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Warum Pechvögel fliegen können.

Die Schutzengel-Trilogie 1
von

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Party hard

Es gibt genau zwei Dinge, die mich an Großstädten nerven. Nämlich der ohrenbetäubende Verkehrslärm und die Tatsache, dass sich die Sterne vor Großstadtbewohnern verstecken. So sitze ich hier oben auf dem Dach, nachdem ich mich aus meinem Zimmer geschlichen habe und starre die blasse Mondsichel an. Wenigstens etwas.

Ich blicke nicht mehr durch. Kann mir bitte mal jemand mein Leben erklären?

»Er hat sich bestimmt nichts dabei gedacht.« Nicht einmal umdrehen muss ich mich, um zu wissen, dass Janiel hinter mir steht.

»Woher willst du das denn wissen?« Normalerweise wäre ich jetzt ausgerastet und hätte Janiel darüber aufgeklärt, dass Tobi anders ist, als andere Jungs, aber seltsamerweise ziehe ich gar nicht erst in Erwägung, ihn zu verteidigen. Etwas hat sich verändert. »Freunde-bleiben« Dass ich nicht lache. Jan hat er das nicht gegönnt. Kann der sich nicht mal entscheiden? Mein Pechvogeldasein hat sich scheinbar inzwischen voll und ganz dem Themenbereich der Liebe gewidmet.

»Bin ich dein allwissender Schutzengel oder nicht«, gibt Janiel an.

»Du kannst Tobis Gedanken lesen?!«, staune ich ironisch. »Warum hast du das nicht früher gesagt!«

»Weißt du, ich bin männlich«, gesteht er mir.

»NICHT WAHR.« Mein Gesichtsausdruck stellt eine aussagekräftige Antwort dar. »Dann verrate mir doch mal mehr über die Spezies, die sich-nichts-dabei-denkt, mir erst Hoffnungen zu machen, dann zu erklären, dass es nichts wird, um dann wieder zu betonen, dass Freundschaft ja drin ist, aber irgendwie doch nicht!«

Ich fahre mir mit den Fingern durch die Haare und reiße dabei ein paar heraus. Janiel, der bisher nur bedröppelt neben mir stand, setzt sich. »Ach was frage ich dich, du bist schließlich nicht Amor«, sehe ich von alleine ein.

»Manu, du solltest Tobi nicht so eine große Bedeutung beimessen.«

Nachdenklich schweift mein Blick in die Ferne. Überall leuchtet es, als ob Neonröhren die Sterne ersetzen könnten. »Das sagst du so einfach … «

»Ich bin mir sicher, du kannst loslassen, wenn du es wirklich willst.«

»Hast du denn schon losgelassen?«

Der Engel versteinert im Mondlicht.

»Du denkst vielleicht, ich merke das nicht, aber schließlich habe ich dich fast vierundzwanzig Stunden am Tag an der Backe. Ich weiß, dass du es mir nicht erzählen wirst, aber gerade deswegen werde ich nicht aufhören, mich zu fragen, was dir passiert ist.«

Nach einer kurzen Pause seufzt Janiel: »Das ist etwas anderes.«

»Und warum?«

»Ist Tobi etwa gestorben?«

Der Satz trifft mich wie ein Schlag.

»M-mein B-beileid … «, stammele ich konfus.

»Ist okay.« Er starrt in den Himmel.

»Ich wollte nur, dass du verstehst, dass … «

»Tu ich!«, unterbreche ich ihn. »Ich will bloß nicht mehr diese Gefühle haben!« Ich halte es sowieso nicht länger aus. Diese Gedanken, die ständig darum kreisen, was mit Tobi los ist. Dieses Stechen in der Brust, wenn ich wieder einmal realisiere, dass ich die ganze Zeit allein gewesen bin. Das Tobi nie neben mir gegangen ist. Die ganze Zeit über hat er als mein längst versunkener Hafen gedient. Freunde, das waren wir nie. Stimmt.

