helfen?«, fragt mich Jonas Hüpsch aus der Q12. Er hat seinen Frappucino bereits weggeworfen und hält meinen Koffer in der Hand. Ich nicke dankend, während ich die eiskalte Vanille-Essenz runterschlucke. Wieso ist er so nett zu mir? Davor hat er noch kein Wort mit mir gewechselt. Was mich auch nicht gewundert hat, da er seinem Nachnamen alle Ehre macht und mich solche Typen grundsätzlich meiden. Ich beschließe, nicht weiter nach zu grübeln und mich einfach darüber zu freuen.

Jonas befördert mein Gepäck in den Kofferraum und ich setze mich schon mal ins Auto. Leider landet Eduart neben mir, sodass ich die ganze Fahrt über diese nervige Tetrismelodie im Ohr habe. In solchen Momenten wäre ich gerne Janiel.

Also starre ich aus dem Fenster und bemerke, wie viele Kaufhäuserketten es hier in München gibt. Irgendwie an jeder Ecke einen. Und die H&M’s erst! Die hatten hier wohl keine neuen Ideen für Geschäfte, wenn die hier alles doppelt bauen. Nach einer halben Ewigkeit erreichen wir das Hotel, und: Es ist echt klasse! Ich sollte öfter Mathematik-Jugendpreise gewinnen. Das Ding ist ein richtiger Nobelschuppen. Auch von innen.

Während Dr. Sommer eincheckt, befördern ein paar Bedienstete unsere Koffer nach oben. Die Hotel-Halle wird von roten Samtvorhängen, Teppichen und goldenen Ornamenten geschmückt. Wenn ich nicht wüsste, dass ich in München bin, würde ich meinen, ich wäre in Hollywood.

Sogar Nerd Eduart hebt für eine Sekunde den Kopf, um seine Umgebung zu bewundern, bevor er wieder in seiner Welt versinkt. Die Einzige, die so was von gar nicht beeindruckt ist, ist meine Zimmergenossin Josefine. Ich frage mich, was sie wohl für ein Mensch ist und hoffe, dass ich mit ihr gut klarkomme. Jemand kneift mich in den Arm. Als ich mich umdrehe, grinst mich Karotte an. Na warte!
 

Nachdem Karotte und ich die Hotelhalle verwüstet haben, geben wir Dr. Sommers Flehen nach und verschwinden auf unsere Zimmer. Wenn Nadine das nur sehen könnte! Das Zimmer ist riesig im Gegensatz zu diesen mickrigen Räumen in Jugendherbergen, in denen gequetscht gerade mal zehn Leute Platz finden.

Mein Bett ist das flauschigste, das es gibt. Am liebsten würde ich es mit heim nehmen. Das Einzige, was meine Stimmung trübt, ist ein flüchtiges »Miau« aus Richtung Koffer, das meine Mitbewohnerin verwundert aufhorchen lässt.

Wir müssen vorsichtiger sein. Josefine ist kein Mädchen von der Sorte, die ständig der neuesten Mode hinterher jagen. Sie ist aber auch kein armer Tropf. Wenn sie nicht diese eiskalte Aura hätte, hätte ich sie wahrscheinlich mit Eduart in einen Topf geworfen. Sie redet nicht besonders viel mit mir, vermutlich ist das nicht ihre Art. Stille Wasser sind tief. Oder sie mag mich nicht, was ich aber seltsam fände, da sie mich gar nicht kennt. Ich belasse es bei unserem Schweigen und inspiziere das Badezimmer. Logisch, dass es hier genauso edel aussieht, wie im Rest des Hotels, doch ich kann mich nicht beherrschen und quieke erfreut auf, als ich die Dusche erblicke. Josefine muss mich für verrückt halten. Ich reiße mir die Klamotten vom Leib und springe augenblicklich darunter. Welch ein Genuss!

Unter dem Rauschen nehme ich ein leises Klicken der Tür wahr. Josefine hat sich aus dem Staub gemacht. Plötzlich öffnet sich die Badezimmertür. Kreischend verdecke ich die wichtigsten Zonen, da knallt die Tür auch wieder zu.

Freche Katze!

Als ich fertig bin, schimpfe ich Janiel. »Was fällt dir ein, in das Badezimmer einer Dame einzubrechen?!«

»Sorry, ich konnte ja nicht ahnen, was du da drin treibst. Ich dachte, du siehst dich nur um.«

»Das ist keine Entschuldigung!«

»Gut, ich mache es nie wieder!«

»Na also.« Völlig fertig von der Reise sinke ich auf mein Bett.

»Wie viel Uhr haben wir?«

»17 Uhr. In einer Stunde gibt es Abendessen«, antwortet Janiel.

»Sag mal, wie willst du dich eigentlich vor den anderen verstecken? Haustiere sind hier verboten und wenn Dr. Sommer dich als Mensch entdeckt, hagelt es Schulverweise.«

»Lass das mal meine Sorge sein.«

Davon lasse ich mich zwar nicht überzeugen, fange aber keine weitere Diskussion an. »Gehst du heute zum Abendprogramm?«, lenkt Janiel vom Thema ab.

»Welches Abendprogramm?«, erkundige ich mich.

»Na, das steht doch auf dem Wisch, den der Sommer dir vorhin in die Hand gedrückt hat.« Janiel holt einen Zettel hervor. In der Tat ist hier das volle Programm für die vier Tage aufgelistet.

»Warum habe ich das nicht mitbekommen?«, wundere ich mich.

»Vielleicht, weil du gerade dabei warst, die Hotelhalle zu zerstören?«

»Gib her!«, fordere ich ihn auf, ohne abzuwarten, das heißt, ich reiße ihm den Zettel aus der Hand. Heute ab acht Uhr gibt es eine kleine Party in der Hotel-Lounge, oben auf dem Dach, zu der wir herzlichst eingeladen sind. Das Ganze Preis-Blabla würde erst am Samstag stattfinden, die Abreise ist für Sonntag geplant. Für Morgen ist tagsüber eine Sightseeing-Tour angesagt. Eigentlich stelle ich mir das Alles ziemlich lustig vor. Wenn Tobi nicht dabei wäre.
 

Im Restaurant gibt es ein Riesenbüfett mit allem Möglichen, was mich gleich zu einem weiteren Fressanfall antreibt. Das Essen hier ist nun mal köstlich! Ich bin auch nicht die Einzige, die kräftig reinhaut. Sogar Eduart hat ausnahmsweise mal sein Handy im Hotelzimmer gelassen, und futtert wie ein Weltmeister. Eventuell starren die anderen uns ziemlich schräg an, jedoch ist mir das völlig Schnuppe. Wenn Manu Hunger hat, bleibt kein Shrimp auf dem anderen. Hin und wieder nehme ich Tobis beschämten Blick wahr, der auf mir ruht, ziehe dabei aber keine falschen Schlüsse. Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, was hier gespielt wird. Denn ich spiele einfach nicht mit.

In diesem Moment prallt eine Erbse an meiner Stirn ab. Entsetzt mustere ich die Runde. Bleibe an dem Gemüse hängen. Das gibt Rache, du kleine Karotte. Essensschlacht!

»Nächstes Mal wird das wirklich Konsequenzen haben, ihr zwei!«, ermahnt uns Dr. Sommer, nachdem ich zum zweiten Mal heute geduscht habe. Ich meine, hey, ich kann doch nicht mit Spaghetti-Haaren zur Fete gehen.

Zugegeben, ich spiele doch mit. Ich kann Karotte nicht einfach gewinnen lassen! Leider kann er mich auch nicht in Ruhe lassen. Kein Wunder, dass wir immer Chaos entfachen. Dass die anderen Menschen in unserer Umgebung sich von unserem Übereifer anstecken lassen würden, konnten wir immerhin nicht ahnen. Alle waren hellauf begeistert von der Idee, dem jeweils anderen sein Essen ins Gesicht zu schmieren, so dass plötzlich das ganze Restaurant in der Essensschlacht unterging. Sogar Tobi wurde von irgendwem eine Portion Cannelloni ins Gesicht gepfeffert.

Das war witzig. Nun ja, Dr. Sommer findet es weniger witzig, glücklicherweise nimmt die Hotelverwaltung uns das alles nicht so krumm wie er. Habe ich es endlich geschafft, ihm sein Honigkuchengrinsen auszutreiben? Leider nein, wie ich später feststellen muss, als ihn jemand auf seine Mathe-Schützlinge anspricht. Eieiei  … kopfschüttelnd schlendere ich auf mein Zimmer um mich partyklar zu machen. Ich bin alleine, Josefine hat sich bereits verkrümelt. Soll mir recht sein. Ich wühle in meinem Koffer, anschließend ziehe ich ein Top an, das ziemlich viel Rücken freigibt. Darum schlüpfe ich noch in eine leichte Jacke.

Da klopft es an der Tür. Ich schaffe es nicht rechtzeitig aufzumachen, dafür schiebt jemand einen Umschlag unter dem Türschlitz durch. Als ich die Tür aufsperre, ist der Gang menschenleer. Gespannt reiße ich den Umschlag auf, es ist eine Nachricht an mich.

»Manu, ich würde gerne wissen, was mit dir los ist. Eigentlich wollte ich dich persönlich fragen, aber das geht ja nicht, weil du mich ignorierst. Antworte bitte, Tobi.«

Ach du liebe Teflonpfanne. Was ist denn in den Jungen gefahren?! Klar bin ich Tobi aus dem Weg gegangen, aber nur, weil er mir quasi genauso aus dem Weg gegangen ist. Eigentlich weiß er selbst ganz genau, was los ist. Er hat mich angelogen, es ist aufgeflogen. Ich habe ihm meine ehemalige Liebe gestanden, somit ist unsere Freundschaft beendet. Es ist doch alles sonnenklar? Ich kritzele meine Antwort auf den Umschlag und schiebe ihn durch den Türschlitz zurück. Als ich das nächste Mal die Tür öffne, sind Briefumschlag samt Tobi verschwunden.
 

Oben auf dem Dach ist Party ohne Ende angesagt. Außer uns sind natürlich auch alle anderen Hotelgäste versammelt, darunter eine Gruppe von jungen Fußballern. Josefine ist immer noch verschwunden, langsam werde ich ein wenig besorgt. Außer mir scheint das hier aber keinen zu kümmern.

Wie aus dem Nichts taucht auf einmal Dr. Sommer auf. »Na, Manu, wie findest du es hier?« Schon wieder dieses Grinsen, das jedes Mädel um den Verstand bringt. Inzwischen bin ich immun gegen jede Art solcher Umhau-Versuche.

»Ganz cool«, erwidere ich ganz cool.

»Freut mich sehr, dass es dir hier gefällt! Es ist fantastisch hier zu sein, eine große Ehre!«, schwärmt er mir vor. Er redet noch weiter, aber ich habe schon längst abgeschaltet.

Da kommt meine große Rettung. »Darf ich der Dame was zu Trinken anbieten?«, sagt Jonas äußerst charmant. Inzwischen habe ich eine Theorie, wieso er sich mit mir abgibt. Es gibt einfach keine Alternative! Josefine geht jeglichem Menschenkontakt aus dem Weg, somit bin ich das einzige Mädel unter fünf Typen. Obwohl ich das weiß, fühle ich mich trotzdem geschmeichelt, als ich Jonas Angebot annehme. So kann ich wenigstens Dr. Sommers Geschwafel entkommen.

»Und? Was ist dein Lieblingscocktail?«, fragt Jonas mich feixend.

Einen Moment lang studiere ich die Kreidetafel und muss zugeben, dass ich nicht den leisesten Hauch einer Ahnung habe, was in dem ganzen Zeugs drin sein könnte. Ich bin der Ansicht, dass ich nichts dafür kann, weil ich noch nicht sechzehn bin, ergo: Ich darf keinen Alkohol trinken. Jonas ist darüber natürlich nicht informiert, da er sich als Achtzehnjähriger keine Gedanken um so was machen muss. Ein Cocktail kann nicht schaden, denke ich mir. »Sex on the Beach, bitte«, wage ich zu bestellen.

Jonas Augenbrauen hüpfen. Er wendet sich dem Barkeeper zu und zeigt ihm Hasenohren. »Zwei.«

Der Barkeeper leert irgendwelche Flüssigkeiten in einen Shaker, die er danach in unsere mit Eiswürfel gefüllten Gläser schüttet. Sobald er mir das Getränk in die Hand drückt, nippe ich daran. Schmeckt irgendwie nach ganz normalem Orangensaft. Ich bin ziemlich durstig, also leere ich die Hälfte in einem Zug.

»Du bist wohl eine ganz Harte, was?« Jonas Augenbrauen kommen mir vor wie zwei Raupen, die auf und ab springen.

»Hää?«, entgegne ich total intelligent.

Er lacht. »Wollen wir tanzen?«

Bevor ich irgendeinen Satz zustande bekomme, zerrt er mich schon auf die Tanzfläche. Mein Schädel pocht, ich spüre nur noch die hämmernde Musik. Zum Glück ist Dr. Sommer nicht mehr in der Nähe. Ich lasse mich von dem Sound treiben. Als das Lied zu Ende ist, zieht Jonas mich an sich. Diesmal ist es ein langsames Lied, alle Pärchen tanzen eng umschlungen. Meine Arme legen sich wie von allein um Jonas Nacken. »Hier ist es so wunderschön … «, lalle ich vor mich hin.

»Genauso wie du«, kommt es zurück. Ich summe die süße Melodie des Liedes mit, meine Augen sind geschlossen.

»Ich mag das«, murmele ich mit dem Kopf an seiner Brust. Seine Hände umschlingen meine Hüfte. Da wird mir auf einmal bewusst, was ich da tue. Ich kenne den Kerl doch gar nicht! Sanft schiebe ich Jonas von mir. »Sorry, ik muss mall.«

Ich stürze die Treppe hinunter zu meinem Zimmer. Was mache ich nur! Daran ist bestimmt dieser »Sex on the Beach« schuld! Nächstes Mal hol ich mir lieber eine »Blumenwiese« oder einen »Verstand« oder so was. Vor meinem Zimmer entdecke ich ein knutschendes Pärchen, deshalb drehe ich gleich wieder um.

Zwar bin ich etwas verwundert, was die da vor meinem Zimmer treiben, aber erfasse die Situation nicht so ganz. Auf einmal renne ich gegen jemanden, der gerade nach unten wollte. Nicht sehr sanft fliege ich zu Boden. Die andere Person fällt auch nicht gerade weich. »Samal spinnst duu?«, fahre ich den Menschen lallend an.

»Manu?« Die Stimme gehört Tobi.

»Nein, hier spricht die Treppe«, entfährt es mir.

»Deinen Humor wirst du wohl echt nie verlieren«, schmunzelt er. »Komm ich helfe dir auf.«

»Ick kann mir sellber elfen!«, protestiere ich, stehe auf und kippe um.

Tobi steht über mir. »Manu? Bist du etwa betrunken?«

»Du bisch ja a Schnellaa!«

Er schüttelt den Kopf. »Dich kann man nicht mal eine Sekunde alleine lassen. Wo ist Karotte?«

»Was für eine Kallotte?!«, keife ich ihn an.

Tobi klatscht die Hand gegen die Stirn. »Ok, es ist zwecklos, jetzt mit dir zu reden. Ich bringe dich auf dein Zimmer.«

»Nein, da machen zwei Li-li-liebe.«, zwitschere ich.

Wehrlos werde ich von Tobi gepackt und in mein Zimmer getragen.

»Ich will will will ni-icht.«

Behutsam legt er mich auf mein Bett, deckt mich zu. »Gute Nacht.« Dann macht er die Tür zu und meine Augen schließen sich ebenso.
 

Am nächsten Morgen werde ich dadurch geweckt, dass mich sechs Jungenaugen wunderlich angaffen. Zuerst einmal bekomme ich einen Schreikrampf. »Was macht ihr in meinem Zimmer!?«

»Was heißt in deinem? Das ist unser Zimmer!«, widerspricht Karottenmeier aufgebracht.

»Genau, wieso schläfst du in Tobis Bett?«, hakt Jonas nach.

Hä? Als ich mich umsehe, muss ich zugeben, tatsächlich nicht in meinem Zimmer zu sein. Aber TOBIS BETT? »Ähm, ich glaube, ich befinde mich hier in den falschen Realität«, sage ich und will wieder einschlafen.

»He, aufwachen, das ist kein Traum!«, mischt sich Karotte ein, indem er mich an den Schultern rüttelt.

Mist. Tobi kommt dazu, reibt sich die Augen. »Alles klar, Leute?«

»NEIN!«, antwortet Jonas statt meinerseits.

Jetzt erst gibt Eduart seinen Kommentar zu dem Debakel ab. »Es ist doch kristallklar, was hier letzte Nacht passiert ist. Müsst ja nicht so tun, als wüsstet ihr das nicht.«

Ooooh. Und sogleich springen sich die drei Übrigen gegenseitig an die Gurgel. Oder besser gesagt, Jonas und Karotte gehen Tobi an die Gurgel.

»Was bist du eigentlich für einer?!«

»Was soll der Scheiß? Man poppt kein betrunkenes Mädel, das nennt man VERGEWALTIGUNG.«

Plötzlich fühle ich mich ganz schrecklich. Was soll passiert sein?! Ich sehe an mir herunter und schlage die Decke beiseite. Sogar die Schuhe habe ich noch an. »Ähm, ich glaube nicht, dass mir jemand was getan hat«, wispere ich und dann ist es mucksmäuschenstill.

Tobi kann sich endlich rechtfertigen. »Mann, regt euch wieder ab! Ich würde sie sowieso nie anrühren! Ich habe sie nur hierher gebracht, weil der da – «, er zeigt auf Eduart: »in ihrem Zimmer mit der einen da rumgemacht hat. Dabei wollte Manu nur schlafen.«

»Mach mal halblang, ich wollte überhaupt nicht schlafen … glaube ich zumindest«, werfe ich ein. »Oder?«

Meine Erinnerung an gestern Abend ist ziemlich benebelt. Ich weiß noch, dass Dr. Sommer mich genervt hat, aber dann … wird es verdammt düster. Fragend sehe ich in die Runde.

»Nein, wir wissen von nichts«, erklärt Karotte. Schulterzuckend winde ich mich aus dem Bett. »Na dann lasst uns das hier vergessen.«
 

So einfach ging das dann doch nicht und ich hege den Verdacht, dass die Jungs mich für eine Schlampe halten. Dabei bin ich das gar nicht! Oder? Immer noch ist meine Erinnerung mehr oder weniger verschwunden. Was muss Tobi mich auch ins Jungenzimmer verschleppen! Alles nur seine Schuld! Ich kann es kaum erwarten, Janiel von dem Schlamassel zu berichten. Der wird mir hundertpro Recht geben, was für ein Idiot dieser Bengel doch ist. Allerdings verdirbt mir das Frühstück die Gelegenheit, meine Katze zu sehen. Dr. Sommer ist der Einzige, der vor lauter Vergnügtheit nicht die Klappe halten kann, während alle schweigend ihr Essen runterkauen. »Heute dürft ihr selbständig in zwei Dreiergruppen München erkunden! Da ihr alle schon alt genug seid, um euch in einer Großstadt zurechtzufinden, werde ich euch nicht begleiten. Dafür bekommt ihr aber meine Handynummer, für den Notfall, der sowieso nicht eintreten wird.« Er zwinkert uns zu.

Ich spähe zu den anderen, Jonas fixiert mich. Wow, er ist nicht sauer auf mich, obwohl ich möglicherweise eine Schlampe bin. Lächelnd beiße ich in meinen Apfel. Ein schriller Klingelton unterbricht das gemeinsame Schweigen. Es ist mein Handy. Schnell begebe ich mich außer Reichweite.

»Hallo?«

»Manu!«

»Valentine! Was gibt’s, hast du nicht Schule?«

»Wir haben Freistunde. Ich musste dich einfach anrufen und wissen, wie es dir geht. Und du wirst nicht glauben, was passiert ist!«

»Oh, erzähl, los!«

»Also, gestern früh kam ich ins Klassenzimmer und Nadine war total happy, weil ihr jemand eine Tafel Schokolade an den Platz gelegt hatte, auf der ‚Für dich’ oder so was stand. Jedenfalls hat sie voll damit angegeben. Ich habe das zuerst nicht so mitbekommen, Karin hat mir den Teil hinterher erzählt. Aber dann in der Mittagspause ist Daniel zu uns Mädchen an den Mensatisch gekommen und meinte, er wolle mit mir reden. Ich habe mir gedacht, dass er vielleicht meine Mathebuch gefunden hat, weil weißt du, das ist auch schon eine Weile verschwunden, aber dann hat er mich gefragt, ob ich sein Geschenk bekommen habe! Und ich dachte mir, hä, was denn für ein Geschenk, und er meinte, na, die Schokolade und da ging mir ein Licht auf!«

»Wow, ich traue Nadine ja vieles zu, aber das ist richtig erbärmlich! Wie kann man das Geschenk von jemand anderem klauen und so tun, als würde es einem gehören? Hart!« Darüber kann ich nur staunen.

Valentine fährt fort: »Als Daniel dann gepeilt hat, dass Nadine damit angibt, hat er sie vor allen Leuten zur Schnecke gemacht. Aber das hat er erst gemacht, nachdem er mich gefragt hat, ob ich morgen mit ihm Eis essen gehe.«

»Und? Was hast du gesagt?«

»Ja, natürlich!«, ruft sie begeistert ins Telefon. »Das ist mein erstes Date überhaupt!«

Ich quieke mit und freue mich für sie. Gut, dass sie nicht weiß, dass Daniel einst einer ihrer Widersacher gewesen ist … aber ich werde ihr das garantiert nicht missgönnen, jetzt. Gerade will ich ihr von meinen bisherigen merkwürdigen Erlebnissen hier in München erzählen, als mir von hinten jemand auf die Schulter tippt. »Warte mal kurz.« Ich hebe mir das Handy an meine Wange. »Was ist los?«

Ich drehe mich nicht um.

»Kann ich dich kurz mal sprechen?« Erst jetzt begreife ich, dass das Tobis Schultertipper war.

»Ähm, ich telefoniere gerade«, piepse ich ein wenig kleinlaut.

»Mit wem?«, will er wissen.

»Mit Jemandem.«

»Soll ich wieder verschwinden?«

»Mach, was du willst?« Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, wie wir so dastehen, ich ihm den Rücken zugewandt. Dann horche ich, wie sich seine Schritte entfernen. »Duu, Valentine, ich ruf dich später zurück, ok?«
 

Pünktlich um neun Uhr stehen Jonas und ich startklar vor dem Hotel, um München zu erkunden. Leider fehlt uns noch ein dritter Begleiter. Da Eduart unbedingt mit Josefine zusammenbleiben will, streiten sich Karotte und Tobi darum, wer bei uns bleiben darf (kann ich total nachvollziehen, ich würde denen auch nicht beim Schlabbern zusehen wollen).

Nach einer Abstimmung ist schließlich Tobi das Opfer. Irgendwie scheine nicht nur ich momentan einen Groll gegen ihn zu hegen. Somit begeben Jonas, die Karotte und ich uns auf den Weg in die Innenstadt. Das einzige Dumme an unserer Gruppe ist, dass die zwei Burschen Penisse haben. Das bedeutet, dass die beiden garantiert nicht mit mir shoppen gehen werden, wobei das das Beste ist, was man in einer Stadt wie München tun kann! Zu meiner Überraschung bieten die zwei mir einen Kompromiss an: »Wenn du in den High-Tech-Laden mitkommst, kommen wir mit Unterwäsche kaufen«, schlägt Jonas vor, womit er einen Fausthieb in den Magen einkassiert. Der Junge muss ziemlich belämmert sein, weil er immer noch vor sich hin grinst.

Die eigentliche Message ist trotzdem bei mir angekommen. So kommt es, dass ich wider meinen Erwartungen mit zwei Nerds in der Computerabteilung stehe. Ich nutze die Zeit, um Valentine zurückzurufen. Leider bin ich nicht so schlau daran zu denken, dass sie jetzt höchstwahrscheinlich keine Freistunde mehr hat. »Waah, tut mir leid!«, entschuldige ich mich, als sie ran geht.

Sie lacht. »Passt schon, hast Glück gehabt, es ist gerade Pause.«

Erleichtert atme ich auf. Nachdem ich ihr alles was ich weiß, erzählt habe, ist Valentine nachdenklich gestimmt.

»Pass mit diesem Jonas auf. Hört sich nach einem Weiberheld an, der jeder an die Wäsche geht.«

»Och komm, das ist schon ziemlich krass formuliert.«

»So ist die Wahrheit nun mal. Ich muss auflegen, du weißt schon, so was wie Unterricht«, scherzt sie. Wir verabschieden uns. Glücklicherweise sind auch die Jungs endlich bereit zu gehen, gekauft haben sie nichts. »Total überteuert«, lautet die Begründung.

Mmh. Gut, so haben sie alle vier Hände frei! Nein, so gemein bin ich dann doch nicht, aber der riesige Schuhladen ist trotzdem ein Muss. Das tut den Zweien auch nicht weh. Nach einer geschlagenen Stunde ist mein Geldbeutel dünner und Karotte mit meinen neuen Sneakers beladen. »Komm ich trage das für dich«, bietet er mir an, als wir den Laden verlassen.

Irgendwie habe ich mir die Shoppingtour mit Jungs blöder vorgestellt, dennoch muss ich zugeben, dass es schon cool ist, wenn man sogar die einfachsten Einkäufe hinterher getragen bekommt. Jedenfalls wissen wir nicht so ganz wohin, so dass wir ein, zwei Stunden ziellos in der Stadt herumirren, bis wir zufällig an einem McDonalds vorbei latschen. »Herr Trotz hat mal mit uns gewettet, wir würden uns nicht trauen, in einem McDonalds zu feilschen«, erzählt Jonas, als wir das Fast-Food-Restaurant betreten.

»Das hat er uns auch erzählt«, sage ich. Herr Trotz ist ein Deutschlehrer von der Sorte, die gerne Dinge in Bücher interpretiert, die nicht einmal der Autor weiß. Als er einmal veranschaulichen wollte, dass bei uns heutzutage kein Mensch mehr mit Händlern feilscht, hat er uns aufgefordert, im McDonalds feilschen zu gehen. Bisher hat sich keiner von uns getraut, das umzusetzen, da keiner Hausverbot in einem McDonalds in Umgebung riskieren wollte. Hier wäre das allerdings etwas anderes.

»Wollen wir?« Jonas lächelt mich verschmitzt an.

»Worum geht’s?«, mischt sich Karotte ein.

»Wirst schon sehen«, würgt Jonas ihn ab.

Nach sehr aktivem Anstehen befinden wir uns vor einer kleinen Asiatin, die uns ein sehr freundliches »Bestellung bitte« entgegen bringt. Jonas wirft mir einen auffordernden Blick zu. Ich mache eine kurze Kopfbewegung nach dem Motto: Na, mach schon!

»Zwei Eistüten bitte.«

»Macht 4,38 Euro«, erwidert die Asiatin. Lässig lehnt sich Jonas auf die Ladentheke, einen Arm auf dem Tresen und eine Hand in der Hosentasche. »Können wir da nicht feilschen?« Er zieht eine Augenbraue hoch. »Mein Gebot lautet vier Euro.«
 

»Mann, Jonas du bist so ein Trottel! Ich wollte noch einen Cheeseburger kaufen, hättest mich ruhig vorher einweihen können!«, mault Karotte, nachdem wir hochkant aus dem Laden heraus geworfen worden sind. Wir haben es tatsächlich geschafft, in einem McDonalds Hausverbot zu bekommen. Naja, zum Glück bauen die hier in München alles doppelt.

Da wir nun wieder orientierungslos und hungrig sind, entscheiden wir uns, eine Fresstour kreuz und quer durch die Stadt zu machen. Das heißt, wir gehen in jedes Restaurant, das uns in die Quere kommt. Damit uns das nicht teuer zu stehen kommt, bestellen wir immer nur einen Teller für drei. Acht Mahlzeiten später sind wir nicht nur voll gefressen und arm, sondern haben auch absolut keinen Bock mehr, uns zu bewegen. Schließlich landen wir in einer Umkleide eines Designer Klamottenladens. »Was machen wir eigentlich, wenn man uns erwischt?«, mache ich mir Sorgen.

»Ach Quatsch, das passiert eh nicht«, quasselt Karotte. »Und wenn, ist doch auch egal.« Wer schon einmal in so einer Umkleide war, will gar nicht mehr hinaus, das garantiere ich. Sie sind nicht nur großzügig mit Platz und Bänken ausgestattet, nein, die Wände sind sogar mit super-flauschigem pinken Plüsch überzogen!

So was muss man einfach gesehen haben. Ursprünglich wollte ich mal einen Edelschuppen von innen sehen, daraufhin sind wir nicht mehr fähig gewesen, diese Plüschzone zu verlassen.

»Manu, hast du eigentlich einen Freund?« Diese Frage stürzt aus heiterem Himmel herunter.

»Wieso willst du das wissen?« Ich hebe den Kopf, um Karotte in die Augen zu sehen.

»Nur so. Mir ist langweilig«, begründet er lässig.

»Mir auch«, seufzt Jonas. »Und? Was ist jetzt?« Jetzt glubscht der mich auch noch fragend an.

Ich gebe nach. »Nein. Und ihr?«

Jonas feixt mich an. »Nein, ich hatte noch keinen Freund.«

»Oh Mann, du weißt schon was ich meine.«

Er scheint jetzt ernsthaft zu überlegen. »Früher mal.«

»Karottchen?«, ermittle ich.

»Nada.«

Anscheinend bin ich nicht der einzige Loser auf Erden. Das beruhigt mich ungemein. Jonas wirft einen Blick auf sein Handgelenk. »Leute, es ist schon halb sieben!«

»Scheiße, wir sollten doch spätestens um sechs im Hotel sein!«

»Na, merkste was?«
 

Nachdem wir viel zu spät in unserer Bleibe eintrudeln, müssen wir uns die entsprechende Predigt über Pünktlichkeit von Dr. Sommer anhören, die heute überraschenderweise für seine Verhältnisse sehr kurz ausfällt. »Seid nächstes Mal bitte früher da«, murmelt er so nebenbei, als wir drei bei ihm um acht Uhr antanzen.

Theoretisch gesehen wären wir früher da gewesen, wenn wir uns nicht verfahren hätten, beziehungsweise in die richtige U-Bahn gestiegen wären (Karottchen hat gemeint zu wissen, wo es lang geht).

Dr. Sommer lässt uns einfach in der Hotelhalle stehen, vor sich hin brabbelnd latscht er in Richtung Restaurant. Komisch. Ich frage mich, was mit dem heute los ist. Sonst lässt er immer das Honigkuchenpferd raus hängen. Nachdenklich laufe ich zum Fahrstuhl und begebe mich in mein Zimmer. Mal wieder habe ich Glück, Josefine ist ausgeflogen.

Janiel schlüpft unter meinem Bett hervor und verwandelt sich. »Na endlich bist du wieder da! Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen.«

»Ja, wir haben uns ewig nicht mehr gesehen, geheimnisvoller Kellner vom Chinesen«, decke ich Janiels wahre Identität auf.

»Verflixt! Du hast mich ertappt«, ärgert er sich.

»Mir kannst du so schnell nichts vormachen, du bist ein echt schlechter Stalker«, entmutige ich ihn noch mehr.

»Danke!«, erwidert der Engel ironisch. Ich grinse ihn an. Janiel kramt den Ablauf-Zettel hervor. »Heute Abend sind wir auf eine Filmpremiere eingeladen, sie zeigen so einen Vampirfilm.«

»Was heißt hier ‚Wir’?!«

»Na, du und ich.«

»Nur in deinen Träumen!«

»Keine Sorge, diesmal wirst du mich kein einziges Mal zu Gesicht bekommen.«

Da bin ich mal gespannt.

