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Warum Pechvögel fliegen können.

Die Schutzengel-Trilogie 1
von

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Phönix-Syndrom

Heulend werfe ich mich in Tobis Arme, gebe ähnliche Geräusche von mir wie Nadine neulich. Ich schmiege mich an ihn, darf ihn endlich berühren. Darf endlich bei Tobi sein, der Person, die ich liebe. Er streicht mir sanft über den Rücken, in seiner Umarmung kann ich seinen Herzschlag spüren. Es ist nass-kalt, wie es sich für den Herbst gehört und mittendrin sind wir, in einer wohlig-warmen Blase. Ich liebe ihn so sehr. Sein mattbraunes Haar, seine helle Haut, seine raue, nicht allzu tiefe Stimme, die der Stimmbruch wenig verändert hat. Die Art, wie er mich ansieht, wie er grinst, wie er mir Dinge erzählt, von seinem kleinen Bruder, seiner Familie, dem Sportverein, dem Ferienurlaub, der letzten Klausur, dem Deutschlehrer, den er so sehr hasst, der Therapie. Er ist der Junge von nebenan, der mir ein Taschentuch gab. Ein Fahrrad. Ein neues Herz.

Valentine hat Recht gehabt. Ich habe Tobi wehgetan. Mit Absicht. In dem Moment, indem ich meinen Klassenkameraden vorlügen wollte, ich hätte einen Freund – habe ich keine Sekunde lang an Tobis Gefühle gedacht. Stattdessen habe ich mir gewünscht, dass es ihm wehtut, mich mit Jan zu sehen. Gewünscht, dass es ihm schlecht geht, dass er eifersüchtig wird.

Wir lösen uns voneinander, und während wir das tun, verwandelt Tobi sich. Sein Gesicht verformt sich, seine Augen färben sich goldgelb, bernsteinfarben, die Haare blond. Er wächst ein Stück. Janiel steht vor mir.

Ich kann es nicht fassen. Es ist Janiel.

Wie ein Wasserfall fange ich an, Tränen zu vergießen. Breche in mir zusammen. Sinke auf die Knie. »Warum hast du das gemacht … ?«

Tobi liebt mich gar nicht.

Stimmt.

»Warum hast du das gemacht … ?«, wiederhole ich.

Janiel hat mich hinters Licht geführt.

»Wie konntest du nur … !«

Statt zu antworten, geht er in die Hocke und umarmt mich: »Lass es raus.«

Wütend prügele ich mit den Fäusten gegen seine Brust, doch egal wie hart ich zuschlage, es scheint ihm nichts auszumachen. Im Eifer pfeffere ich ihm eine. Satte. Ohrfeige. Es klatscht, die Straße ist so menschenleer, es hallt durch die Gegend. Erst jetzt wird Janiel davon wachgerüttelt. Mit großen Augen mustert er mich. Ja, auch Manu kann austicken. »Ich hasse dich, Janiel! Ich hasse, hasse, hasse dich! Geh wieder dahin zurück, wo du hergekommen bist, ich will dich nie wieder sehen! Lieber sterbe ich!«, brülle ich ihn erzürnt an. Janiel kann gar nicht glauben, was ich da zu ihm sage. Ihm dämmert langsam, dass ich es ernst meine. Er hat’s nämlich geschafft. Ich hasse mein Leben offiziell.
 

Am nächsten Werktag schwänze ich die Schule, um einen iPod zu kaufen. Und Mehl. Wir haben keins mehr da. Natürlich dackelt mir auf Schritt und Tritt mein Todfeind hinterher. Immer noch nicht hat er mir erklärt, was die Aktion sollte und eigentlich will ich es auch gar nicht mehr wissen. Jetzt ist mir wirklich alles egal, bis auf eines: »Welche Farbe soll Eiaels iPod haben?«, frage ich Janiel.

»Nimm den lilanen. Er steht auf ausgefallene Sachen.«

Ja, so hätte ich Schneewittchen mit seinem Filzmantel auch eingeschätzt. Das ist der einzige Dialog, den ich an diesem Tag mit Janiel führe. Nachdem ich mein ganzes Geld im Elektronikmarkt für ein Fabelwesen verpulvert habe, besuche ich noch den Supermarkt, um den letzten Rest aus meiner Geldbörse zu kratzen und mache mich dann an die Arbeit.