Daraufhin tut Janiel, was er selten tut: Er schenkt mir ein echtes, beruhigendes Lächeln. »Du wirst über ihn hinwegkommen, Manu.«

»Ich werde einfach Mathe lernen, das verursacht in meinem Gehirn eh so höllische Schmerzen, das kann kein Liebeskummer toppen«, vermute ich. »Abgesehen davon kann ich dann vielleicht eines Tages diese Lüge wahr werden lassen.«

»Welche Lüge?«

»Du hältst mich für blöder als Brot, oder?«, unterstelle ich meinem Schutzengel, der unschuldig mit den Schultern zuckt. »Du warst das. Ich habe lange darüber nachgedacht, aber ich kann auf keinen Fall die Aufgaben in dem Mathetest gelöst haben. Meine Blätter waren LEER. Dr. Sommer traue ich nicht zu, dass er da was manipuliert hat … da bleibst nur du übrig.«

Janiel verschränkt die Hände hinter dem Kopf. »Tja, erwischt.«

»Warum hast du das gemacht? Steht das auch in deinem Handbuch?«, erwidere ich.

» … « Oh Nein, nicht schon wieder die Nummer! Für heute bekomme ich also nichts mehr aus ihm heraus. Dafür können wir beide schweigend so tun, als würden wir hinter dem dichten Nebellicht aus Braun und Rot die Sterne betrachten.
 

Hust, hust! Als ich aufwache, liege ich zur Abwechslung mal allein in meinem eigenen Bett und habe einen richtig kratzigen Hals. Wie ich feststellen muss, hat sich meine Stimme aus dem Staub gemacht. Eigentlich ist das ein verdammtes Glück, weil ich dann nicht mehr den Preis entgegen nehmen muss.

Im Restaurant unten bekommt Dr. Sommer schier einen Heulkrampf, als er die schlechte Nachricht erfährt. »Oh nein Manu! Das ist schrecklich, das ist furchtbar, was machen wir denn jetzt?!«

Okay … mein Mathelehrer läuft Amok. »Beruhigen Sie sich, es kann ja jemand anderes statt mir den Preis abholen«, schlage ich vor.

»Aber Manu! Das ist die größte Ehre, die es für Nachwuchsmathematiker gibt, willst du das wirklich verpassen?«, ruft Dr. Sommer hysterisch aus.

Ja.

»Nun ja, mir reicht es zu wissen, dass ich es verdient hätte. Dann macht das nichts aus«, versuche ich ihn weiter zu beruhigen.

Mist, jetzt strahlt er wieder. »Oh, wie bescheiden du doch bist! Du hast es wirklich verdient, weißt du! Such dir dann jemanden aus, der den Preis empfangen soll.«

Ich fackele nicht lange damit. »Tobias.« Noch nie habe ich ihn bei seinem richtigen Vornamen genannt, das ist ganz schön ungewohnt.

»In Ordnung, ich werde es ihm ausrichten.«

Und schon macht sich Dr. Sommer auf zu neuen Ufern. Mmpf. Dann frühstücke ich eben mit meiner Katze. Nach dem Brunch, oder wie man das uhrzeitgemäß nennt, lege ich mich in meinem Zimmer wieder aufs Ohr. Als ich wieder aufwache, schnurrt Kater Janiel seelenruhig neben mir auf dem Kopfkissen. Ich sehe auf mein Handy. Sechzehn Uhr.

Jetzt müsste die Preisverleihung stattfinden. Hoffnungsvoll schalte ich den Mini-Fernseher an, zappe durch die Kanäle. Aber seltsamerweise nimmt kein Reporter das Geschehen auf (eigentlich wundert es mich nicht). Ich seufze laut und streichle Janiel am Nacken. Irgendwie hätte ich das schon gerne gesehen, zwar nicht von der Bühne aus, aber immerhin. Mein Handy brummt. Was für ein Zufall, gerade wo ich doch aufgewacht bin.

»Danke, Manu. Ich weiß das zu schätzen, aber kann das nicht annehmen«, steht da. Leider kann ich seine Handynummer auswendig, weshalb ich weiß, dass diese SMS von Tobi stammt. Und deshalb lege ich mich einfach wieder schlafen. Zwei Mal pilgere ich noch auf das Klo, schlafe ansonsten den ganzen Abend und die Nacht durch. Ich bemerke nicht einmal, dass Josefine irgendwann reinkommt. Dass ich tatsächlich im Begriff bin, richtig krank zu werden, bemerke ich am Morgen danach an meiner Rotznase. Und daran, dass ich das Frühstück verschlafe. Und die Rückfahrt.