»Wirklich!«

Skeptisch ziehe ich eine Augenbraue hoch (habe ich von Jonas geklaut).

»Gut, wenn du mir nicht glauben willst … du wirst schon sehen.«

»Ja du hast Recht, ich werde schon sehen«, stimme ich zu.
 

Erst im Taxi bekomme ich Dr. Sommer und die anderen wieder zu Gesicht. Diesmal bin ich glücklicherweise neben Jonas gelandet. Vor dem Fenster rauscht die Stadt an mir vorbei, überall brennt Licht. Es ist wunderschön. Romantisch. Nur schade, dass mein imaginäres Liebesleben sich bereits in Luft aufgelöst hat. Viel zu schnell ist die Fahrt vorbei, wir steigen aus dem Taxi und ich habe bereits den Snackstand im Visier – die Diät ist endgültig aufgegeben worden.

Der Kinosaal ist komplett überfüllt, es ist echt ein Wunder, dass wir die Karten gekriegt haben. Ich schaue auf meine Eintrittskarte. Mhm. Reihe E, Platz 12.

Suchend drehe ich mich um. Der Typ an der Kasse hat es geschafft, Mist zu bauen, denn Dr. Sommer winkt mir drei Reihen weiter hinten zu, Josefine und Eduart im Schlepptau. Ganz vorne in der ersten Reihe kann ich Karotte erkennen.

Schlecht. Ich versuche das Beste aus der Situation zu machen, und überlege, wer von den Menschen hier Janiel sein könnte. Währenddessen futtere ich am laufenden Band meine Nachos auf, es läuft noch nicht einmal die Kinowerbung, da ist schon ein Drittel in meinem Magen verschwunden. Jemand setzt sich neben mich. Ha! Bestimmt mein kleiner Engel! Verdutzt starre ich meinen Sitznachbar an. Fail. »Ich habe Platz Nummer Dreizehn.« Tobi winkt mit seiner Karte.

»Schön für dich«, erwidere ich trotzig. Ich haue noch mehr rein. Das gefällt mir ganz und gar nicht! Was bildet der sich ein?! Als ob nichts gewesen wäre, so benimmt er sich. Nur blöd, dass eben doch was gewesen ist.

Die Werbung läuft bereits. Besuchen sie dies, kaufen sie das, schließen sie eine Rentenversicherung ab. Es ist doch immer das Gleiche. Das einzig coole sind die Trailer. »Wow, in den FILM muss ich unbedingt rein!«, rufen wir beide gleichzeitig begeistert aus. Halt, wir beide? Absichtlich wende ich den Blick in die entgegengesetzte Richtung von Tobi. Das ist echt peinlich.

Jetzt öffnet sich der Vorhang vollkommen, der Saal hüllt sich in Dunkelheit. Der Film fängt an. Eine bleiche Dame erscheint auf der Leinwand. Um ehrlich zu sein: Ich stehe nicht so auf Vampire. Bienen sind viel cooler, die sind wenigstens zu irgendwas zu Nutze.

»Manu?«, flüstert Tobi.

Ich schüttele den Kopf. Der Film läuft, du Trottel! Wenige Sekunden später vibriert mein Handy. Eine SMS von Unbekannt. Ich weiß, ich hätte es ausschalten sollen, aber hey, lautlos ist doch auch in Ordnung?

»Manu, bitte rede mit mir«, steht da.

Erzürnt funkle ich Tobi an. Ich denke nicht, dass ich ihm etwas schuldig bin. Wenn ich keinen Grund habe, mit ihm zu reden, werde ich es auch nicht tun. Und woher zum Teufel hat er meine neue Handynummer?! Genervt packe ich die Nerv-Buchse weg. Ein paar Minuten später: erneuter Vibrationsalarm. Diesmal ist es ein Anruf. Wütend drücke ich ihn weg, schalte ich es aus. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm geboxt, doch ich kann nicht. Er ist es nicht wert, seine Energie darauf zu verschwenden.

Die Vampir-Lady hat inzwischen Freunde gewonnen. Ich vermisse Janiel. Der hätte jetzt dämliche Witze über den Film gerissen. Seltsamerweise würde ich ihn gerade nur zu gerne zu Gesicht bekommen. Woran das wohl liegen mag? Der Film ist an seinem Höhepunkt angelangt. Die Vampirfrau beißt ins Gras (haha).

Warme Finger greifen nach meiner Hand. Das darf doch nicht wahr sein! »Bist du noch ganz dicht?! Fass mich nicht an!«, zische ich.

»Ich wollte doch nur … «, setzt er an sich zu verteidigen, doch ich unterbreche ihn: »Ja, du würdest mich ja sowieso niemals anrühren, schon kapiert!«

Zum ersten Mal seit unserem Streit, oder nein, Streit kann man das auch nicht nennen … eher seitdem dieses Desaster seinen Lauf genommen hat, sehen wir uns in die Augen. Tobi ist wieder auf Rückzug, ihm hat es die Sprache verschlagen.

Mir nicht. In diesem Augenblick wird mir klar, was ich tief in mir drinnen die ganze Zeit über gewusst habe. Tobi ist nicht mit mir befreundet. Wir waren nie Freunde. »Hör mal. Wir können keine Freunde mehr sein. Weil wir es nie gewesen sind«, bricht es aus mir hervor. »Du weißt jetzt, dass ich dich liebe … und zwar nicht nachträglich … und ich weiß, wie du dazu stehst. Ich habe gehört, was du zu Jan gesagt hast, vor zwei Wochen. Ich weiß, dass du jetzt nicht mehr mit mir befreundet sein willst. Und wenn ich ehrlich bin, will ich das auch nicht.«

Nicht, wenn du mich nicht liebst.

Tobi ist fassungslos. »Du hast uns gehört?«

Ich nicke.

»Manu … ich … ich liebe dich nicht. Tut mir leid.«

Alles, ja wirklich alles, was bisher passiert ist, ist ein nichts gegen diesen Moment. Es ist, als ob mir jemand einen Eispfahl in die Brust rammt, dort herumbohrt und stochert. »Dann wäre jetzt ja alles geklärt!«, presse ich hervor, beiße mir auf die Lippen, um zu verhindern, loszuheulen. Kralle meine Finger in das Fleisch meiner Oberschenkel.

»Aber deswegen heißt das nicht, dass ich nicht mit dir befreundet bleiben will«, gesteht er. »Ich meinte das, was ich zu Jan gesagt habe, anders … wenn man mal ein Paar war ist es schwer, befreundet zu bleiben, das finde ich immer noch.«

Ha. Ja stimmt. Tobi hatte nie romantische Gefühle für mich. Für ihn ist es einfach. Einfach, mit mir befreundet zu bleiben. Nur für mich ist es schwer.

»Das ist total egoistisch!«, erhebe ich zum ersten Mal meine Stimme gegen Tobi. »Nur weil wir kein Paar waren, heißt das nicht, dass die Situation großartig anders ist. Weißt du, es ist vielleicht meine Schuld, dass ich diese Gefühle für dich habe … aber ich kann nicht von heute auf morgen so tun, als wäre da nichts! Das ist zu viel verlangt!«

»Bei Jan hat es offenbar auch geklappt.«

»Weißt du was, ich habe gelogen, ich war nie mit ihm zusammen! Genau wie du gelogen hast, als du mir sagtest, du hättest keine Freundin!«

»Moment … was … du hattest also keinen Freund … ?«, realisiert Tobi. »Aber er … und du … und woher hast du diese Information?«

»Ich habe euch gesehen«, entgegne ich ernst. »In der Stadt.«

Tobi hebt sich die Hand vor die Stirn. Fährt sich durch die Haare. »Ich habe dich nicht belogen, Manu. Das war meine Cousine.«

Oh.

»Aber … warum hast du dich dann so seltsam verhalten danach? Ich dachte, du hättest mich auch gesehen?!« Ich bin verwirrt.

»Na klar habe ich dich gesehen. Mit Jan.« Er klingt bitter.

Oh.

»Du hast Recht, Manu. Wir waren nie Freunde.«

Tropf, Tropf.

Ruckartig bewegt er seinen Kopf zur Seite, so dass ich ihm nicht mehr ins Gesicht blicken kann. Tobi windet sich aus seinem Kinosessel, erhebt sich. Der Abspann läuft, es ist immer noch dunkel. Als er geht, wischt er sich mit dem Ärmel über die Augen. Und als es hell ist, bin ich allein.

Party hard

Es gibt genau zwei Dinge, die mich an Großstädten nerven. Nämlich der ohrenbetäubende Verkehrslärm und die Tatsache, dass sich die Sterne vor Großstadtbewohnern verstecken. So sitze ich hier oben auf dem Dach, nachdem ich mich aus meinem Zimmer geschlichen habe und starre die blasse Mondsichel an. Wenigstens etwas.

Ich blicke nicht mehr durch. Kann mir bitte mal jemand mein Leben erklären?

»Er hat sich bestimmt nichts dabei gedacht.« Nicht einmal umdrehen muss ich mich, um zu wissen, dass Janiel hinter mir steht.

»Woher willst du das denn wissen?« Normalerweise wäre ich jetzt ausgerastet und hätte Janiel darüber aufgeklärt, dass Tobi anders ist, als andere Jungs, aber seltsamerweise ziehe ich gar nicht erst in Erwägung, ihn zu verteidigen. Etwas hat sich verändert. »Freunde-bleiben« Dass ich nicht lache. Jan hat er das nicht gegönnt. Kann der sich nicht mal entscheiden? Mein Pechvogeldasein hat sich scheinbar inzwischen voll und ganz dem Themenbereich der Liebe gewidmet.

»Bin ich dein allwissender Schutzengel oder nicht«, gibt Janiel an.

»Du kannst Tobis Gedanken lesen?!«, staune ich ironisch. »Warum hast du das nicht früher gesagt!«

»Weißt du, ich bin männlich«, gesteht er mir.

»NICHT WAHR.« Mein Gesichtsausdruck stellt eine aussagekräftige Antwort dar. »Dann verrate mir doch mal mehr über die Spezies, die sich-nichts-dabei-denkt, mir erst Hoffnungen zu machen, dann zu erklären, dass es nichts wird, um dann wieder zu betonen, dass Freundschaft ja drin ist, aber irgendwie doch nicht!«

Ich fahre mir mit den Fingern durch die Haare und reiße dabei ein paar heraus. Janiel, der bisher nur bedröppelt neben mir stand, setzt sich. »Ach was frage ich dich, du bist schließlich nicht Amor«, sehe ich von alleine ein.

»Manu, du solltest Tobi nicht so eine große Bedeutung beimessen.«

Nachdenklich schweift mein Blick in die Ferne. Überall leuchtet es, als ob Neonröhren die Sterne ersetzen könnten. »Das sagst du so einfach … «

»Ich bin mir sicher, du kannst loslassen, wenn du es wirklich willst.«

»Hast du denn schon losgelassen?«

Der Engel versteinert im Mondlicht.

»Du denkst vielleicht, ich merke das nicht, aber schließlich habe ich dich fast vierundzwanzig Stunden am Tag an der Backe. Ich weiß, dass du es mir nicht erzählen wirst, aber gerade deswegen werde ich nicht aufhören, mich zu fragen, was dir passiert ist.«

Nach einer kurzen Pause seufzt Janiel: »Das ist etwas anderes.«

»Und warum?«

»Ist Tobi etwa gestorben?«

Der Satz trifft mich wie ein Schlag.

»M-mein B-beileid … «, stammele ich konfus.

»Ist okay.« Er starrt in den Himmel.

»Ich wollte nur, dass du verstehst, dass … «

»Tu ich!«, unterbreche ich ihn. »Ich will bloß nicht mehr diese Gefühle haben!« Ich halte es sowieso nicht länger aus. Diese Gedanken, die ständig darum kreisen, was mit Tobi los ist. Dieses Stechen in der Brust, wenn ich wieder einmal realisiere, dass ich die ganze Zeit allein gewesen bin. Das Tobi nie neben mir gegangen ist. Die ganze Zeit über hat er als mein längst versunkener Hafen gedient. Freunde, das waren wir nie. Stimmt.

Daraufhin tut Janiel, was er selten tut: Er schenkt mir ein echtes, beruhigendes Lächeln. »Du wirst über ihn hinwegkommen, Manu.«

»Ich werde einfach Mathe lernen, das verursacht in meinem Gehirn eh so höllische Schmerzen, das kann kein Liebeskummer toppen«, vermute ich. »Abgesehen davon kann ich dann vielleicht eines Tages diese Lüge wahr werden lassen.«

»Welche Lüge?«

»Du hältst mich für blöder als Brot, oder?«, unterstelle ich meinem Schutzengel, der unschuldig mit den Schultern zuckt. »Du warst das. Ich habe lange darüber nachgedacht, aber ich kann auf keinen Fall die Aufgaben in dem Mathetest gelöst haben. Meine Blätter waren LEER. Dr. Sommer traue ich nicht zu, dass er da was manipuliert hat … da bleibst nur du übrig.«

Janiel verschränkt die Hände hinter dem Kopf. »Tja, erwischt.«

»Warum hast du das gemacht? Steht das auch in deinem Handbuch?«, erwidere ich.

» … « Oh Nein, nicht schon wieder die Nummer! Für heute bekomme ich also nichts mehr aus ihm heraus. Dafür können wir beide schweigend so tun, als würden wir hinter dem dichten Nebellicht aus Braun und Rot die Sterne betrachten.
 

Hust, hust! Als ich aufwache, liege ich zur Abwechslung mal allein in meinem eigenen Bett und habe einen richtig kratzigen Hals. Wie ich feststellen muss, hat sich meine Stimme aus dem Staub gemacht. Eigentlich ist das ein verdammtes Glück, weil ich dann nicht mehr den Preis entgegen nehmen muss.

Im Restaurant unten bekommt Dr. Sommer schier einen Heulkrampf, als er die schlechte Nachricht erfährt. »Oh nein Manu! Das ist schrecklich, das ist furchtbar, was machen wir denn jetzt?!«

Okay … mein Mathelehrer läuft Amok. »Beruhigen Sie sich, es kann ja jemand anderes statt mir den Preis abholen«, schlage ich vor.

»Aber Manu! Das ist die größte Ehre, die es für Nachwuchsmathematiker gibt, willst du das wirklich verpassen?«, ruft Dr. Sommer hysterisch aus.

Ja.

»Nun ja, mir reicht es zu wissen, dass ich es verdient hätte. Dann macht das nichts aus«, versuche ich ihn weiter zu beruhigen.

Mist, jetzt strahlt er wieder. »Oh, wie bescheiden du doch bist! Du hast es wirklich verdient, weißt du! Such dir dann jemanden aus, der den Preis empfangen soll.«

Ich fackele nicht lange damit. »Tobias.« Noch nie habe ich ihn bei seinem richtigen Vornamen genannt, das ist ganz schön ungewohnt.

»In Ordnung, ich werde es ihm ausrichten.«

Und schon macht sich Dr. Sommer auf zu neuen Ufern. Mmpf. Dann frühstücke ich eben mit meiner Katze. Nach dem Brunch, oder wie man das uhrzeitgemäß nennt, lege ich mich in meinem Zimmer wieder aufs Ohr. Als ich wieder aufwache, schnurrt Kater Janiel seelenruhig neben mir auf dem Kopfkissen. Ich sehe auf mein Handy. Sechzehn Uhr.

Jetzt müsste die Preisverleihung stattfinden. Hoffnungsvoll schalte ich den Mini-Fernseher an, zappe durch die Kanäle. Aber seltsamerweise nimmt kein Reporter das Geschehen auf (eigentlich wundert es mich nicht). Ich seufze laut und streichle Janiel am Nacken. Irgendwie hätte ich das schon gerne gesehen, zwar nicht von der Bühne aus, aber immerhin. Mein Handy brummt. Was für ein Zufall, gerade wo ich doch aufgewacht bin.

»Danke, Manu. Ich weiß das zu schätzen, aber kann das nicht annehmen«, steht da. Leider kann ich seine Handynummer auswendig, weshalb ich weiß, dass diese SMS von Tobi stammt. Und deshalb lege ich mich einfach wieder schlafen. Zwei Mal pilgere ich noch auf das Klo, schlafe ansonsten den ganzen Abend und die Nacht durch. Ich bemerke nicht einmal, dass Josefine irgendwann reinkommt. Dass ich tatsächlich im Begriff bin, richtig krank zu werden, bemerke ich am Morgen danach an meiner Rotznase. Und daran, dass ich das Frühstück verschlafe. Und die Rückfahrt.

Nach der langen Reise stehen wir Mathemenschen endlich vor der Schule, und ich warte zwischen meinem hoffentlich-nicht-jetzt-miauenden Koffer und Karotte auf Dr. Sommer, der noch telefoniert und versprochen hat, mich heimzufahren. Es herrscht eine Eiseskälte, dabei ist noch gar nicht Winter. Den überlebe ich echt nicht, so wie ich jetzt schon zittere. Unter dem Ahornbaum, der jetzt keine Blätter mehr hat, stehen wir und ich denke an den Tag zurück, an dem ich von Tobis nicht vorhandener Freundin erfuhr. Da waren wir noch Freunde. Nach und nach verschwinden die Schüler, werden von ihren Eltern abgeholt. Jonas und Karotte umarmen mich zum Abschied. »Mach’s gut, Manu.«

»Man sieht sich!«

Sogar Tobi wagt es, auf mich zu zukommen, doch als ich einen Schritt zurückweiche, erstarrt er in der Bewegung und winkt mir stattdessen. »Ciao«, haucht er mir schwach entgegen, bevor er sich umdreht und auf den Parkplatz zuläuft.
 

Zwei Wochen später. Alles andere als behutsam knallt Hanna mir eine Zeitschrift auf mein Pult. Mit ihrem stechenden Blick schafft sie es, dass ich mich schuldig fühle, obwohl ich nicht weiß warum. »Hast du mir was zu sagen, Manuela?«, mahnt sie mit scharfem Unterton.

Ich kratze mich am Kinn. »Öhm. Nein, nicht wirklich.«

Mit voller Gewalt patscht sie mit ihrer Hand auf die Zeitung. »Da! Sie es dir an!«

Das Schmökerwerk, das Hanna vor mir ausgebreitet hat, ist die lokale Tageszeitung, genauer gesagt, der Kulturteil. Den Hauptartikel ziert ein bekanntes Gesicht. »Waaas?! Wie ist das denn passiert!«, rufe ich völlig vom Stuhl gerissen aus. »Jonas und Modeln?! Da ist doch irgendwas schief gelaufen!«

»Tatsächlich ist das kein Fake. Unser süßer Oberstufenhottie hat einen der begehrtesten Plätze bei der nächsten Fashionweek abgesahnt! Aber das ist nicht das, was ich dir vorwerfen wollte.« Aufmerksam lese ich mir den Artikel durch.
 

Der 19-jährige Jonas Hüpsch vom Eberhardt-Frank-Gymnasium ist der definitive Newcomer auf der Berliner MODEMEILE. Von der Kohle zum Diamanten hat es für ihn nicht lange gedauert: Der junge Mann wurde vor gerade mal zwei Wochen vom bekannten Starfotografen Hendrik Erikson bei einer Preisverleihung entdeckt, dem deutschen Jugend-Mathematikpreis. Damit beweist Jonas Hüpsch, dass er seinem Namen nicht nur alle Ehre macht, sondern auch Köpfchen hat. Im folgenden Interview von Clara Wiedemann erfahren wir mehr über den begehrten Oberschüler:

Clara: Jonas, Sie gehen jetzt in die Abschlussklasse. Haben Sie sich jemals vorgestellt, hauptberuflich zu modeln?

Jonas: Oh nein, nein, ich hätte nie im Leben damit gerechnet! Mir war es bisher eher wichtig, meinen Schulabschluss zu schaffen und danach zu studieren.

Clara: Bisher? Dann hat sich das mit Ihrer neuen Karriere erledigt?

Jonas: Nein, nein! (lacht). Ich habe das auch weiterhin vor.

Clara: Wie sind Sie überhaupt an den Vertrag bei der Agentur gekommen?

Jonas: Ursprünglich fuhr ich zusammen mit meinen Mitschülern nach München, um den deutschen Jugendmathematikpreis entgegen zu nehmen. Also nicht, dass Sie denken, ich hätte den gewonnen, das war eine Mitschülerin aus der Mittelstufe. Wir waren eher so die Eskorte der Leute, die auf Platz 630. kamen (lacht).

Clara: Soso, aber Sie haben sich immerhin auch beworben! Ihren Fleiß muss man loben!

Jonas: Danke! Jedenfalls konnte unsere Siegerin den Preis nicht entgegennehmen. Also bin ich stellvertretend für sie eingesprungen … und hatte das Glück, entdeckt zu werden.

Clara: Das war bestimmt ein tolles Gefühl! Wie ging es weiter?

Jonas: Erst mal passierte gar nichts, wir fuhren wieder nach Hause. Zwei Tage später erhielt ich einen Anruf von einem gewissen Hendrik Erikson, der mir anbot, bei einer Modelagentur zu arbeiten. Ich muss zugeben, ich habe ihn erstmal ausgelacht. Ich hielt das für einen schlechten Scherz.

Clara: Aber schließlich haben Sie das Angebot angenommen, wie wir wissen. Wie ist es für Sie, plötzlich auf dem Laufsteg zu stehen? Immerhin haben Sie als Anfänger gleich einen sehr großen Fisch an Land gezogen!

Jonas: Zunächst war es sehr befremdlich. Aber ich habe zum Glück eine großartige Agenturchefin, die es versteht, Models auf den perfekten Gang zu trimmen. Das verdanke ich alles nur Hendrik! Und natürlich auch Manuela, ohne die ich nie die Gelegenheit gehabt hätte, entdeckt zu werden!

Clara: Ich hätte noch eine sehr persönliche Frage.

Jonas: Schießen Sie los.

Clara: Was für eine Art Mädchen bevorzugen Sie?

Jonas: Mhm, ich mag Mädchen mit Humor und Köpfchen, zum Beispiel wie unsere Preisträgerin …
 

OH MEIN GOTT! Ich will aufstehen, verhake mich aber am Tischbein und falle vom Stuhl. WIE KANN ER MIR DAS NUR ANTUN! »Wie kann dieser Wicht das in der Öffentlichkeit erwähnen!«

»Schrei nicht so, die gucken schon alle!«, blafft Hanna. »Also ist es wahr? Du hast was mit Jonas? Dabei hätte ich von dir echt nie gedacht, dass du deine Freunde wie Unterhosen wechselst ... Mensch, Manu! Ich bin schon enttäuscht von dir!« Während sie das sagt, grinst sie aber.

»Alsoo … habt ihr?«

»FRAGST DU MICH DAS ERNSTHAFT?!«

Hanna weicht zurück. »Beruhig dich, du verwandelst dich ja in eine zweite Nadine!«

Wie aufs Stichwort marschiert ein wütendes Nadine-Exemplar ins Klassenzimmer. Direkt auf uns zu.

»Manu! Also das hätte ich ja niiie von dir gedacht, dass du tatsächlich so eine Schlampe bist!«

Ich: »Dito.«

Wenn Nadine ein Kochtopf wäre, wäre jetzt die Milch verbrannt. »Was fällt dir ein du miese … !«, versucht sie mich zu beleidigen, als Dr. Sommer hereinspaziert und sich alle setzen müssen. Also bleibt ihr Kompliment vorerst unausgesprochen.

In der Pause entkomme ich rechtzeitig und marschiere in die Aula, um Fair-Trade-Schokolade unserer Umwelt-AG zu erbeuten. Alle paar Wochen machen sie sich nämlich die Mühe, einen Pausenverkaufsstand aufzubauen und ich finde, dass es eine tolle Sache ist. Die gut schmeckt.

»Zwei Euro zehn bitte.«

Leider stelle ich fest, dass mir genau DIE zehn Cent fehlen. »Uhm … ähm … sorry, ich dachte wirklich ich hätte noch was …«

»Lass stecken«, sagt das Mädchen zu mir, das heute zusammen mit einer anderen den Stand bewacht.

»Du bist doch DIE Manuela oder?«, fragt sie begeistert.

»Uhm … ja.«

Schwungvoll wirft sie ihre langen blonden Haare über die Schulter. »Ich weiß ja, dass du Stammkundin bist. Bring es einfach nächstes Mal mit. Hier, ich schreibe es auf. Das machen wir in der AG auch immer. Wenn du magst, komm doch einfach mal zu einem unserer Treffen vorbei.«

»Ehm okay, super, Dankeschön!«, stammele ich überrascht. Mit der Schoki in den Pfoten latsche ich raus, auf den Pausenhof. Frischluft. Haaa! Woher wusste sie bloß meinen Namen?

»Na sieh mal einer an, wer da ist.«

Fluchtversuch gescheitert. Schnell, sag was Schlaues. Natürlich fällt mir nichts ein.

»Hat es Spaß gemacht, dein kleiner Fick mit unserem Jonas?«

Ich muss mich wirklich beherrschen, ihr nicht an die Kehle zu springen. Nadine und ihre »Bitches«, wie ich Chantal und Lilly seit neuestem liebevoll nenne, bilden so eine Art Umzingelung.

Bitch Nr. Eins (Chantal): »Seine Unschuld in unserem Alter zu verlieren, ist wirklich eine Schande, aber das was du treibst kann man ja schon öffentlichen Verkehr nennen!« Bitch Nr. Zwei (Lilly): »Vor allem ist es traurig, ausgerechnet unseren Jonas verführt zu haben! Ich bin mir sicher, dass du ihn erst gefügig machen musstest, denn Jonas hat Stil und Klasse, was dich nur noch erbärmlicher macht. Schämst du dich eigentlich nicht?«

»Aha. Nette Gerüchte, ihr solltet weniger RTL schauen. Nur zur Info: NICHT ALLES WAS IM FERNSEHEN KOMMT, IST REAL.« Ich wende mich ab und will wieder abhauen, da ergreift nochmals Nadine das Wort: »Tu nicht so unschuldig, wir wissen genau, was du mit Jonas getrieben hast! Und glaub mir, damit wirst du nicht so einfach durchkommen!«

Jetzt reicht’s! »Ach ja? Was habe ich denn mit ihm ‚getrieben‘?!«, keife ich eine Spur lauter zurück. Ein paar Schüler drehen sich jetzt zu uns um. Ich werde immer angriffslustiger: »Erkläre mir das bitte ganz langsam, nein, buchstabier’s mir!«

Chantal, die nicht ganz Helle zu sein scheint, meint: »Na also, wenn Bienchen und Blümchen … «

»Nein!«, unterbricht Nadine sie harsch. »Manu, wir wissen genau, dass du Jonas in München betrunken gemacht und ihn provoziert hast, um mit ihm aufs Zimmer zu gehen! Und du hast ihn damit bestochen, dass er den Preis entgegen nehmen durfte!«

»Was?!«, rufe ich entsetzt aus. Immer mehr neugierige Gesichter gesellen sich zu uns. Da drängelt sich ein Retter durch die Menge. Diesmal ist es weder Dr. Sommer noch Janiel.

»Ich habe keine Ahnung, warum ihr so einen Scheiß rumerzählt, aber ich war dabei und ihr schaut echt zu viele Seifenopern«, verteidigt mich Karotte. »Erstens: Manu war betrunken, nicht Jonas.«

Das macht’s nicht arg viel besser, Jan!

»Zweitens: Sie hat nicht in Jonas, sondern Tobis Bett geschlafen.«

Jan, ich bring dich gleich um!

»Und drittens: Hatte Manu am Tag der Preisverleihung solche Schmerzen, dass sie zu Dr. Sommer gesagt hat, ER solle jemanden aussuchen!«

Jan, du bist ein TOTER MANN!

Alle Zuhörer ziehen scharf die Luft ein. »Also Jonas UND Tobi … Oh mein Gott … « Ich kann nicht ausmachen, WER diese Worte gerade flüstert. Aber das ist auch egal, weil jetzt alle dasselbe denken …
 

»AAAAAAH! Ich habe den Ruf einer sexsüchtigen, männerwechselnden Alkoholikerin! Und ich bin noch nicht mal sechzehn!«, seufze ich, alleine auf meinem Lieblingsstein sitzend. Es ist diesmal Mittagspause, im Unterricht musste ich mir – Gott sei Dank – keine Kommentare anhören, da in unserer Klasse das neueste Gerücht noch nicht die Runde gemacht hat. Komisch eigentlich, dass Nadine nicht geplappert hat, aber vielleicht kommt das ja noch. Janiel habe ich dazu verdonnert, mir mein Mittagessen zu bringen, damit ich mir in der Essensschlange kein Getuschel anhören muss.

Wieso? Wiesooo immer ich!? Als Janiel mit meinem Leberkäs-Semmel wiederkommt, bin ich immer noch völlig aufgelöst. Natürlich will er wissen, was los ist.

»Hach, Nadine erzählt rum ich wäre die Schulmatratze.«

»Das ist problematisch. Aber du wirst darüber hinwegkommen. Hier, dein Essen.«

»Danke!«, freue ich mich wenigstens über etwas heute.

»Ich habe hier übrigens was für dich.« Er reicht mir einen Umschlag.

»Was wird das schon wieder sein«, murmele ich.

»Karin hat ihn mir gegeben, ich habe auch einen.«

Ungeduldig reiße ich ihn auf.
 

Liebe Manu,

am Freitag feiere ich ab 19 Uhr meinen 16. Geburtstag und lade dich herzlichst dazu ein, mit mir um Mitternacht anzustoßen! Die Party findet bei mir zu Hause statt, falls du nicht nach Hause kommen solltest / kannst, kannst du auch bei mir übernachten. Bitte gib mir Bescheid, ob du kommst und ob du übernachtest, ich würde mich wahnsinnig über eine Zusage freuen! Ich fände es übrigens super, wenn du einen Salat mitbringen würdest!

Ich freue mich schon,

deine Karin

PS: Du kannst wenn du magst (bitte, bitte, BITTE!) Jonas mitbringen!
 

Das erklärt quasi schon alles. Abermals lasse ich den Kopf hängen.

»Manu? Sieh mal wer da kommt.«

Es ist der einzige Mensch, mit dem ich momentan keine Probleme habe: Valentine. »Hallöchen! Verzeih mir, Jan, aber kann ich Manu kurz alleine sprechen?«

Ich könnte jetzt Böses ahnen, tue es aber nicht. Wider Willen verzieht sich Janiel hinter den nächsten Baum, was lächerlich ist, aber Valentine nicht großartig zu kümmern scheint. Vielleicht haben ihre Kontaktlinsen ja die falsche Stärke?!

»Jetzt mal ganz im Ernst, Manu: Seit du aus München zurück bist, hängst du immer mit Jan herum … läuft da wirklich nichts?«

DONG. Alles hätte ich erwartet, nur nicht das … okay, kein Wunder, dass mich alle für Flittchen Number One halten! Ich kann ihr immerhin unmöglich erklären, dass Janiel mein sogenannter Schutzengel ist. Hmpf. »Ja, ganz sicher! Keine Sorge, wir waren schon immer nur Freunde!«, wehre ich ab.

»Also wenn du mich fragst, gibt es keinen Jungen, der für dich so Dinge tut, wie deine Taschen zu tragen, wenn er nicht etwas für dich empfindet … aber gut ich habe nicht sonderlich viel Ahnung, aber ich meine ja nur … «

»Mach dir wirklich keine Sorgen! Und bitte hör weg, wenn … «

»Ich habe es schon gehört.«

Gaaaah.

»Aber da muss schon ein Spatz chinesisch sprechen, damit ich so was glaube.« Sie zwinkert mir zu, und ich falle ihr nochmals um den Hals. »Ich finde aber, falls du noch Gefühle für Tobi hast, solltest du dich von Jan fernhalten.«

Wamm! Wo kommt diese Meinung bloß her?! »Was meinst du damit?«, will ich wissen.

