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Warum Pechvögel fliegen können.

Die Schutzengel-Trilogie 1
von

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Meine neue Freundin

Eines Montagmorgens nach dem Party-Wochenende werde ich vom Klingeln des Haustelefons geweckt. Kater Janiel scheint das nicht am Weiterschlafen zu hindern, und meine Mutter hält es nicht für nötig, aufzustehen. »Jaa…?«, stöhne ich verschlafen in den Hörer.

»Manu, es ist etwas Unglaubliches passiert!«, zetert Hanna. Woher hat sie bloß meine Haustelefonnummer?!

»In der Tat, wir haben Doppelstunde-Ausfall, und ich bin trotzdem wach! Obwohl ich erst in zwei Stunden aufstehen muss!«

»Nein, es ist wichtig, du musst es als Erste erfahren! Valentine findet auch, dass du es unbedingt wissen musst!«

»Jetzt mach es doch nicht so spannend!«

»Tobi hat eine Freundin!«

Ich hätte erwartet, dass ich zusammenzucke und durchdrehe, aber erstaunlicherweise verblüfft mich diese Nachricht nicht. Nicht so sehr, wie ich erwartet hätte.

»Ich wollte es dir unbedingt erzählen, damit wir vielleicht eine kleine Feier für Valentine machen können, nachdem Daniel und Philipp diese miesen Sachen abgezogen haben.«

»Was sagst du da?!«

»Naja, ich dachte, du könntest vielleicht wieder so einen Salat machen, Karin backt Kuchen und wir machen so einen Mädchen-Tratsch-Tee, aber mit Karotte, der freut sich bestimmt.«

» … «, zitiere ich unfreiwillig Janiel. Der ist inzwischen aufgewacht und steht besorgt neben mir.

»Äh Hanna … W-wir r-reden später, ok-k«, verfalle ich in mein altes Stotter-Muster und lege auf. Schlafen kann ich jetzt nicht mehr, also gehe ich in die Küche und koche mir einen Tee. Gehe zurück auf mein Zimmer, setze mich auf mein Bett und lasse mich von Janiel anglotzen als wäre ich ein Dinosaurier. Er scheint darauf zu warten, dass ich losheule. »Wo warst du eigentlich, als ich Konstantin ein Schlager-Cover vorgeschmettert habe?«, frage ich ihn stattdessen in einem ruhigen Tonfall.

»Eiael hat sich beschwert, weil wir ihn vergessen haben.«

Ups. Da war ja was.

»Er hat mich eine halbe Ewigkeit genervt, bis ich den Termin auf nächste Woche verschoben und einen Kuchen draufgesetzt habe. Und einen iPod. Manu, du musst Eiael einen iPod kaufen.«

»Ok«, willige ich ein, schlürfe meinen Hagebuttentee.

»Ist alles okay, Manu?«, fragt Janiel hyperbesorgt.

»Ja. Was soll sein.«

»Du verhältst dich komisch.«

»Sagt ein Katzenschutzengel, der mich wie ein Stück Lachs anstarrt«, reibe ich ihm unter die Nase.

»Du bist verdammt witzig«, sagt der Katzenschutzengel ironisch.

»Dann lach doch mal.«

Ja, mit mir ist vermutlich nichts mehr anzufangen. Janiel umarmt mich.
 

In der Schule führen sich die Jungen wie die Affen auf. Aber nicht wegen Valentine. Ein tiefes Raunen dringt durch die Sitzreihen im Chemiesaal, als Nadine auftaucht. Eigentlich sieht sie so tipptopp wie immer aus – wäre da nicht dieser zerschmetterte Gesichtsausdruck – und die verlaufene Wimperntusche. Völlig Nadine-untypisch stolpert sie über Monas Tasche, stößt sich am Tisch, flucht (okay, das ist typisch) und pilgert in geduckter Haltung an ihren Platz. Sie sieht völlig mitgenommen aus. Die Frage ist, von was. Oder wem. Mehr erfahre ich, als Hanna mir fröhlich winkt und auf mich zuläuft, statt sich in ihre Sitzreihe zu begeben. »Hey Jan, Manu! Wegen unserem Telefonat vorhin: Ist Mittwochabend ok? Es ist schließlich Feiertag danach.«

»Ähm … «, weiß ich nicht so genau, wie ich absagen soll und sage: »Ja.«

Toll gemacht, Manu! Auch Janiel hält sich eine Hand vor Augen. So viel Dummheit ist einfach unfassbar.