Ich habe einen Plan. Der viel Mehl und Zucker beinhaltet. Während ich die Küche auf den Kopf stelle, hilft Janiel mir diesmal nicht. Entweder ich mache alles richtig, oder ich habe es geschafft, ihm durch meine Ignoranz so viel Angst einzuflößen, dass er es einfach nicht wagt, mich zu belästigen. Nach vier Stunden Küchenarbeit habe ich es geschafft, einen Schoko- und einen Grüntee-Kuchen vom Feinsten zu zaubern. Es ist eine leichte Ofengeburt, der Teig ist gut fest geworden und muss nur noch abkühlen, bevor die Vollmilchschokoladenglasur die Erlaubnis bekommt, die Meisterwerke zu ummanteln. Backen? Kann ich!

Konnte ich eigentlich schon immer ganz gut – Warum gibt’s das nicht als Schulfach am Eberhardt-Frank-Gymnasium?! –, abgesehen davon, dass ich meistens noch irgendwas dabei zerscheppert habe, was allerdings eher an meinem Pechvogeldasein gelegen hat, als an meinen Backkünsten. Mir fällt auf, dass ich schon lange nichts mehr kaputt gemacht habe. Und auch sonst keine Missgeschicke in puncto Sachschäden mehr passiert sind. Ob das wirklich Janiels Verdienst ist, kann ich so nicht beantworten. Und selbst wenn, könnte ich ihm nie dafür danken. Jetzt nicht mehr.

Eiael, der Dreckssack, schneit zehn Minuten später als abgemacht herein. Das reibe ich ihm unter die Nase: »Du bist zu spät, Schneewittchen, schon mal was von Manieren gehört?«

»Darf ich dich daran erinnern, wer mich demletzt versetzt hat, Fräulein Manuela?«, entgegnet der okkulte Engel nur und spannt seinen schwarzen Regenschirm zu, den er dabei hat, weil es draußen aus Kübeln gießt. Der Herbst, der Herbst ist da. Mit jedem Tag wird es kälter. In letzter Zeit bin ich sehr froh, dass meine Mutter tagsüber arbeitet. Sie wäre bestimmt recht unfroh, wenn sie wüsste, dass ich in ihrer Küche Teepartys veranstalte. Oder plane, mich umzubringen.

Schneewittchen bugsiert sich am Küchentisch, bereits gierig auf das im Karton verpackte kleine Geschenk (mit Geschenkpapier!) und auf meine Backkreationen starrend. »Fräulein, diesmal hast du dich aber übertroffen! Womit habe ich das bloß verdient!«

»Das ist eine gute Frage«, plappert Janiel leise. Ich trage die Teekanne und Tassen zu den sitzenden Herren herüber und geselle mich dazu. Zucker steht auf dem Tisch. Servietten. Eine kleine Milchkanne.

»Dann können wir mal anfangen!«, verkünde ich freudig. »Aber bevor wir das tun, habe ich eine kleine Bitte.«

»Nur zu«, sagt Eiael mit einer flotten Handbewegung nach oben, während Janiel sich nicht dazu äußert.

»Ich möchte Janiel bitten, uns allein sprechen zu lassen«, fordere ich, ihm tief in die Augen schauend. Statt nachzugeben, wird er leider eher aggro: »Vergiss es!«

»Aber Johann … «, wendet Eiael ein. »DU weißt doch, ich würde unserer Möchtegern-Madeleine nie etwas antun.«

Eigentlich habe ich immer noch so eine gaaaanz leichte Kratzernarbe vom letzten Mal am Hals, als Eiael meinte, er müsste da mit einem Messer reinritzen. Aber meistens verdecken das meine Haare. »Nein Manu, ich lasse dich ganz sicher nicht mit dem da alleine«, spricht Janiel sein letztes Wort.

»Nur fünf Minuten!«, versuche ich zu verhandeln, obwohl klar ist, dass das bei Janiel zwecklos ist. Gut, dann eben auf die harte Tour.

»Eiael?« Ich sehe ihn fragend an. Er versteht.