Nach der langen Reise stehen wir Mathemenschen endlich vor der Schule, und ich warte zwischen meinem hoffentlich-nicht-jetzt-miauenden Koffer und Karotte auf Dr. Sommer, der noch telefoniert und versprochen hat, mich heimzufahren. Es herrscht eine Eiseskälte, dabei ist noch gar nicht Winter. Den überlebe ich echt nicht, so wie ich jetzt schon zittere. Unter dem Ahornbaum, der jetzt keine Blätter mehr hat, stehen wir und ich denke an den Tag zurück, an dem ich von Tobis nicht vorhandener Freundin erfuhr. Da waren wir noch Freunde. Nach und nach verschwinden die Schüler, werden von ihren Eltern abgeholt. Jonas und Karotte umarmen mich zum Abschied. »Mach’s gut, Manu.«

»Man sieht sich!«

Sogar Tobi wagt es, auf mich zu zukommen, doch als ich einen Schritt zurückweiche, erstarrt er in der Bewegung und winkt mir stattdessen. »Ciao«, haucht er mir schwach entgegen, bevor er sich umdreht und auf den Parkplatz zuläuft.
 

Zwei Wochen später. Alles andere als behutsam knallt Hanna mir eine Zeitschrift auf mein Pult. Mit ihrem stechenden Blick schafft sie es, dass ich mich schuldig fühle, obwohl ich nicht weiß warum. »Hast du mir was zu sagen, Manuela?«, mahnt sie mit scharfem Unterton.

Ich kratze mich am Kinn. »Öhm. Nein, nicht wirklich.«

Mit voller Gewalt patscht sie mit ihrer Hand auf die Zeitung. »Da! Sie es dir an!«

Das Schmökerwerk, das Hanna vor mir ausgebreitet hat, ist die lokale Tageszeitung, genauer gesagt, der Kulturteil. Den Hauptartikel ziert ein bekanntes Gesicht. »Waaas?! Wie ist das denn passiert!«, rufe ich völlig vom Stuhl gerissen aus. »Jonas und Modeln?! Da ist doch irgendwas schief gelaufen!«

»Tatsächlich ist das kein Fake. Unser süßer Oberstufenhottie hat einen der begehrtesten Plätze bei der nächsten Fashionweek abgesahnt! Aber das ist nicht das, was ich dir vorwerfen wollte.« Aufmerksam lese ich mir den Artikel durch.
 

Der 19-jährige Jonas Hüpsch vom Eberhardt-Frank-Gymnasium ist der definitive Newcomer auf der Berliner MODEMEILE. Von der Kohle zum Diamanten hat es für ihn nicht lange gedauert: Der junge Mann wurde vor gerade mal zwei Wochen vom bekannten Starfotografen Hendrik Erikson bei einer Preisverleihung entdeckt, dem deutschen Jugend-Mathematikpreis. Damit beweist Jonas Hüpsch, dass er seinem Namen nicht nur alle Ehre macht, sondern auch Köpfchen hat. Im folgenden Interview von Clara Wiedemann erfahren wir mehr über den begehrten Oberschüler:

Clara: Jonas, Sie gehen jetzt in die Abschlussklasse. Haben Sie sich jemals vorgestellt, hauptberuflich zu modeln?

Jonas: Oh nein, nein, ich hätte nie im Leben damit gerechnet! Mir war es bisher eher wichtig, meinen Schulabschluss zu schaffen und danach zu studieren.

Clara: Bisher? Dann hat sich das mit Ihrer neuen Karriere erledigt?

Jonas: Nein, nein! (lacht). Ich habe das auch weiterhin vor.

Clara: Wie sind Sie überhaupt an den Vertrag bei der Agentur gekommen?

Jonas: Ursprünglich fuhr ich zusammen mit meinen Mitschülern nach München, um den deutschen Jugendmathematikpreis entgegen zu nehmen. Also nicht, dass Sie denken, ich hätte den gewonnen, das war eine Mitschülerin aus der Mittelstufe. Wir waren eher so die Eskorte der Leute, die auf Platz 630. kamen (lacht).