»Naja … nicht nur Jan läuft dir nach, seit München.«

»Echt jetzt?!«, entfährt es mir. »Das bildest du dir ein, Valentine.«

Missmutig schaut sie mir erst in die Augen und wendet sich dann ab: »Ich beneide dich wirklich, Manu.«

Als ob Tobi unser Gespräch gewittert hätte, schlurft er, Nadine im Schlepptau, den Pflasterweg an uns vorbei. Wie die Blöden glotzen sie herüber, Nadine tuschelt. Das hat bestimmt nichts Gutes zu bedeuten. Aber ich finde mittlerweile, dass jemand, der Nadine mag, ziemlich kaputt im Kopf sein muss. Und ja, ist ein schwacher Liebeskummertrost.

Die erste Woche nach der München-Reise habe ich erstmal blau gemacht. Zurecht, mich hat die Grippe oder so was angefallen. In der zweiten Woche habe ich mich von Janiel dazu breitschlagen lassen, ein paar seiner Modetipps zu befolgen. Er meinte, wir zeigen es mal wieder Nadine. Da ich mich allerdings permanent weigere, Geld für Klamotten auszugeben (ich brauche Geld für Bücher!), haben wir es Nadine … damit nicht gezeigt. Ich bin nicht hübsch, na und? Tobi liebt mich so oder so nicht, dann kann ich auch wie Gollum rumlaufen.

»Für mich sieht das ganz danach aus, dass du ihm viel bedeutest«, findet Valentine.

Ja, seit ich wieder da bin, treffe ich Tobi wirklich überall. Das ist übrigens derselbe Grund, aus dem Janiel vierundzwanzigsieben in der Schule meine Nähe sucht: Er ist anscheinend ein Argument für Tobi, mich in Ruhe zu lassen. Und meine Ruhe, die brauche ich dringend. Sonst komme ich niemals über diesen Idioten hinweg. »Ich bedeute ihm ganz sicher eines: gar nichts!«, stelle ich klar. Was für Valentine nicht klar erscheint, sie schüttelt nur den Kopf.

Da fällt mir ein: »Wie ist eigentlich dein Date mit Daniel gelaufen? War das nicht vorgestern?« Valentines Mund biegt sich deutlich nach unten: »Du wirst es nicht glauben, aber ich wurde versetzt.«

»WAS?!«

»Ja, das habe ich mir auch gedacht.«

Ich knuddle sie so fest ich kann. Ihr bleibt fast die Luft weg, aber sie freut sich.

»Ich denke, das war mal wieder so eine witzige Aktion, von du weißt schon … war alles inszeniert«, vermutet sie.

Valentine hat das wirklich nicht verdient. »Du wirst bestimmt noch jemanden finden! Nicht alle Jungs sind so dumm wie Daniel!« Hoffe ich zumindest. Auch für mich selbst.
 

Bevor die nächste Stunde losgeht, haben wir noch etwas Zeit. Zu viel Zeit. Die Karin und Co. nutzen, um sich zu vergewissern, dass ich morgen Abend ein gewisses Model mitbringe. »Komm schon, Manu! Er kommt bestiiiimmt, wenn du ihn fragst«, zetert Karin.

»Frag ihn doch selber … ich habe da nicht so wirklich Einfluss darauf und das, was da in der Zeitung steht, ist völliger Unfug«, berichtige ich die Umstände.

Sie drückt mir eine Einladung in die Hand. »Tue ich auch, gib du sie ihm nur!«

Ich rolle die Augen, stopfe das Teil in die Jackentasche. Ihr Gesicht sagt: Na also.

»Und bringst du einen Salat mit?«

Just in diesem Moment betreten Lilly und Chantal das Klassenzimmer. »Wo ist Dr. Sommer?«, fragen ihre Mienen.

Aber sie sagen: »Habt ihr schon gehört? Jonas ist wieder aus Berlin zurück!«

Hanna stupst mich an. »Das ist deine Gelegenheit!«

Grrrr. Bisher hat Janiel das Schauspiel von seinem Platz aus amüsiert verfolgt, ohne eine Absicht, sich einzumischen. Leicht verzweifelt trete ich auf ihn zu und knirsche: »Tu was!«

»Mache ich doch. Ich habe schon eine Geschenkidee«, feixt er. Da packen mich die Mädels links und rechts, schleifen mich aus dem Klassenzimmer. »Go, Manu, go!«

Prompt gucke ich auf den verlassenen Schulflur, die Tür hinter mir geschlossen. Und wie durch Zufall steigt Jonas gerade die Treppe hoch. In Zeitlupe. Mit Sonnenbrille und Schal.

»Na, Manu?«, begrüßt er mich. »Lange nicht mehr gesehen.«

»Jaaa … ich soll dir das hier von Karin geben.«

Verwirrt nimmt er den Umschlag an. »Wer ist Karin?«

Ach ja mmmh. Das könnte der Grund sein, warum ICH ihn einladen sollte. »Eine gute Freundin, die morgen Geburtstag hat. Sie hat sich von mir gewünscht, dass du auch kommst.« Noch während ich ihm das sage, wünschte ich, ich hätte es nicht getan.

Er klopft mir auf die Schulter. »Na wenn das so ist, komme ich natürlich! Ich tue dir doch immer gerne einen Gefallen!«

»Jaaa … ich gehe dann mal wieder rein. Bis dann!«, verabschiede ich mich und flüchte.

»Was hat er gesagt? Was hat er gesagt?«, überhäufen Hanna, Karin und Sophie mich sofort.

»Jaaa, er kommt.«

»Manu, du bist die Beste!!«

»Jaaa, ich weiß.«
 

Der Abend, und es ist immer dieser rot-orange-leuchtende Sonnenuntergangsabend, gibt meistens einen Lichtblick auf eine ereignisreiche Nacht. Dieses Prickeln, das man spürt, bevor man aufbricht. Zum Restaurant, ins Kino, zu einer Party. Aufgeregt ist kein Ausdruck für das, was ich an jenem Freitagabend empfinde. Es ist eher: gelangweilt. »Müssen wir da wirklich hin? Ich hab keine Lust mir das Gezeter um unseren Hottest-Man-Alive anzuhören.«

»Ich habe schon einen Salat gemacht, Manu. Der bettelt nach Komplimenten«, entgegnet Janiel, mein treuer Schutz- und Salatengel, der mit seiner Hüfte leicht schwul und schwungvoll die Küchenschublade zustößt.

»Ich weiiiiiß. Leider. Ich verspüre nur nicht den Drang, gewissen Personen … «

» … namens Tobi zu begegnen«, unterbricht er mich.

Motzig blase ich meine Backen auf.

»Was ist? Das wolltest du mir doch damit sagen. Pfeif auf Tobi, auf der Party sind deine Freunde, die solltest du wegen dem Spargeltarzan nicht aufgeben.«

»Seit wann ist Tobi ‚der Spargeltarzan‘?«

»Seit er von Liane zu Liane schwingt.«

»Ach lass die Witze.« Ich werfe mir meine Jacke über. »Gehen wir einfach.«

Auf dem Weg zu Karin, ein kleiner Fußmarsch durch die Vorstadt, fällt mir auf, dass ich wieder einmal mit Janiel zusammen aufkreuze. Valentine hat Recht. Es ist auffällig, dass ich so oft mit ihm abhänge.

»Janiel, wir sollten nacheinander reingehen. Die anderen denken sonst noch, wir wären ein Paar.«

»Zu Befehl.«

Kaum ein Klingeln danach, öffnet mir eine bis über beide Ohren strahlende Karin die Tür zu ihrem bescheidenen Hause. Und wenn ich bescheiden sage, meine ich gigantisch. Soweit ich weiß, hat Karin lediglich einen Bruder – aber dafür ein Architektenpaar als Eltern, die oft viel unterwegs sind und auch größere Projekte in anderen Städten verwirklichen. Darum dämmert mir schnell: Kronleuchter? Ka-Tsching! Glastüren, Holzfassaden an den Wänden, Jugendstiltreppe? Ka-Tsching! Hirschgeweih über der Eingangstür? Ka-... Was zur Hölle, ein Hirschgeweih!? Ka-Tsching, Ka-Tsching!

Janiel tut so, als würde er erst jetzt hinzustoßen. »Ich wünsche dir alles, alles Gute zum Geburtstag! Habe auch extra einen Salat für dich gemacht«, er zwinkert Karin zu. Für eine Sekunde unterbreche ich mein Stirnrunzeln und gratuliere ebenfalls: »Ja, herzlichen Glückwunsch!«

»Och, ist das süß! Lass dich drücken, Jan! Du auch, Manu! Den Salat stellen wir am besten ans Büfett in die Küche … kommt mit.« Die Küche ist offen hin zum Wohnzimmer angebaut, davor hat Karin ein paar lange Bierbanktische hingestellt, auf denen sich bereits Nudelsalate, Buletten, bunt glasierte Muffins und andere Snacks präsentieren. Auch hier durchtränkt der Designergeschmack ihrer Eltern die Zimmer, mit noch mehr Glaswänden, einer schwarzen Holzverkleidung an der einzigen »normalen Wand« und einem modernen Kamin, vor dem sich bereits die ersten Gäste versammelt haben. Sie sitzen auf einem Teppich, der sich fast über das ganze Zimmer erstreckt. Als ich mich zu ihnen setze, bemerke ich, wie flauschig und weich das monströse Stück Stoff ist. Das muss Schaffell aus dem Himmel sein.

»Hallo Manu! Schön, dass du auch da bist. Wir hatten schon befürchtet, dass du noch absagst«, verrät Hanna mir unter vorgehaltener Hand, obwohl diejenigen, die hier sitzen, nur Sophie, Valentine und Karotte sind. Wer hat den eigentlich eingeladen?

»Warum sollte ich denn absagen?« Von der Sache mit Tobi weiß doch niemand außer Valentine und Janiel … oder?

Es klingelt. Karin, die zusammen mit Janiel den Salat anmacht, flitzt prompt zur Haustür. »Halloo, schön, dass du auch gekommen bist!«, hören wir sie aus der Diele sagen. Wer als nächstes das Wohnzimmer betritt, überrascht niemanden – außer mich.

Diese Person in kurzem Minirock und in einem Top, das überlaut »HALLO!« schreit, ist wirklich das Einzige, was mich von dem monströsen HD-Fernseher ablenkt, der gegenüber vom Kamin clever an der Glaswand herunterhängt.

Wirklich. Nicht einmal Tobi hätte mich so sehr flashen können. Nadines dralle Brüste starren mich und die anderen Gäste willig an. Sie muss diese Veranstaltung verwechselt haben.

In dieser Straße gibt es keinen Swinger Club. Und schon gar nicht für Sechzehnjährige. »Ähm, hi Nadine«, begrüßt Hanna sie höflicherweise, zwar mager, aber hey.

»Hal-lo«, hält sich Nadine kurz.

Dann grinst sie frech: »Ich freu mich auf einen schönen Abend mit euch« und stolziert zu Janiel ans Büfett herüber.

Ich nehme Hanna bei Seite: »Was zum Teufel soll das?! Wieso hat Karin sie eingeladen? Und was hat sie denn hier vor?! Ich halte nichts von Orgien!«

»Schschsch! Nicht, dass sie uns noch hört! Es hat sich nun mal ergeben, dass Karin alle Mädels aus der Klasse eingeladen hat – alle, bis auf Nadine. Aber alle bis auf eine einzuladen, ist Mobbing! Deshalb war Karin dazu gezwungen … wir sind alle nicht begeistert, aber das konnte Karin nicht bringen.«

Ich seufze und buhue ein bisschen.

»Ist schon gut, meine Liebe«, klopft sie mir auf die Schulter: »Wir werden den Abend überleben. Irgendwie.«

»Weiß jemand, ob Mona kommt?«, quakt Karotte.

»Ich schätze schon – sie zahlt beim Geschenk mit«, antwortet ihm Valentine. Ach ja, Mona. Es gibt nur acht Mädchen in unserer Klasse: Karin, Sophie, Hanna, Valentine, Nadine, Mona, Elise und meine Wenigkeit. Mona und Elise sind die beiden Gegenpole in unserer Klasse. Da seit jeher die Anzahl unserer männlichen Geschlechtsgenossen überwiegt, haben Mona und Elise sich einen Spaß daraus gemacht, herauszufinden, wer von beiden die Beliebtere ist. Bisher hat sich keiner in den Konkurrenzkampf der beiden eingemischt, nur darüber getratscht. Was vorkommt, wenn mal wieder eines der Mitglieder seinen Fanclub von Mona zu Elise wechselt, oder sie sich gegenseitig den Freund ausspannen. Was gar nicht so selten passiert, wenn ich darüber nachdenke.

»Und Elise?«

»Auch.«

O je. O je. Das kann ja was werden. Ich flüstere zu Hanna: »Diese Party hat das Konfliktpotenzial zum Super-GAU.«

Wie zur Bestätigung bekomme ich aus den Augenwinkeln mit, wie Nadine Valentine in ein »Gespräch« verwickelt, als diese Janiel am Salatbüfett verdrängt, um sich eine Portion Grünzeug auf den Teller zu schaufeln. Auf die Entfernung können Hanna und ich beobachten, wie Nadines Augenbrauen anfangen, wütend zu tanzen und unsere liebe Valentine zur Schnecke machen. Ich will das Theater gerade beenden, da kommt Janiel mir zuvor und drängt sich dazwischen.

In diesem Moment platzen zwei junge Männer mit jeweils zwei Getränkekästen ins Zimmer. »Weiter, weiter, ja unter den Tisch. Stopp! Perfekt!«, dirigiert Karin sie. Beide sind groß, schlank, haben dunkle Haare. Und sind mindestens zwanzig Jahre alt.

»Zwei Sixpacks die Sixpacks bringen, das habe ich auch noch nicht erlebt«, kommentiert Sophie und fächert sich symbolisch imaginären Wind zu. Die »Sixpacks« quatschen mit Karin, und veranlassen Nadine dazu, den Salat samt Janiel und Valentine links liegen zu lassen, um sich kokett dazu zu stellen.

»ALSO, das gönne ich ihr nicht!«, kündigt Sophie an und stellt sich mit an die Front.

O je. O je. Hanna und ich verstehen uns. »Reich mal die Chipstüte her, Karotte«, ordert Hanna. Vornübergebeugt, mit Kartoffel-Riffel-Chips bewaffnet, verfolgen wir gespannt die Szene.

»Hi, wie ich sehe bringt ihr Bier?«, eröffnet Sophie das Feuer.

»Ah Sophie, ich wollte dir meinen Bruder schon länger mal vorstellen. Konstantin, das ist meine liebe Freundin Sophie, von der ich dir erzählt habe! Sophie, das ist Konstantin. Und das hier ist sein Kumpel … «

»Ralf, sehr angenehm.«

Konstantin gibt Sophie die Hand: »Freut mich.«

Sogleich packt Sophie ihr größtes Geschütz aus: Ihr (laut Hanna) berühmt berüchtigtes Ich-zaubere-dir-Pudding-Beine-Lächeln. Leider springt Konstantin nicht darauf an, oder Hanna übertreibt wie immer. Stattdessen fragt er: »Und wer ist dieses liebreizende Geschöpf?«, sich Nadine zugewandt. Karin lacht falsch auf.

»Oh mein Gott, schlechter geht’s gar nicht«, kommentiert Hanna mit Riffelchip in der Hand.

Ich fasse mir an die Stirn. »Verdammt, Karin!«

Eine dritte Stimme zischt: »Haltet die Klappe, ich höre sonst nichts!« Tatsächlich sitzt die Möhre jetzt halb hinter, halb zwischen uns und lauscht mit.

»Das ist Nadine, eine Klassenkameradin von mir … «, stellt Karin widerwillig unser aller Feind vor.

»Oh Schwesterchen, du hast gar nicht erzählt, was für sexy Klassenkameradinnen du hast.« Untermalt von einem heißen Lächeln mit Zwinkern, sagt er das einfach so. Wir Mädels auf dem Teppich, einschließlich Karotte, saugen tief die Luft ein.

Nadines Ego nimmt den ganzen Raum ein.

»Sie muss was tun! Jetzt! Sonst müssen wir uns Nadines Geprahle den ganzen Abend anhören!«, schimpft Hanna.

»Ich hole noch die Kekse aus dem Auto, bis gleich«, verkündet und verschwindet Konstantin wieder. Sophie und Nadine werfen sich gegenseitig einen Blick zu, der töten kann, und plötzlich stehen in der Küche nur noch Ralf und Karin. Und davor Janiel, der nochmal unseren Salat umrührt.

»Tja Karin, sag Bescheid falls du noch was brauchst, ich werde heute gut auf unseren Romeo aufpassen. Auch wenn ich nicht versprechen kann, dass er sich volllaufen lässt, aber das lass mal meine Sorge sein. Deine Eltern kommen erst nächste Woche wieder?«, stellt Ralf fest.

Karin nickt. »Mein Bruderherz hat sich heute zu benehmen, das weiß er! Ich werde seine Kotze nicht aufwischen, zumindest nicht an meinem Geburtstag.«

Ein letztes O je, O je. Karins Bruder scheint eine Partysau und ein Schürzenjäger zu sein.

»Ich wünsche euch auf jeden Fall viel Spaß heute Abend!«, sagt Ralf.

Da stürmt eine aufgebrachte Sophie ins Zimmer, mit einer weißen, abgedeckten Schüssel in den Händen. Sie knallt sie auf den Büffettisch und lässt sich, danach, mit viel Lärm zu uns auf dem Teppich fallen. »Ich bringe sie um, ich bringe sie irgendwann um!«, murmelt sie gehässig vor sich hin.

»Was ist passiert?!«, wollen Karotte, Hanna und ich wissen.

Ohne ein Ding-Dong spaziert der nächste Gast herein. »Hallo, ist das hier Karins Geburtstagsparty? Die Tür stand offen und es scheint die richtige Adresse zu sein, aber da draußen knutscht so ein Pärchen herum … «

»Ich bringe ihn um!«, brüllt die ansonsten so liebe und süße Karin und stampft empört aus dem Haus, Ralf hinterher.

»Also Sophie, sei froh, jetzt halten wir dich zumindest nicht für eine Schlampe«, gibt Karotte seinen Senf dazu ab und greift in die Kartoffel-Riffelchen-Tüte.

Während Sophie ihm die Augen auskratzt und eine Kissenschlacht mit dem einzigen Kissen in Karins Heim anzettelt, stehe ich auf und begrüße Jonas, der irritiert in der Kulisse rumsteht.

»Hey Jonas, supercool, dass du gekommen bist, ich muss dir nur kurz eine Schleife umbinden, immerhin bist du mein Geschenk.« Wie von Zauberhand lasse ich ein Geschenkband und eine Schere erscheinen (okay, ich habe sie vorhin aus meiner Handtasche geholt).

»Wow, hallo Manu, okay … «, stammelt er etwas überfordert. »Du gehst aber schnell ran … «

Meeep. Gar nicht mehr so überfordert. Ich ziehe das Band, das ich um seinen Hals geschlungen habe, sehr fest zu. »Uill u mi äowüren?!!!«, krächzt er. Zu seinem Glück greift Hanna ein und rettet ihn vorm Erstickungstod.

»Manu! Also wirklich, nicht du auch noch! Wir müssen heute hier die Stellung halten! Heb dir deine Gewaltfantasien für Nadine auf, sobald wir betrunken genug sind, um vor Gericht für unzurechnungsfähig erklärt zu werden.« Tief überzeugt von Hannas Ansprache erkläre ich: »Dann hole ich mir Salat.«

34 Millisekunden später stürzen sich Sophie und die gerade neu eintrudelnden Gäste Lilly und Chantal aus unserer Parallelklasse auf unseren Model-Jonas. Warum bloß hat Karin die denn auch noch eingeladen?! Ich muss beizeiten mal ein ernstes Wörtchen mit ihr reden!

Sehr froh darüber, das Schlachtfeld rechtzeitig verlassen zu haben, schaufele ich mir reichlich Nudelsalat auf meinen Designer-Pappteller – sogar die sehen edel und teuer aus. »Eine aufregende Party, was?«, bemerkt Janiel, und reißt sich dabei zusammen, um nicht laut loszulachen.

»Bist du im Himmel nicht gewohnt, was.«

»Naja, Engel feiern nicht«

»Nicht mal an Weihnachten?!«

»Im fünften Himmel nicht, nein.«

»Oh Gott, das muss ja furchtbar langweilig sein … Gib’s zu, ich bin dein Vorwand, um auf der Erde abdancen zu können.«

»Es ging eigentlich, wir haben neben unseren Pflichten eben andere Dinge getan … die meisten Veranstaltungen waren Konzerte – und ich dance nicht ab.«

»Bitte sag mir, dass die ‚Konzerte‘ keine Kirchenliedansammlungen waren, sonst muss ich Mitleid mit dir haben.«

Er lacht auf. »Keine Sorge, die meisten Lieder habe ich selbst komponiert.«

»Darf ich kurz stören?«, unterbricht uns Karotte, der sich einen von den Keksen aus der weißen Schüssel stibitzt.

Ich denke an Janiels Geigenspiel zurück. »Stimmt, Eiael meinte ja, du wärst ein Promi. Wie wird man denn Promi im Himmel?«

Just taucht Karin wieder auf, mit einer klaren Ansage: »Dreht die Musik auf, wir haben jetzt Bier und ich darf legal saufen. Prost!«

Es kreuzen noch mehr Gäste auf, unter anderem unsere Zimtzicken Mona und Elise, aber auch ein ganzer Schwall kompakter, männlicher Testosterone. Ich frage mich, ob Karin die Mädels nur eingeladen hat, damit sie ihren jeweiligen Fanclub mitbringen … Vermutlich ja. Deshalb mussten bestimmt auch Lilly und Chantal kommen.

Wie auf den Befehl von eben wird die Musik lauter gedreht. Ein Bass ist zum Glück nicht im Besitz von Karins Familie, sodass es, wie ich denke, keinen Ärger mit den Nachbarn geben wird. Zumindest nicht deswegen. Inzwischen stehen die meisten auf dem Flausche-Teppich und bewegen sich minimal nach rechts und links, was die heutige Gesellschaft »tanzen« nennt. Ich setze mich samt Salatteller und Schutzengel zu ein paar Hockengebliebenen dazu.

»Boah, diese Kekse sind unheimlich gut!«, stöhnt Karotte.

»Er hat Recht, Manu, probier doch mal!«, entgegnet Valentine, die sich inzwischen zu Karotte gesellt hat. Demonstrativ halte ich meinen Salatteller hoch und kaue sehr deutlich. Sie lassen ab und richten ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Kekse, während ich das Getümmel auf der Tanzfläche beobachte. Genauer gesagt, ist Tobi endlich erschienen.

Vielleicht brauche ich ein Bier. Er schaut herüber. Oder zwei. Also fliehe ich in die Küche, als er sich tatsächlich die Frechheit erlaubt, auf Valentine, Karotte, Janiel und mich zuzusteuern. Dumme Idee, er trottet mir hinterher. Wie ein Dackel. Ja, ich mochte Tobis ollen Hundeblick immer, aber so war das definitiv nicht gemeint!

Er berührt mich am Unterarm. »Hey Manu.«

Hau ab. Hau ab. Hau ab. Deine Nähe tut mir weh. »Hey, Tobi«, sage ich stattdessen. Wir stehen alleine an der Küchentheke, es hat jeder Salat, der Salat haben will. Und hier ist meiner.

»Ich vermisse dich«, gesteht Tobi mir.

Ich spüre einen dicken Kloß im Hals. Wie gern hätte ich das gehört. Vor drei Wochen. Oder so. Aber jetzt … habe ich zu lange geheult, als dass ich mich darüber freuen könnte. »Als Freund oder als Kartoffel«, fatze ich heraus.

Völlig perplex sammelt er sich kurz, erwidert dann: »Als Kartoffel natürlich.«

»Was auch immer das bedeuten mag … «, seufze ich und lasse ihn stehen, um vier Bierflaschen aus dem Kühlschrank zu holen, weil Hanna bereits aus der Ferne winkt und mir zu verstehen gibt, ich solle doch was mitbringen. Und herüberkommen.

Tobi ist alles andere als erfreut, von mir, dem Mädel, das ja sonst nur stottert, gekorbt zu werden und geht erstmal frische Luft schnappen, um den Schock zu verarbeiten. Mal sehen, wie lange er es vor der Haustür mit Nadine und Konstantin aushält. Hanna stößt mit mir an, nachdem Sophie es geschafft hat, Jonas in ein Gespräch mit ihr zu verwickeln. »Das wird Karin nicht gefallen«, schüttelt sie den Kopf. »Nein, nein.«

»Auf eine beschissene Party. Cheers.« Kling!

Ich habe vielleicht ein, zwei Mal Bier in meinem Leben getrunken, aber nie mehr, als einen Schluck im Kreise von Erwachsenen zu Geburtstag und Silvester. Aber dieses pinke Granatapfelbier ist etwas ganz anderes, es schmeckt wie herber Saft, den man erst zu lang in der Sonne hat stehen lassen, um ihn danach in die Kühltruhe zu packen. Schwupps, ist die erste Flasche leer.

»Wow, Manu! Du hast ja einen ganz schönen Zug! Ich habe mich nur kurz umgedreht … «, staunt Hanna, und beschließt, das zum Tratsch-Thema zu machen: »Hey Karin, unsere liebe Manu ist ein Loch!« Während sie das ausspricht, fängt sie schon an zu gackern. Und als sie sich wieder umdreht, habe ich schon die zweite Flasche leer. Ihr Mund klappt herunter. »Ernsthaft?«

»Was denn, ich hatte Durst«, rechtfertige ich mich und zucke mit den Schultern. Einigermaßen munter, steuere ich auf die Tanzfläche zu, wo Janiel mich prompt zu einem Tanz auffordert, äh, abfängt.

»Du hast getrunken. Wegen Tobi. Ich hab’s gesehen. Leugnen ist zwecklos.«

»Na und? Wer kann, der kann!«

»Manu, darf ich dich daran erinnern, dass DU erst fünfzehn bist?«

»Und wie alt bist du? 335?«

»Ich bringe dich an einen ruhigen Ort.«

Er führt mich wieder in die Diele, wo der Hirschkopf über der Eingangstür prangt. »Armer Hirschi. Gestorben als Designerware«, schmolle ich.

»Komm jetzt!«, herrscht Janiel mich an, als ich vor dem Hirsch verweile und langsam meine Unterlippe vorschiebe. Wir gehen die Treppe hinauf in ein Zimmer. Ein rosa-überflutetes Zimmer.

»What the fuck! Sind wir im Schlaraffenland? Einhornprinzessin? Wohnst du hier? Sieht ja fast so aus wie bei mir.«

Janiel durchbohrt mich mit einem zweifelhaften Blick: »Das ist Karins Zimmer, oder aber auch: ‚die Ausnüchterungszelle‘. Und bei dir sieht es schlimmer aus, an deiner Stelle würde ich mich also nicht darüber lustig machen. Ich hab hier ein Wasser für dich.«

»Also wirklich, ich bin nicht betrunken!«

»Wie trinkfest du bist, hast du in München bereits bewiesen.«

»Aber hallo, das ist nur Bier und kein Sex.«

Es klopft an der Tür. »Entschuldigt, wenn ich euch unterbreche … ihr Turteltauben hihi.« Karin kann ihr Gekicher nicht für sich behalten: »Aber an der Tür ist jemand, der ist auf der Suche nach einem gewissen ‚Janiel‘ und Karotte ist es nicht … Alsoo, du hast nie erzählt, dass Jan nur eine Abkürzung ist, Janiel!«

Ungläubig starren Janiel und ich uns an. Niemand kennt seinen richtigen Namen. Echt, niemand. Außer mir. Schnell fasst sich der Engel wieder: »Jaa, es war mir etwas peinlich, mein Vater kommt aus Israel … und Jan klingt einfach deutscher. Ich komme sofort.«

Mit dieser Erklärung scheint Karin sich abzufinden und haut wieder ab. Janiel warnt mich vor: »So seltsam das auch ist, egal was passiert, du wartest hier oben, ist das klar?!«

Brav nicke ich, bis er aus dem Zimmer verschwindet, um einen großen Lachanfall zu kriegen. »Haha Israel! Bei den blonden Strähnchen! Eher ein Arier mit NS-Vergangenheit!«, amüsiere ich mich selbst. Nach ein, zwei Minuten beruhige ich mich langsam wieder von meinem Flash, der sich in Kopfweh verwandelt hat. Es pocht und pocht … verdammt, das will ich nicht.

Karins Zimmer ist wirklich DAS Mädchentraumzimmer. Ein Himmelbett, mit zartrosa Vorhängen, eine Kommode mit integriertem, ovalem Spiegel und ein weißer Schrank mit Verzierungen, Schnörkeln und Ornamenten stehen darin – alles im Jugendstil, versteht sich. Das Prinzessinnen-Klischee passt nun mal am besten dazu … Oh mein Gott, woher weiß ich das? Habe ich etwa … bei unserem Schlaftabletten-Kunstlehrer aufgepasst? Schande über mich!

Nicht zu vergessen, das Wichtigste: Karins Zimmer hat zwei Türen, natürlich auch mit eingeschnitzten Schnörkeln. Ich kann es mir zwar denken, aber nicht glauben. Deshalb tapse ich zur zweiten Tür, um sie vorsichtig zu öffnen – nicht, dass ein Löwe herausspringt: Ich sage nur Hirsch. Siehe da: Karin besitzt ein eigenes Badezimmer! Zugegeben, es hat noch eine Tür zur gegenüberliegenden Seite hin, was mich schwer vermuten lässt, dass sie sich das Bad mit ihrem Bruder teilt. Denken bei eins Promille? Kann ich!

Mir ist klar, dass ich hier mit Sicherheit eine Lösung für mein permanentes Pochen im Kopf finden werde. Also reiße ich alle Schränke auf, auf der Suche nach Aspirin. In weniger als einer Minute finde ich, was ich brauche. Ich gehe zurück ins Zimmer, werfe die weiße Tablette ein und spüle sie mit dem Wasser von Janiel runter. Für eine Weile verharre ich auf Karins Bett. Wie lang dauert das denn, bis das wirkt?
 

Das nächste, was passiert, ist, dass ich aufwache. Aber nicht in Karins Zimmer. Und nicht in einem Bett. Aber mit einem Kerl. »Himmel nochmal, nicht schon wieder!«, zische ich. Was ist jetzt wieder gewesen? Und wer ist das?! Ein kurzer Blick allein auf den Haarschopf bestätigt mir, dass es weder Janiel noch Tobi ist. Gott sei Dank! Oder auch nicht … wer … ? Wir liegen übrigens in einer Badewanne – in Karins Badezimmer, soweit ich mich erinnere. Und der Kerl ist – wie ich feststelle, indem ich sein Gesicht zerrupfe und auseinanderziehe – Karins Bruder Konstantin. Ich liege zwischen seinen Beinen, mit dem Rücken zur Brust und angezogen, was mich sehr erleichtert. Er hat nur eine Hose an, aber hey, er hat eine Hose an! Das wäre die größte Katastrophe überhaupt: Manuela, das Flittchen 2.0. Immerhin ist der Titel ansonsten offenbar an Nadine vergeben – so der letzte Stand. Kräftig klopfe ich ihm auf die Brust, damit er aufwacht und steige aus der Badewanne.

»Hm? Was ist los … «, murmelt Konstantin verschlafen.

»Das frage ich dich!«

Sekundenlang starrt er mich an, mit dem größten Hääää im Gesicht, das ich je gesehen habe. »Karins Freundin?«

»Ich habe auch einen Namen, den solltest du wissen, nachdem wir die Nacht in der Badewanne verbracht haben!«

Konstantin hebt seine Hand hoch und lässt den Zeigefinger im Uhrzeigersinn kreisen. »Warte mal … Nadja, Christina, Sophia … «

Unbeeindruckt verziehe ich keine Miene.