»Tut mir leid, Janiel, aber ich kann so einer liebreizenden Bäckerin keinen Wunsch abschlagen!«, feixt Schneewittchen.

Yes! So ein cooler Typ einfach nur. »Du wirst erst staunen, wenn du dein Geschenk aufmachst!«, werfe ich noch ein.

Prompt erhebt sich Janiel vom Tisch und klopft einmal mit den Fäusten darauf: »Du wirst doch nicht …«

Da schnippt Eiael mit den Fingern, und urplötzlich befinden er und ich uns nicht länger in Mamas Küche. »Was ist das hier für ein Raum?!«, wundere ich mich laut.

»Das ist kein Raum, sondern eine andere Ebene. Wir sind nur im Bewusstsein hier.«

»So was geht?!«, rufe ich aus. »Das ist ja der Hammer!«

»Worüber möchtest du mit mir sprechen, Fräulein Manuela?«, schneidet der okkulte Engel das Thema überhaupt an.

Ich muss erstmal tief durchatmen. Dieser Schritt ist unwiderrufbar. »Eiael, ich möchte dich bitten … Janiel zurück in den Himmel mitzunehmen.«

»Oh … «, staunt er zunächst. »Oh … «

Dieser Galaxie-Bewusstseins-Raum ist unfassbar schön. Um uns herum glitzern überall Sterne, Milchstraßen und andere Galaxien. Das Funkeln und Leuchten könnte mein Herz berühren, wenn es noch da wäre. Eiael räuspert sich: »Hrrm. Also das kann ich nicht machen. Ich habe gerade eben Johann versprochen, dir kein Haar zu krümmen.«

»Tust du ja auch nicht! Du nimmst nur deinen Freund wieder mit, und ihr könnt beide glücklich wieder auf eure Gottesdienste gehen!«

»Dir ist bewusst, dass du stirbst, sobald Johann die Erde verlässt?«

»Ja. Und.«

»Hör mal, … du bist zu jung, um zu sterben.«

Ich hätte nicht gedacht, dass Eiael so vernünftig ist.

»Ich habe dir doch Kuchen gebacken … und einen iPod gekauft … «, nuschele ich auf die Mitleidstour.

»Oh! Das Geschenk ist also der iPod! Ich freue mich wirklich, vielen Dank, Fräulein!«, bedankt er sich. »Aber dafür kann ich dich nicht umbringen.«

»Was muss ich tun, damit du Janiel mitnimmst?«, will ich wissen. Eiael seufzt: »Denk bitte nach, bevor du so eine Entscheidung triffst.«

Ich habe nachgedacht. Mein Leben ist scheiße. Es wird nicht besser. Also warum noch Zeit vergeuden.

»Tu das Johann nicht an.« In Eiaels Stimme zittert eine leise Angst.

»Ich bin nur ein Job, keine Sorge«, argumentiere ich dagegen.

»Fräulein, das glaubst du doch selbst nicht.« Er starrt mich an, aber ich weiche seinem Blick zur Seite aus. »Und tu das vor allem nicht deiner Familie an.«

»Ich habe nur noch meine Mutter. Und die hat keinen Grund, stolz auf mich zu sein.«

»Hörst du überhaupt was du da sagst? Du HAST eine Mutter. Natürlich ist sie stolz auf dich.«

Ich fange an zu weinen. »NIEMALS IST SIE STOLZ AUF MICH. INSGEHEIM WÄRE ES IHR LIEBER, ICH WÄRE GESTORBEN ANSTATT PAPA!«

Kopfschüttelnd schwebt er auf mich zu, nimmt mich in den Arm. »Ich bin mir sicher, dass deine Mutter dir nicht die Schuld dafür gibt.«

»Aber ich gebe mir die Schuld dafür!«, knirsche ich hervor. »Ich will sterben, Eiael!«
 

So saß Janiel nun da, neben zwei schlummernden Körpern in Frau Liedtkes Küche. Verdammt sei Eiael. Es war Janiel unmöglich, den beiden zu folgen. Eiael könnte eine eigene Ebene erschaffen haben, auf die Janiel keinen Zutritt hatte. Der Strahlende wusste, er war zu weit gegangen, in dem Moment, in dem Manuela ihm den Schlag ins Gesicht verpasst hatte. Die Entschlossenheit, die in ihren Augen gelegen hatte, ließ Janiel erkennen, dass er einen Fehler gemacht hatte. Andererseits auch nicht, denn endlich hatte sie ihren aufgestauten Gefühlen Luft machen können. Der Engel kramte das Grundregelbuch für angehende Schutzengel hervor.
 