Clara: Soso, aber Sie haben sich immerhin auch beworben! Ihren Fleiß muss man loben!

Jonas: Danke! Jedenfalls konnte unsere Siegerin den Preis nicht entgegennehmen. Also bin ich stellvertretend für sie eingesprungen … und hatte das Glück, entdeckt zu werden.

Clara: Das war bestimmt ein tolles Gefühl! Wie ging es weiter?

Jonas: Erst mal passierte gar nichts, wir fuhren wieder nach Hause. Zwei Tage später erhielt ich einen Anruf von einem gewissen Hendrik Erikson, der mir anbot, bei einer Modelagentur zu arbeiten. Ich muss zugeben, ich habe ihn erstmal ausgelacht. Ich hielt das für einen schlechten Scherz.

Clara: Aber schließlich haben Sie das Angebot angenommen, wie wir wissen. Wie ist es für Sie, plötzlich auf dem Laufsteg zu stehen? Immerhin haben Sie als Anfänger gleich einen sehr großen Fisch an Land gezogen!

Jonas: Zunächst war es sehr befremdlich. Aber ich habe zum Glück eine großartige Agenturchefin, die es versteht, Models auf den perfekten Gang zu trimmen. Das verdanke ich alles nur Hendrik! Und natürlich auch Manuela, ohne die ich nie die Gelegenheit gehabt hätte, entdeckt zu werden!

Clara: Ich hätte noch eine sehr persönliche Frage.

Jonas: Schießen Sie los.

Clara: Was für eine Art Mädchen bevorzugen Sie?

Jonas: Mhm, ich mag Mädchen mit Humor und Köpfchen, zum Beispiel wie unsere Preisträgerin …
 

OH MEIN GOTT! Ich will aufstehen, verhake mich aber am Tischbein und falle vom Stuhl. WIE KANN ER MIR DAS NUR ANTUN! »Wie kann dieser Wicht das in der Öffentlichkeit erwähnen!«

»Schrei nicht so, die gucken schon alle!«, blafft Hanna. »Also ist es wahr? Du hast was mit Jonas? Dabei hätte ich von dir echt nie gedacht, dass du deine Freunde wie Unterhosen wechselst ... Mensch, Manu! Ich bin schon enttäuscht von dir!« Während sie das sagt, grinst sie aber.

»Alsoo … habt ihr?«

»FRAGST DU MICH DAS ERNSTHAFT?!«

Hanna weicht zurück. »Beruhig dich, du verwandelst dich ja in eine zweite Nadine!«

Wie aufs Stichwort marschiert ein wütendes Nadine-Exemplar ins Klassenzimmer. Direkt auf uns zu.

»Manu! Also das hätte ich ja niiie von dir gedacht, dass du tatsächlich so eine Schlampe bist!«

Ich: »Dito.«

Wenn Nadine ein Kochtopf wäre, wäre jetzt die Milch verbrannt. »Was fällt dir ein du miese … !«, versucht sie mich zu beleidigen, als Dr. Sommer hereinspaziert und sich alle setzen müssen. Also bleibt ihr Kompliment vorerst unausgesprochen.

In der Pause entkomme ich rechtzeitig und marschiere in die Aula, um Fair-Trade-Schokolade unserer Umwelt-AG zu erbeuten. Alle paar Wochen machen sie sich nämlich die Mühe, einen Pausenverkaufsstand aufzubauen und ich finde, dass es eine tolle Sache ist. Die gut schmeckt.

»Zwei Euro zehn bitte.«

Leider stelle ich fest, dass mir genau DIE zehn Cent fehlen. »Uhm … ähm … sorry, ich dachte wirklich ich hätte noch was …«

»Lass stecken«, sagt das Mädchen zu mir, das heute zusammen mit einer anderen den Stand bewacht.

»Du bist doch DIE Manuela oder?«, fragt sie begeistert.