»Super! 18 Uhr geht’s dann los, wir treffen uns bei Valentine!« Dann beugt sich Hanna zu mir vor, um mir zuzuflüstern: »Übrigens: Nadine hat anscheinend ihre Unschuld verloren, auf der Party.«

Als wäre das eine bombastische Neuigkeit, wartet sie gespannt meine Reaktion ab. Die nicht stattfindet. »Ich weiß.« Das Einzige, was mich wirklich überrascht, ist der Fakt, dass es weniger als einen Tag gedauert hat, damit Nadines Patzer die Runde macht.

Verdutzt reibt sie sich die Schläfe: »Ach echt? Ich hätte schwören können, Karin war die Einzige, die davon wusste … Ich meine, Gerüchte gibt es da ja immer viele, vor allem bei Nadine, aber das stimmt definitiv.«

»Ich weiß«, wiederhole ich simpel. Hanna wird konfus und schwirrt ab, um Mona und Elise weiter vollzutratschen.

»Und woher weißt DU das?«, möchte Janiel wissen.

»Schon vergessen, dass ich die halbe Nacht versehentlich mit Konstantin verbracht habe, während du mein sauer Erspartes an deinen Engel-Kumpel versprochen hast?!«

» … du hast ihn eingeladen. Du hast ihn vergessen.«

»Jaja, rede dich nur raus.«

Der Saal füllt sich allmählich. Valentine kommt. Sie tut so, als würde sie mich nicht sehen. Wie nett von ihr. Sie legt ihre Sachen auf den Tisch neben Philipp und verschwindet wieder, um aufs Klo zu gehen vor dem Unterricht, vermute ich. Prompt stehe ich auch auf. »Warte! Was willst du jetzt tun?«, hält Janiel mich fest.

»Ich kläre das jetzt. Sonst läuft das am Ende noch so wie mit Nadine«, sage ich entschlossen. Grummelnd lässt er mich ziehen.

Also stapfe ich meiner netten Freundin Valentine auf das Mädchenklo hinterher. Warte im Vorraum darauf, dass sie die Kabine verlässt. Registriere ihr erschrockenes Gesicht, als sie mich am Waschbecken mit verschränkten Armen lehnen sieht.

»Warum?«, frage ich bitter. »Warum hast du mich im Krankenhaus belogen? Warum bist du jetzt plötzlich mit Tobi zusammen, obwohl du weißt, was er mir bedeutet?«

Die Konversation ist ihr jetzt schon deutlich unangenehm, Valentine stiert auf den Boden und wickelt unsicher eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger. »I-ich dachte, du willst nichts mehr mit Tobi zu tun haben … ?«

»Will ich auch nicht, aber ich dachte, du bist meine Freundin, Valentine!«, reißt es aus mir heraus. »Freunde machen so was nicht!«

»Das ist total egoistisch von dir, Manu. Du hast Tobi abgeschoben! Denk doch mal an seine Gefühle!«, verteidigt sie sich. »So wie ihr zwei verhalten sich Freunde auch nicht, vor allem du, Manu! Die ganze Zeit hast du versucht, Tobi eifersüchtig zu machen – egal ob mit Jan, Jonas oder Dr. Sommer! Hast du je an die Gefühle von irgendeinem gedacht?«

Das sticht irgendwie. Kurz. Und heftig. Ich fasse mich schnell: »Und was geht dich das an?!«

»Mich kümmern Tobis Gefühle.«

»Wow. Du kennst ihn gerade mal seit einem Monat.« Auch wenn ich nicht mal weiß, woher. Das Traurige ist: Wahrscheinlich von mir.

»Ich kenne dich auch erst seit einem Monat, Manu.«

»Ich habe dir geholfen!«, plärre ich hysterisch. »Und das ist der Dank! Danke, Valentine, super!« Darauf weiß sie nicht wirklich was zu erwidern. Sie wäscht sich die Hände, trocknet sie ab und verschwindet aus diesem kalten, gefühlsleeren Raum.

Zurück im Chemiesaal legt mir Janiel heimlich eine Hand auf den Rücken. Jetzt habe ich eine Freundin weniger. Wen habe ich überhaupt noch? Alle verlassen mich. Alle. Bis auf Janiel. Ich schenke ihm mein Lächeln als Dank. Er sieht besorgt aus.