Vorwort: Engel und Menschen.

Kapitel Eins: Der Kodex.

Kapitel Zwei: Mensch und Verstand.

Kapitel Drei: Zusammenarbeit mit Sylphen.

Kapitel Vier: Gebrauch des Pentagramms.

Kapitel Fünf: Der Schutzengelpass.

Kapitel Sechs: Gos & No-Gos.

Kapitel Sieben: Die Hauptaufgaben eines Schutzengels.

Kapitel Acht: Psychische Erkrankungen und Umgang damit.

Kapitel Neun: Physische Erkrankungen und Umgang damit.

Kapitel Zehn: Wann die Karma-Engel informiert werden sollten.

Kapitel Elf: Auf- und Abstieg.

Kapitel Zwölf: Über geborene und ungeborene Seelen.

Kapitel Dreizehn: Abgabe an Todesengel.

Kapitel Vierzehn: Richtlinie Akasha-Chronik.

Kapitel Fünfzehn: Missbrauch und Folgen.

Kapitel Sechszehn: Andere Schützlinge.

Register: Definitionen und Begriffe

Nachwort: Handeln in Gottes Namen.
 

Ein ganz schön fettes Taschenbuch, für ein Taschenbuch. So viele Regeln, die es zu befolgen galt. In Gottes Namen. Darüber könnte er jetzt lachen. Janiel schlug das sechste Kapitel auf:
 

Go: Verwandlung in ein Haustier, einen alltäglichen Gegenstand, Glücksbringer, Wohnausstattung

No-Go: Missbrauch der menschlichen Gestalt, um ein zweites Erdenleben zu genießen

Go: Geheimhaltung gegenüber der gesamten Menschheit

No-Go: Offenbarungen gegenüber selbstauserwählten Menschen

Go: Den Schutzengelpass bei sich führen

No-Go: Den Schutzengelpass verlieren
 

Es war lustig, dass das Grundregelbuch wirklich so verfasst worden war, dass auch der Dümmste die Regeln leicht befolgen konnte. Dennoch hatte Janiel es geschafft, ungefähr fünfzig Prozent dieses Kodexes zu brechen. Er war nun mal kein echter Schutzengel. Er war einfach nur ein Typ, der gut darin war, Musik zu machen. Keinen anderen Grund konnte er sich vorstellen, weshalb man ihn für die Position der Macht im Engelschor auserkoren hatte. Immerhin spielten die anderen Chormitglieder oft mehr schlecht als recht. Dass Camael ausgerechnet ihn eines Tages als Beschützer auf die Erde senden würde, wäre Janiel im Traum nicht eingefallen. Janiel blätterte weiter, schlug Kapitel Acht auf.
 

Psychische Erkrankungen sind schwere Bürden im Leben eines Menschen. Durch Depressionen, Borderline-Störungen, Ess- und Verhaltensstörungen, Burn- und Bore-Out, Demenz, Selbstverletzendes Verhalten, Suizidgedanken und mehr werden den Schutzengeln ihre täglichen Aufgaben zusätzlich erschwert. Darum geben wir hier ein paar Richtlinien für den Umgang mit einer psychisch erkrankten Person:

1. Meiden Sie die Gestalt des Menschen. Eine psychisch erkrankte Person könnte zwar einen Anker in Ihnen finden, Sie sind jedoch nicht befugt, eine Beziehung zu Ihrem Schützling auszuleben. Sorgen Sie dafür, dass Sie im Verborgenen der Person weiterhelfen können, indem Sie z.B. die Gasleitung zudrehen und blockieren, falls sich Ihr Schützling damit umbringen möchte, bevor seine Zeit abgelaufen ist.