»Mona? Vielleicht?«

»MANU!«, brülle ich ihn an. Da klopft er mit der Faust auf die Handfläche. »Stimmt! Stimmt ja, Manuela! Ich erinnere mich!«

»Ich mich aber nicht. Was ist passiert? Und willst du nicht aufstehen und dir was anziehen?!«

»Nö. Ist doch schön frisch hier.«

Ich glaub’s nicht. Was ist das für einer?!

»Aber wenn du dich dann besser aufs Denken konzentrieren kannst, ziehe ich mich natürlich gerne an.« Er zwinkert mir zu.

Kotz. Würg. Was für ein Arsch. Wie kann die liebe Karin mit dem verwandt sein? »Tu. Es. Einfach.«

Tatsächlich erhebt er sich aus der, wie ich feststelle, frei stehenden Marmorbadewanne (sind das vergoldete Henkel?) und schlurft in sein Zimmer. Nach einem Schulterblick sagt er: »Was ist? Willst du da wie angewurzelt stehen bleiben? Ich tu dir nichts, komm rein. Ich denke, ich erinnere mich wieder an alles.«

Widerwillig folge ich ihm also in sein Zimmer. Wie beim Rest des Designerhauses spürt man auch hier den Geschmack seiner Eltern – allerdings mit einer persönlichen Note. Lampen auf Kopfhöhe zieren die beleuchten, schwarze Wände. Das Bett aus dunklem Holz unterstreicht den Old-School-Charakter, vor allem durch die zwei gekreuzten Eishockeyschläger, die darüber hängen. »Setz dich doch!«, fordert er mich auf.

»Ich stehe lieber.«

»Nun gut, also letzte Nacht … war echt der HAMMER!«

»Komm auf den Punkt, Junge.«

Konstantin hüstelt. »Ralf und ich kamen gegen zwei Uhr wieder, weil unsere Party etwas lahmer war als gedacht … wir hatten leider unsere Cookies hier vergessen. Die waren aber futsch als wir hier ankamen, die Partymeute hat sie aufgegessen. Leider waren es Spezial-Cookies … «

»BITTE WAS?! Was war da drin, Konstantin?!«, herrsche ich ihn an.

Immerhin habe ich auch welche gegessen!

»Da war etwas Haschisch – aber wirklich nicht viel, man muss schon zehn Kekse essen, um davon ernsthaft high zu werden. Wir haben das Zeug verdünnt und extra klein pro Keks portioniert. Sollte ein Appetizer zu den Drinks werden, eine coole Partydroge. Wer baggert schon eine Schnalle an mit: Willst du mal in meinen Keks beißen?«

Ich fasse mir an die Stirn. »Ich will gar nicht so genau wissen, wie du Tussis abschleppst.«

»Jedenfalls war da einer von euch, der hat nur noch gereihert, den hat der noble nüchterne Ralf ins Krankenhaus gefahren«

»Oh mein Gott, wer war das?! SAG, WER … ?«

»Ouuuh ich erinnere mich nicht so gut an Namen … ihr wart so viele Milchbubis … fällt mir schon bei Frauen schwer mit Namen, das sage ich dir. Aber ich glaube, er hatte rote Haare.«

Oh nein. Es ist Karotte. Stimmt. Karotte hat die Kekse wie verrückt gefuttert. »G-geht es ihm gut … ?«, winsele ich.

»Keine Ahnung?!«

»Du Schwein!«

»Mach mal halblang, tot ist er glaub’ nicht.«

»DU GLAUBST?« Hektisch suche ich nach meinem Handy, das ich doch tatsächlich neben der Badewanne liegen sehe. Ich habe Karottes Nummer nicht, darum rufe ich Karin an. Die sofort abhebt.

»Manu, hi, alles klar?«, fragt die fürsorgliche Karin mit sanfter Stimme.

»Ja, bei mir schon. Konstantin ist bei mir. Wo bist du? Wie geht es Karotte?«, frage ich hektisch.

»Es geht ihm gut. Sie haben ihm den Magen ausgepumpt, ich bin mit Ralf im Krankenhaus. Ich habe zu Konstantin gesagt, er soll die Stellung halten.« Das hat ja mal super geklappt … Ich denke an das Aufwachen in der Badewanne.

»Danke Karin! Ich hatte gerade schon totale Panik, du glaubst nicht, wie mich das erleichtert. Geht es sonst allen gut?«

»Das wirst du wohl selbst herausfinden, wenn du ins Wohnzimmer schaust, haha.« Karins Lachen klingt leicht verzweifelt. Wir beenden das Telefonat und ich blinzele Konstantin böse an.

»Bevor ich da jetzt runtergehe, erklärst du mir, warum du nackt mit mir in der Badewanne geschlafen hast!«

Er seufzt. »Mach dich mal locker. Aber gut. Dich hat’s auch echt heftig erwischt, als ich dich in meinem Bad gefunden habe. Du standest knallhart auf meiner Kloschüssel – auf einem Bein – und hast ‚Atemlos‘ von Helene Fischer pausenlos durchgesungen. Ich kam so wie vorhin rein, weil ich duschen wollte. Als du mich entdeckt hast, hast du angefangen mir dein komplettes Liebesleben zu offenbaren und mich mindestens zwanzig Minuten lang zugelabert. Aber da warst du mir noch sympathisch. Aua, wofür war das?!«

Oh Gott, ich habe ausgerechnet dieser Pflaume von Tobi erzählt … ? Erschieß mich einer!

»Du hast nicht so ganz gecheckt, was war und dich einfach an mich rangeschmissen – das war schon sexy, muss ich sagen!« Verdorben zwinkert er mir zu, mit einem schmalzigen Lächeln.

Würg. »Bitte sag mir, wir haben nicht … «

»Keine Sorge, mein Pensum ist schon erschöpft gewesen für den Tag. Ich wollte eh nur Duschen, weil ich davor die Kleine geknallt hatte.« Warte, WAS?! Will ich das überhaupt wissen? »Aber ich wollte nun mal ein Bad nehmen … du bist einfach hinterher, und dann eingeschlafen. Ich konnte mich nicht wirklich rühren. Ok, vielleicht wollte ich ja auch nicht.« Er streckt mir die Zunge raus. »Du warst einfach zu süß, mit deinem ‚Janiel, bitte bleib bei mir!‘«

Moment. Janiel? Ich rede im Schlaf von Janiel? »W-was habe ich dir denn aus meinem Liebesleben erzählt?«

»So ziemlich alles. Da war dieser Tobi-Schwuchtel, der dir erzählt hat, er habe eine Freundin, dann wieder doch nicht. Dass du ihm deine rückwirkende Liebe gestanden hast und er nicht die Bohne darauf reagiert hat, aber dafür dieser Janiel sich ja ach so toll um dich kümmert, aber manchmal von einer anderen Schnalle redet, die dir ähnlich sein soll und so weiter und sofort. Wenn du mich fragst, kannst du beide in die Tonne kicken. Der eine hat einfach keine Ahnung von Frauen und der andere lebt in der Vergangenheit.«

»Danke, auf den Rat kann ich verzichten!«

»Hey hey! Ich mein’s ja nur gut. Aber wenn du dir unbedingt einen krallen willst, schaffst du’s bei dem Lutscher eher. Der scheint’s mal nötig zu haben.«

Ich pfeffere ein herumliegendes T-Shirt auf Konstantin. »Ich wiederhole, danke für deinen Rat, Konstantin. Schön, dass ich einem Fremden so viel über mich erzählen konnte!«

»Ich sage es nur, weil ich mich echt überwinden müsste, um mit dir zu vögeln oder so was.«

»Danke, wirklich, DANKE!« Es reicht mir endgültig, darum stapfe ich die Treppe runter ins Wohnzimmer. Hätte ich das tun sollen … ?

Der Anblick von über zehn rumliegenden Teenagern ist kein gewohnter. Noch ist keiner wach, aber alle Anwesenden scheinen einen Kater zu haben oder total fertig mit der Welt zu sein. Das einzig bekannte Gesicht unter den Dornröschen gehört Hanna. Ich rüttele an ihrer Schulter.

»Ummh? Manu?«

»Aufwachen, Hanna! Du musst mir erzählen, was hier noch passiert ist! Konstantin hat aus Versehen seine Cookies hier gelassen!« Noch leicht benommen rappelt Hanna sich mit Stirnrunzeln auf und lässt dann ihren Blick durch den Raum schweifen.

»Huh, was?« Ich zerre sie raus, vorbei an dem Hirschkopf, in den Vorgarten. Dort berichte ich ihr von allem, was ich weiß. Hanna seufzt. »Von den Cookies habe ich nur zwei oder so gegessen, Karotte war so gefräßig, da hat kaum einer was abbekommen … der Arme. So was ist aber mal wieder typisch Konstantin. Der verpeilt immer alles Mögliche, Karin regt sich regelmäßig darüber auf.«

»Das glaube ich auch«, bestätige ich aus Erfahrung. »Was ist hier noch passiert? Sonst geht es allen gut, ja?«

»Du hast einen Filmriss, oder Manu?«

Dumpf schaue ich sie an. Hanna lacht nur. »Haha, hätte nicht gedacht, dass dir das mal passiert! Sonst wirkst du immer so brav!!«

»Moment, wir haben alle die Kekse gegessen, nicht nur ich!«

»Ja schon, aber ich kann mich an alles erinnern. Du hast kurz bevor Jan dich in die Heia gebracht hat, noch zwei Bier geext. In der Geschwindigkeit hätte das kaum einen nicht besoffen gemacht.«

»Ach Hanna … «

»Keine Sorge, bis auf Karottes Kotzorgie hast du nur verpasst, wie Mona und Elise mit irgendwelchen Typen rumgemacht haben und wie Konstantin mit Nadine abgehauen ist.«

OMG. Die Kleine, die er geknallt hat. Nadine. Echt jetzt?!

Hanna kichert und ich fühle mich postpubertär.

»War irgendwie klar, dass es so endet. Sophie war nicht sonderlich glücklich darüber. Trotzdem sollte sie dankbar sein – Konstantin ist echt nicht cool.«

Eine Sache, bei der wir uns einig sind. »Hast du Jan gesehen?«, frage ich.

Sie schüttelt den Kopf. »Der ist verschwunden, seit er dich ins Bett gebracht hat. Ich dachte, er wäre bei dir?«

Schluck. Oh nein.

»Immerhin ist es kein großes Geheimnis, dass du und Jan wieder zusammen seid.«

»W-warte, wo hast du das denn aufgeschnappt?!«

»Ihr hängt ständig zusammen rum, aber auch überall, das ist ja wohl nicht zu übersehen. Und ihr versteht euch super. Erzähl mir nicht, dass ich falsch liege«, beharrt Hanna.

»O jee … «

»Außerdem hat Tobi euch zusammen in München gesehen.«

»Häh … ?« In München … »Wo soll das bitte gewesen sein?«

»In der Mondscheinnacht auf der Terrasse, ganz romantisch! Hihi«, freut sich Hanna. Ich freue mich gar nicht. Tobi hat uns an dem Tag gesehen? Oder gar belauscht? Hat er was davon gehört? Und wenn ja, was …

»Hanna … wo ist Valentine?« Sie war nicht unter den Schlafenden.

»Nachdem du sicher in Karins Bett lagst, haben wir unten noch ein paar Kartenspiele gespielt, ein bisschen was getrunken und uns das Flirt-Spektakel auf der Tanzfläche angesehen. Valentine ist nach Hause gegangen, bevor Karotte ins Krankenhaus musste. Aber weißt du was? Sie wurde in Begleitung heimgebracht!«

Wenigstens geht es ihr scheinbar gut.

»Und rate mal, von wem!«

»Hanna, ich habe keine Lust zu raten.«

»Tobi!!«

»WAS?«

»Da staunst du, hättest wohl nicht gedacht!«

Nein, ich denke es immer noch nicht. Hanna interpretiert in meine Reaktion ein Gott-sei-Dank-nichts-weiter rein und fragt mich stattdessen, ob ich nicht mit zu Karotte ins Krankenhaus kommen möchte. Hinter einem der Haussträucher blitzt kurz etwas Weißes hervor. Das ist wohl das beste Ereignis des heutigen Morgens: Janiel ist noch da.
 

Eine halbe Stunde braucht der Bus zum Kreiskrankenhaus. Als wir dort eintrudeln, sitzen bereits Sophie und Karin bei unserer angeschlagenen Karotte. »Psst, er ist gerade eingeschlafen!«, heißt Sophie mich willkommen.

»Armer Jan, das war einfach der dümmste Zufall aller Zeiten … «, seufzt Karin, woraufhin Sophie trocken erwidert: » … oder aber auch die dümmste Sache, die dein Bruder je zustande gebracht hat. Abgesehen von der Sache mit Nadine, natürlich.«

Soso, Sophie ist stinkig. »Es geht ihm also besser?«, stelle ich fest.

»Ja, Gott sei Dank!« Als Karin das ausruft, zucke ich kurz zusammen. Wer ist wohl Karottes Schutzengel? Und was hat dieser Miesling nur getrieben gestern Abend?!

Gerade jetzt kommt jemand zur Tür herein, ein Jemand namens Valentine. Sie sieht sichtlich bedrückt aus und trägt einen Strauß Lilien unter den Arm geklemmt. »Ich habe es erst jetzt erfahren … wie konnte das nur passieren … «

»Iiiich sage dir wie!«, poltert Sophie gleich los, aber Hanna schüttelt den Kopf und hält sie mit der Hand vorm Gesicht zurück.

»Jetzt nicht.«

Auf dem Krankentisch steht eine leere Vase. Valentine stellt ihre Tasche auf den Boden und trägt die Vase samt Lilien zum Waschbecken.

»Konstantin sollte sich schämen! Noch nicht mal zu Besuch ist er gekommen! Dabei saßen Karin, Karottes Eltern, Ralf und ich die halbe Nacht hier, während er seinen Spaß hatte!«, reißt Sophie trotzdem ihre Klappe auf. Karin sieht bedröppelt zu Boden.

»Aber Konstantin ist genauso berauscht gewesen, Sophie, gib ihm nicht die Schuld«, sagt sie mit zerbrechlicher Stimme. Es ist ihr unangenehm, denn hinter Konstantins Eskapaden scheint mehr zu stecken als sie zugibt. Aber wenn Konstantin auf Droge war, stimmt dann überhaupt, was er MIR erzählt hat?!

»Was allerdings viel interessanter ist, als der Fakt, dass Konstantin ein Idiot ist, ist, warum Valentine des Nachts mit Tobi abgehauen ist?« Hanna, Applaus für deinen Scharfsinn. Die bedrückte Stimmung kippt und plötzlich sind wir alle sehr aufgeregt zu hören, was Valentine uns zu sagen hat. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich es wirklich hören will. Wenn Tobi sich in Valentine verliebt hat, würde ich das nicht ertragen. Dass wir zwei nicht mehr miteinander reden, ist für mich kein Problem – aber mit Valentine, meiner Freundin … Es würde mir das Herz zerreißen. Als mir das klar wird, fühle ich, dass ich mich ein Stück weit selbst belogen habe. Aber nur ein Stück.

»Das ist nicht so spektakulär, wie du das darstellst, Hanna.« Valentine kneift dabei die Augen zusammen und hebt abwehrend die Hände hoch. »Wirklich nicht, ich hatte nur Angst im Dunkeln, und Tobi war so freundlich, mich heimzubringen, er wohnt ja auch in der Richtung und wollte gehen.«

Ohne, dass es jemand bemerkt, atme ich erleichtert auf. Valentine lügt nicht. Sie lügt nicht.

Hanna kann es erst nach einiger Überlegung fassen. »Jetzt wo du es sagst … Tobi ist schon ein Netter. Nadine hilft er ja auch bei Zeugs, und mit dir ist er ja auch gut befreundet, gell, Manu?«

Ich muss mich zusammenreißen. »Joa, ein bisschen.«

»Vielleicht ist Tobi ja schwul!«, entfährt es Sophie.

Karin guckt sie ganz entsetzt an. »Aber Sophie … «

Die plappert gleich drauf los: »Mein Cousin hat sich auch erst letztens geoutet, mit 23! Meine Familie war total geschockt, so an sich hätte es keiner von ihm gedacht, aber mir sind schon immer so kleine Dinge an ihm aufgefallen … zum Beispiel hing er auch immer nur mit Mädchen ab, hat aber nie was mit einer angefangen. Und irgendwann fing er dann an, sich die Haare zu gelen, Harry Potter zu lesen … «

Hanna prustet los: »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Harry Potter lesen schwul macht.«

Sophie: »Man kann nie wissen.«

Ich fühle mich berufen, mich einzumischen: »Mädels! Ich glaube nicht … dass Tobi schwul ist.«

Alle saugen scharf die Luft ein.

»Oh la la, weißt du da etwa mehr als wir?«, sagt Sophie überspitzt und zieht dabei beide Augenbrauen hoch.

»Uuh, uhrgh …«, unterbricht Karottes Stöhnen unsere Unterhaltung.

»Jan!« Valentine stürmt zu Karottes Bett. »Ich glaube, er wacht auf!« Die übrigen Mädchen versammeln sich um ihn herum. Karotte blinzelt ein paar Mal, bevor er mit einem leicht gequälten Gesichtsausdruck die Augen aufschlägt. »Bin ich … im Himmel?«

Meine neue Freundin

Eines Montagmorgens nach dem Party-Wochenende werde ich vom Klingeln des Haustelefons geweckt. Kater Janiel scheint das nicht am Weiterschlafen zu hindern, und meine Mutter hält es nicht für nötig, aufzustehen. »Jaa…?«, stöhne ich verschlafen in den Hörer.

»Manu, es ist etwas Unglaubliches passiert!«, zetert Hanna. Woher hat sie bloß meine Haustelefonnummer?!

»In der Tat, wir haben Doppelstunde-Ausfall, und ich bin trotzdem wach! Obwohl ich erst in zwei Stunden aufstehen muss!«

»Nein, es ist wichtig, du musst es als Erste erfahren! Valentine findet auch, dass du es unbedingt wissen musst!«

»Jetzt mach es doch nicht so spannend!«

»Tobi hat eine Freundin!«

Ich hätte erwartet, dass ich zusammenzucke und durchdrehe, aber erstaunlicherweise verblüfft mich diese Nachricht nicht. Nicht so sehr, wie ich erwartet hätte.

»Ich wollte es dir unbedingt erzählen, damit wir vielleicht eine kleine Feier für Valentine machen können, nachdem Daniel und Philipp diese miesen Sachen abgezogen haben.«

»Was sagst du da?!«

»Naja, ich dachte, du könntest vielleicht wieder so einen Salat machen, Karin backt Kuchen und wir machen so einen Mädchen-Tratsch-Tee, aber mit Karotte, der freut sich bestimmt.«

» … «, zitiere ich unfreiwillig Janiel. Der ist inzwischen aufgewacht und steht besorgt neben mir.

»Äh Hanna … W-wir r-reden später, ok-k«, verfalle ich in mein altes Stotter-Muster und lege auf. Schlafen kann ich jetzt nicht mehr, also gehe ich in die Küche und koche mir einen Tee. Gehe zurück auf mein Zimmer, setze mich auf mein Bett und lasse mich von Janiel anglotzen als wäre ich ein Dinosaurier. Er scheint darauf zu warten, dass ich losheule. »Wo warst du eigentlich, als ich Konstantin ein Schlager-Cover vorgeschmettert habe?«, frage ich ihn stattdessen in einem ruhigen Tonfall.

»Eiael hat sich beschwert, weil wir ihn vergessen haben.«

Ups. Da war ja was.

»Er hat mich eine halbe Ewigkeit genervt, bis ich den Termin auf nächste Woche verschoben und einen Kuchen draufgesetzt habe. Und einen iPod. Manu, du musst Eiael einen iPod kaufen.«

»Ok«, willige ich ein, schlürfe meinen Hagebuttentee.

»Ist alles okay, Manu?«, fragt Janiel hyperbesorgt.

»Ja. Was soll sein.«

»Du verhältst dich komisch.«

»Sagt ein Katzenschutzengel, der mich wie ein Stück Lachs anstarrt«, reibe ich ihm unter die Nase.

»Du bist verdammt witzig«, sagt der Katzenschutzengel ironisch.

»Dann lach doch mal.«

Ja, mit mir ist vermutlich nichts mehr anzufangen. Janiel umarmt mich.
 

In der Schule führen sich die Jungen wie die Affen auf. Aber nicht wegen Valentine. Ein tiefes Raunen dringt durch die Sitzreihen im Chemiesaal, als Nadine auftaucht. Eigentlich sieht sie so tipptopp wie immer aus – wäre da nicht dieser zerschmetterte Gesichtsausdruck – und die verlaufene Wimperntusche. Völlig Nadine-untypisch stolpert sie über Monas Tasche, stößt sich am Tisch, flucht (okay, das ist typisch) und pilgert in geduckter Haltung an ihren Platz. Sie sieht völlig mitgenommen aus. Die Frage ist, von was. Oder wem. Mehr erfahre ich, als Hanna mir fröhlich winkt und auf mich zuläuft, statt sich in ihre Sitzreihe zu begeben. »Hey Jan, Manu! Wegen unserem Telefonat vorhin: Ist Mittwochabend ok? Es ist schließlich Feiertag danach.«

»Ähm … «, weiß ich nicht so genau, wie ich absagen soll und sage: »Ja.«

Toll gemacht, Manu! Auch Janiel hält sich eine Hand vor Augen. So viel Dummheit ist einfach unfassbar.

»Super! 18 Uhr geht’s dann los, wir treffen uns bei Valentine!« Dann beugt sich Hanna zu mir vor, um mir zuzuflüstern: »Übrigens: Nadine hat anscheinend ihre Unschuld verloren, auf der Party.«

Als wäre das eine bombastische Neuigkeit, wartet sie gespannt meine Reaktion ab. Die nicht stattfindet. »Ich weiß.« Das Einzige, was mich wirklich überrascht, ist der Fakt, dass es weniger als einen Tag gedauert hat, damit Nadines Patzer die Runde macht.

Verdutzt reibt sie sich die Schläfe: »Ach echt? Ich hätte schwören können, Karin war die Einzige, die davon wusste … Ich meine, Gerüchte gibt es da ja immer viele, vor allem bei Nadine, aber das stimmt definitiv.«

»Ich weiß«, wiederhole ich simpel. Hanna wird konfus und schwirrt ab, um Mona und Elise weiter vollzutratschen.

»Und woher weißt DU das?«, möchte Janiel wissen.

»Schon vergessen, dass ich die halbe Nacht versehentlich mit Konstantin verbracht habe, während du mein sauer Erspartes an deinen Engel-Kumpel versprochen hast?!«

» … du hast ihn eingeladen. Du hast ihn vergessen.«

»Jaja, rede dich nur raus.«

Der Saal füllt sich allmählich. Valentine kommt. Sie tut so, als würde sie mich nicht sehen. Wie nett von ihr. Sie legt ihre Sachen auf den Tisch neben Philipp und verschwindet wieder, um aufs Klo zu gehen vor dem Unterricht, vermute ich. Prompt stehe ich auch auf. »Warte! Was willst du jetzt tun?«, hält Janiel mich fest.

»Ich kläre das jetzt. Sonst läuft das am Ende noch so wie mit Nadine«, sage ich entschlossen. Grummelnd lässt er mich ziehen.

Also stapfe ich meiner netten Freundin Valentine auf das Mädchenklo hinterher. Warte im Vorraum darauf, dass sie die Kabine verlässt. Registriere ihr erschrockenes Gesicht, als sie mich am Waschbecken mit verschränkten Armen lehnen sieht.

»Warum?«, frage ich bitter. »Warum hast du mich im Krankenhaus belogen? Warum bist du jetzt plötzlich mit Tobi zusammen, obwohl du weißt, was er mir bedeutet?«

Die Konversation ist ihr jetzt schon deutlich unangenehm, Valentine stiert auf den Boden und wickelt unsicher eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger. »I-ich dachte, du willst nichts mehr mit Tobi zu tun haben … ?«

»Will ich auch nicht, aber ich dachte, du bist meine Freundin, Valentine!«, reißt es aus mir heraus. »Freunde machen so was nicht!«

»Das ist total egoistisch von dir, Manu. Du hast Tobi abgeschoben! Denk doch mal an seine Gefühle!«, verteidigt sie sich. »So wie ihr zwei verhalten sich Freunde auch nicht, vor allem du, Manu! Die ganze Zeit hast du versucht, Tobi eifersüchtig zu machen – egal ob mit Jan, Jonas oder Dr. Sommer! Hast du je an die Gefühle von irgendeinem gedacht?«

Das sticht irgendwie. Kurz. Und heftig. Ich fasse mich schnell: »Und was geht dich das an?!«

»Mich kümmern Tobis Gefühle.«

»Wow. Du kennst ihn gerade mal seit einem Monat.« Auch wenn ich nicht mal weiß, woher. Das Traurige ist: Wahrscheinlich von mir.

»Ich kenne dich auch erst seit einem Monat, Manu.«

»Ich habe dir geholfen!«, plärre ich hysterisch. »Und das ist der Dank! Danke, Valentine, super!« Darauf weiß sie nicht wirklich was zu erwidern. Sie wäscht sich die Hände, trocknet sie ab und verschwindet aus diesem kalten, gefühlsleeren Raum.

Zurück im Chemiesaal legt mir Janiel heimlich eine Hand auf den Rücken. Jetzt habe ich eine Freundin weniger. Wen habe ich überhaupt noch? Alle verlassen mich. Alle. Bis auf Janiel. Ich schenke ihm mein Lächeln als Dank. Er sieht besorgt aus.

Unser Chemielehrer verteilt weiße Kittel und Schutzbrillen aus obligatorischen Gründen. Heute werden mal wieder Reagenzgläser zerbrechen. Das denke ich mir jedes Mal, wenn wir Versuche machen, anstatt uns unaufmerksam einem langatmigen Redeschwall hinzugeben. Die Jungs aus unserer Klasse sind einfach nicht dazu fähig, Dinge NICHT kaputt zu machen. Und nicht nur die, wie sich heute noch herausstellen wird. Der erste Kolben, der die Schwelle ins Nirwana übertritt, wird von Philipp fallen gelassen. Ich beobachte ihn eine Weile, während Janiel aufpasst, dass ich nichts zerdeppere. Philipp sammelt mit Versuchspartnerin Valentine die Scherben auf. Sie reden normal miteinander. Seit wann verstehen sich die zwei? Mir kommt es so vor, als hätte ich ziemlich viel verpasst. Der zweite Becher, der dran glauben darf, gehört Nadine. Sie scheint immer noch völlig neben der Spur zu sein und hat anscheinend die Ablageplatte mit Luft verwechselt.

Kicher kicher. Anders als sonst wird Nadine von Lukas, Daniel und den anderen ausgelacht. Die Welt steht Kopf. Schließen die sie jetzt etwa aus, nur weil sie keine Jungfrau mehr ist? Das dritte kaputte Reagenzglas an diesem Tag markiert den Höhepunkt der Serienkillermorde an Schulutensilien. Elise, die eine Reihe vor Nadine sitzt, wirft beim Vorbeilaufen deren Halterung um. Nadines Nebensitzerin Mona kann sich noch retten. Nadine nicht. »AAAAAAAAAAAAAAARHG!!!«, schreit sie wie am Spieß, berechtigt. Denkt unser Chemielehrer. Sofort eilt er zu ihr, weist an, dass sich ja alle Schüler von den vergossenen Chemikalien fernhalten sollen und begleitet unsere panische Nadine in den Nebenraum, zugunsten einer sorgfältigen Dusche. Kaum, dass die beiden den Raum verlassen, gackern alle los.

Ich hasse Nadine. Sophie hasst Nadine. Und Karin und Hanna sind auf unserer Seite. Auch Valentine kann Nadine nicht leiden. Aber der Rest? Was ist hier los?

Mona und Elise, die mal zur Abwechslung miteinander reden, lästern ein bisschen zu laut: »Das hat sie so was von verdient, die Schlampe!« Neugierig hoch zehn schleiche ich rüber zu Hanna, Karin und Sophie.

»Sagt mal, was geht eigentlich hier ab?!«, frage ich.

»Nadine hat es sich total mit Mona und Elise verscherzt auf meiner Party«, klärt Karin mich auf. Mit vorgehaltener Hand beugt sie sich zu meinem Ohr und wispert: »Sie hat nicht nur mit Konstantin geschlafen.«

Äh … was? Wir stecken alle vier die Köpfe zusammen. Sophie fährt genauso leise fort: »Du weißt doch, dass Elise und Mona beide hinter Jonas her waren … tja, am Ende hat sich Nadine mit ihm verzogen, nachdem sie es mit Konstantin getrieben hat.«

Jonas und Nadine?! Igittigitt. Ich hätte ihm echt mehr Geschmack zugetraut (der war doch voll ok, der Junge … bis jetzt).

»Tja und weil die Jungs sie jetzt für eine Bitch halten, haben die auch ihren Respekt verloren. Oder Mona hat denen was erzählt. Kann auch sein«, mutmaßt Hanna. Da trottet Nadine wieder herein, zurück auf den Platz, neben Mona. Muss ganz schön mies sein, neben einer Feindin zu sitzen, was, Nadine?

Der »Unfall«, der vermutlich keiner war, wie ich die Situation jetzt einschätze, hat so wie es aussieht, keinen großen Schaden bei Nadine verursacht (den sie nicht eh schon gehabt hätte). Unser Chemielehrer entlässt uns trotzdem vorzeitig in die Pause, und bittet unseren Klassenstreberschleimer Philipp, ihm beim Aufräumen zu helfen.

Ich beeile mich, so schnell wie möglich mein Pausenbrot beim Kiosk zu kaufen, um ja nicht Tobi beim Schlange-Stehen zu begegnen. Funktioniert nicht. Er steht da, einfach so, zusammen mit vier anderen Menschen. Und glitzert mich an, als unsere Blicke sich treffen. Ist er jetzt glücklich? Dann ist er dran, kauft sein Salami-Wecken, an dem er hoffentlich erstickt. Ich denke sehr wohl an Tobis Gefühle. Ich wünsche ihm Tod und Verderben. Was fällt ihm ein, mir meine Freundin wegzunehmen. Und was fällt ihr nur ein … Mir ist bewusst, dass ich da ein Stück weit darüber stehen muss. Ja, ich will nichts mehr von Tobi. Das stimmt. Ich darf also nicht eifersüchtig sein. Aber ich darf sauer auf Valentine sein. Sie hat mich angelogen, verraten und stellt einen Kerl über ihre Freundinnen. Das ist nicht ok. Ist doch okay, dass ich das nicht okay finde?

Weil ich nicht besonders scharf darauf bin zu erleben, wie Tobi reagiert, wenn er Valentine begegnet, fliehe ich raus zu meinem Lieblingspausenplatz. Er hat mich schon so oft gerettet. Damals, nachdem Nadine mich frisch abserviert hatte, verbrachte ich absolut jede Pause draußen auf den Kunstwerken. Dort ist man ungestört, keiner wirft einem dumme Sprüche an den Kopf. Man ist allein. Keiner reibt einem die Einsamkeit unter die Nase. Denke ich, bis ich feststelle, dass mir jemand meinen Lieblingsplatz weggeschnappt hat. Gerade will ich diese Person verscheuchen, als ich bemerke, dass dieses Etwas – Nadine ist, die schluchzend Töne von sich gibt wie eine Seekuh. Habe ich Mitleid? Nein. Oder?

Sie weint und weint und weint.

Ich hasse sie.

Oder?

Ich habe kein Mitleid, oder?