Unser Chemielehrer verteilt weiße Kittel und Schutzbrillen aus obligatorischen Gründen. Heute werden mal wieder Reagenzgläser zerbrechen. Das denke ich mir jedes Mal, wenn wir Versuche machen, anstatt uns unaufmerksam einem langatmigen Redeschwall hinzugeben. Die Jungs aus unserer Klasse sind einfach nicht dazu fähig, Dinge NICHT kaputt zu machen. Und nicht nur die, wie sich heute noch herausstellen wird. Der erste Kolben, der die Schwelle ins Nirwana übertritt, wird von Philipp fallen gelassen. Ich beobachte ihn eine Weile, während Janiel aufpasst, dass ich nichts zerdeppere. Philipp sammelt mit Versuchspartnerin Valentine die Scherben auf. Sie reden normal miteinander. Seit wann verstehen sich die zwei? Mir kommt es so vor, als hätte ich ziemlich viel verpasst. Der zweite Becher, der dran glauben darf, gehört Nadine. Sie scheint immer noch völlig neben der Spur zu sein und hat anscheinend die Ablageplatte mit Luft verwechselt.

Kicher kicher. Anders als sonst wird Nadine von Lukas, Daniel und den anderen ausgelacht. Die Welt steht Kopf. Schließen die sie jetzt etwa aus, nur weil sie keine Jungfrau mehr ist? Das dritte kaputte Reagenzglas an diesem Tag markiert den Höhepunkt der Serienkillermorde an Schulutensilien. Elise, die eine Reihe vor Nadine sitzt, wirft beim Vorbeilaufen deren Halterung um. Nadines Nebensitzerin Mona kann sich noch retten. Nadine nicht. »AAAAAAAAAAAAAAARHG!!!«, schreit sie wie am Spieß, berechtigt. Denkt unser Chemielehrer. Sofort eilt er zu ihr, weist an, dass sich ja alle Schüler von den vergossenen Chemikalien fernhalten sollen und begleitet unsere panische Nadine in den Nebenraum, zugunsten einer sorgfältigen Dusche. Kaum, dass die beiden den Raum verlassen, gackern alle los.

Ich hasse Nadine. Sophie hasst Nadine. Und Karin und Hanna sind auf unserer Seite. Auch Valentine kann Nadine nicht leiden. Aber der Rest? Was ist hier los?

Mona und Elise, die mal zur Abwechslung miteinander reden, lästern ein bisschen zu laut: »Das hat sie so was von verdient, die Schlampe!« Neugierig hoch zehn schleiche ich rüber zu Hanna, Karin und Sophie.

»Sagt mal, was geht eigentlich hier ab?!«, frage ich.

»Nadine hat es sich total mit Mona und Elise verscherzt auf meiner Party«, klärt Karin mich auf. Mit vorgehaltener Hand beugt sie sich zu meinem Ohr und wispert: »Sie hat nicht nur mit Konstantin geschlafen.«

Äh … was? Wir stecken alle vier die Köpfe zusammen. Sophie fährt genauso leise fort: »Du weißt doch, dass Elise und Mona beide hinter Jonas her waren … tja, am Ende hat sich Nadine mit ihm verzogen, nachdem sie es mit Konstantin getrieben hat.«

Jonas und Nadine?! Igittigitt. Ich hätte ihm echt mehr Geschmack zugetraut (der war doch voll ok, der Junge … bis jetzt).

»Tja und weil die Jungs sie jetzt für eine Bitch halten, haben die auch ihren Respekt verloren. Oder Mona hat denen was erzählt. Kann auch sein«, mutmaßt Hanna. Da trottet Nadine wieder herein, zurück auf den Platz, neben Mona. Muss ganz schön mies sein, neben einer Feindin zu sitzen, was, Nadine?

Der »Unfall«, der vermutlich keiner war, wie ich die Situation jetzt einschätze, hat so wie es aussieht, keinen großen Schaden bei Nadine verursacht (den sie nicht eh schon gehabt hätte). Unser Chemielehrer entlässt uns trotzdem vorzeitig in die Pause, und bittet unseren Klassenstreberschleimer Philipp, ihm beim Aufräumen zu helfen.