2. Führen Sie keine magischen Wunderheilungen durch. Sie sind nicht Jesus. Der Missbrauch des magischen Pentagramms ist streng verboten, die Magie darf nur in Notsituationen eingesetzt werden, um die Akasha-Chronik zu wahren. Wenn Sie sich nicht sicher sind, ob Sie die Magie in Ihrem Fall einsetzen dürfen, so kontaktieren Sie Ihren Vorgesetzten Karma-Engel.

3. Geben Sie der Person den Anstoß zur Selbstheilung. Der freie Wille des Menschen ist dessen größte Kraft. Durch entsprechende Hinweise können Sie als Schutzengel dafür sorgen, dass sich die Laufbahn Ihres Schützlings wieder einrenkt. Sie können dafür sorgen, dass Ihr Schützling, je nachdem, für was dieser besonders empfänglich ist, auf genau das Medium stößt, das in ihm den gesunden Überlebenswillen weckt. Platzieren Sie Bücher, Flyer, Plakate und Schilder um. Sie kennen Ihren Schützling am besten und wissen in der Regel, was er braucht, um zurück auf den rechten Weg zu finden.

4. Lassen Sie Ihrem Schützling seinen freien Willen. Als Schutzengel dürfen Sie lediglich den Anstoß zur Veränderung geben. Die Menschen unterstehen nur sich selbst, ihrem freien Willen, den Gott ihnen gegeben hat. Sie dürfen Ihren Schützling also niemals erdrücken oder ihn zu Taten zwingen, die nicht seinem Einverständnis entsprechen. Das gilt ebenso für den Fall, wenn der Mensch sich selbst schaden würde. Wenn es der Wille des Menschen ist, dürfen Sie sich nicht einmischen.
 

Jap, Janiel hatte ziemlich viele Regeln gebrochen.
 

»Fräulein, ich lasse dich nicht sterben. Ich werde dir Johann nicht wegnehmen«, protestiert Eiael mit tiefer Stimme. »Beruhige dich erstmal.« Immer noch schluchze ich, wische mir mit den Ärmeln abwechselnd über das Gesicht, um vor lauter Tränen noch Luft zu bekommen. »Bitte, Eiael, bitte! BITTE!«

Schneewittchen verzieht keine Miene.

»Wenn du mir nicht hilfst, helfe ich mir eben selbst dabei!«, fauche ich ihn schließlich an.

»Wenn das dein Wille ist, kann ich dich davon nicht abhalten«, sieht er ein. »Aber mach dich darauf gefasst, dass Johann dich nicht gehen lassen wird.«

»Ist mir egal. Irgendwie werde ich es schaffen.« Mich umzubringen.

»Lass mich dir, bevor wir in die materielle Ebene zurückkehren, noch eines erzählen.«

»Ich will keinen Vortrag über meine Eltern hören.«

»Das meine ich nicht.«

»Und was dann … ?«

»Ich will dir von Johann erzählen. Wie er war, als Mensch, bevor er das Engelsamt antrat.«

»Okay … « Wenn es schnell geht.

»Waren eigentlich wirklich alle Engel mal Menschen?«

»Ja.« Eiael malt mit dem Zeigefinger ein Rechteck in die Luft. Als sich die Pfade schließen, entsteht ein Fenster, durch das wir eine völlig andere Welt beobachten können. Fast wie bei einem Fernseher. »Das hier sind meine Erinnerungen. Siehst du das Backsteinhaus da vorne? Das gehörte Johanns Vater. Er war recht vermögend, ein Mittelständler, darum konnten sie sich den Bau leisten.«

Das zinnoberrote Backsteinhaus erweckt einen freundlichen Eindruck. Kinder toben auf der Straße davor, neben einer Bauernscheune. Dahinter kündigt sich eine Feldwiese an. Im Garten des Hauses wuchert es vor wilden Blumen, die einige Mädchen abreißen und sich gegenseitig in die Haare flechten. Die Jungen auf der Straße spielen Fußball mit einer Lederkugel. Vom letzten Regen liegen noch ein paar Pfützen an den Rändern, auf einmal schauen wir direkt in eine davon hinein. Wir erkennen das Spiegelbild eines Jungen, der Schneewittchen ähnelt. Eiael kommentiert: »Das bin übrigens ich.«

»Du sahst da ja schon genauso gut aus wie jetzt!«, bemerke ich nebenbei. »Ich dachte, das kommt vom Engeldasein?«