Auf ihrer Hand, da sind gelbe Punkte. Ein großes, quadratisches Pflaster lugt unter dem Ärmel ihrer grünen Sweaterjacke hervor. Die Säure hat ihre Haut verätzt. Es muss wehtun. Sie bemerkt mich: »Was willst du … ?«

Nichts. Von dir nicht. Ich will was von dem Stein.

»Tut es noch weh?«, antworte ich mit einer Gegenfrage.

»Was juckt dich das … «, schluchzt sie nur weiter. Und weiter. Ich habe kein Mitleid. Ich setze mich dazu.

»Wie geht’s Miriam?«

»Keine Ahnung … Was willst du von mir, Manu? Geh doch zu deinem Freund!«

»Ich habe keinen Freund.«

»Tu nicht so, jeder weiß, dass du seit München wieder mit Jan zusammen bist. Deine falsche Bescheidenheit kotzt mich an.«

»Ich habe keine Ahnung, wo du das her hast, aber ich bin nicht mit Jan zusammen.«

»Leugne es, so viel du willst, aber lass mich damit in Ruhe.«

Sie hasst mich. Alles, was sie sagt, trägt Verbitterung. Warum? Warum lasse ich mir das, immer wieder, gefallen? »Was ist mit dir und Jonas?«, frage ich. Bei Konstantin ist mir klar, dass dieses nächtliche Abenteuer wohl längst aus seinem Erbsengedächtnis entwichen ist. »Magst du ihn?«

Nadine starrt mich an wie Brot. »Manu, fick dich einfach. Fick dich.«

Endlich habe ich sie soweit, dass sie aufsteht, sich die Wimperntusche samt Tränen aus den Augen wischt und erhobenen Hauptes zurück ins Schulgebäude marschiert. Das ist Nadine, wie ich sie kenne.
 

»Nadine hat in einer Nacht mit zwei Typen geschlafen!«

»Ich habe erzählt bekommen, es waren sogar drei!«

»Nein, es war ein flotter Dreier!«

So oder so ähnlich hören sich die Gespräche an, wobei ich natürlich nicht jedem Wort lausche. In Religion machen wir eine kleine Exkursion zur nächsten Dorfkirche, um uns deutsches Kulturerbe reinzuziehen. Sprich: Hässliche Bilder aus Bibelgeschichten, die unfähige Künstler an Kirchenwände gepinselt haben. Mit dabei: Leider unsere Parallelklasse. Sogar Lilly und Chantal ziehen über Nadine her, als wäre sie über Nacht zur ersten Version von Valentine mutiert. Deshalb läuft Nadine ganz allein, während alle anderen in Grüppchen auf dem Fußmarsch zur Kirche wild umherbrabbeln.

Gut, ist vielleicht auch schwer, in einem Gespräch Fuß zu fassen, indem über einen selbst gelästert wird. Ich laufe neben meinem angeblichen festen Freund Janiel. »Die halbe Schule denkt, wir wären wieder ein Paar«, erzähle ich ihm.

»Ist das schlimm?«, entgegnet der Engel.

Ist das schlimm. Hmh. »Eigentlich … nicht.«

Nicht weit vor uns schlendern Tobi und Valentine händchenhaltend den Weg entlang. Tobi guckt sich ein paar Mal über die Schulter, als würde er jemanden suchen, den er nicht findet.

»Das klingt nicht sehr überzeugt«, hinterfragt Janiel. »Ist wirklich alles okay, Manu?«

»Ja.« Nichts geht über kurz und knackig.

Er ist immer noch skeptisch: »Das mit deiner Freundin tut mir leid, Manu. Aber so sind die Menschen.«

Mich beschleicht die leise Ahnung, dass Janiel gewusst hat, was für einen Charakter Valentine besitzt. »Dann verliebe ich mich am besten in einen Engel, was?«

Für einen Augenblick stockt er, erwidert dann: »Das ist keine gute Idee. So was ist noch nie gut ausgegangen.«

»Ach ja, wie geht das denn aus?«

»Mit dem Tod.«

»Hört sich verlockend an.«

»Manu, wenn du traurig bist, wegen Tobi und Valentine, ist das okay, das zu zeigen. Es ist okay, wenn du noch Gefühle für Tobi hast.«

»Ich habe keine Gefühle mehr für ihn!«, raste ich aus. »ICH BIN DRÜBER HINWEG!«

Ab jetzt denkt sich Janiel seinen Teil und schweigt.

»Das wolltest du doch?! Die ganze Zeit hast du gesagt, es ist besser für mich, wenn ich ihn vergesse. Das habe ich getan, und jetzt, wo er eine echte Freundin hat, soll ich mich wieder in ihn verlieben oder was?!«, halte ich dem Schweigenden vor. Der weiter schweigt, statt sich eine gute Antwort auszudenken. Und geht. Zu Nadine. Ausgerechnet. Ich sehe nicht mehr richtig. Ist Janiel nicht mein Schutzengel?! Warum regt er mich immer so auf! Warum, warum, warum! Warum regen sie mich so auf, alle beide.

Die Dorfkirche macht einen gar nicht so dörflichen Eindruck. Sie stammt aus der Gotik, in der die Menschen das Ziel hatten, ihre Sakralbauten so nah an den Himmel wie möglich zu bauen. Für Gottes Nähe. Das erklärt uns der Pfarrer, der heute unser Stargast ist. Der Kirchturm ist natürlich nicht so hoch wie der Kölner Dom oder gar das Ulmer Münster, aber im Vergleich zu allen anderen katholischen Schatzkammern in der Gegend, ist eindeutig erkennbar, dass diese Kirche von einem reichen Adligen mit Gotteswahn gesponsert worden ist. Ich hasse Kirchen. Habe ich schon fast immer, und während meinem Konfirmationsjahr hat dieser Hass sogar die Chance bekommen, sich noch weiter auszudehnen. Gott hier, Gott da. Warum bauen die hier nicht mal eine Laser-Tag-Halle. Oder ein Horrorkabinett. Das wäre eine gute Investition.

Ein klein wenig bin ich dann aber doch beeindruckt, als wir uns ein paar der Außensäulen genauer ansehen. Die ganzen Wasserspeier und Ornamente, die von Hand in Stein gemeißelt worden sind, spiegeln die Liebe der längst verstorbenen Kunsthandwerker wieder. Janiel redet immer noch mit Nadine, ich bin zu weit entfernt um ein Wort zu verstehen. Dafür stehe ich plötzlich nah genug bei Valentine und Tobi, um mitzubekommen, wie die zwei sich küssen. Einfach so. Mitten auf einer Schulexkursion.

Ein Pärchen, das sich kurz küsst – ist in der zehnten Klasse natürlich nichts Ungewöhnliches. Sie fallen gar nicht auf. Karin vielleicht schon, die kichert kurz, als sie vorbeiläuft. Aber sonst. Naja, was interessiert es mich.

Nichts.

Nichts.

Janiel redet immer noch mit Nadine.

Was interessiert es mich.
 

»Was hast du Tobi erzählt«, wollte Janiel von Nadine wissen. »Spuck’s aus, ich werde es sowieso herausfinden.«

»Nichts Neues«, antwortete sie mager und abweisend. »Dass du noch auf deine Ex stehst, wusste er schon, so wie jeder.«

»Das meine ich nicht, und das weißt du«, erwiderte er ernst.

Nadine lächelte. Es sah aus, als würde ihr gemeines Gesicht zerknittern. »Das ist privat und geht dich nichts an.«

Bevor Nadine abhauen konnte, legte Janiel ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, dass Tobi dir von Manus Geständnis erzählt hat. Was hast du danach zu ihm gesagt?«

»Hat Manu dir das erzählt?!«

»Privat.«

»Touché. Weil ich dich mag, verrate ich dir was: Ich habe zu Tobi nur gesagt, er soll Gleiches mit Gleichem bekämpfen für eine faire Quittung.«

»Das bedeutet, Tobi ist gar nicht mit Valentine zusammen … ?«

»Mal dir aus, was du willst, Jan.«

»Es freut dich sehr, dass Manu in Tobi verliebt ist und nicht in mich, was?«, stellte Janiel fest.

»Schön, dass man mir das ansieht«, fand Nadine.

»Du machst kein großes Geheimnis daraus«, entgegnete er.

In der Tat lächelte Nadine seit einer Weile selig vor sich hin. »Du bist eifersüchtig auf Tobi, stimmt’s«, unterstellte sie ihm. »Weil Manu ihn liebt und nicht dich.«

Janiel schwieg.

»Dann haben wir mal was gemeinsam«, behauptete Nadine.

»Stell dir vor, was du willst, Nadine«, sagte er daraufhin.

»Aber wir sind grundverschieden. Was du empfindest, ist keine Liebe. Liebe besteht aus Verständnis, Mitgefühl und Rücksichtnahme. Du hast nie etwas davon bewiesen, weder gegenüber einer Freundin noch sonst wem.«

»Woher willst du das denn bitte wissen?! Also echt … du kennst mich doch überhaupt nicht.«

»Jemand, der sein Selbstwertgefühl aufbaut, indem er anderen Schaden zufügt, ist zu diesen Eigenschaften nicht fähig.«

»Wow. Und du bist wohl ein Moralapostel, Klugscheißer.«

»Nenn mich wie du willst, aber glücklich wird dich das nicht machen.«

»Fick dich.«

Wie Janiel sich gedacht hatte, war Nadine einer der Auslöser für das große Theater, das für Manu veranstaltet wurde. Sie war es, die Tobi diesen dämlichen Ratschlag gegeben hatte. Was nach diesem Gespräch noch übrig blieb, war der schale Nachgeschmack von Wahrheit.
 

Es gibt eine Sache, für die ich Hanna heimlich hasse. Und mich selbst. Diese dämliche Einladung, bei und mit Valentine ihre neue Beziehung zu feiern. Leider kann ich nicht absagen, weil ich zu dumm dazu bin. Janiel hat aufgegeben, mir auszureden, hinzugehen. Meine Beine tragen mich von allein. Ich tue mir nicht weh. Ich bin über Tobi hinweg. Vielleicht sollte ich Valentine eine gute Freundin sein und ihr Tobi gönnen. Vielleicht. Wie auch immer diese rätselhafte Beziehung zustande gekommen ist. Vermutlich werde ich das eh gleich erfahren. Bei ihr. Ich komme extra später, um nicht mit Valentine allein sein zu müssen. Eine gute Idee, ich bin die Letzte, die auf der privaten Feier aufkreuzt. Hanna und Karotte öffnen mir erfreulicherweise statt unserer Gastgeberin die Tür: »Manu! Gut, dass du da bist, jetzt sind wir vollzählig!«

Als wir drei durch die Wohnung pilgern, begegnen wir Valentines Bruder Dominik im Gang. Es ist glasklar, dass die beiden verwandt sind. Also Valentine Version eins und er. Dominik nuschelt etwas in sich hinein, es klingt nicht sehr nett. Ich fühle mich noch unwohler als sowieso. Weil es mich interessiert und ich mich ablenken will, erkundige ich mich nach Karottes Befinden: »Geht es dir denn wieder gut?«

»Es war nur die eine Nacht schlimm, nachdem sie das Zeug aus mir rausgepumpt haben, wurde ich auch wieder entlassen. Ich schwöre, ich werde niemals Drogen nehmen!«

»Naja, das war ja nicht wirklich freiwillig … «, wendet Hanna ein.

»Haben deine Eltern was gesagt?«, will ich von ihm wissen. Karotte schüttelt den Kopf und grinst: »Ärztliche Schweigepflicht!«

»Du Glückspilz!«, sage ich und wuschele Karotte durch seine wilden, roten Haare. Hanna beäugt mich leicht skeptisch, zieht uns beide dann zum Rest der Meute ins Zimmer. Der Moment ist gekommen, Valentine und ich sehen uns in die Augen.

»Hallo, Manu!« Alle begrüßen mich, es bleibt kein Raum dafür, dass ich mich mit ihr streiten kann.

Es ist okay, dass Valentine mit Tobi zusammen ist. Sie muss mir nur sagen, dass es ihr leid tut, dass sie mich belogen hat. Nur das. Mehr will ich nicht hören. »Was möchtest du trinken, Manu? Wir haben Cola, Spezi, Apfelsaft, Mineralwasser … «, fragt sie stattdessen.

»Ähm, Apfelsaft, danke.« Ich will schließlich nichts mehr von Tobi. Seit München.

»Bitte.« Sie schenkt mir ein, reicht mir das Glas. Will sie sich mit mir versöhnen? Ich weiß es nicht. Ich weiß das nie. Ich bin so schlecht darin, so etwas zu erraten.

Wie bei unserem Mädchenflohmarkt bilden wir einen Sitzkreis auf Valentines Zimmerteppich, nur mit Karotte diesmal. Mir leuchtet noch nicht ganz ein, warum er als einziger Junge dabei ist, aber gut. Ich habe schließlich nichts gegen unsere Karotte.

»Alsooo wie ich weiß, haben wir gleich zwei Pärchen heute zu feiern! Valentine, du musst unbedingt genau erzählen, wie das mit Tobi und dir gekommen ist!«, plappert Sophie drauf los und ich frage mich, wer das zweite Pärchen sein soll. Etwa Hanna und Karotte?! Die Zwei mampfen total entspannt die Salzstangen, die Valentine unter anderem als Snacks bereitgestellt hat (ich habe doch keinen Salat mitgebracht, weil … Salat kein guter Snack ist).

»Wir nehmen es dir auch nicht übel, dass du zuerst geflunkert hast«, betont Karin charmant und zwinkert dabei. Anders als ich es je erwartet hätte, bleibt Valentine locker, anstatt verunsichert zu werden: »Najaa, Tobi hat mich irgendwann in der Schule angesprochen vor zwei Wochen. Dann haben wir öfter geredet … und auf der Party hat er mich nach Hause gebracht, und mich dann gefragt, joa.«

»Und wiiiie hat er das gemacht?«, feixt Hanna. »Spar die Details nicht aus, Valentine!«

Doch, bitte tu das.

»Ähm, so viel gibt es da wirklich nicht … «

»Ok gut, dann fahr du mal fort, Manu. Wie sind du und Jan wieder zusammengekommen?«, wechselt Sophie sofort das Thema. Völlig überfordert glotze ich in die Mädchen-Karotten-Runde. Fast alle halten ihr Getränk gespannt mit den Händen umschlossen. Ich glaube, ich höre Grillen zirpen. Im Herbst.

»Ich … bin Single«, spreche ich die eiserne Wahrheit aus. Die keiner glaubt.

»Ach komm schon, Manu! Es weiß doch jeder. Das mit Jonas hat eh keiner ernsthaft geglaubt«, stöhnt Hanna, die übrigens neben mir sitzt. Vor über einem Monat noch habe ich mich wirklich darüber gefreut, dass die Mädels meine Lüge geschluckt hatten. Dass sie dachten, Jan wäre mein fester Freund. Aber heute …

»Wirklich nicht Hanna. Was Tobi da erzählt hat, ist eine Lüge. Jan war nie in München«, behaupte ich so ernst wie ich kann.

»Warum sollte Tobi da lügen, das ergibt keinen Sinn … «, wirft ausgerechnet Valentine ein.

»Ich weiß auch nicht, frag deinen Freund doch.« Allmählich werde ich sauer. »Ich habe nichts mit Jan! Wirklich!«

Die Stimmung kippt, ich habe den Abend offiziell ruiniert. Karotte versucht, die Feier zu retten: »Deine Muffins sind wirklich lecker, Karin! Was ist da drin?«

Ich stehe auf und gehe einfach.

Es war mal wieder eine super Idee von mir, auf diese Feier zu gehen. Janiel hat es mir ja prophezeit … Jetzt habe ich es mir irgendwie mit allen verscherzt. Mit absolut allen. Draußen auf der Straße ist es stockdunkel, die spärliche Beleuchtung hätte man auch weglassen können.

Mir ist alles so was von egal. Mama ruft an, wo ich denn bleibe. Ich drücke sie weg, egal. Ich trete in eine Pfütze. Egal. Ich stolpere über die Bordsteinkante. Egal. Ich bin ein Pechvogel, der fliegen kann. Auf die Fresse. Aber egal.

Nadine hasst mich.

Egal.

Valentine hasst mich.

Egal.

Hanna, Karin, Sophie und Karotte hassen mich.

Egal.

Tobi hasst mich.

Egal.

Mein Vater ist tot.

Egal.

Ist das da vorne Janiel?

Egal.

Ist er nicht.

Auch egal.

Ich habe keine Gefühle mehr, mir ist alles egal.

Auch, dass da aus heiterem Himmel Tobi steht. Was er hier sucht?

Mir doch egal. Dass er mir winkt, auf mich zukommt?

Mir doch egal. Dass er mich anspricht, in einem süß-sanften Ton?

Mir doch egal.

»Manu, ich muss unbedingt mit dir reden«

» … «

»Valentine ist nicht wirklich mit mir zusammen.«
 

Früher. Ich sitze auf Kunst, bin allein und abserviert. Nadine hasst mich und keiner weiß es, außer mir. Sie zeigt es verdeckt, zeigt ihre böse Seite niemandem, außer mir. Geschickt fädelt sie es ein, mich zu piesacken. Sie sorgt dafür, dass ich mich nicht in die Klassenliste eintragen kann. Dass mich Arbeitsblätter nicht an meinem Platz erreichen. Fragt fiese Fragen nach einem Referat. Sie erzählt herum, dass ich mich nicht rasiere. Fußpilz habe. Läuse. Sachen verschwinden, ich kaufe mir zum dritten Mal in der Woche einen neuen Radiergummi. Manchmal liegt Dreck auf meinem Platz. Radiergummifussel, eine zerknüllte Bäckerstüte oder Papierschnipsel. Oder Kaugummis. Es sind die kleinen Dinge, die mich fertig machen. Nicht die großen.

Der Junge aus der Parallelklasse weiß das nicht. Ich bin für ihn das Mädchen mit dem toten Vater, dessen Fahrrad gestohlen wurde. Er hat Mitleid, setzt sich zu mir.

Das erste Mal im Juni.

Das zehnte Mal im Juli.

Das dreißigste Mal im Oktober.

Er hat auch nicht viele Freunde in der Klasse.

Ich backe Kuchen, wir essen Kuchen. Er sagt, er liebt meinen Kuchen. Wir reißen Witze über Lehrer, über Mitschüler, über das Leben. Er sagt, er liebt meinen Humor. Wir sind zu jung für mehr als das, oder?

Alles ist in Ordnung zwischen uns. Wir sind zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Wir sehen uns mehr, wir sehen uns weniger. Auf diesem Kunsthaufen von Steinen.
 

»Liebst du mich noch?«

Tobi sieht mich an, mit diesem ollen Hundeblick.

Ich breche in Tränen aus.

Phönix-Syndrom

Heulend werfe ich mich in Tobis Arme, gebe ähnliche Geräusche von mir wie Nadine neulich. Ich schmiege mich an ihn, darf ihn endlich berühren. Darf endlich bei Tobi sein, der Person, die ich liebe. Er streicht mir sanft über den Rücken, in seiner Umarmung kann ich seinen Herzschlag spüren. Es ist nass-kalt, wie es sich für den Herbst gehört und mittendrin sind wir, in einer wohlig-warmen Blase. Ich liebe ihn so sehr. Sein mattbraunes Haar, seine helle Haut, seine raue, nicht allzu tiefe Stimme, die der Stimmbruch wenig verändert hat. Die Art, wie er mich ansieht, wie er grinst, wie er mir Dinge erzählt, von seinem kleinen Bruder, seiner Familie, dem Sportverein, dem Ferienurlaub, der letzten Klausur, dem Deutschlehrer, den er so sehr hasst, der Therapie. Er ist der Junge von nebenan, der mir ein Taschentuch gab. Ein Fahrrad. Ein neues Herz.

Valentine hat Recht gehabt. Ich habe Tobi wehgetan. Mit Absicht. In dem Moment, indem ich meinen Klassenkameraden vorlügen wollte, ich hätte einen Freund – habe ich keine Sekunde lang an Tobis Gefühle gedacht. Stattdessen habe ich mir gewünscht, dass es ihm wehtut, mich mit Jan zu sehen. Gewünscht, dass es ihm schlecht geht, dass er eifersüchtig wird.

Wir lösen uns voneinander, und während wir das tun, verwandelt Tobi sich. Sein Gesicht verformt sich, seine Augen färben sich goldgelb, bernsteinfarben, die Haare blond. Er wächst ein Stück. Janiel steht vor mir.

Ich kann es nicht fassen. Es ist Janiel.

Wie ein Wasserfall fange ich an, Tränen zu vergießen. Breche in mir zusammen. Sinke auf die Knie. »Warum hast du das gemacht … ?«

Tobi liebt mich gar nicht.

Stimmt.

»Warum hast du das gemacht … ?«, wiederhole ich.

Janiel hat mich hinters Licht geführt.

»Wie konntest du nur … !«

Statt zu antworten, geht er in die Hocke und umarmt mich: »Lass es raus.«

Wütend prügele ich mit den Fäusten gegen seine Brust, doch egal wie hart ich zuschlage, es scheint ihm nichts auszumachen. Im Eifer pfeffere ich ihm eine. Satte. Ohrfeige. Es klatscht, die Straße ist so menschenleer, es hallt durch die Gegend. Erst jetzt wird Janiel davon wachgerüttelt. Mit großen Augen mustert er mich. Ja, auch Manu kann austicken. »Ich hasse dich, Janiel! Ich hasse, hasse, hasse dich! Geh wieder dahin zurück, wo du hergekommen bist, ich will dich nie wieder sehen! Lieber sterbe ich!«, brülle ich ihn erzürnt an. Janiel kann gar nicht glauben, was ich da zu ihm sage. Ihm dämmert langsam, dass ich es ernst meine. Er hat’s nämlich geschafft. Ich hasse mein Leben offiziell.
 

Am nächsten Werktag schwänze ich die Schule, um einen iPod zu kaufen. Und Mehl. Wir haben keins mehr da. Natürlich dackelt mir auf Schritt und Tritt mein Todfeind hinterher. Immer noch nicht hat er mir erklärt, was die Aktion sollte und eigentlich will ich es auch gar nicht mehr wissen. Jetzt ist mir wirklich alles egal, bis auf eines: »Welche Farbe soll Eiaels iPod haben?«, frage ich Janiel.

»Nimm den lilanen. Er steht auf ausgefallene Sachen.«

Ja, so hätte ich Schneewittchen mit seinem Filzmantel auch eingeschätzt. Das ist der einzige Dialog, den ich an diesem Tag mit Janiel führe. Nachdem ich mein ganzes Geld im Elektronikmarkt für ein Fabelwesen verpulvert habe, besuche ich noch den Supermarkt, um den letzten Rest aus meiner Geldbörse zu kratzen und mache mich dann an die Arbeit.

Ich habe einen Plan. Der viel Mehl und Zucker beinhaltet. Während ich die Küche auf den Kopf stelle, hilft Janiel mir diesmal nicht. Entweder ich mache alles richtig, oder ich habe es geschafft, ihm durch meine Ignoranz so viel Angst einzuflößen, dass er es einfach nicht wagt, mich zu belästigen. Nach vier Stunden Küchenarbeit habe ich es geschafft, einen Schoko- und einen Grüntee-Kuchen vom Feinsten zu zaubern. Es ist eine leichte Ofengeburt, der Teig ist gut fest geworden und muss nur noch abkühlen, bevor die Vollmilchschokoladenglasur die Erlaubnis bekommt, die Meisterwerke zu ummanteln. Backen? Kann ich!

Konnte ich eigentlich schon immer ganz gut – Warum gibt’s das nicht als Schulfach am Eberhardt-Frank-Gymnasium?! –, abgesehen davon, dass ich meistens noch irgendwas dabei zerscheppert habe, was allerdings eher an meinem Pechvogeldasein gelegen hat, als an meinen Backkünsten. Mir fällt auf, dass ich schon lange nichts mehr kaputt gemacht habe. Und auch sonst keine Missgeschicke in puncto Sachschäden mehr passiert sind. Ob das wirklich Janiels Verdienst ist, kann ich so nicht beantworten. Und selbst wenn, könnte ich ihm nie dafür danken. Jetzt nicht mehr.

Eiael, der Dreckssack, schneit zehn Minuten später als abgemacht herein. Das reibe ich ihm unter die Nase: »Du bist zu spät, Schneewittchen, schon mal was von Manieren gehört?«

»Darf ich dich daran erinnern, wer mich demletzt versetzt hat, Fräulein Manuela?«, entgegnet der okkulte Engel nur und spannt seinen schwarzen Regenschirm zu, den er dabei hat, weil es draußen aus Kübeln gießt. Der Herbst, der Herbst ist da. Mit jedem Tag wird es kälter. In letzter Zeit bin ich sehr froh, dass meine Mutter tagsüber arbeitet. Sie wäre bestimmt recht unfroh, wenn sie wüsste, dass ich in ihrer Küche Teepartys veranstalte. Oder plane, mich umzubringen.

Schneewittchen bugsiert sich am Küchentisch, bereits gierig auf das im Karton verpackte kleine Geschenk (mit Geschenkpapier!) und auf meine Backkreationen starrend. »Fräulein, diesmal hast du dich aber übertroffen! Womit habe ich das bloß verdient!«

»Das ist eine gute Frage«, plappert Janiel leise. Ich trage die Teekanne und Tassen zu den sitzenden Herren herüber und geselle mich dazu. Zucker steht auf dem Tisch. Servietten. Eine kleine Milchkanne.

»Dann können wir mal anfangen!«, verkünde ich freudig. »Aber bevor wir das tun, habe ich eine kleine Bitte.«

»Nur zu«, sagt Eiael mit einer flotten Handbewegung nach oben, während Janiel sich nicht dazu äußert.

»Ich möchte Janiel bitten, uns allein sprechen zu lassen«, fordere ich, ihm tief in die Augen schauend. Statt nachzugeben, wird er leider eher aggro: »Vergiss es!«

»Aber Johann … «, wendet Eiael ein. »DU weißt doch, ich würde unserer Möchtegern-Madeleine nie etwas antun.«

Eigentlich habe ich immer noch so eine gaaaanz leichte Kratzernarbe vom letzten Mal am Hals, als Eiael meinte, er müsste da mit einem Messer reinritzen. Aber meistens verdecken das meine Haare. »Nein Manu, ich lasse dich ganz sicher nicht mit dem da alleine«, spricht Janiel sein letztes Wort.

»Nur fünf Minuten!«, versuche ich zu verhandeln, obwohl klar ist, dass das bei Janiel zwecklos ist. Gut, dann eben auf die harte Tour.

»Eiael?« Ich sehe ihn fragend an. Er versteht.

»Tut mir leid, Janiel, aber ich kann so einer liebreizenden Bäckerin keinen Wunsch abschlagen!«, feixt Schneewittchen.

Yes! So ein cooler Typ einfach nur. »Du wirst erst staunen, wenn du dein Geschenk aufmachst!«, werfe ich noch ein.

Prompt erhebt sich Janiel vom Tisch und klopft einmal mit den Fäusten darauf: »Du wirst doch nicht …«

Da schnippt Eiael mit den Fingern, und urplötzlich befinden er und ich uns nicht länger in Mamas Küche. »Was ist das hier für ein Raum?!«, wundere ich mich laut.

»Das ist kein Raum, sondern eine andere Ebene. Wir sind nur im Bewusstsein hier.«

»So was geht?!«, rufe ich aus. »Das ist ja der Hammer!«

»Worüber möchtest du mit mir sprechen, Fräulein Manuela?«, schneidet der okkulte Engel das Thema überhaupt an.

Ich muss erstmal tief durchatmen. Dieser Schritt ist unwiderrufbar. »Eiael, ich möchte dich bitten … Janiel zurück in den Himmel mitzunehmen.«

»Oh … «, staunt er zunächst. »Oh … «

Dieser Galaxie-Bewusstseins-Raum ist unfassbar schön. Um uns herum glitzern überall Sterne, Milchstraßen und andere Galaxien. Das Funkeln und Leuchten könnte mein Herz berühren, wenn es noch da wäre. Eiael räuspert sich: »Hrrm. Also das kann ich nicht machen. Ich habe gerade eben Johann versprochen, dir kein Haar zu krümmen.«

»Tust du ja auch nicht! Du nimmst nur deinen Freund wieder mit, und ihr könnt beide glücklich wieder auf eure Gottesdienste gehen!«

»Dir ist bewusst, dass du stirbst, sobald Johann die Erde verlässt?«

»Ja. Und.«

»Hör mal, … du bist zu jung, um zu sterben.«

Ich hätte nicht gedacht, dass Eiael so vernünftig ist.

»Ich habe dir doch Kuchen gebacken … und einen iPod gekauft … «, nuschele ich auf die Mitleidstour.

»Oh! Das Geschenk ist also der iPod! Ich freue mich wirklich, vielen Dank, Fräulein!«, bedankt er sich. »Aber dafür kann ich dich nicht umbringen.«

»Was muss ich tun, damit du Janiel mitnimmst?«, will ich wissen. Eiael seufzt: »Denk bitte nach, bevor du so eine Entscheidung triffst.«

Ich habe nachgedacht. Mein Leben ist scheiße. Es wird nicht besser. Also warum noch Zeit vergeuden.

»Tu das Johann nicht an.« In Eiaels Stimme zittert eine leise Angst.

»Ich bin nur ein Job, keine Sorge«, argumentiere ich dagegen.

»Fräulein, das glaubst du doch selbst nicht.« Er starrt mich an, aber ich weiche seinem Blick zur Seite aus. »Und tu das vor allem nicht deiner Familie an.«

»Ich habe nur noch meine Mutter. Und die hat keinen Grund, stolz auf mich zu sein.«

»Hörst du überhaupt was du da sagst? Du HAST eine Mutter. Natürlich ist sie stolz auf dich.«

Ich fange an zu weinen. »NIEMALS IST SIE STOLZ AUF MICH. INSGEHEIM WÄRE ES IHR LIEBER, ICH WÄRE GESTORBEN ANSTATT PAPA!«

Kopfschüttelnd schwebt er auf mich zu, nimmt mich in den Arm. »Ich bin mir sicher, dass deine Mutter dir nicht die Schuld dafür gibt.«

»Aber ich gebe mir die Schuld dafür!«, knirsche ich hervor. »Ich will sterben, Eiael!«
 

So saß Janiel nun da, neben zwei schlummernden Körpern in Frau Liedtkes Küche. Verdammt sei Eiael. Es war Janiel unmöglich, den beiden zu folgen. Eiael könnte eine eigene Ebene erschaffen haben, auf die Janiel keinen Zutritt hatte. Der Strahlende wusste, er war zu weit gegangen, in dem Moment, in dem Manuela ihm den Schlag ins Gesicht verpasst hatte. Die Entschlossenheit, die in ihren Augen gelegen hatte, ließ Janiel erkennen, dass er einen Fehler gemacht hatte. Andererseits auch nicht, denn endlich hatte sie ihren aufgestauten Gefühlen Luft machen können. Der Engel kramte das Grundregelbuch für angehende Schutzengel hervor.
 

Vorwort: Engel und Menschen.

Kapitel Eins: Der Kodex.

Kapitel Zwei: Mensch und Verstand.

Kapitel Drei: Zusammenarbeit mit Sylphen.

Kapitel Vier: Gebrauch des Pentagramms.

Kapitel Fünf: Der Schutzengelpass.

Kapitel Sechs: Gos & No-Gos.

Kapitel Sieben: Die Hauptaufgaben eines Schutzengels.

Kapitel Acht: Psychische Erkrankungen und Umgang damit.

Kapitel Neun: Physische Erkrankungen und Umgang damit.

Kapitel Zehn: Wann die Karma-Engel informiert werden sollten.

Kapitel Elf: Auf- und Abstieg.