Ich beeile mich, so schnell wie möglich mein Pausenbrot beim Kiosk zu kaufen, um ja nicht Tobi beim Schlange-Stehen zu begegnen. Funktioniert nicht. Er steht da, einfach so, zusammen mit vier anderen Menschen. Und glitzert mich an, als unsere Blicke sich treffen. Ist er jetzt glücklich? Dann ist er dran, kauft sein Salami-Wecken, an dem er hoffentlich erstickt. Ich denke sehr wohl an Tobis Gefühle. Ich wünsche ihm Tod und Verderben. Was fällt ihm ein, mir meine Freundin wegzunehmen. Und was fällt ihr nur ein … Mir ist bewusst, dass ich da ein Stück weit darüber stehen muss. Ja, ich will nichts mehr von Tobi. Das stimmt. Ich darf also nicht eifersüchtig sein. Aber ich darf sauer auf Valentine sein. Sie hat mich angelogen, verraten und stellt einen Kerl über ihre Freundinnen. Das ist nicht ok. Ist doch okay, dass ich das nicht okay finde?

Weil ich nicht besonders scharf darauf bin zu erleben, wie Tobi reagiert, wenn er Valentine begegnet, fliehe ich raus zu meinem Lieblingspausenplatz. Er hat mich schon so oft gerettet. Damals, nachdem Nadine mich frisch abserviert hatte, verbrachte ich absolut jede Pause draußen auf den Kunstwerken. Dort ist man ungestört, keiner wirft einem dumme Sprüche an den Kopf. Man ist allein. Keiner reibt einem die Einsamkeit unter die Nase. Denke ich, bis ich feststelle, dass mir jemand meinen Lieblingsplatz weggeschnappt hat. Gerade will ich diese Person verscheuchen, als ich bemerke, dass dieses Etwas – Nadine ist, die schluchzend Töne von sich gibt wie eine Seekuh. Habe ich Mitleid? Nein. Oder?

Sie weint und weint und weint.

Ich hasse sie.

Oder?

Ich habe kein Mitleid, oder?

Auf ihrer Hand, da sind gelbe Punkte. Ein großes, quadratisches Pflaster lugt unter dem Ärmel ihrer grünen Sweaterjacke hervor. Die Säure hat ihre Haut verätzt. Es muss wehtun. Sie bemerkt mich: »Was willst du … ?«

Nichts. Von dir nicht. Ich will was von dem Stein.

»Tut es noch weh?«, antworte ich mit einer Gegenfrage.

»Was juckt dich das … «, schluchzt sie nur weiter. Und weiter. Ich habe kein Mitleid. Ich setze mich dazu.

»Wie geht’s Miriam?«

»Keine Ahnung … Was willst du von mir, Manu? Geh doch zu deinem Freund!«

»Ich habe keinen Freund.«

»Tu nicht so, jeder weiß, dass du seit München wieder mit Jan zusammen bist. Deine falsche Bescheidenheit kotzt mich an.«

»Ich habe keine Ahnung, wo du das her hast, aber ich bin nicht mit Jan zusammen.«

»Leugne es, so viel du willst, aber lass mich damit in Ruhe.«

Sie hasst mich. Alles, was sie sagt, trägt Verbitterung. Warum? Warum lasse ich mir das, immer wieder, gefallen? »Was ist mit dir und Jonas?«, frage ich. Bei Konstantin ist mir klar, dass dieses nächtliche Abenteuer wohl längst aus seinem Erbsengedächtnis entwichen ist. »Magst du ihn?«

Nadine starrt mich an wie Brot. »Manu, fick dich einfach. Fick dich.«

Endlich habe ich sie soweit, dass sie aufsteht, sich die Wimperntusche samt Tränen aus den Augen wischt und erhobenen Hauptes zurück ins Schulgebäude marschiert. Das ist Nadine, wie ich sie kenne.
 

»Nadine hat in einer Nacht mit zwei Typen geschlafen!«

»Ich habe erzählt bekommen, es waren sogar drei!«

»Nein, es war ein flotter Dreier!«

So oder so ähnlich hören sich die Gespräche an, wobei ich natürlich nicht jedem Wort lausche. In Religion machen wir eine kleine Exkursion zur nächsten Dorfkirche, um uns deutsches Kulturerbe reinzuziehen. Sprich: Hässliche Bilder aus Bibelgeschichten, die unfähige Künstler an Kirchenwände gepinselt haben. Mit dabei: Leider unsere Parallelklasse. Sogar Lilly und Chantal ziehen über Nadine her, als wäre sie über Nacht zur ersten Version von Valentine mutiert. Deshalb läuft Nadine ganz allein, während alle anderen in Grüppchen auf dem Fußmarsch zur Kirche wild umherbrabbeln.