»Nein. Ich war schon immer schön.«

Der Junge schaut aus der Pfütze auf, wir verfolgen die Welt aus seiner Sicht. Er läuft auf die anderen Knaben zu. Auf einen bestimmten. Es ist ein junger Janiel. Die Kinder sind allesamt um die zehn bis dreizehn Jahre alt. Trotzdem kann ich Eiael als auch Janiel eindeutig identifizieren. Janiel, nein, Johann ist ein wahnsinnig süßer Junge. Er grinst Eiael wie ein Honigkuchenpferd an, sagt: »Na Emil, Revanche gefällig?«

»Johann und ich waren aus derselben Nachbarschaft. Wir gingen auf dieselbe Schule. Das dahinten sind seine drei Schwestern. Die zwei großen da sind Marie und Katharina, die Kleine da, das ist Madeleine.«

Passend zu seiner Erzählung treten die Mädchen vordergründig in unser Blickfeld. Johanns Schwestern sind genauso schön anzusehen wie er, sie strahlen die Liebe aus, die glückliche Kinder von ihren Eltern bekommen. Marie und Katharina haben beide Janiels goldblonde Haare, die eine ist einen Kopf größer als die andere, doch beide sind schlank und rank. Als ich Madeleine mustere, trifft mich der Schlag.

Sie sieht aus wie ich.

»Ich denke, du weißt jetzt, warum ich dich Möchtegern-Madeleine nenne.« Absolut. Ich bin Janiels äh Johanns Schwester wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie war also seine Schwester. Ich dachte immer, Madeleine wäre Janiels Tobi …

Das heißt, seine Schwester ist gestorben.

Janiel und ich, wir sind uns ähnlicher, als ich dachte. Ich realisiere, dass jedes Mal, wenn Janiel mir ins Gesicht geblickt hat, seine tote Schwester in mir sah. Jedes verdammte Mal. Diese traurigen Augen. Diese Blicke. Jeden verdammten Tag, den er bei mir war, hat er in mir das Gesicht seiner Schwester wiedererkannt. Mir ist noch mehr zum Heulen zumute. Was muss das für ein Gefühl sein. Unerträglich. Mir wird klar, warum sich Janiel oft so beherrschend aufgeführt hat. Er tat es wie ein großer Bruder.

»Johann lernte schon früh Klavier und Geige spielen, weil auch Katharina und Marie sehr musikalisch waren. Schließlich schaffte Johann es mit seinem Können auf eine renommierte Musikschule. Dafür wechselte er auf das Internat. Wir sahen uns nur noch in den Ferien. Dafür sah ich Madeleine öfter, wir vermissten Johann beide.« Eiael zeigt mir, wie Johanns ganze Familie in der Wohnstube zusammensitzt, Johann ein Stück auf dem Klavier vorspielt und alle gespannt lauschen. Klatschen. Johanns Mutter sieht nett aus, sie ist ein bisschen mollig, aber das macht nichts. Die langen blonden Strähnen hat sie ganz klar an ihre Kinder weitervererbt, genau wie ihre klaren, blauen Augen, die Johanns große Schwestern beide abbekommen haben. Johann ähnelt mehr seinem Vater, der im Moment des Applauses nach Hause kommt. Sie haben dieselbe große, schlaksige Statur mit den breiten Schultern und teilen sich – leider – diesen verbitterten Gesichtsausdruck. »Sein Vater hatte finanziell einige Probleme und wurde schließlich arbeitslos. Ich wollte Johann irgendwie helfen, aber in dem Alter war das nicht einfach. Vor allem, als seine Mutter erkrankte.«

»Was hatte sie denn?«, will ich wissen.

»Krebs«, antwortete er. »Bösartig.«

Ich beiße mir auf die Lippen. Also nicht nur Madeleine …

Eiael erzählt weiter: »Johann musste mit sechzehn von dem teuren Internat wieder herunter und arbeiten gehen, um die Familie mitzuernähren. Sein Vater war leider ein Trunkenbold und zu nichts zu gebrauchen. Das volle Drama also … Gott sei Dank fanden Marie und Katharina beide gute Gatten, finanziell gab es danach weniger Probleme. Aber dann habe ich Mist gebaut.«

Das Fenster verschwimmt und klärt sich, wir sehen in eine Scheune hinein. Das milde Licht einer Kerze erhellt den Raum mager. Ganz undeutlich erkennt man eine Gestalt, die auf uns zugeht. Es scheppert. Augenblicklich lodert es überall, das Stroh hat Feuer gefangen. Die Scheune brennt. Der Junge und die Gestalt schreien. Schrill. Schriller. Das Fenster schließt sich.