Kapitel Zwölf: Über geborene und ungeborene Seelen.

Kapitel Dreizehn: Abgabe an Todesengel.

Kapitel Vierzehn: Richtlinie Akasha-Chronik.

Kapitel Fünfzehn: Missbrauch und Folgen.

Kapitel Sechszehn: Andere Schützlinge.

Register: Definitionen und Begriffe

Nachwort: Handeln in Gottes Namen.
 

Ein ganz schön fettes Taschenbuch, für ein Taschenbuch. So viele Regeln, die es zu befolgen galt. In Gottes Namen. Darüber könnte er jetzt lachen. Janiel schlug das sechste Kapitel auf:
 

Go: Verwandlung in ein Haustier, einen alltäglichen Gegenstand, Glücksbringer, Wohnausstattung

No-Go: Missbrauch der menschlichen Gestalt, um ein zweites Erdenleben zu genießen

Go: Geheimhaltung gegenüber der gesamten Menschheit

No-Go: Offenbarungen gegenüber selbstauserwählten Menschen

Go: Den Schutzengelpass bei sich führen

No-Go: Den Schutzengelpass verlieren
 

Es war lustig, dass das Grundregelbuch wirklich so verfasst worden war, dass auch der Dümmste die Regeln leicht befolgen konnte. Dennoch hatte Janiel es geschafft, ungefähr fünfzig Prozent dieses Kodexes zu brechen. Er war nun mal kein echter Schutzengel. Er war einfach nur ein Typ, der gut darin war, Musik zu machen. Keinen anderen Grund konnte er sich vorstellen, weshalb man ihn für die Position der Macht im Engelschor auserkoren hatte. Immerhin spielten die anderen Chormitglieder oft mehr schlecht als recht. Dass Camael ausgerechnet ihn eines Tages als Beschützer auf die Erde senden würde, wäre Janiel im Traum nicht eingefallen. Janiel blätterte weiter, schlug Kapitel Acht auf.
 

Psychische Erkrankungen sind schwere Bürden im Leben eines Menschen. Durch Depressionen, Borderline-Störungen, Ess- und Verhaltensstörungen, Burn- und Bore-Out, Demenz, Selbstverletzendes Verhalten, Suizidgedanken und mehr werden den Schutzengeln ihre täglichen Aufgaben zusätzlich erschwert. Darum geben wir hier ein paar Richtlinien für den Umgang mit einer psychisch erkrankten Person:

1. Meiden Sie die Gestalt des Menschen. Eine psychisch erkrankte Person könnte zwar einen Anker in Ihnen finden, Sie sind jedoch nicht befugt, eine Beziehung zu Ihrem Schützling auszuleben. Sorgen Sie dafür, dass Sie im Verborgenen der Person weiterhelfen können, indem Sie z.B. die Gasleitung zudrehen und blockieren, falls sich Ihr Schützling damit umbringen möchte, bevor seine Zeit abgelaufen ist.

2. Führen Sie keine magischen Wunderheilungen durch. Sie sind nicht Jesus. Der Missbrauch des magischen Pentagramms ist streng verboten, die Magie darf nur in Notsituationen eingesetzt werden, um die Akasha-Chronik zu wahren. Wenn Sie sich nicht sicher sind, ob Sie die Magie in Ihrem Fall einsetzen dürfen, so kontaktieren Sie Ihren Vorgesetzten Karma-Engel.

3. Geben Sie der Person den Anstoß zur Selbstheilung. Der freie Wille des Menschen ist dessen größte Kraft. Durch entsprechende Hinweise können Sie als Schutzengel dafür sorgen, dass sich die Laufbahn Ihres Schützlings wieder einrenkt. Sie können dafür sorgen, dass Ihr Schützling, je nachdem, für was dieser besonders empfänglich ist, auf genau das Medium stößt, das in ihm den gesunden Überlebenswillen weckt. Platzieren Sie Bücher, Flyer, Plakate und Schilder um. Sie kennen Ihren Schützling am besten und wissen in der Regel, was er braucht, um zurück auf den rechten Weg zu finden.

4. Lassen Sie Ihrem Schützling seinen freien Willen. Als Schutzengel dürfen Sie lediglich den Anstoß zur Veränderung geben. Die Menschen unterstehen nur sich selbst, ihrem freien Willen, den Gott ihnen gegeben hat. Sie dürfen Ihren Schützling also niemals erdrücken oder ihn zu Taten zwingen, die nicht seinem Einverständnis entsprechen. Das gilt ebenso für den Fall, wenn der Mensch sich selbst schaden würde. Wenn es der Wille des Menschen ist, dürfen Sie sich nicht einmischen.
 

Jap, Janiel hatte ziemlich viele Regeln gebrochen.
 

»Fräulein, ich lasse dich nicht sterben. Ich werde dir Johann nicht wegnehmen«, protestiert Eiael mit tiefer Stimme. »Beruhige dich erstmal.« Immer noch schluchze ich, wische mir mit den Ärmeln abwechselnd über das Gesicht, um vor lauter Tränen noch Luft zu bekommen. »Bitte, Eiael, bitte! BITTE!«

Schneewittchen verzieht keine Miene.

»Wenn du mir nicht hilfst, helfe ich mir eben selbst dabei!«, fauche ich ihn schließlich an.

»Wenn das dein Wille ist, kann ich dich davon nicht abhalten«, sieht er ein. »Aber mach dich darauf gefasst, dass Johann dich nicht gehen lassen wird.«

»Ist mir egal. Irgendwie werde ich es schaffen.« Mich umzubringen.

»Lass mich dir, bevor wir in die materielle Ebene zurückkehren, noch eines erzählen.«

»Ich will keinen Vortrag über meine Eltern hören.«

»Das meine ich nicht.«

»Und was dann … ?«

»Ich will dir von Johann erzählen. Wie er war, als Mensch, bevor er das Engelsamt antrat.«

»Okay … « Wenn es schnell geht.

»Waren eigentlich wirklich alle Engel mal Menschen?«

»Ja.« Eiael malt mit dem Zeigefinger ein Rechteck in die Luft. Als sich die Pfade schließen, entsteht ein Fenster, durch das wir eine völlig andere Welt beobachten können. Fast wie bei einem Fernseher. »Das hier sind meine Erinnerungen. Siehst du das Backsteinhaus da vorne? Das gehörte Johanns Vater. Er war recht vermögend, ein Mittelständler, darum konnten sie sich den Bau leisten.«

Das zinnoberrote Backsteinhaus erweckt einen freundlichen Eindruck. Kinder toben auf der Straße davor, neben einer Bauernscheune. Dahinter kündigt sich eine Feldwiese an. Im Garten des Hauses wuchert es vor wilden Blumen, die einige Mädchen abreißen und sich gegenseitig in die Haare flechten. Die Jungen auf der Straße spielen Fußball mit einer Lederkugel. Vom letzten Regen liegen noch ein paar Pfützen an den Rändern, auf einmal schauen wir direkt in eine davon hinein. Wir erkennen das Spiegelbild eines Jungen, der Schneewittchen ähnelt. Eiael kommentiert: »Das bin übrigens ich.«

»Du sahst da ja schon genauso gut aus wie jetzt!«, bemerke ich nebenbei. »Ich dachte, das kommt vom Engeldasein?«

»Nein. Ich war schon immer schön.«

Der Junge schaut aus der Pfütze auf, wir verfolgen die Welt aus seiner Sicht. Er läuft auf die anderen Knaben zu. Auf einen bestimmten. Es ist ein junger Janiel. Die Kinder sind allesamt um die zehn bis dreizehn Jahre alt. Trotzdem kann ich Eiael als auch Janiel eindeutig identifizieren. Janiel, nein, Johann ist ein wahnsinnig süßer Junge. Er grinst Eiael wie ein Honigkuchenpferd an, sagt: »Na Emil, Revanche gefällig?«

»Johann und ich waren aus derselben Nachbarschaft. Wir gingen auf dieselbe Schule. Das dahinten sind seine drei Schwestern. Die zwei großen da sind Marie und Katharina, die Kleine da, das ist Madeleine.«

Passend zu seiner Erzählung treten die Mädchen vordergründig in unser Blickfeld. Johanns Schwestern sind genauso schön anzusehen wie er, sie strahlen die Liebe aus, die glückliche Kinder von ihren Eltern bekommen. Marie und Katharina haben beide Janiels goldblonde Haare, die eine ist einen Kopf größer als die andere, doch beide sind schlank und rank. Als ich Madeleine mustere, trifft mich der Schlag.

Sie sieht aus wie ich.

»Ich denke, du weißt jetzt, warum ich dich Möchtegern-Madeleine nenne.« Absolut. Ich bin Janiels äh Johanns Schwester wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie war also seine Schwester. Ich dachte immer, Madeleine wäre Janiels Tobi …

Das heißt, seine Schwester ist gestorben.

Janiel und ich, wir sind uns ähnlicher, als ich dachte. Ich realisiere, dass jedes Mal, wenn Janiel mir ins Gesicht geblickt hat, seine tote Schwester in mir sah. Jedes verdammte Mal. Diese traurigen Augen. Diese Blicke. Jeden verdammten Tag, den er bei mir war, hat er in mir das Gesicht seiner Schwester wiedererkannt. Mir ist noch mehr zum Heulen zumute. Was muss das für ein Gefühl sein. Unerträglich. Mir wird klar, warum sich Janiel oft so beherrschend aufgeführt hat. Er tat es wie ein großer Bruder.

»Johann lernte schon früh Klavier und Geige spielen, weil auch Katharina und Marie sehr musikalisch waren. Schließlich schaffte Johann es mit seinem Können auf eine renommierte Musikschule. Dafür wechselte er auf das Internat. Wir sahen uns nur noch in den Ferien. Dafür sah ich Madeleine öfter, wir vermissten Johann beide.« Eiael zeigt mir, wie Johanns ganze Familie in der Wohnstube zusammensitzt, Johann ein Stück auf dem Klavier vorspielt und alle gespannt lauschen. Klatschen. Johanns Mutter sieht nett aus, sie ist ein bisschen mollig, aber das macht nichts. Die langen blonden Strähnen hat sie ganz klar an ihre Kinder weitervererbt, genau wie ihre klaren, blauen Augen, die Johanns große Schwestern beide abbekommen haben. Johann ähnelt mehr seinem Vater, der im Moment des Applauses nach Hause kommt. Sie haben dieselbe große, schlaksige Statur mit den breiten Schultern und teilen sich – leider – diesen verbitterten Gesichtsausdruck. »Sein Vater hatte finanziell einige Probleme und wurde schließlich arbeitslos. Ich wollte Johann irgendwie helfen, aber in dem Alter war das nicht einfach. Vor allem, als seine Mutter erkrankte.«

»Was hatte sie denn?«, will ich wissen.

»Krebs«, antwortete er. »Bösartig.«

Ich beiße mir auf die Lippen. Also nicht nur Madeleine …

Eiael erzählt weiter: »Johann musste mit sechzehn von dem teuren Internat wieder herunter und arbeiten gehen, um die Familie mitzuernähren. Sein Vater war leider ein Trunkenbold und zu nichts zu gebrauchen. Das volle Drama also … Gott sei Dank fanden Marie und Katharina beide gute Gatten, finanziell gab es danach weniger Probleme. Aber dann habe ich Mist gebaut.«

Das Fenster verschwimmt und klärt sich, wir sehen in eine Scheune hinein. Das milde Licht einer Kerze erhellt den Raum mager. Ganz undeutlich erkennt man eine Gestalt, die auf uns zugeht. Es scheppert. Augenblicklich lodert es überall, das Stroh hat Feuer gefangen. Die Scheune brennt. Der Junge und die Gestalt schreien. Schrill. Schriller. Das Fenster schließt sich.

»Das ist das Ende meiner Erinnerungen«, erläutert der blasse Engel, der einst ein Mensch war. »Ich starb in dieser Nacht zusammen mit Madeleine im Alter von sechzehn Jahren, sie von vierzehn. Es war meine Schuld.«

»Und dann … ?«, flüstere ich.

»Dann hat sich Johann erhängt.«

Mir gefrieren die Adern. Er hat es getan.

Janiel hat sich als Mensch umgebracht.

Er hat es getan.

»Ich denke, du verstehst, was ich dir damit sagen will«, behauptet Eiael und hat Recht. Ich verstehe es. Ich verstehe Janiel.

Eine halbe Ewigkeit befinden wir uns nun in dieser Dimension, in der die Zeit still zu stehen scheint. Schweigen. Im Geiste erinnere ich mich zurück an meinen Vater, an sein Lachen, wie er mit mir auf Streife ging, um mir die Welt zu erklären.

Er hat mir nie erklärt, was es bedeutet, für jemanden zu sterben.

»Ich werde leben.«

Diese Ansage scheint Eiael nicht im Geringsten zu überraschen.

»Nicht für mich. Ich werde es für andere tun.«

»Du glaubst mir jetzt also, dass deine Mutter dir nicht die Schuld am Tod deines Vaters gibt?«

»Nein. Ich hasse mich immer noch. Aber so sehr ich meinem Leben auch entfliehen möchte – ich glaube, ich muss da durch. Nicht wegen mir. Die ganze Zeit dachte ich, ich habe Pech. Dass mir deswegen diese ganzen, beschissenen Sachen passieren. Aber das Pech spielte dabei überhaupt keine Rolle. Es ist nicht wichtig, was mir passiert, sondern, wie ich damit umgehe. Dass ich niemanden im Stich lasse. Ich würde so gerne mit Janiel schimpfen.«

»Das Gefühl kenne ich.«

»Dieser Idiot!«

»Dieser Idiot.«
 

Fernab im sechsten Himmel entspannte sich der Karma-Engel Camael auf einer Wolkenliege und starrte ins tiefe Blau hinein. Seine Arbeit war so ermüdend, ständig wurde seine Sylphe von Schutzengeln geordert, die zu blöd waren, das Grundregelbuch zu lesen. Es gab so gut wie nie einen Fall, in dem er tatsächlich eingreifen musste. Umso mehr wunderte Camael sich, als sein treuer Kollege Azrael aus der Todesabteilung ihm mal wieder einen Besuch abstattete.

»Meister Camael, ich habe die Akasha-Chronik überprüft, weil wir Zahlen-Unstimmigkeiten in unserer Rechnungsabteilung haben. Der Schützling, dessen Tod wir verschoben haben … muss jetzt sterben.«

Mord an Manu

Als Janiel für ein Meeting in den sechsten Himmel gerufen wurde, dachte er sich nichts Böses dabei. Großer Fehler. Ahnungslos spazierte er die Himmelsleiter hinauf, beobachtete dabei, wie Wetterengel hektisch umherflitzten, um ja den täglichen Wetterplan einzuhalten, den der zuständige Karma-Engel aufstellte.

Camael wollte Janiel in der Bibliothek treffen. An dem Ort, an dem die Akasha-Chronik aufbewahrt wurde. Die Chronik bestand aus Billionen von Büchern. Diese beinhalteten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines jeden Menschen, der je existiert hatte und existieren wird. Sie verkörperte vor allem eines: Gottes Plan. Die Richtlinie, an die sich alle Engel halten müssen.

Allein das Prinzip dahinter war Janiel zuwider. Gottes Plan beinhaltete ihm zu viele unangenehme Tatsachen. Hungernde Kinder. Kriege. Seuchen. Naturkatastrophen. Alles Teile von Gottes tollem Plan. Gott liebte alle Menschen, er war für alle da. In Wirklichkeit waren es Angeloi, die ständig die Regeln brachen, die tatsächlich für die Menschen da waren. So wie er. Janiel erwartete eine Standpauke von Camael deswegen. Womöglich war der Meister des Karmas dahinter gekommen, dass Janiel geheime Wahrheiten über die Engelswelt an einen Menschen weitergegeben hatte. Es war seit dem Zeitpunkt seiner Enttarnung klar gewesen, dass er irgendwann die Konsequenzen des Regelbruchs zu spüren bekommen würde. Mit diesen Vorahnungen traf Janiel in der Bibliothek ein. Jedoch wartete Camael nicht alleine auf ihn. Azrael stand mit seinem schwarzen Notizblock daneben. Der Todesengel kam Janiel vor wie ein Anwalt, in seinem tiefschwarzen Sakko, dem blütenweißen Hemd und der schmalen Krawatte. Zusammen mit der verspiegelten Brille ergab sich für Azrael daraus ein Gesamtbild, das genau der Sorte Person entsprach, die man nicht vor seiner Haustür stehen sehen wollte.

»Mein lieber Janiel, wir haben dich gerufen, um dich über deine Versetzung zu informieren«, kündigte Camael an. »Du wirst fortan wieder im fünften Himmel dem Engelschor dienen.«

Janiel stutzte. »Wie meinen Sie das, werter Meister? Ich dachte, ich bin ein Leben lang auf der Erde stationiert. Haben Sie etwa einen Ersatz gefunden … ?«

»Eher nicht, mein lieber Janiel«, sagte Camael und zeigte mit dem Daumen auf den Todesengel.

»Nein. Oh nein. Das meint ihr doch nicht Ernst. Ihr habt mich extra herunter geschickt, damit ich ein Leben lang auf sie aufpasse! Ihr könnt jetzt nicht Eure Meinung plötzlich ändern!«, protestierte Janiel lauthals.

»Beruhige dich, Janiel! Das ist nicht meine Meinung, das ist Gottes Plan. Ich handle stets im Namen des Herrn und im Sinne der Akasha-Chronik, das weißt du«, versuchte Camael zu erklären. Versuchte.

Janiel wurde fuchsteufelswild. »Ihr könnt mich alle mal!«, fluchte dieser, kehrte auf dem Absatz um und floh aus dem sechsten Himmel.
 

Ich habe mich verändert. Ich bin kein Pechvogel mehr. Abends lege ich meine Bücher für den kommenden Tag im Voraus bereit, genau wie mein Outfit. Ich schreibe mir genau auf, wann Klausuren stattfinden. Statt meine Mathehausaufgaben zu ignorieren, widme ich mich ihnen. Mein grünes Froschmaul-Bike habe ich zur Reparatur gebracht. Einmal die Woche räume ich das ganze Haus auf, putze. Wie Janiel es mir beigebracht hat. Meine Mutter freut sich. Hoffe ich.

An dem Tag, an dem Eiael uns für – angeblich – das letzte Mal besucht hat, habe ich für mich diesen Entschluss gefasst. Ich werde für meine Familie leben. Für meinen Vater. Für meine Mutter. Und für Janiel.

Er hat sich furchtbare Sorgen gemacht. Sobald Eiael und ich wieder in unserer Küche aufkreuzten, nahm Janiel dies zum Anlass, den okkulten Engel heftig zu verdreschen. Prügeleien unter Engeln sind ganz lustig anzusehen, muss ich sagen.

In der Schule rede ich, wenn möglich, kein Wort mehr mit Valentine. Ich wüsste nicht, was. Genau wie mit Tobi. Nadines Ausgrenzung hält sich wieder in Grenzen, allzu lang können zumindest die Jungs aus unserer Klasse ihr nicht böse sein. Im Gegensatz zu Mona und Elise. Aber jetzt ist das Gleichgewicht wieder – zum Teil – hergestellt. Und ich? Ich hänge mit Janiel ab, egal was andere reden. Auf eine seltsame Art und Weise bin ich glücklich.

Wo ist Janiel eigentlich? Ich sitze mal wieder auf meinen Lieblingskunstwerken (das werde ich mir wohl nie abgewöhnen), während ich Ausschau nach meinem Schutzengelchen halte. Wie erwartet schwirrt mir sobald jemand entgegen. Unerwartet: Es ist Jonas. Jonas?!

»Hi Manu! Kann ich mich zu dir setzen?«, fragt er.

»Klar«, sage ich. Da hocken wir nun. »Gibt’s was Bestimmtes, Jonas?«, hake ich nach, weil es irgendwie leicht auf mich wirkt, als würde er sich hinter meinem Rücken und den Steinen vor irgendwem verstecken wollen.

»Nö. Nö nö!«, macht er.

Ernsthaft. »Jonas, wer soll dich nicht finden?!«, platzt es aus mir raus.

Jonas guckt mich an wie ein Auto. »Also … ich habe Mist gebaut … «, gesteht er endlich. »Weißt du noch, als du mich auf diese Party von der Katrin eingeladen hast?«

»Sie heißt Karin!« Arme Karin.

»Jaaa … genau … Karin … «

»Du hast mit Nadine geschlafen. Ich weiß«, sage ich so dahin.

»Eh … ja … das ist nur die halbe Wahrheit«, stammelt unser Supermodel. »Eigentlich DENKT sie das nur.«

»WAS?!«, entfährt es mir. »Du hast gar nichts mit ihr gehabt?!«

»Sie ist nicht wirklich mein Typ, stand doch in der Zeitung.«

Also wirklich. »Wie kommt das dann bitte zustande … wenn sogar Nadine nicht abstreitet, mit dir … du weißt schon. Und wieso erzählst du eigentlich nicht allen die Wahrheit?! Die Arme wird von allen als Schlampe betitelt! Also sie ist zwar auch eine, aber nicht unbedingt so eine … im Sinne von … Sex und so … «

»Naja, das Problem ist … jetzt ist es zu spät dafür. Und am Anfang hat mir das Gerücht nicht allzu viel ausgemacht. Als Kerl ist das anders, weißt du. Da regnet es High-Fives und so.«

»Jonas, das ist die schlechteste Begründung, die ich je gehört habe!«, halte ich ihm vor. »Und warum versteckst du dich nun?«

»Irgendjemand hat mir erzählt, dass sie schwanger ist.«

Oh no. Und: Armer Konstantin. »Bist du dir da sicher oder ist das wieder so ein Gerücht?«, hinterfrage ich skeptisch. So ganz glauben kann ich das einfach nicht. Nadine ist doch viel zu gerissen, um schwanger zu werden. Naja, vielleicht ist aber auch was anderes gerissen. Halleluja, dass man als Jungfrau nicht solche Probleme hat.

»Ich weiß es nicht. Aber treffen will ich sie nicht.«

Kann ich verstehen. Ich will Nadine allgemein nie, nie, nie treffen. »Darf ich fragen, was du mit Nadine gemacht hast, dass sie nur DENKT, ihr hättet miteinander geschlafen?«

»Nichts Schlimmes! Denk ja nichts Falsches von mir, Manu!«, verteidigt er sich im Voraus. Ich erwidere trocken: »Was soll ich schon denken. Bis eben dachte ich noch, du hättest bei Nadines Entjungferung mitgewirkt. War das nicht falsch genug … ?«

»Nein, echt jetzt. Eigentlich bin ich nur vor den kleinen Zicken in ein Zimmer geflohen. Es war dunkel und ich war etwas betrunken … «

» … und high, falls du Konstantins Kekse probiert hast … «, füge ich dem hinzu, woraufhin er fortfährt: » … jedenfalls war ich müde und habe mich ins Bett gelegt. Kann sein, dass Nadine da schon vorher lag. Als ich aufgewacht bin, lag sie definitiv neben mir, und sie hat sofort das Schlimmste angenommen«

»Und du hast sie nicht korrigiert?!«

»Naja, ich war noch restbetrunken. Sicher war ich mir da noch nicht«, gesteht mir unser Schulschwarm.

»Jonas … « Wie kann man mit achtzehn Jahren und so einer Karriere noch so eine Pflaume sein! Unterbrochen wird unser großartiges Gespräch von Janiel, der endlich aufkreuzt. Allerdings: Völlig aus der Puste ist.

»Komm Manu, wir müssen los«, beschließt er und will mich vom Stein zerren, lässt Jonas komplett außer Acht.

»Moment Mal, du kannst nicht einfach meinen Kummerkasten mitnehmen!«, plärrt dieser.

»Ich bin dein Kummerkasten?!«, schnaufe ich.

»Hilf mir, Manu … «, fleht Jonas.

Janiel nimmt mir das Antworten ab: »Keine Zeit, sorry Bro.« So ziehen wir von dannen. Ich weiß nicht, ob ich das gut oder schlecht finden soll. »Wir müssen uns verstecken!«, zischt Janiel leise.

Ok, ich finde das schlecht. »Was ist jetzt schon wieder los?!«, zische ich im gleichen Tonfall zurück. Wir stehen nun in der Aula vor so einer hässlichen Möchtegern-Palme. »Ist heute Verstecko-Tag?!«

»Keine Ahnung, wovon du redest, aber wir können auf keinen Fall raus … lass mich kurz nachdenken, Manu … «, brabbelt er vor sich hin.

»Janiel, es hat geklingelt, ich gehe jetzt in den Unterricht … «, möchte ich ihn mit seinen wirren Gedanken stehen lassen. Da packt er meine Hand.

»Manu, bitte geh nicht. Vertrau mir. Bitte.«

Ok, Janiel. Ich vertraue dir. Deshalb verstecken wir uns hinter dieser Kunststoff-Palme, während alle an uns vorbeiziehenden Schüler, die in die Klassenzimmer eilen, uns blöd angaffen. »Lass uns da rein gehen … «, sagt Janiel schließlich, als die Luft rein ist und keine Seele mehr in der Aula verweilt.

»Das ist der Kartenraum!«, protestiere ich. »Dafür haben wir keine Schlüssel!«

»Oh doch … « Mein Schutzengel kramt ein Medaillon aus seiner Hosentasche. Es funkelt golden, stellt einen fünfzackigen Stern dar. Live erlebe ich mit, wie er das Ding zu einem Schlüssel umformt, ähnlich wie bei seiner eigenen Verwandlung, und uns damit den Raum aufsperrt. Und nicht nur ich. Mitten auf der Aula-Bühne guckt Schneewittchen Löcher in die Luft. Ich hätte nicht gedacht, dass ich Eiael so schnell wiedersehe.

»Johann, mein alter Freund … Fräulein Manuela … «, begrüßt er uns und zieht seine schwarze Melone, die er heute dabei hat. Passt ganz gut zu seinem Filzmantel.

»Lange nicht mehr gesehen!«

»Eine Woche, um genau zu sein«, erkläre ich nüchtern.

»Wie auch immer. Manuela, du weißt ja, was ich dir übers Sterben erzählt habe … «, sagt Eiael.

Ich nicke.

»Jetzt ist es Zeit dafür.«

OMG WAS?!

»Meister Camael hat mich geschickt, um dich in den Himmel zurückzuholen, Johann.«

Hyperverwirrt sehe ich abwechselnd zwischen Schneewittchen und Janiel hin und her. Janiel scheint zu wissen, wovon unser irrer Engel redet. »Wolltest du dich deswegen verstecken?!«, stelle ich eher goldrichtig fest, anstatt zu fragen.

»Vergiss es, Eiael. Ich werde Manu nicht alleine lassen!«, ignoriert Janiel mich. Ich fühle mich geehrt. Aber ignoriert. »Ich hab jetzt keine Lust mehr zu sterben, Eiael!«, brülle ich dazwischen. Kurz habe ich die Aufmerksamkeit von beiden, bevor sie mich weiterignorieren.

»Das hatte ich befürchtet. Alte Freundschaft hin oder her, Befehl von oben ist Befehl von oben. Wie scharf bist du darauf, zu fallen, mein Strahlender?«

Engelshierarchie-Bezeichnungen klingen leicht schwul.

»Ich pfeif auf den da oben. Und wenn du ehrlich bist, tust du das auch, Eiael«, unterstellt Janiel ihm.

»Hach, ich weiß nicht … « Eiael prescht vor, zieht aus dem NICHTS ein Schwert und schlägt damit auf uns ein. Schneller als erwartet reagiert Janiel, zieht mich weg. Das Leinwandgemälde neben uns (farbige Handabdrücke von Fünftklässlern) wird entzwei geschnitten. Wir fliehen hinter die Palme. Was zum Teufel ist in ihn gefahren?! Als ich einen Blick neben mich werfe, steht Janiel nicht mehr bei mir. Stattdessen stürzt er sich mit Karacho auf Schneewittchen. Mit bloßen Händen fängt er Eiaels Klinge ab.

»Eiael, hör auf damit!«, schreie ich, was keine Konsequenz auslöst. Erfolgreich hält Janiel den okkulten Engel davon ab, ihn wie Butter zu durchtrennen, stemmt sich so gegen ihn, dass Eiael nach hinten zurücktreten muss, um sich abzufangen. Janiel stellt sich breit vor mich und die Palme.

Im nächsten Moment packt Eiael einen neuen Zaubertrick aus: Es erscheint ein violettes, massives Seil um ihn herum, mitten in der Luft. Als hätte es seinen eigenen Willen, umschwebt es Janiel, umzingelt ihn. Zieht sich ruckartig fest. Seine Arme sind gefesselt. Fuck. Ich muss meinen Schutzengel beschützen! Demonstrativ dränge ich mich vor Janiel, und hinter die Palme. »Tu das nicht, Manu!«, keift er zwecklos.

Schneewittchen setzt zum Hieb gegen die Beschützer-Palme an, als die absolut, absoluuuut falscheste Person überhaupt zufällig in die Szenerie reinlatscht.

Nadine.

Natürlich juckt es Eiael nicht die Bohne, dass ein ahnungsloser Mensch mitten im Gefecht steht und läuft sie praktisch über den Haufen, als er zur Attacke ansetzt. RUMMS! Typischerweise fängt Nadine an zu quieken wie ein Meerschweinchen, gefolgt von ein paar »Igitt«-Lauten. »Was soll die Scheiße, du Arsch!«, flucht Nadine außerdem. Sie setzt zu noch mehr Schimpfwörtern an, wird dann aber dadurch unterbrochen, dass Schneewittchen sie am Hals packt und somit den Boden von ihren Füßen trennt.

Auf einmal ist unsere große Klappe mucksmäuschenstill. Eiael hebt die Ein-Meter-lange, dünne Klinge an ihre Kehle. Ähnlich, wie er es einst bei mir tat, mit dem Messer. Nur sieht das Ganze jetzt weitaus dramatischer aus. Liegt wohl an der schwarzen Melone auf seinem Kopf. »Wenn du mich nicht freiwillig mit Johann gehen lässt, meine Möchtegern-Madeleine, dann bringe ich eben diese Unschuldige hier um«, droht Eiael.

Ich muss bei dem Wort »unschuldig« kichern. Dann rufe ich erfreut durch die Aula: »Mach doch! Wir mögen Nadine sowieso nicht!«

»Ey, Manu …. Du … «, stöhnt Nadine bissig, obwohl Eiael ihr die Luft halb abschnürt. Auf die Ansage hin wirft der okkulte Engel Nadine weg wie ein Stück Müll. Mit der Schweinchen-Nase voran landet sie auf dem harten, heute noch nicht gestaubsaugten, Aula-Boden. Lecker. Nach fünf weiteren Flüchen, die nicht jugendfrei sind, rappelt Nadine sich wieder auf und stellt sich zu mir, neben die Palme. »Was ist das für ein Irrer?!«, fragt sie mich empört.

Weil ich ja weiß, was ich darauf sagen kann. Ich zucke mit den Schultern, sehe ihr dann mit vollem Ernst in die Augen. »Auf ihn mit Gebrüll … ?«

»Auf ihn mit Gebrüll!«

Gleichzeitig lassen wir den gefesselten Janiel hinter der Fake-Palme stehen und stürmen Eiael. Er scheint eine leichte Multitasking-Schwäche zu haben, weil er immer zwischen Nadine und mir hin und her sieht und sich darum nicht entscheiden kann, gegen wen von uns beiden er vorgehen soll. Am Ende drücken wir zwei mit unseren Hintern Eiaels Rücken und Oberkörper platt zu Boden. Zufrieden sehen wir uns an.

Wer hätte gedacht, dass eine Manu-Nadine-Kombo die hilfreichste Waffe im Kampf gegen schwarzmagische Engel ist?! »Urghs … «, macht Eiael, alle viere von sich gestreckt, während wir gemütlich auf ihm sitzen. »Ihr habt gewonnen … ich lasse dir Johann da … «

»Wer ist Johann?!«, zickt Nadine.