Gut, ist vielleicht auch schwer, in einem Gespräch Fuß zu fassen, indem über einen selbst gelästert wird. Ich laufe neben meinem angeblichen festen Freund Janiel. »Die halbe Schule denkt, wir wären wieder ein Paar«, erzähle ich ihm.

»Ist das schlimm?«, entgegnet der Engel.

Ist das schlimm. Hmh. »Eigentlich … nicht.«

Nicht weit vor uns schlendern Tobi und Valentine händchenhaltend den Weg entlang. Tobi guckt sich ein paar Mal über die Schulter, als würde er jemanden suchen, den er nicht findet.

»Das klingt nicht sehr überzeugt«, hinterfragt Janiel. »Ist wirklich alles okay, Manu?«

»Ja.« Nichts geht über kurz und knackig.

Er ist immer noch skeptisch: »Das mit deiner Freundin tut mir leid, Manu. Aber so sind die Menschen.«

Mich beschleicht die leise Ahnung, dass Janiel gewusst hat, was für einen Charakter Valentine besitzt. »Dann verliebe ich mich am besten in einen Engel, was?«

Für einen Augenblick stockt er, erwidert dann: »Das ist keine gute Idee. So was ist noch nie gut ausgegangen.«

»Ach ja, wie geht das denn aus?«

»Mit dem Tod.«

»Hört sich verlockend an.«

»Manu, wenn du traurig bist, wegen Tobi und Valentine, ist das okay, das zu zeigen. Es ist okay, wenn du noch Gefühle für Tobi hast.«

»Ich habe keine Gefühle mehr für ihn!«, raste ich aus. »ICH BIN DRÜBER HINWEG!«

Ab jetzt denkt sich Janiel seinen Teil und schweigt.

»Das wolltest du doch?! Die ganze Zeit hast du gesagt, es ist besser für mich, wenn ich ihn vergesse. Das habe ich getan, und jetzt, wo er eine echte Freundin hat, soll ich mich wieder in ihn verlieben oder was?!«, halte ich dem Schweigenden vor. Der weiter schweigt, statt sich eine gute Antwort auszudenken. Und geht. Zu Nadine. Ausgerechnet. Ich sehe nicht mehr richtig. Ist Janiel nicht mein Schutzengel?! Warum regt er mich immer so auf! Warum, warum, warum! Warum regen sie mich so auf, alle beide.

Die Dorfkirche macht einen gar nicht so dörflichen Eindruck. Sie stammt aus der Gotik, in der die Menschen das Ziel hatten, ihre Sakralbauten so nah an den Himmel wie möglich zu bauen. Für Gottes Nähe. Das erklärt uns der Pfarrer, der heute unser Stargast ist. Der Kirchturm ist natürlich nicht so hoch wie der Kölner Dom oder gar das Ulmer Münster, aber im Vergleich zu allen anderen katholischen Schatzkammern in der Gegend, ist eindeutig erkennbar, dass diese Kirche von einem reichen Adligen mit Gotteswahn gesponsert worden ist. Ich hasse Kirchen. Habe ich schon fast immer, und während meinem Konfirmationsjahr hat dieser Hass sogar die Chance bekommen, sich noch weiter auszudehnen. Gott hier, Gott da. Warum bauen die hier nicht mal eine Laser-Tag-Halle. Oder ein Horrorkabinett. Das wäre eine gute Investition.

Ein klein wenig bin ich dann aber doch beeindruckt, als wir uns ein paar der Außensäulen genauer ansehen. Die ganzen Wasserspeier und Ornamente, die von Hand in Stein gemeißelt worden sind, spiegeln die Liebe der längst verstorbenen Kunsthandwerker wieder. Janiel redet immer noch mit Nadine, ich bin zu weit entfernt um ein Wort zu verstehen. Dafür stehe ich plötzlich nah genug bei Valentine und Tobi, um mitzubekommen, wie die zwei sich küssen. Einfach so. Mitten auf einer Schulexkursion.