»Uhm … ja.«

Schwungvoll wirft sie ihre langen blonden Haare über die Schulter. »Ich weiß ja, dass du Stammkundin bist. Bring es einfach nächstes Mal mit. Hier, ich schreibe es auf. Das machen wir in der AG auch immer. Wenn du magst, komm doch einfach mal zu einem unserer Treffen vorbei.«

»Ehm okay, super, Dankeschön!«, stammele ich überrascht. Mit der Schoki in den Pfoten latsche ich raus, auf den Pausenhof. Frischluft. Haaa! Woher wusste sie bloß meinen Namen?

»Na sieh mal einer an, wer da ist.«

Fluchtversuch gescheitert. Schnell, sag was Schlaues. Natürlich fällt mir nichts ein.

»Hat es Spaß gemacht, dein kleiner Fick mit unserem Jonas?«

Ich muss mich wirklich beherrschen, ihr nicht an die Kehle zu springen. Nadine und ihre »Bitches«, wie ich Chantal und Lilly seit neuestem liebevoll nenne, bilden so eine Art Umzingelung.

Bitch Nr. Eins (Chantal): »Seine Unschuld in unserem Alter zu verlieren, ist wirklich eine Schande, aber das was du treibst kann man ja schon öffentlichen Verkehr nennen!« Bitch Nr. Zwei (Lilly): »Vor allem ist es traurig, ausgerechnet unseren Jonas verführt zu haben! Ich bin mir sicher, dass du ihn erst gefügig machen musstest, denn Jonas hat Stil und Klasse, was dich nur noch erbärmlicher macht. Schämst du dich eigentlich nicht?«

»Aha. Nette Gerüchte, ihr solltet weniger RTL schauen. Nur zur Info: NICHT ALLES WAS IM FERNSEHEN KOMMT, IST REAL.« Ich wende mich ab und will wieder abhauen, da ergreift nochmals Nadine das Wort: »Tu nicht so unschuldig, wir wissen genau, was du mit Jonas getrieben hast! Und glaub mir, damit wirst du nicht so einfach durchkommen!«

Jetzt reicht’s! »Ach ja? Was habe ich denn mit ihm ‚getrieben‘?!«, keife ich eine Spur lauter zurück. Ein paar Schüler drehen sich jetzt zu uns um. Ich werde immer angriffslustiger: »Erkläre mir das bitte ganz langsam, nein, buchstabier’s mir!«

Chantal, die nicht ganz Helle zu sein scheint, meint: »Na also, wenn Bienchen und Blümchen … «

»Nein!«, unterbricht Nadine sie harsch. »Manu, wir wissen genau, dass du Jonas in München betrunken gemacht und ihn provoziert hast, um mit ihm aufs Zimmer zu gehen! Und du hast ihn damit bestochen, dass er den Preis entgegen nehmen durfte!«

»Was?!«, rufe ich entsetzt aus. Immer mehr neugierige Gesichter gesellen sich zu uns. Da drängelt sich ein Retter durch die Menge. Diesmal ist es weder Dr. Sommer noch Janiel.

»Ich habe keine Ahnung, warum ihr so einen Scheiß rumerzählt, aber ich war dabei und ihr schaut echt zu viele Seifenopern«, verteidigt mich Karotte. »Erstens: Manu war betrunken, nicht Jonas.«

Das macht’s nicht arg viel besser, Jan!

»Zweitens: Sie hat nicht in Jonas, sondern Tobis Bett geschlafen.«

Jan, ich bring dich gleich um!

»Und drittens: Hatte Manu am Tag der Preisverleihung solche Schmerzen, dass sie zu Dr. Sommer gesagt hat, ER solle jemanden aussuchen!«

Jan, du bist ein TOTER MANN!

Alle Zuhörer ziehen scharf die Luft ein. »Also Jonas UND Tobi … Oh mein Gott … « Ich kann nicht ausmachen, WER diese Worte gerade flüstert. Aber das ist auch egal, weil jetzt alle dasselbe denken …
 

»AAAAAAH! Ich habe den Ruf einer sexsüchtigen, männerwechselnden Alkoholikerin! Und ich bin noch nicht mal sechzehn!«, seufze ich, alleine auf meinem Lieblingsstein sitzend. Es ist diesmal Mittagspause, im Unterricht musste ich mir – Gott sei Dank – keine Kommentare anhören, da in unserer Klasse das neueste Gerücht noch nicht die Runde gemacht hat. Komisch eigentlich, dass Nadine nicht geplappert hat, aber vielleicht kommt das ja noch. Janiel habe ich dazu verdonnert, mir mein Mittagessen zu bringen, damit ich mir in der Essensschlange kein Getuschel anhören muss.