»Egal«, winke ich ab. »Nadine, ich muss dich was fragen.«

Gespannt glotzt sie mich an.

»Bist du wirklich schwanger … ?«

»Wo hast du den Schwachsinn her, Manu?!«, zickt sie weiter.

Puh. Das muss wohl ein Gerücht sein, dass auf Mona oder Elise gewachsen ist. Ich tippe auf Elise. Jonas wird sich freuen. Apropos. »Äh nicht so wichtig. Gratulation! Übrigens … Jonas hat mir erzählt … Er hat dich nicht angerührt, auf Karins Party. Nadine.«

Ihre Miene verändert sich. Zum ersten Mal seit Jahren erkenne ich die Nadine wieder, mit der ich einst befreundet war. Sie atmet erleichtert auf. »Puh … Ich hatte schon Angst … Ich habe mich nicht getraut, nachzufragen, weil er mir die ganze Zeit aus dem Weg gegangen ist … «

Ja, das klärt Einiges.

»Warum sagst du mir das, Manu?«

Ja, warum tue ich das. »YOLO FOREVER!« Ich grinse sie an. »Und, weil ich keine Lust habe, mir Jonas Gejammer anzuhören«, ergänze ich noch kleinlaut.

Wunderlicherweise … grinst sie … zurück. »Dann verrate ich dir auch was, Manu.«

Ich sperre meine Lauscher auf.

»Tobi ist in dich verliebt, nicht in Valentine.« So sitzen wir auf dem Rücken eines Engels, der quälende Geräusche von sich brummt. In der Ferne der Aula ein anderer Engel plärrend, wir sollen ihn doch jetzt mal von den Fesseln befreien.
 

»Ich glaube, ich habe mich in Manu verliebt«, sagte Tobi, einfach so. Nadine, die mit ihm über die Wiesen rund um das Schulgebäude streunerte, gab sich gefasster als sie war. Manu hatte es mal wieder geschafft, alle Aufmerksamkeit an sich zu reißen.

»Du glaubst?«, prüfte sie ihn.

»Ich bin mir … ziemlich sicher.«

Nadine biss sich auf die Lippen. Verdammt sei Manu. Wie-man-am-besten-Freunde-wegnimmt, diesen Ratgeber sollte Manu mal schreiben. Der würde sich gut verkaufen. »Was findest du denn an ihr? Ich dachte, ihr wart nur Freunde bisher?«, hakte sie nach.

»Nein. Wenn ich ehrlich bin, war da immer mehr. Ich hab’s nur erst jetzt gemerkt … wo es zu spät ist.« Tobi guckte sich auf die Finger, als er sprach. »Manu war schon immer etwas Besonderes für mich.«

Am liebsten hätte Nadine sich die Ohren zugehalten, um dieses zuckersüße Liebesgeständnis nicht mitzubekommen.

»Aber … ich wusste bis jetzt nicht, was das bedeutet. Ich dachte immer, Verliebtsein fühlt sich anders an. So wie mit dir damals.«

In der Tat hatten Tobi und sie sich gedated. Genau dreimal. Beim dritten Date fiel für Nadine der Groschen, sie wollte lieber mit Tobi befreundet bleiben. Tobi hatte noch ein Weilchen daran zu knabbern, aber mit der Zeit entwickelte sich aus dieser tollpatschigen Liebelei eine Freundschaft auf Augenhöhe. »Wie … fühlt es sich denn jetzt an?«, fragte Nadine vorsichtig.

»Ich möchte ihr wehtun.«

Diese Antwort überraschte Nadine.

»Ich möchte, dass sie genauso eifersüchtig wird, wie ich es war, wegen Jan.«

»Du warst auf Jan eifersüchtig … ?« Pause. »Das habe ich gar nicht gemerkt … «, gab sie offen zu.

»Ich bin ganz gut darin, meine Gefühle zu verstecken, mhm?«

»Hm.«

»Ich habe Jan sogar dazu gezwungen, sich von Manu fernzuhalten, nachdem offiziell Schluss war.«

»Warum erzählst du mir das alles jetzt?« Eigentlich wollte sie nicht hören, wie ihr ehemaliger Verehrer von einer anderen schwärmte. Es kotzte sie an.

»Ich brauche deine Hilfe.«

»Ach ja?«
 

Eiael schuldet uns Kuchen. Darin sind Janiel und ich uns einig. Als sich der okkulte Engel verdünnisiert, mit dem Versprechen, seinem Vorgesetzten zu melden, dass er uns nicht auffinden konnte, verdeutlichen wir diese Forderung nochmal, indem wir ihn einen Du-schuldest-uns-lebenslang-Kuchen-Vertrag unterschreiben lassen. Ich muss nie wieder gezwungenermaßen für Eiael backen! Yeah! Weil Nadine immer noch keine echte Ahnung davon hat, was zum Engel in unserer Aula da stattgefunden hat, fragt mich Janiel, ob er ihr Gedächtnis löschen soll. Eigentlich will ich das nicht. Wenn er das macht, wird sie wieder ihre gute Seite vergessen. Dann stellt Janiel klar, dass er mich nicht um Erlaubnis bittet, sondern mich nur darüber informiert. Aha. Goodbye, my good friend.

Ich stecke Janiel einen Zettel zu. Den soll er Nadine geben, sobald ihr Bewusstsein den Status von vor gut zwanzig Minuten wiedererlangt hat. Den Jonas-hat-in-Wahrheit-gar-nicht-mit-dir-geschlafen-Zettel. Von Anonym. Es ist ein Dankeschön an Nadines Ehrlichkeit. Wegen der ich mich nun dazu berufen fühle, in der Mittagspause Valentine abzufangen. Um ein ernstes Wörtchen mit ihr zu reden. Valentine wittert das irgendwie und flüchtet raus. Also hinterher. Auf dem Schulparkplatz hole ich sie ein. »Nadine hat mir erzählt, dass Tobi und du eure Beziehung nur vortäuschen«, werfe ich ihr ohne ein Zögern an den Kopf.

Valentine zittert. »K-keine Ahnung, w-wovon du r-redest.«

Hab ich auch immer so schlimm gestottert, wenn ich unsicher war? »Ich weiß es jetzt, Valentine. Lass uns reden«, schlage ich vor.

»Manu, da ge-gibt’s n-nichts mehr zu r-reden.«

»Doch klar! Ich habe eure Lektion kapiert! Ich hätte nicht so tun sollen, als wäre Jan mein fester Freund gewesen! Ich hab’s verstanden! Ihr könnt mit dem Theater wieder aufhören!«

»M-Manu. Du verstehst n-nicht … «

»Was verstehe ich nicht?!«, fauche ich aus Versehen.

Entsetzt guckt mich unser ehemaliges Mauerblümchen an. »M-Manu … ich liebe Tobi wirklich …«

»Und, weiß er das … ?«

»Manu … gönnst du mir das nicht?«

»Und … ?«

»Dann lass uns in Ruhe.« Das ist ein klares Statement. Valentines Unsicherheit schwindet dahin. Sie hat das nicht getan, um mir eine Lektion zu erteilen. Nein. Sie hat das für sich selbst getan. Dass Nadine sie erpresst hat, sie gedemütigt hat – das hat Valentine für sich ausgenutzt. Sie hat nie an mich gedacht. Kein einziges Mal hat sie an mich und meine Gefühle gedacht.

»Ich hasse dich, Valentine!«

Es trennen sich unsere Wege.
 

Azrael konnte sich das Spektakel nicht länger untätig vom sechsten Himmel aus mitansehen. Er hatte noch viel zu viel zu erledigen, als sich mit diesem einen nervigen Menschen herumzuschlagen. Deshalb beschloss er, diesmal keinen weiteren Boten zu schicken. Sondern höchstpersönlich einen Erdenbesuch abzustatten, um die Statistik wieder einzurenken. Ordnung wurde bei Azrael groß geschrieben, er war äußert pingelig, was die Instandhaltung des Gleichgewichtes der Totenanzahl betraf. Es war überaus wichtig, sich an die Maßstäbe der Akasha-Chronik zu halten, da ansonsten Anarchie auf der Erde ausbrechen würde. Naja, seiner Meinung nach. Als Oberbefehlshaber der Todesabteilung trug er die Verantwortung dafür. Also besuchte er jene Bildungsanstalt des 21. Jahrhunderts, besser gesagt, eine Anordnung von grauen Betonklötzen. Den Architekten jener Epoche fehlte zweifellos jeglicher Geschmack. Vor der Schule stehend, rückte er sich seine Brille zurecht und schlug sein schwarzes Notizbuch auf. Blätterte. Da war es. Manuela Liedtke, fünfzehn Jahre alt, zehnte Klasse des Eberhardt-Frank-Gymnasiums. Todeszeitpunkt: 10. Oktober. Das war vor gut zwei Monaten. Höchste Zeit, ihre Seele in den dritten Himmel zu befördern.
 

Vor dem Hauptschuleingang treffe ich auf einen neuen Lehrer. Oder Anwalt. Zumindest macht er einen strengen Eindruck. Vielleicht ist er auch Versicherungsvertreter. Kritisch mustert er unser Schulgebäude, einen Notizblock in der Hand haltend, und nuschelt irgendwas vor sich hin. Komischer Typ. Ich gehe an ihm vorbei, reiße die Eingangstür auf, da ruft er: »Halt!« Kommt näher. »Manuela Liedtke, fünfzehn Jahre alt?« Seine Stimme klingt sehr tief.

»Äh … Ja … und wer sind Sie?«, frage ich überrascht.

»Gestatten, Oberbefehlshaber der Todesengel, Azrael. Ich werde deinen Schutzengel in Gewahrsam nehmen. Bitte rufe ihn unverzüglich herbei.«

»Sonst noch Wünsche?« Auf dem Absatz kehre ich um und laufe wie geplant zurück in die Schule. Langsam reicht’s mir mit den Engelsfaxen. Vor dem Lehrerzimmer treffe ich Janiel. »Du, da war grad so ein Spinner wie Eiael … Azra-irgendwas«, erzähle ich ihm so nebenbei. Janiel sträubt sich, genau so, wie er es sonst nur als Kater tut, wenn ich ihn aus Versehen nass mache.

»Azrael ist hier … ?!«

»Nein, das wäre es dann«, beantwortet Azrael, der mir hinterhergelaufen, meine rhetorische Frage. Er fasst sich an die Brille, in der sich das billige Neonröhrenlicht kurz widerspiegelt, was seiner Erscheinung ein extrem böses Antlitz verleiht.

»Rhetorische Fragen beantwortet man nicht!«, weise ich den vermeintlichen Staubsaugerverkäufer zurecht. Den das nicht die Bohne juckt. Er zückt sein Notizbuch.

»Ich werde jetzt deinen Namen für den heutigen Tag eintragen und unsere Macht Janiel notfalls gewaltsam dazu zwingen, mir seinen Schutzengelpass auszuhändigen.«

»Mach doch, was du wi-«, will ich pöbeln, da hält mir Janiel den Mund zu und sagt: »Manuela ist nicht dazu bestimmt, heute zu sterben. Sie sieh dir an, Azrael. Sie hat noch ein ganzes Leben vor sich, und ich werde bis zu ihrem Tod in nicht weniger als achtzig Jahren an ihrer Seite bleiben.«

»Du verstehst da etwas falsch, kleiner Promi. Das ist keine Bitte, das ist eine Ankündigung. Ich bin verantwortlich für unsere Statistiken, für das Gleichgewicht der Toten und der Lebenden im Rahmen der Zeit.«

»Ich werde Manus Leben ganz sicher nicht für deine Statistik opfern«, entgegnet Janiel zornig.

»Dann lasse ich dich ganz offiziell als gefallener Engel eintragen, kleiner Promi«, sagt Azrael unbeeindruckt und notiert sich etwas in seinem Notizblock-Buch. »Man wird Jagd auf dich machen. Du wirst bis in alle Ewigkeit im Gefängnis schmoren. Welch Ironie. Wenn du im fünften statt im zweiten Himmel landest, kannst du dann sogar noch deinen Nachfolgern lauschen.«

Janiel fletscht die Zähne. Der Anzugträger lässt sich wahrscheinlich eher nicht mit bloßen Mädchenhintern bezwingen.

Die Tür vom Lehrerzimmer öffnet sich. Heraus tritt Dr. Sommer. Der sich überhaupt nicht über irgendwas wundert. »Grüß Gott, Azrael!«, grüßt er den Todesengel. Und will einfach weitergehen.

»Herr Sommer, warten Sie!«, schreie ich hinterher. »Woher … ?«

»Hier spielt die Musik, Fräulein Manuela Liedtke. Beachte den Angeloi nicht«, nervt Azrael.

Dr. Sommer bleibt stehen: »Gibt es etwa ein Problem?«

»Ich bringe nur das Gleichgewicht der Toten wieder in Ordnung«, ruft ihm der Engel im Sakko zu. »Nichts weiter.«

»Ach so«, gibt Dr. Sommer von sich. »Na dann.«

»Moment … Herr Sommer … warten Sie! Was für ein Engel sind Sie?!«, halte ich ihn schon wieder auf. Janiel kommt ihm mit seiner Erklärung zuvor: »Angeloi bedeutet, er ist ein Schutzengel.« Schon beim Aussprechen des Satzes offenbart Janiel, dass ihn diese Enthüllung selbst wundert. Vergnügt und bestätigend grinst Dr. Sommer mich auf seine typische Art und Weise an. Ich kann es nicht fassen. Mein Lehrer ist ein Engel.

»Also, wo waren wir stehen geblieben … ach ja. Janiel, ich bitte dich im Namen des Herrn, mir deinen Schutzengelpass freiwillig zu übergeben.«

»Nein«, beharrt Janiel.

Azrael seufzt. »Du machst es einem wirklich nicht einfach. Kein Wunder, dass so viel über dich getratscht wird.« Abermals rückt er seine Brille in Position, lässt kurz seinen Blick über sein Notizbuch wandern. Verharrt. »In der Tat könnte ich dir sogar einen Kompromiss vorschlagen, mit dem wir beide zufrieden wären. Angeloi? Antreten!«

Dr. Sommer, der bereits am Ende des Ganges angelangt ist (weil er vermutlich jetzt eine Mathestunde geben soll, dieser Engel!), kehrt prompt wieder um, gehorcht Azrael wie ein Hündchen seinem Herrn.

»Wenn ich diesen Angeloi mitnehme, dürfte das die Statistik ausgleichen«, verkündet Azrael.

»Und wessen Schutzengel ist Dr. Sommer?!«, sprudelt es aus mir heraus. »Wir können doch nicht einfach jemand anders umbringen!« Ein bisschen Moral schlummert sogar in mir.

»Ich bin Tobias Eichendorffs Schutzengel.«

Ich dachte, der Tag kann nicht noch schräger werden. Hello, Murphys Law.

»Also, sucht es euch aus. Einer von euch beiden Angeloi wird mich jetzt begleiten. Am besten freiwillig. Und macht schnell, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, meckert der Möchtegern-Versicherungsvertreter.

»Würdest du Tobi, ich meine Tobias … verlassen, damit Manuela weiterleben kann?«, fragt Janiel Dr. Sommer vorsichtig.

»Ich handle in Tobias freien Willen, soweit es mir zusteht. Ich denke, es wäre vereinbar«, erklärt dieser uns.

Ich glaube, ich bin im falschen Film. »Sie wollen Tobi ernsthaft umbringen?! Freiwillig?! Was sind Sie eigentlich für ein schlechter Lehrer … und Schutzengel! WIE KÖNNEN SIE NUR!«, flippe ich aus, stelle mich direkt vor ihn und rüttele an seinem Kragen. Dr. Sommer wehrt sich nicht, bleibt ruhig und grinst weiter vor sich hin. Wie kann er nur dieses Grinsen aufsetzen, in so einer Situation!

»Manu … einer muss gehen«, bringt Janiel schließlich matt über die Lippen. »Lieber Herr Sommer als ich.«

Ich denke an das, was Azrael gesagt hat. Wenn beide Schutzengel sich weigern, die Erde zu verlassen, steckt der Anzugträger sie für die Ewigkeit ins Gefängnis. Janiel hat es erkannt.

Einer muss gehen.

Einer wird sterben.

Einer wird leben.

Das ist Gottes Plan.

Gottes beschissener, beschissener Plan.

Mein Vater hat mir nie beigebracht, was es bedeutet,

für jemanden zu sterben.

»Azrael. Nimm bitte Janiel mit in den Himmel«, sage ich. 

Nächstenliebe-Quatsch

»Ich erkläre dir kurz den Ablauf, als Dank für die Kooperation«, sagt Azrael, sich die Brille zum tausendsten Mal zurechtrückend. »Nachdem wir Janiel zurück in den Himmel gebracht haben, nehmen wir ihm sein Schutzengel-Equipment weg. Dadurch wird aus ihm offiziell wieder derjenige, der er einst war: Unser C-Promi.«

»Das ist doch untertrieben, sogar ich habe ihn gekannt! Er ist auf jeden Fall ein A-Promi!«, quäkt Dr. Sommer dazwischen.

»Wie dem auch sei. Dadurch wirst du, Manuela Liedtke, fünfzehn Jahre alt, demnächst deiner eigenen Dummheit zum Opfer fallen. Ich kann weder versprechen, dass es schnell geht, noch, dass es nicht wehtut. Aber lass dir gesagt sein: Deine Seele wird Erlösung finden. Gott wird dich empfangen, mit all seiner Liebe und du wirst Ruhe im dritten Himmel finden, dem Paradies der verstorbenen Seelen. Falls du auserwählt und als geeignet empfunden wirst, darfst du sogar einen Copytest machen, um ein Engelsamt anzutreten. Zurzeit hören einige auf, deshalb haben wir Personalmangel«, erklärt der Todesengel mir gnädigerweise. Ich höre nur mit halben Ohr zu. Denn ich sehe Janiel hinterher, blicke in sein zermürbtes Gesicht. Er will nicht gehen, er will mich nicht alleine lassen.

Ich weiß. Aber ich muss. Ich kann Tobi nicht an meiner Stelle sterben lassen. Und ich kann nicht von Janiel verlangen, für mich, egal zu welcher Zeit, hinter Gittern zu büßen. Zwar habe ich keinen Schimmer davon, wie so ein Himmelsgefängnis aussehen könnte, aber in meiner Fantasie stelle ich mir eine Ewigkeit hinter Stäben nicht besonders toll vor, egal wie viele Wolken und Sänger in der Nähe sind.

»Deine verbleibende Zeit beträgt von nun an 24 Stunden. Nach diesem Tag wirst du tot sein.« Azrael weist Dr. Sommer mit einer winkenden Hand an, ihm dabei zu helfen, Janiel wegzuverfrachten. Dann verabschiedet er sich von mir: »Wir sehen uns im Himmel wieder, Manuela Liedtke. Bis dahin: Carpe Diem!«

Janiel sagt nichts.

Nichts.

» … «
 

Ich bin allein. Jetzt bin ich zum ersten Mal seit Wochen vollkommen unbeobachtet und komplett allein. Es fühlt sich seltsam an. Ich kann gar nicht glauben, dass ich mein ganzes Leben, bevor ich Janiel traf, so verbracht habe. Da ist niemand mehr, der mich überwacht. Der mich nervt. Der mich stalkt. Der mich mit seinen bescheuerten Aktionen quält. Da bin nur ich.

Weil ich sterbe, nehme ich die Welt um mich herum anders wahr als sonst. Die Luft ist nicht kalt, sie riecht nach Herbst. Nach Wind, nach Ahornblättern, nach Winterbeginn. Der Winter wird morgen beginnen. Ohne mich. Ein Sonnenstrahl, der meine Haut berührt, scheint sie fast zu verbrennen, so heiß empfinde ich jenen, der die Atmosphäre in zwei Hälften teilt. Wie Gut und Böse.

Den Nachmittagsunterricht habe ich verpasst, kein Schüler tummelt sich mehr am Eberhardt-Frank-Gymnasium. Den Bus auch, aber das macht nichts. Ich beschließe, nach Hause zu laufen, durch den Wald. Zu Fuß dauert das natürlich viel länger, als mit dem Rad. Deswegen komme ich erst nach drei Stunden zu Hause an, als es bereits dunkel ist. »Manuela, warum kommst du so spät heute? Warst du noch mit Freunden unterwegs?«, fragt meine Mutter hoffnungsvoll. Klar, sie ist froh, wenn ich mal nicht zuhause sitze und Horrorromane lese. Sie wünscht sich für mich das Beste. Was muss sie sich für Sorgen gemacht haben.

»Ich liebe dich, Mama!«, presse ich hervor, taumele auf sie zu und drücke sie ganz fest. »Ich liebe dich so sehr!«

Sie tätschelt mir den Kopf, lässt mich dabei nicht los.

»Ich dich auch, mein Schatz.«

»Wollen wir heute Popcorn machen und fernsehen?«

»Natürlich. Möchtest du vorher noch was essen? Wir haben noch Pizza im Tiefkühlfach.«

Wir lümmeln auf dem Sofa, mit Popcorn und Pizza, gucken Soaps. Mama kommentiert, wie dumm sich die Figuren anstellen in ihren Liebesbeziehungen. Ich lache. Und lache.

»Mama, wie hast du Papa eigentlich kennen gelernt?« Normalerweise darf ich so etwas nicht fragen. Habe ich mir verboten. Bis jetzt.

»Das war kurz nach dem Tod deiner Großmutter. Ich war recht zerstreut in der Zeit danach, stand öfter neben mir. Ich habe es nicht einmal geschafft, richtig einzukaufen. Als ich vor lauter Zitterei eines Tages meine Einkäufe fallen ließ, da half mir dein Vater, sie wieder einzusammeln. Er begleitete mich nach Hause und trug meine Taschen. Er war ein sehr hilfsbereiter Mann. In den Wochen danach half er mir immer wieder, fast wie durch Schicksal begegneten wir uns. Er war immer da, wenn ich ihn brauchte. Wenn ich mich nicht auch in ihn verguckt hätte, hätte ich gedacht, er wäre ein Irrer. Ich kann kaum glauben, dass das jetzt schon über zwanzig Jahre her ist!«, erzählt Mama.

Meine Großmutter habe ich nie kennengelernt, aber ihr habe ich meinen Namen zu verdanken. Sie hieß nämlich auch Manuela. Das ist sehr schade, ich frage mich, wie sie wohl war. Diese andere Manuela. Laut Mama sind wir uns anscheinend ähnlich: »Oma hätte dich sehr geliebt, mein Spatz. Ihr hättet euch bestimmt gut verstanden. Schon allein, dass ihr dasselbe Schmunzeln habt! Und den Eifer hast du definitiv von deinem Vater.«

»Eifer? So was habe ich nicht«, entgegne ich.

»Das hätte dein Vater auch gesagt.« Sie lächelt.

Wir vermissen ihn sehr. Aber Mama ist stark. Viel stärker, als ich es je war. Ich wäre auch gern so stark wie sie. Aber weil ich das nicht bin, gehe ich in mein Zimmer. Und weine mich in den Schlaf.
 

Guten Morgen, Welt. Wir sehen uns in weniger als zwölf Stunden wieder, Papa. Wie verbringt man seinen letzten Tag auf der Erde? Es gibt bestimmt jede Menge kreative Leute, denen weiß der Kuckuck was einfallen würde, von Piraterie bis hin zu Fallschirmspringen. Weil ich aber erst fünfzehn bin und mir keine Kreditkarte besorgen kann (und unsportlich bin), verbringe ich ihn ganz normal Ich gehe zur Schule.

Ich muss mich verabschieden. Morgens ist die Erste, der ich Lebewohl sagen möchte, Nadine. Vor dem schwarzen Brett fange ich sie ab.

»Hey, Nadine.«

Wie erwartet glotzt sie mich dumm an. »Hey … Manu … «

»Ich möchte dir etwas sagen.«

»Dann … tu’s doch … ?«, giftet sie mich grundlos an. Wie immer.

»Ich hatte immer große Angst, mit dir darüber zu reden. Aber heute ist mir klar, dass es total lächerlich war. Ich hätte dich einfach gleich fragen sollen, anstatt das alles in mich hineinzufressen und allein darüber zu grübeln«, offenbare ich. »Nadine, es hat mir wirklich wehgetan, dass du mich von einen Tag auf den anderen plötzlich fallen gelassen hast. Ich mag dich nämlich wirklich sehr … die alte Nadine. Was ich nie verstanden habe, ist: Warum hasst du mich eigentlich so? Warum?«

Nadine speichert Sauerstoff anstatt einen Ton von sich zu geben. Das habe ich echt noch nicht oft geschafft. »Du weißt es nicht?«, sagt sie schließlich.

»Nein.« Ich zögere, ob ich noch etwas daran hängen soll. Mache ich. »Nein, ich habe keine Ahnung.«

Stirnrunzelnd blinzelt sie mich an, mehrmals hintereinander. Es ist eine Gefühlsregung, die ich meiner damaligen Freundin zuschreibe. Der guten Nadine. »Tja, dann wirst du es wohl nie erfahren«, kontert sie schnippisch.

Fail. Sie wird sich wohl niemals ändern. Da kann ich machen, was ich will. »Tja, ich werde es dir trotzdem verzeihen«, mache ich, was ich will. »Ich muss wohl was ganz schön Schlimmes angestellt haben.«

Verdattert ist gar kein Ausdruck für Nadines Mimik. Zusätzlich erkläre ich ihr: »Ich möchte dir nur sagen: Es tut mir leid, wie das mit uns gelaufen ist.«
 

Als Nadine und ich noch Freunde waren, da dachte ich weniger über den Tod nach. Bei ihr zuhause ging es immer lebhaft zu. Ihre kleine Halbschwester Miriam kam ständig mit neuen Ideen angelaufen. Sie quetschte sich zwischen Nadine und mich, wenn wir uns in Wehrmanns riesigem Haus irgendwelche schlechten Talkshows im Fernsehen anguckten. Obwohl es so groß und geräumig war, kuschelten wir immer eng aneinandergedrängt auf demselben Fleck. Mitten in einem Kissenlager. Einmal schminkten wir Miriam wie einen Clown mit der teuren Schminke ihrer Mutter und schossen Grimassen-Bilder davon. Nadine war die Visagistin und ich die Fotografin. Wir waren ein gutes Team.
 

In der ersten Pause nerve ich die nächsten Menschen, die mir am Herzen liegen. »Mädels und Karotten, ich muss mich bei euch entschuldigen«, sage ich, Hanna und Karotte jeweils einen Arm um die Schultern legend. »Ich hätte vielleicht nicht einfach so rausstürmen sollen an dem Abend bei Valentine … «

Karin lächelt mich so süß an wie eh und je: »Hach Manu! Keiner von uns ist dir da böse! Die Fragen waren einfach etwas zu persönlich, stimmt’s, Sophie?«

»Ja, ich hätte das nicht so provozieren sollen, es geht uns ja eigentlich nichts an, ob du wieder was mit deinem Exfreund hast oder nicht … «, entschuldigt sich Sophie.

»Hach, Mädels!«, seufze ich herzergreifend.

Hanna und Karotte schielen zueinander. »Ähm, Manu … alles ok bei dir?«, erkundigt sich Hanna.

Ich winke ab. Karotte ist sich meines Befindens genauso unsicher: »Wirklich? Wir haben uns schon Sorgen gemacht … dass du … naja … ausrastest.«

Heute raste ich garantiert nicht aus.

»Jan hat sich von der Schule abgemeldet.«

Muss ich jetzt erschrocken tun? In die Runde lächelnd erkläre ich: »Ich weiß!«

»Wir reden nicht von Karotte.«

»Ich weiß!«

Alle Beteiligten mustern mich schief.

»Ich liebe euch, Leute!«, werde ich romantisch. Überschwänglich knuddle ich Hanna und Karotte, die ich immer noch rechts und links von mir im Arm halte, heftig durch. »Bitte bleibt immer so!«

Natürlich finden mich meine Mitschüler für den Moment überaus merkwürdig, aber das macht mir nichts aus. Heute macht es mir nichts aus. In der nächsten Stunde haben wir Mathe, Dr. Sommer strahlt die Klasse an, wie am ersten Tag. Ich frage mich, ob nur schöne Menschen dazu befugt sind, zu Engeln zu werden. Oder ob ich vielleicht auch bald diesen Copytest, von dem Azrael sprach, ausfüllen darf. Ich frage mich, ob ich Janiel wiedersehen werde. Ich hoffe. Träume im Unterricht. Unser heißer Mathelehrer killt die harmonische Stimmung im Klassenzimmer, indem er anfängt, Blätter eines dicken Papierstapels durch die Reihen zu geben. »Da ihr alle bestimmt gut aufgepasst habt, schreiben wir heute eine Ex!«, frohlockt unser Sonnenschein. Die Schüler sind angewidert.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mein letzter Tag auf Erden und ich schreibe einen unangekündigten Mathetest. Und das auch noch gerne (ich habe tatsächlich gelernt die Woche).

Zwanzig Minuten Zeit bekommen wir. Es sind nur vier Aufgaben. Ich lese mir die erste durch. Überlege mir einen Lösungsweg, kritzele ihn mit Bleistift auf das Aufgabenblatt statt aufs Karopapier. Ich gucke mir die zweite an. Die weiß ich. Die dritte auch. Die vierte ist knifflig. Ich sehe es als Herausforderung. Formuliere alle Aufgaben aus. Nach fünfzehn Minuten bin ich fertig und kann beim Zurücklehnen beobachten, wie Klassenstreber Philipp ins Schwitzen gerät. Valentine sieht man ihr Können oder Nicht-Können nicht an. Valentine.

Dr. Sommer geht durch die Reihe, drängt sich plötzlich zu mir nach hinten: »Na, schon fertig, Manuela?«

»Äh!«, lächele ich ihn schief an.

Er nimmt mir meine beiden Blätter weg, zwinkert. »Ich habe nichts anderes von dir erwartet!«

Bevor er abzischen will, flüstere ich: »Herr Sommer!«, woraufhin er sich zu mir herunterbeugt.

»Ja, Manuela?«

»Passen Sie bitte gut auf Tobi auf! Und kommen sie ja nicht wieder auf die Idee, vor seinem hundertsten Lebensjahr abzuhauen!«

Nadine, die neugierig aufschaut, versteht unser Geflüster komplett falsch, sie rollt nämlich die Augen. Das wird mal wieder Gerüchte geben. Aber heute, da macht mir das nichts aus.

Es gibt eine Person, mit der ich noch unbedingt reden muss, bevor ich sterbe. Ironischerweise laufe ich ihr, ohne zu suchen, da über den Weg, wo wir das erste Mal miteinander geredet haben: in der Mädchentoilette neben dem Getränkeautomaten vor den Chemiesälen. »Valentine«, sage ich, als sie sich die Hände wäscht und ich in den Vorraum hereinplatze. Sie beeilt sich, schnappt sich Trockentücher und will verschwinden.

»Warte.«

»Ich d-denke, wir haben über alles geredet, was es zu reden gibt, Manu«, erwidert sie nur.

Fast die ganze Nacht habe ich geweint. Fast die ganze Nacht habe ich darüber nachgedacht, was ich ihr sagen werde. »Valentine, es ist okay, dass du mit Tobi zusammen bist. Mach ihn glücklich.«

Meiner Freundin stockt der Atem. »Willst du mir jetzt die Erlaubnis dafür geben … ?« Das hört sich nach dem Motto: Für-wen-hältst-du-dich an.