Ein Pärchen, das sich kurz küsst – ist in der zehnten Klasse natürlich nichts Ungewöhnliches. Sie fallen gar nicht auf. Karin vielleicht schon, die kichert kurz, als sie vorbeiläuft. Aber sonst. Naja, was interessiert es mich.

Nichts.

Nichts.

Janiel redet immer noch mit Nadine.

Was interessiert es mich.
 

»Was hast du Tobi erzählt«, wollte Janiel von Nadine wissen. »Spuck’s aus, ich werde es sowieso herausfinden.«

»Nichts Neues«, antwortete sie mager und abweisend. »Dass du noch auf deine Ex stehst, wusste er schon, so wie jeder.«

»Das meine ich nicht, und das weißt du«, erwiderte er ernst.

Nadine lächelte. Es sah aus, als würde ihr gemeines Gesicht zerknittern. »Das ist privat und geht dich nichts an.«

Bevor Nadine abhauen konnte, legte Janiel ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, dass Tobi dir von Manus Geständnis erzählt hat. Was hast du danach zu ihm gesagt?«

»Hat Manu dir das erzählt?!«

»Privat.«

»Touché. Weil ich dich mag, verrate ich dir was: Ich habe zu Tobi nur gesagt, er soll Gleiches mit Gleichem bekämpfen für eine faire Quittung.«

»Das bedeutet, Tobi ist gar nicht mit Valentine zusammen … ?«

»Mal dir aus, was du willst, Jan.«

»Es freut dich sehr, dass Manu in Tobi verliebt ist und nicht in mich, was?«, stellte Janiel fest.

»Schön, dass man mir das ansieht«, fand Nadine.

»Du machst kein großes Geheimnis daraus«, entgegnete er.

In der Tat lächelte Nadine seit einer Weile selig vor sich hin. »Du bist eifersüchtig auf Tobi, stimmt’s«, unterstellte sie ihm. »Weil Manu ihn liebt und nicht dich.«

Janiel schwieg.

»Dann haben wir mal was gemeinsam«, behauptete Nadine.

»Stell dir vor, was du willst, Nadine«, sagte er daraufhin.

»Aber wir sind grundverschieden. Was du empfindest, ist keine Liebe. Liebe besteht aus Verständnis, Mitgefühl und Rücksichtnahme. Du hast nie etwas davon bewiesen, weder gegenüber einer Freundin noch sonst wem.«

»Woher willst du das denn bitte wissen?! Also echt … du kennst mich doch überhaupt nicht.«

»Jemand, der sein Selbstwertgefühl aufbaut, indem er anderen Schaden zufügt, ist zu diesen Eigenschaften nicht fähig.«

»Wow. Und du bist wohl ein Moralapostel, Klugscheißer.«

»Nenn mich wie du willst, aber glücklich wird dich das nicht machen.«

»Fick dich.«

Wie Janiel sich gedacht hatte, war Nadine einer der Auslöser für das große Theater, das für Manu veranstaltet wurde. Sie war es, die Tobi diesen dämlichen Ratschlag gegeben hatte. Was nach diesem Gespräch noch übrig blieb, war der schale Nachgeschmack von Wahrheit.
 

Es gibt eine Sache, für die ich Hanna heimlich hasse. Und mich selbst. Diese dämliche Einladung, bei und mit Valentine ihre neue Beziehung zu feiern. Leider kann ich nicht absagen, weil ich zu dumm dazu bin. Janiel hat aufgegeben, mir auszureden, hinzugehen. Meine Beine tragen mich von allein. Ich tue mir nicht weh. Ich bin über Tobi hinweg. Vielleicht sollte ich Valentine eine gute Freundin sein und ihr Tobi gönnen. Vielleicht. Wie auch immer diese rätselhafte Beziehung zustande gekommen ist. Vermutlich werde ich das eh gleich erfahren. Bei ihr. Ich komme extra später, um nicht mit Valentine allein sein zu müssen. Eine gute Idee, ich bin die Letzte, die auf der privaten Feier aufkreuzt. Hanna und Karotte öffnen mir erfreulicherweise statt unserer Gastgeberin die Tür: »Manu! Gut, dass du da bist, jetzt sind wir vollzählig!«