Wieso? Wiesooo immer ich!? Als Janiel mit meinem Leberkäs-Semmel wiederkommt, bin ich immer noch völlig aufgelöst. Natürlich will er wissen, was los ist.

»Hach, Nadine erzählt rum ich wäre die Schulmatratze.«

»Das ist problematisch. Aber du wirst darüber hinwegkommen. Hier, dein Essen.«

»Danke!«, freue ich mich wenigstens über etwas heute.

»Ich habe hier übrigens was für dich.« Er reicht mir einen Umschlag.

»Was wird das schon wieder sein«, murmele ich.

»Karin hat ihn mir gegeben, ich habe auch einen.«

Ungeduldig reiße ich ihn auf.
 

Liebe Manu,

am Freitag feiere ich ab 19 Uhr meinen 16. Geburtstag und lade dich herzlichst dazu ein, mit mir um Mitternacht anzustoßen! Die Party findet bei mir zu Hause statt, falls du nicht nach Hause kommen solltest / kannst, kannst du auch bei mir übernachten. Bitte gib mir Bescheid, ob du kommst und ob du übernachtest, ich würde mich wahnsinnig über eine Zusage freuen! Ich fände es übrigens super, wenn du einen Salat mitbringen würdest!

Ich freue mich schon,

deine Karin

PS: Du kannst wenn du magst (bitte, bitte, BITTE!) Jonas mitbringen!
 

Das erklärt quasi schon alles. Abermals lasse ich den Kopf hängen.

»Manu? Sieh mal wer da kommt.«

Es ist der einzige Mensch, mit dem ich momentan keine Probleme habe: Valentine. »Hallöchen! Verzeih mir, Jan, aber kann ich Manu kurz alleine sprechen?«

Ich könnte jetzt Böses ahnen, tue es aber nicht. Wider Willen verzieht sich Janiel hinter den nächsten Baum, was lächerlich ist, aber Valentine nicht großartig zu kümmern scheint. Vielleicht haben ihre Kontaktlinsen ja die falsche Stärke?!

»Jetzt mal ganz im Ernst, Manu: Seit du aus München zurück bist, hängst du immer mit Jan herum … läuft da wirklich nichts?«

DONG. Alles hätte ich erwartet, nur nicht das … okay, kein Wunder, dass mich alle für Flittchen Number One halten! Ich kann ihr immerhin unmöglich erklären, dass Janiel mein sogenannter Schutzengel ist. Hmpf. »Ja, ganz sicher! Keine Sorge, wir waren schon immer nur Freunde!«, wehre ich ab.

»Also wenn du mich fragst, gibt es keinen Jungen, der für dich so Dinge tut, wie deine Taschen zu tragen, wenn er nicht etwas für dich empfindet … aber gut ich habe nicht sonderlich viel Ahnung, aber ich meine ja nur … «

»Mach dir wirklich keine Sorgen! Und bitte hör weg, wenn … «

»Ich habe es schon gehört.«

Gaaaah.

»Aber da muss schon ein Spatz chinesisch sprechen, damit ich so was glaube.« Sie zwinkert mir zu, und ich falle ihr nochmals um den Hals. »Ich finde aber, falls du noch Gefühle für Tobi hast, solltest du dich von Jan fernhalten.«

Wamm! Wo kommt diese Meinung bloß her?! »Was meinst du damit?«, will ich wissen.

»Naja … nicht nur Jan läuft dir nach, seit München.«

»Echt jetzt?!«, entfährt es mir. »Das bildest du dir ein, Valentine.«

Missmutig schaut sie mir erst in die Augen und wendet sich dann ab: »Ich beneide dich wirklich, Manu.«

Als ob Tobi unser Gespräch gewittert hätte, schlurft er, Nadine im Schlepptau, den Pflasterweg an uns vorbei. Wie die Blöden glotzen sie herüber, Nadine tuschelt. Das hat bestimmt nichts Gutes zu bedeuten. Aber ich finde mittlerweile, dass jemand, der Nadine mag, ziemlich kaputt im Kopf sein muss. Und ja, ist ein schwacher Liebeskummertrost.