»Nein. Ich will nur, dass ihr beide glücklich seid. Du hattest damals Recht, Valentine, als du gesagt hast, dass ich an niemandes Gefühle gedacht habe. Du hast mir gezeigt, was ich für ein Mensch war. Ich möchte mich ändern.« In der Zeit, die mir noch bleibt. »Ich verstehe es vermutlich am besten, wie es ist, in Tobi verliebt zu sein … also kann ich es dir nicht krumm nehmen, oder?«

»Manu … was sagst du da … «, kann Valentine meine Worte nicht fassen. »Was ist in dich gefahren … ?«

Ich kann nicht mehr. Sie hat nicht diesen Blick drauf, denselben wie Nadine. Obwohl sie jetzt viel hübscher aussieht, entdecke ich in ihrem Augenglanz das Mauerblümchen von damals, das liebe, aber traurige Mädchen. Sie sieht so traurig aus. Sie sieht ein bisschen aus, wie ich.

Ich kann nicht mehr, ich weine. Valentine legt die Arme um mich, immer lauter schluchze ich. Schmiege meinen Kopf an ihre Schulter. »Was ist los, Manu?«

Ich kann nicht mehr, ich sage es ihr:

»Ich werde sterben, Valentine.«

Wir weinen beide.
 

Mein letztes Stündlein schlägt. Nachdem Valentine und ich uns wieder eingekriegt, die Tränen getrocknet und Chemie geschwänzt haben, erzählen wir uns, was uns so lange auf der Seele gebrannt hat.

Sie dachte, ihr Umstyling hätte etwas verändert.

Hat es aber nicht.

Ich dachte, sie wäre damit glücklich gewesen.

War sie aber nicht.

Sie dachte, ich würde mit Jungenherzen jonglieren.

Habe ich aber nicht.

Ich dachte, dass sie Daniel mochte.

Tat sie. Aber er eben nicht.

Sie dachte, ich hätte etwas Besonderes an mir, das sie nicht hat.

Habe ich aber nicht.

Ich dachte, sie hasst mich.

Tut sie aber nicht.

Sie dachte, ich wäre etwas Besseres.

Bin ich aber nicht.

Nach einer Weile kommt Philipp vorbei, der Streber, der uns Schwänzer aufsammeln will. »Hey ihr zwei, wir haben Unterricht!«, zieht er seine Schleimer-Tour ab.

»Heute nicht, Philipp«, korbe ich ihn. Valentine grinst ihn, gemeinsam mit mir, frech an.

Darauf errötet der Junge leicht. »Was habt ihr vor?«

»Spiel und Spaß.« Weil ich heute durchdrehen darf, geben meine süße Freundin und ich uns ein Zeichen, bevor wir das mit Philipp machen, was er unserer Meinung nach verdient hat. Wir drücken ihn zu Boden und malen ihm mit Edding einen Schnurrbart auf die Oberlippe. »Das ist dafür, dass du so mies zu Valentine warst!«, rechtfertige ich unsere Jux-Tat, die eher dem Todes-Wahnsinn als der Gerechtigkeit entspringt.

»Genau! Und das ist dafür, dass du immer heimlich bei mir abschreibst!«, merkt Valentine an und vollendet mit gekonntem Strich unser Meisterwerk.

»Hey … ho … Ich habe nicht abgeschrieben … «, protestiert der Schuldige.

»Ach ja? Hast du etwa immer solche Stielaugen?« Valentine hält sich beide Hände vor die Augen, streckt die Zeigefinger aus und wackelt damit. Damit ähnelt sie leicht einer Weinbergschnecke.

»Ich … eh … «, startet Philipp einen Rechtfertigungsversuch, der dabei bleibt. Kaum, dass wir ihn »freilassen«, entwischt er uns wieder, in Richtung Chemiesaal. »Ich gehe ihm mal nach«, beschließt Valentine. »Sehen wir uns nochmal nach dem Unterricht?«

Ich nicke. Noch habe ich Zeit. Noch. Ein wenig. Während Valentine sich Redox-Reaktionen antut, pilgere ich zu meinem Lieblingsort an der Schule, um dort meine letzte Stunde zu verbringen. Eine halbe davon liege ich einfach nur auf meinem Lieblingsstein und starre in den Winterhimmel. Tschüss, Herbst.

Ich habe in meinem kurzen langen Leben nichts Großartiges auf der Welt hinterlassen. Aber wenigstens habe ich an meinem letzten Tag die Menschen um mich herum glücklich gemacht. Es heißt immer, Gott liebt die Menschen. Ich liebe Gott nicht. Ist er jetzt traurig?

Es sind noch genau dreißig Minuten, als ein Gesicht plötzlich die Wolke ersetzt, der ich gerade eine Drachen-Form andichte. »Valentine hat es mir erzählt«, platzt aus Tobi panisch heraus.

»Ich bin ein Idiot, Manu.«

»Ich weiß.« Satz des Tages.

»Ich wollte dir einen Denkzettel verpassen … obwohl ich selbst an allem schuld bin … Ich verstehe total, wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben willst – Ich bin so ein Idiot«, macht er sich selbst fertig.

»Ist okay, Tobi. Ist okay«, sage ich. Aber nicht so wie sonst. Nicht so bettelnd. Nicht so froh. Ich sage es, weil ich es tatsächlich ok finde. »Ich bin kein Stück besser gewesen.«

Dieser Junge, den ich so sehr liebe, dass ich für ihn sterbe. Er raubt mir nicht länger den Atem. »Ich wollte dir genauso wehtun wie du mir«, stelle ich fest, lehne mich auf und stütze mich auf meinen Ellbogen. »Schätze, wir sind quitt.«

»Wir sind nicht quitt, Manu.«

Er beugt sich zu mir vor, nimmt meine Wange in seine feingliedrige Hand. »Ein Engel kam und sagte mir, dass du für mich sterben wirst.«

Auch der eigene Todestag ist für Überraschungen gut. Das hat Herr Sommer also für mich getan. Der Schuft.

»Freiwillig«, hängt er nachdrücklich an. »Wie kannst du nur, Manu?«

»Jeder stirbt mal.«

»Jetzt ist nicht der Moment für Witze.«

Und ich dachte, du liebst meinen Humor. »Ich tue das nicht nur für dich«, stelle ich klar.

»Ich tue es genauso für Jan.«

Sekundenlang hält er inne, starrt mir überrascht in die Augen. Erläuternd füge ich hinzu: »Er landet sonst im Gefängnis.«

Diese Aussage klärt für Tobi gar nichts. »Ich lasse dich nicht sterben, Manu. Schon gar nicht für jemanden wie mich. Oder Jan.« Ich könnte gerührt sein, bin aber geschüttelt.

»Du hast da nichts mitzureden, Tobi. Das Ganze ist beschlossene Sache! Leb dein Leben und mach gefälligst Valentine glücklich!«, pfeffere ich ihm verbal eine.

»Mein Schutzengel hat mir gesagt, es ist noch nicht zu spät. Wir können die Rollen tauschen. Lass mich gehen, Manu«, bietet Tobi mir ernsthaft an. Das bietet Tobi mir ernsthaft an.

»Das kann ich nicht, weil ich dich liebe«, schlage ich sein Angebot aus. »Ich kann und will das nicht. Außerdem hängen an dir mehr Menschen. Rein sozial-ökonomisch betrachtet, richtet dein Tod viel mehr emotionalen Schaden an … «

»Manu … ich kann das nicht zulassen, weil ich DICH liebe.«

Hahaha. Das kann nicht sein. Ich lache ihn aus. Kugele mich vor Lachen.

»Das habe ich wohl verdient … bei meinem ersten Ich-liebe-dich ausgelacht zu werden … «, schmunzelt Tobi bedauernswert. Ich kriege mich immer noch nicht ein. Rolle vom Stein.

»Danke Tobi, das versüßt mir meine letzten Minuten enorm! Du solltest mal überlegen, mit Comedy anzufangen!«

»Ich meine das wirklich so, Manu. Ich … hatte so ein Gefühl noch nie für sonst jemanden. Lange wusste ich nicht, was es bedeutet. Erst in München ist es mir klar geworden. Aber ich habe den falschen Weg eingeschlagen … wir hätten einfach miteinander reden sollen, oder?«

Allmählich habe ich mich wieder beruhigt. Oder wie man das nennt, wenn es einem so stark in die Seiten sticht, dass man sich nicht mehr rühren kann.

»Manu?«, setzt er nochmal an. »Ich habe meinen Schutzengel schon hoch geschickt. Er regelt gerade, dass deiner zurückkommt.«

»WAS?!«, flippe ich aus.

Statt was darauf zu erwidern, lächelt er mich an, mit seinem Ich-strahle-heller-als-die-Sonne-Grinsen. Hektisch krame ich mein Handy hervor, glubsche auf die Uhr. Es ist Zeit. Zeit zu sterben.

Gottes Plan

Es ist 13:45 Uhr. Es ist 14:00 Uhr. Es ist 14:05 Uhr. Tobi wartet mit mir auf meinen Tod. Beziehungsweise auf seinen, worauf ich weniger hoffe. Der Tod hat zwanzig Minuten Verspätung bisher. Das ist fast schlimmer als bei der deutschen Bahn.

Tobi hält meine Hand.

»Das solltest du lassen, deiner Freundin wird das nicht gefallen«, schüttele ich sie ab.

»Manu, es ist okay«, erklärt er. »Wir sind kein Paar. Ich habe dir doch gerade eben gesagt, was ich für dich empfinde.«

»Ach, das war kein Witz?«

»Manu, du bist echt klasse.« Tobi lacht und legt den ganzen Arm um mich.

Weil einer von uns gleich unter die Erde geraten wird, erlaube ich mir, mich anzulehnen. An seiner starken Jungenschulter. Die hoffentlich in den nächsten Jahren noch weiter in die Breite wächst. Zum x-ten Mal fange ich an zu flennen. Janiel wird bestimmt dafür sorgen, dass Tobi stirbt.

Ich werde damit leben müssen, Tobi umgebracht zu haben. Der Idiot an meiner Seite hingegen lacht nur. Wir sind wie manisch und depressiv. Wie war das nochmal mit Gegensätze ziehen sich an?

So warten und warten und warten wir.

Bald ist es 15 Uhr.

»Manu, würdest du mit mir ausgehen?«

Der Junge hat die Situation immer noch nicht kapiert.

Ich schweige ihn an. Bis 15:15 Uhr.

»Okay. Auf ein letztes Date.«
 

Hoch oben über den Wolken im sechsten Himmel ging eine Beschwerde von einem Angeloi ein. Eine stürmische Beschwerde, denn der Angeloi platzte ohne Vorwarnung oder Anklopfen schamlos in Camaels Arbeitszimmer herein. Zugegeben, er war nicht oft hier. Doch die letzten vierundzwanzig Stunden erforderten besondere Maßnahmen. Nachdem Azrael den Strahlenden Janiel wieder angeschleppt hatte, mussten sie sich bemühen, diesen auf irgendeine Art und Weise gewaltsam festzuhalten, damit er nicht nochmals ausbüchsen konnte. Darum hatte Camael neben Eiael noch drei weitere magische Engel anheuern müssen, was gar nicht so einfach gewesen war, bei diesem ständigen Personalmangel.

Die Personalabteilung könnte ruhig einmal ihre Vorschriften lockern, fand Camael. Der Angeloi, der ihn nun störte, war jener, der Azrael geholfen hatte, den werten Janiel einzufangen. Sofort wusste Camael, dass es mal wieder Ärger gab.

»Meister Camael, ich bitte Sie, die Akasha-Chronik im Fall von Manuela Liedtke umzuschreiben«, stellte der Angeloi seine Forderung.

Camael schüttelte den Kopf: »Es tut mir leid, aber dieser Fall ist abgeschlossen. Sie dürfte bereits gestorben sein.«

Gleichzeitig sahen sie auf die Uhr. »Seit einer viertel Stunde, um genau zu sein«, präzisierte Camael.

Enttäuscht ließ der Angeloi seine Schultern sinken. »Oh … «

Manuela Liedtke war tot. Offiziell.

Im nächsten Augenblick schneite ein wütender Todesengel in Camaels Büro hinein. »Eine Frechheit ist das! Wie konnten Sie Janiel entkommen lassen, haben Sie das mit Absicht getan, Camael?!«, brüllte Azrael durch den Raum. Kurz gafften sie beide den erzürnten Oberbefehlshaber der Todesabteilung an. Kurz. Dann wandte sich Camael seinem kugelförmigen Tablet zu, dass ihm letztens ein schwarzmagischer Engel installiert hatte. Durch diese Bildschirmkugel konnte er Janiels Gefangennahme überwachen. Wie bereits fünf Minuten zuvor saß Janiel gefesselt und umzingelt von Wachen in einer temporären Gefängniszelle im fünften Himmel. »Mein werter Azrael, Ihre Beschwerde ist unbegründet. Seht selbst«, bot der Karma-Engel ihm an.

Azrael rückte näher, zusammen mit dem Angeloi, der sich unhöflicherweise dazu quetschte. »Aber … dann … das kann nicht sein … «, stammelte der Engel im Sakko.

»Was, werter Azrael?«, fragte Camael.

Statt zu antworten, hob dieser sich entsetzt eine Hand vor den Mund und stiefelte hinaus, zum Wolkenrand. Dem Aussichtsplatz auf die Erde. Von Neugier getrieben, marschierten Camael und der Angeloi hinterher. Als sie hinabsahen, wurde ihnen klar, was den Todesengel so sehr schockierte, dass es ihm die Sprache verschlug.

Froh und munter lief das Menschenmädchen, das vor einer viertel Stunde gestorben war, in einer Innenstadt in Deutschland herum, als wäre nichts gewesen. Plötzlich flatterte ein kleines Vögelchen herein, setzte sich auf die Schulter des Todesengels und flüsterte ihm etwas zu.

»Ja … ja … In Ordnung … «, murmelte er, bevor er verkündete: »Das war die Rechnungsabteilung. Die Statistik ist wieder im Lot.«

Keiner der anwesenden Engel konnte sich dieses Phänomen erklären. »Camael … habt Ihr den Fall von Manuela Liedtke in der Akasha-Chronik nachgeschlagen?«
 

Wir gehen Eis essen. Ich mag Eis. Aber wer tut das nicht. Die Zeit verfliegt, wir leben immer noch. Dass Engel unzuverlässig sind, muss man mir nicht zweimal sagen. Nicht einmal. Wenn lauter Vollpfosten wie Janiel den Himmel an Gottes Seite regieren, dann wundern mich die Zustände auf der Erde überhaupt nicht mehr.

Tobi und ich haben uns viel zu erzählen. In der Eisdiele in der Innenstadt verrät er mir, dass er tatsächlich mal was mit Nadine hatte. Ich habe mir also immer begründet Gedanken gemacht. Er erzählt mir auch, dass ich nicht die volle Wahrheit über seine Therapie kenne. Bisher hatte er mir das einfach nicht erzählen können, es sei zu peinlich gewesen. Seine Eltern dachten, er wäre suizidgefährdet. Aus Versehen. Aha. Und ich dachte immer, er hätte nur eine Konzentrationsstörung.

Tobi kann es nicht fassen, dass mein Zimmer komplett knallrosa sein soll. Ich würde ihn ja einladen und eine Wette darauf abschließen, aber naja – dazu wird es einfach nicht mehr kommen. Genauso wenig kann er glauben, dass eines der Gerüchte um Nadine wahr sein soll. Ja, wir tratschen zu viel. Aber eigentlich – war das schon immer so. Und eigentlich – könnte das auch so bleiben.

Ich will wissen, wie lange Tobi schon von seinem Schutzengel weiß. Nicht lange. Er will dasselbe wissen.

»Circa sechs Wochen«, beichte ich. »Nadine wusste es auch kurz, dann wurde aber ihr … Gedächtnis gelöscht.« Mit keinem Wort erwähne ich, dass Jan mein Schutzengel ist. Ich meine zu wissen, dass das so eine Geheim-Sache war. Und ich will nicht, dass Janiel wegen mir Ärger bekommt. Insgeheim habe ich immer noch Angst.

Dass Janiel mir nicht verzeiht. Das Gesicht, das er bei unserem Abschied machte, werde ich niemals vergessen. Dabei wollte ich ihn nur beschützen. So, wie er es für mich getan hat. Wo ich gerade an Janiel denke, fange ich an, ihn auch noch zu sehen. Seltsam, wie das Gehirn einem Bilder vortäuschen kann. Das erste Mal in meinem Leben erlebe ich eine echte Fata Morgana!

Das Janiel-Abbild klopft von außen an die Fensterscheibe der Eisdiele, in dessen Innerem Tobi und ich sitzen. Seltsam ist nur, dass Tobi darauf reagiert. »Ist das Jan? Ich dachte, er wollte die Stadt verlassen!« Tobi hat das Gerücht also auch schon gehört. Mann, das geht an unserer Schule echt immer viel zu schnell! Da muss man wirklich aufpassen, was man so erzählt.

M.O.M.E.N.T.
 

Zurück am Schreibtisch der Bibliothek im sechsten Himmel lugten fünf Engel über Camaels Schultern, als dieser dort in einem Exemplar der Akasha-Chronik nach Hinweisen für das übernatürliche Überleben von Manuela suchte. Eine merkwürdige Sache fiel Camael bereits beim Aufschlagen des Buches auf: Es war handgeschrieben. Zugegeben, Camael hatte nicht sonderlich oft in der Akasha-Chronik nachschlagen müssen, dennoch wusste er, dass in der Regel alle Werke gedruckt worden waren. An manchen Stellen von Manuelas Buch des Lebens war sogar hineingekritzelt worden, wie auf einen karierten Notizblock. Der Meister des Karmas fragte sich, ob das einer seiner Kollegen oder gar Vorgänger vollbracht haben musste. Nach einigem Umschlagen der Seiten stieß Camael am Ende des ersten Fünftels auf das, wonach sie gesucht hatten.

»Todeszeitpunkt des Menschen, 1. Dezember 13:45 Uhr. Geburt des Engels, 1. Dezember 13:45 Uhr«, las er laut vor. Vor diesem Absatz standen durchgestrichen noch weitere Daten: »Todeszeitpunkt des Menschen: 10. Oktober 13:45 Uhr. Geburt des Engels: 10. Oktober 13:45 Uhr.«

Azrael fasste sich aus dem Staunen aller als Erster: »Sie ist ein Nephilim.«

»Ich wusste, sie ist etwas Besonderes, schon nachdem sie diesen Test gelöst hat!«, behauptete Asinel, der durch die Gerüchteküche angelockt worden war. »Ich hatte es im Gefühl!«

»Das mit dem Test ist eher auf einem anderen Mist gewachsen, nicht wahr, Janiel?«, feixte der Angeloi, Janiel süffisant angrinsend.

»Etwas Besonderes ist sie trotzdem«, gab auch Eiael seinen Senf dazu. »Unsere Möchtegern-Madeleine.«

»So, damit wäre der Fall für mich erledigt«, erklärte Azrael, rückte sich die Brille zurecht und zückte sein schwarzes Notizbuch, um den Fall »Manuela Liedtke« ein für alle Mal abzuhaken. Dann stapfte er hinaus.

»Was bedeutet das, Camael«, fasste nun auch Janiel sein Wundern in Worte.

»Nun ja … eigentlich keine gute Sache. Einer unserer Engel hat die Regeln gebrochen«, erläuterte der Meister des Karmas zögerlich. Er trug nämlich die Verantwortung dafür. »Unser Menschenmädchen ist nämlich ein halber Engel.«

»Fjchiuuu!«, pfiff Asinel. »Wer wohl der Vater sein mag?«

»Er lebt nicht mehr. Auch nicht als Engel«, informierte Eiael sie, der nebenbei an Camaels Kristallkugel herumspielte.

»Er muss seinen Schutzengelpass abgegeben haben und danach auf die Erde zurückgekehrt sein«, vermutete Camael. »Ein Skandal ist das! Eines der größten Verbrechen ist genau vor meiner Nase geschehen!«

»Aber, aber! Regt Euch nicht auf, werter Meister! So schlimm ist das nun auch wieder nicht«, versuchte Asinel diesen zu beruhigen.

»Genau. Fräulein Manuela eignet sich bestimmt ausgezeichnet für ein Engelsamt, findet Ihr nicht?«, zog Eiael in Erwägung, nicht ganz ohne Hintergedanken.

»Engel und Menschen sollen sich nicht paaren, wo kämen wir denn dahin!«, schweifte Camael weiter aus. »Gottes Plan wurde mit Füßen getreten!«

Diese Aussage erzürnte Janiel. Er stemmte die Hände gegen die hölzerne Tischplatte. »Meister Camael, habt Ihr je daran gedacht, wie unmoralisch Ihr Karma-Engel im Namen des Herrn handelt? Blind befolgt ihr die Regeln der Bücher und überhört die Stimmen der Menschen. Weil es in der Chronik niedergeschrieben ist, handelt Ihr wortgetreu. Seht euch Manuelas Chronik an! Wer auch immer hineingekritzelt hat – besaß mehr Liebe und Güte als Ihr je hattet!«, hielt er seinen Vortrag. Beeindruckt klatschten alle übrigen Engel Beifall, bis auf den Meister des Karmas, der sich momentan für seinen Meistertitel schämte.

»Der freie Wille des Menschen ist der Ursprung aller Geschehnisse«, fügte Eiael hinzu. »Vergiss das nicht, Johann. Und Ihr auch nicht, werter Meister« Dann verbeugte er sich und stapfte hinaus.

»Da bekommt man richtig Lust, zur Abwechslung mal echtes Glück zu verteilen, anstatt nur Origamikraniche. Eigentlich eine gute Idee!«, verabschiedete sich auch Asinel, ließ die zwei Übrigen alleine.

Reuevoll fasste sich der Karma-Engel an die Stirn. »Ich bin Camael, der Meister des Karmas. Natürlich.«

Janiel legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Die Akasha-Chronik schreibt sich von selbst, sie bündelt den Willen der Menschen. Gottes Plan zu ergänzen, das ist meine Aufgabe«, brabbelte Camael. Er hatte sich schon gewundert, warum er sich als scheinbar Einziger ständig gelangweilt hatte.
 

»Jan?!«, rufe ich extrem-extrem-extrem entgeistert aus, stehe mit einem Satz auf, so dass mein Stuhl halb umfällt. »Was machst du hier?!«

Oh mein Gott. Gleich wird Tobi … Er wird … »Hau sofort wieder ab!«, pflaume ich meinen Schutzengel an, der mittlerweile die Eisdiele betreten hat.

»Genau, wir haben ein Date«, stimmt Tobi mit ein.

Nicht mehr lange, wenn Janiel jetzt nicht sofort … Da geht er auf mich zu, packt mich am Handgelenk und küsst mich auf den Mund.

Schockstarre. Bei mir zumindest. Tobi erhebt sich genauso ruckartig wie ich zuvor (nur, dass sein Stuhl umfliegt), beschimpft Janiel mit einem nicht-jugendfreiem Wort und schubst ihn beiseite.

Obwohl Janiel durch Tobis Stoß nach hinten taumelt, wischt er sich mit einem Lächeln – einem echten Engelslächeln – sanft über den Mund. »Das war es wert.«

Immer noch total verblüfft stehe ich wie versteinert da und gucke mir an, wie Tobi auf Janiel eindrischt. So viel Gewaltpotenzial habe ich ihm gar nicht zugetraut. Und Janiel hätte ich nicht zugetraut, – falls er jetzt aus irgendeinem Grund auf mich stehen sollte – dass er inzestuöse Vorlieben hegt!

Nachdem Tobi sich wieder (etwas) beruhigt hat (und die nette Kellnerin uns gebeten hat, sich sittlicher zu verhalten), setzen wir uns alle drei an den Tisch zurück und bestellen Janiel einen Schoko-Eisbecher. »Du wirst nicht sterben, Manu«, kommt Janiel auf den Punkt.

»Ach nee. Solange du hier bist, sowieso nicht. Also kusch wieder!«, versuche ich mein Glück nochmal. Janiel schüttelt den Kopf: »Nein, Manu. Ich bin kein Schutzengel mehr.«

Tobi gafft ihn dumm an: »Du bist ihr Schutzengel?!«

»Nicht mehr«, korrigiert er ihn. »Manu, du bist ein Nephilim«

Ein Nephilim?

»Also so was wie eine Amphibie … ? Janiel, das mit dem Komplimente machen musst du noch üben. Und das mit dem Küssen auch!«, halte ich ihm seine Überrumpel-Aktion vor.

»Ein Nephilim ist ein Halb-Engel, Manu«, mischt sich Tobi ein.

»So ungern ich das zugebe: Er hat Recht«, bestätigt Janiel Tobis Aussage und nickt mir zu.

Ich bin ein … halber Engel?

»Ihr verwechselt da was, ich bin ein Pechvogel.« Oder war zumindest einer.

»Nein, Manu. Dass ich dir geschickt worden bin, war ein Irrtum. Du hast mich die ganze Zeit nicht gebraucht, um zu überleben. Ich war von Anfang an überflüssig. Kein Wunder, dass ich so schlecht darin war, dich zu beschützen«, belächelt Janiel die Sache. »Du warst schon immer autonom.«

»Und was ist mit Dr. Sommer … ?«, fällt mir nichts Besseres dazu ein, anstatt auf die Engelsgeschichte einzugehen.

»Mach dir keine Sorgen um ihn, er ist vor mir auf die Erde zurückgekehrt.« Puh. Tobi und ich sehen uns erleichtert an.

Wir werden nicht sterben. Wir werden nicht sterben! Sobald wir das verinnerlichen, fallen wir uns gegenseitig um den Hals. Wir werden leben!

»Eine Sache wäre da noch, Manu … ich werde nicht allzu lange bleiben können. Es kann sein, dass wir uns nie wieder sehen«, schneidet Janiel ein neues Thema an, als die Kellnerin ihm seinen Eisbecher hinstellt. »Ohne Schutzengelpass bin ich nicht dazu befugt, auf der Erde zu verweilen.« Er klingt ernst, darum lauschen wir ihm gespannt. »Manu, als Nephilim bist du in der Lage, zwischen den Sphären zu wandern. Möchtest du mit mir in den Himmel kommen?«



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Kommentare zu dieser Fanfic (11)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Schnullerkai
2018-08-19T18:44:39+00:00 19.08.2018 20:44
Schlag auf Schlag 'ne neue Wendung, gefällt mir. Da kommt nie Langeweile auf. :D
Müsste Dr. Sommer jetzt nicht Ärger kriegen, weil er sich Tobi offenbahrt hat?
Von:  Suewu
2018-08-18T12:24:41+00:00 18.08.2018 14:24
Oh mein Gott ohmeingottohmeingott..!!!! *0* TTöTT
Manuuuu..!
So eine beschissene situation Tobi oder Manu...wer soll ins Gras beißen...?
Und Manu opfert sich...!? >.<
Aber aberaberaber...! Neeeiiiiiin!
Von:  Suewu
2018-08-16T21:52:16+00:00 16.08.2018 23:52
Nein..! Niemand hasst dich Manu!!! Wir ham dich alle ganz dolle lieb..! *knuddel* TT^TT
Von:  Suewu
2018-08-16T21:49:45+00:00 16.08.2018 23:49
Oh Gott Janiel...wie konntest du nur...?! Und Manu will sich umbringen..?! TTxTT
Neiiiin...!

Janiels geschichte ist ja mal mega traurig! Son scheiß! Der arme, arme Janiel!!

Und ernsthaft???!!! Da hat sich Manu gerade dazu entschlossen doch zu leben... und dann soll sie plötzlich sterben?????!!!!
Neeeeeiiiiin!!! Ich will niiiiicht!!! >o<

Aber die Geschichte nimmt wirklich eine unvorhergesehene (zumindest hab ichs nicht kommen sehen... xD) und sehr interessant gestaltete Richtig! Gefällt mir gut und ist wirklich eine sehr gelungene Story Entwicklung ^^
Die Spannung ist zum zerreißen gespannt! Ich will unbedingt wissen wie es weiter geht!! Kanns gar nicht erwarten!! >\\\<
Von:  Suewu
2018-08-14T16:55:34+00:00 14.08.2018 18:55
Uff... da ist jetzt aber viel auf einmal passiert... O.o‘
Ich komm mir vor wie Manu.. erst mal gar nich mehr durchblicken... xD
Aber also ich bin ja immer noch auf jeden Fall dafür das Manu mit ihrem Schutzängelchen zusammen kommt ;)
Und nach dem was sie angeblich Konstantin vorgebrabbelt hat ist es gar nich so aussichtslos von ihrer seite aus... ^~^
Was sie natürlich noch nicht so richtig checkt.. xD
Hach.... :3
Antwort von:  Whiscy
16.08.2018 22:31
Hehehe, Team Janiel, was? :D
Antwort von:  Suewu
16.08.2018 23:42
Jaaa...! :3
Antwort von:  Whiscy
16.08.2018 23:49
<3
Von:  Suewu
2018-08-13T07:33:26+00:00 13.08.2018 09:33
Was... ist da gerade passiert..?!?
Hat Tobi geheult..?!
Warum das denn? Und wieso fand er es schlimm Manu da mit Jan zu sehen..? >.<
Omg was passiert..!?!?!
Ok ich hab das gefühl ich nerve... xD
Antwort von:  Whiscy
13.08.2018 14:17
Hahahaha du nervst überhaupt nicht! Ich freue mich immer sehr über deine Kommentare <3
Antwort von:  Suewu
13.08.2018 16:09
Ok cool ^~^
Von:  Suewu
2018-08-12T20:53:39+00:00 12.08.2018 22:53
Ach Manu...>^<
Und das mit Dr. Sommer ist ech zum schießen! Man konnte sich richtig gut Nadins Gesicht vorstellen..! XD
Immer wieder herrlich!
Die storry ist jedesmal wieder mein Highlight des Tages. ;)
Antwort von:  Whiscy
13.08.2018 14:16
Hehehe ich freue mich unglaublich, dass dir die flachen Witze gefallen xDDD :D
Von:  Suewu
2018-08-08T06:11:46+00:00 08.08.2018 08:11
Hey ich hab gerade diesen Fanfic entdeckt und bin total begeistert!! (\\\^~^\\\)
Ich liebe deinen schreibstil und die storry finde ich auch wunderschön ^^
Einfach super zu lesen!

Ich HOFFE das die storry weiter geht... >.<.. bitte..? Xd
Wenn ja wann ist eine Fortsetzung geplant..? .. ich weiß ich bin ungeduldig .. u.u aber ich will unbedingt wissen wies weiter geht... >\\\<

Jedenfalls Respekt für die tolle leistung und viel spaß am schreiben weiterhin..!
Antwort von:  Whiscy
08.08.2018 11:43
Wohaaa, danke dir liebe Suewu! > /// < Dein Kommi macht mich gerade unheimlich happy!! o___o
Die Story geht auf jeden Fall weiter, sie ist nämlich schon fertig ^___^ Ich lade hier nur nach und nach hoch. Wenn du sofort alles am Stück lesen möchtest, kannst du dir das eBook hier kostenlos runterladen: http://amzn.to/2BiiYfK
Ansonsten gibt es auch Printausgaben auf www.whiscy.de :)
Ich freu mich auf jeden Fall super krass, dass du die Geschichte mit Manu so gerne liest! Danke für dein Feedback!
Antwort von:  Suewu
09.08.2018 00:25
Danke ich schau mal ob ich das runterladen kann..
Und ich bin grad total glücklich das es weiter geht..!! Ich bin echt total angetan von der storry und natürlich Manu..und Janiel und Eiael.. und sowieso allen bis auf Nadin..(und im moment Tobi ):< ) xD
Freut mich jedenfals voll das es weiter geht...
und ich hab gerade gesehen es gibt band 2&3 auch schon.. O.O
Will lesen..! >\\\<
Antwort von:  Whiscy
10.08.2018 17:27
Bestimmt, ansonsten gibt's halt noch Prints ^^ Nawww ich freu mich echt krass!! <3 Du Liebe du! Genau, die Trilogie ist bereits komplett abgeschlossen


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