Als wir drei durch die Wohnung pilgern, begegnen wir Valentines Bruder Dominik im Gang. Es ist glasklar, dass die beiden verwandt sind. Also Valentine Version eins und er. Dominik nuschelt etwas in sich hinein, es klingt nicht sehr nett. Ich fühle mich noch unwohler als sowieso. Weil es mich interessiert und ich mich ablenken will, erkundige ich mich nach Karottes Befinden: »Geht es dir denn wieder gut?«

»Es war nur die eine Nacht schlimm, nachdem sie das Zeug aus mir rausgepumpt haben, wurde ich auch wieder entlassen. Ich schwöre, ich werde niemals Drogen nehmen!«

»Naja, das war ja nicht wirklich freiwillig … «, wendet Hanna ein.

»Haben deine Eltern was gesagt?«, will ich von ihm wissen. Karotte schüttelt den Kopf und grinst: »Ärztliche Schweigepflicht!«

»Du Glückspilz!«, sage ich und wuschele Karotte durch seine wilden, roten Haare. Hanna beäugt mich leicht skeptisch, zieht uns beide dann zum Rest der Meute ins Zimmer. Der Moment ist gekommen, Valentine und ich sehen uns in die Augen.

»Hallo, Manu!« Alle begrüßen mich, es bleibt kein Raum dafür, dass ich mich mit ihr streiten kann.

Es ist okay, dass Valentine mit Tobi zusammen ist. Sie muss mir nur sagen, dass es ihr leid tut, dass sie mich belogen hat. Nur das. Mehr will ich nicht hören. »Was möchtest du trinken, Manu? Wir haben Cola, Spezi, Apfelsaft, Mineralwasser … «, fragt sie stattdessen.

»Ähm, Apfelsaft, danke.« Ich will schließlich nichts mehr von Tobi. Seit München.

»Bitte.« Sie schenkt mir ein, reicht mir das Glas. Will sie sich mit mir versöhnen? Ich weiß es nicht. Ich weiß das nie. Ich bin so schlecht darin, so etwas zu erraten.

Wie bei unserem Mädchenflohmarkt bilden wir einen Sitzkreis auf Valentines Zimmerteppich, nur mit Karotte diesmal. Mir leuchtet noch nicht ganz ein, warum er als einziger Junge dabei ist, aber gut. Ich habe schließlich nichts gegen unsere Karotte.

»Alsooo wie ich weiß, haben wir gleich zwei Pärchen heute zu feiern! Valentine, du musst unbedingt genau erzählen, wie das mit Tobi und dir gekommen ist!«, plappert Sophie drauf los und ich frage mich, wer das zweite Pärchen sein soll. Etwa Hanna und Karotte?! Die Zwei mampfen total entspannt die Salzstangen, die Valentine unter anderem als Snacks bereitgestellt hat (ich habe doch keinen Salat mitgebracht, weil … Salat kein guter Snack ist).

»Wir nehmen es dir auch nicht übel, dass du zuerst geflunkert hast«, betont Karin charmant und zwinkert dabei. Anders als ich es je erwartet hätte, bleibt Valentine locker, anstatt verunsichert zu werden: »Najaa, Tobi hat mich irgendwann in der Schule angesprochen vor zwei Wochen. Dann haben wir öfter geredet … und auf der Party hat er mich nach Hause gebracht, und mich dann gefragt, joa.«

»Und wiiiie hat er das gemacht?«, feixt Hanna. »Spar die Details nicht aus, Valentine!«

Doch, bitte tu das.

»Ähm, so viel gibt es da wirklich nicht … «

»Ok gut, dann fahr du mal fort, Manu. Wie sind du und Jan wieder zusammengekommen?«, wechselt Sophie sofort das Thema. Völlig überfordert glotze ich in die Mädchen-Karotten-Runde. Fast alle halten ihr Getränk gespannt mit den Händen umschlossen. Ich glaube, ich höre Grillen zirpen. Im Herbst.

»Ich … bin Single«, spreche ich die eiserne Wahrheit aus. Die keiner glaubt.

»Ach komm schon, Manu! Es weiß doch jeder. Das mit Jonas hat eh keiner ernsthaft geglaubt«, stöhnt Hanna, die übrigens neben mir sitzt. Vor über einem Monat noch habe ich mich wirklich darüber gefreut, dass die Mädels meine Lüge geschluckt hatten. Dass sie dachten, Jan wäre mein fester Freund. Aber heute …

»Wirklich nicht Hanna. Was Tobi da erzählt hat, ist eine Lüge. Jan war nie in München«, behaupte ich so ernst wie ich kann.