»Das ist das Ende meiner Erinnerungen«, erläutert der blasse Engel, der einst ein Mensch war. »Ich starb in dieser Nacht zusammen mit Madeleine im Alter von sechzehn Jahren, sie von vierzehn. Es war meine Schuld.«

»Und dann … ?«, flüstere ich.

»Dann hat sich Johann erhängt.«

Mir gefrieren die Adern. Er hat es getan.

Janiel hat sich als Mensch umgebracht.

Er hat es getan.

»Ich denke, du verstehst, was ich dir damit sagen will«, behauptet Eiael und hat Recht. Ich verstehe es. Ich verstehe Janiel.

Eine halbe Ewigkeit befinden wir uns nun in dieser Dimension, in der die Zeit still zu stehen scheint. Schweigen. Im Geiste erinnere ich mich zurück an meinen Vater, an sein Lachen, wie er mit mir auf Streife ging, um mir die Welt zu erklären.

Er hat mir nie erklärt, was es bedeutet, für jemanden zu sterben.

»Ich werde leben.«

Diese Ansage scheint Eiael nicht im Geringsten zu überraschen.

»Nicht für mich. Ich werde es für andere tun.«

»Du glaubst mir jetzt also, dass deine Mutter dir nicht die Schuld am Tod deines Vaters gibt?«

»Nein. Ich hasse mich immer noch. Aber so sehr ich meinem Leben auch entfliehen möchte – ich glaube, ich muss da durch. Nicht wegen mir. Die ganze Zeit dachte ich, ich habe Pech. Dass mir deswegen diese ganzen, beschissenen Sachen passieren. Aber das Pech spielte dabei überhaupt keine Rolle. Es ist nicht wichtig, was mir passiert, sondern, wie ich damit umgehe. Dass ich niemanden im Stich lasse. Ich würde so gerne mit Janiel schimpfen.«

»Das Gefühl kenne ich.«

»Dieser Idiot!«

»Dieser Idiot.«
 

Fernab im sechsten Himmel entspannte sich der Karma-Engel Camael auf einer Wolkenliege und starrte ins tiefe Blau hinein. Seine Arbeit war so ermüdend, ständig wurde seine Sylphe von Schutzengeln geordert, die zu blöd waren, das Grundregelbuch zu lesen. Es gab so gut wie nie einen Fall, in dem er tatsächlich eingreifen musste. Umso mehr wunderte Camael sich, als sein treuer Kollege Azrael aus der Todesabteilung ihm mal wieder einen Besuch abstattete.

»Meister Camael, ich habe die Akasha-Chronik überprüft, weil wir Zahlen-Unstimmigkeiten in unserer Rechnungsabteilung haben. Der Schützling, dessen Tod wir verschoben haben … muss jetzt sterben.«



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Suewu
2018-08-16T21:49:45+00:00 16.08.2018 23:49
Oh Gott Janiel...wie konntest du nur...?! Und Manu will sich umbringen..?! TTxTT
Neiiiin...!

Janiels geschichte ist ja mal mega traurig! Son scheiß! Der arme, arme Janiel!!

Und ernsthaft???!!! Da hat sich Manu gerade dazu entschlossen doch zu leben... und dann soll sie plötzlich sterben?????!!!!
Neeeeeiiiiin!!! Ich will niiiiicht!!! >o<

Aber die Geschichte nimmt wirklich eine unvorhergesehene (zumindest hab ichs nicht kommen sehen... xD) und sehr interessant gestaltete Richtig! Gefällt mir gut und ist wirklich eine sehr gelungene Story Entwicklung ^^
Die Spannung ist zum zerreißen gespannt! Ich will unbedingt wissen wie es weiter geht!! Kanns gar nicht erwarten!! >\\\<


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