»Warum sollte Tobi da lügen, das ergibt keinen Sinn … «, wirft ausgerechnet Valentine ein.

»Ich weiß auch nicht, frag deinen Freund doch.« Allmählich werde ich sauer. »Ich habe nichts mit Jan! Wirklich!«

Die Stimmung kippt, ich habe den Abend offiziell ruiniert. Karotte versucht, die Feier zu retten: »Deine Muffins sind wirklich lecker, Karin! Was ist da drin?«

Ich stehe auf und gehe einfach.

Es war mal wieder eine super Idee von mir, auf diese Feier zu gehen. Janiel hat es mir ja prophezeit … Jetzt habe ich es mir irgendwie mit allen verscherzt. Mit absolut allen. Draußen auf der Straße ist es stockdunkel, die spärliche Beleuchtung hätte man auch weglassen können.

Mir ist alles so was von egal. Mama ruft an, wo ich denn bleibe. Ich drücke sie weg, egal. Ich trete in eine Pfütze. Egal. Ich stolpere über die Bordsteinkante. Egal. Ich bin ein Pechvogel, der fliegen kann. Auf die Fresse. Aber egal.

Nadine hasst mich.

Egal.

Valentine hasst mich.

Egal.

Hanna, Karin, Sophie und Karotte hassen mich.

Egal.

Tobi hasst mich.

Egal.

Mein Vater ist tot.

Egal.

Ist das da vorne Janiel?

Egal.

Ist er nicht.

Auch egal.

Ich habe keine Gefühle mehr, mir ist alles egal.

Auch, dass da aus heiterem Himmel Tobi steht. Was er hier sucht?

Mir doch egal. Dass er mir winkt, auf mich zukommt?

Mir doch egal. Dass er mich anspricht, in einem süß-sanften Ton?

Mir doch egal.

»Manu, ich muss unbedingt mit dir reden«

» … «

»Valentine ist nicht wirklich mit mir zusammen.«
 

Früher. Ich sitze auf Kunst, bin allein und abserviert. Nadine hasst mich und keiner weiß es, außer mir. Sie zeigt es verdeckt, zeigt ihre böse Seite niemandem, außer mir. Geschickt fädelt sie es ein, mich zu piesacken. Sie sorgt dafür, dass ich mich nicht in die Klassenliste eintragen kann. Dass mich Arbeitsblätter nicht an meinem Platz erreichen. Fragt fiese Fragen nach einem Referat. Sie erzählt herum, dass ich mich nicht rasiere. Fußpilz habe. Läuse. Sachen verschwinden, ich kaufe mir zum dritten Mal in der Woche einen neuen Radiergummi. Manchmal liegt Dreck auf meinem Platz. Radiergummifussel, eine zerknüllte Bäckerstüte oder Papierschnipsel. Oder Kaugummis. Es sind die kleinen Dinge, die mich fertig machen. Nicht die großen.

Der Junge aus der Parallelklasse weiß das nicht. Ich bin für ihn das Mädchen mit dem toten Vater, dessen Fahrrad gestohlen wurde. Er hat Mitleid, setzt sich zu mir.

Das erste Mal im Juni.

Das zehnte Mal im Juli.

Das dreißigste Mal im Oktober.

Er hat auch nicht viele Freunde in der Klasse.

Ich backe Kuchen, wir essen Kuchen. Er sagt, er liebt meinen Kuchen. Wir reißen Witze über Lehrer, über Mitschüler, über das Leben. Er sagt, er liebt meinen Humor. Wir sind zu jung für mehr als das, oder?

Alles ist in Ordnung zwischen uns. Wir sind zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Wir sehen uns mehr, wir sehen uns weniger. Auf diesem Kunsthaufen von Steinen.
 

»Liebst du mich noch?«

Tobi sieht mich an, mit diesem ollen Hundeblick.

Ich breche in Tränen aus.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Suewu
2018-08-16T21:52:16+00:00 16.08.2018 23:52
Nein..! Niemand hasst dich Manu!!! Wir ham dich alle ganz dolle lieb..! *knuddel* TT^TT


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