Die erste Woche nach der München-Reise habe ich erstmal blau gemacht. Zurecht, mich hat die Grippe oder so was angefallen. In der zweiten Woche habe ich mich von Janiel dazu breitschlagen lassen, ein paar seiner Modetipps zu befolgen. Er meinte, wir zeigen es mal wieder Nadine. Da ich mich allerdings permanent weigere, Geld für Klamotten auszugeben (ich brauche Geld für Bücher!), haben wir es Nadine … damit nicht gezeigt. Ich bin nicht hübsch, na und? Tobi liebt mich so oder so nicht, dann kann ich auch wie Gollum rumlaufen.

»Für mich sieht das ganz danach aus, dass du ihm viel bedeutest«, findet Valentine.

Ja, seit ich wieder da bin, treffe ich Tobi wirklich überall. Das ist übrigens derselbe Grund, aus dem Janiel vierundzwanzigsieben in der Schule meine Nähe sucht: Er ist anscheinend ein Argument für Tobi, mich in Ruhe zu lassen. Und meine Ruhe, die brauche ich dringend. Sonst komme ich niemals über diesen Idioten hinweg. »Ich bedeute ihm ganz sicher eines: gar nichts!«, stelle ich klar. Was für Valentine nicht klar erscheint, sie schüttelt nur den Kopf.

Da fällt mir ein: »Wie ist eigentlich dein Date mit Daniel gelaufen? War das nicht vorgestern?« Valentines Mund biegt sich deutlich nach unten: »Du wirst es nicht glauben, aber ich wurde versetzt.«

»WAS?!«

»Ja, das habe ich mir auch gedacht.«

Ich knuddle sie so fest ich kann. Ihr bleibt fast die Luft weg, aber sie freut sich.

»Ich denke, das war mal wieder so eine witzige Aktion, von du weißt schon … war alles inszeniert«, vermutet sie.

Valentine hat das wirklich nicht verdient. »Du wirst bestimmt noch jemanden finden! Nicht alle Jungs sind so dumm wie Daniel!« Hoffe ich zumindest. Auch für mich selbst.
 

Bevor die nächste Stunde losgeht, haben wir noch etwas Zeit. Zu viel Zeit. Die Karin und Co. nutzen, um sich zu vergewissern, dass ich morgen Abend ein gewisses Model mitbringe. »Komm schon, Manu! Er kommt bestiiiimmt, wenn du ihn fragst«, zetert Karin.

»Frag ihn doch selber … ich habe da nicht so wirklich Einfluss darauf und das, was da in der Zeitung steht, ist völliger Unfug«, berichtige ich die Umstände.

Sie drückt mir eine Einladung in die Hand. »Tue ich auch, gib du sie ihm nur!«

Ich rolle die Augen, stopfe das Teil in die Jackentasche. Ihr Gesicht sagt: Na also.

»Und bringst du einen Salat mit?«

Just in diesem Moment betreten Lilly und Chantal das Klassenzimmer. »Wo ist Dr. Sommer?«, fragen ihre Mienen.

Aber sie sagen: »Habt ihr schon gehört? Jonas ist wieder aus Berlin zurück!«

Hanna stupst mich an. »Das ist deine Gelegenheit!«

Grrrr. Bisher hat Janiel das Schauspiel von seinem Platz aus amüsiert verfolgt, ohne eine Absicht, sich einzumischen. Leicht verzweifelt trete ich auf ihn zu und knirsche: »Tu was!«

»Mache ich doch. Ich habe schon eine Geschenkidee«, feixt er. Da packen mich die Mädels links und rechts, schleifen mich aus dem Klassenzimmer. »Go, Manu, go!«

Prompt gucke ich auf den verlassenen Schulflur, die Tür hinter mir geschlossen. Und wie durch Zufall steigt Jonas gerade die Treppe hoch. In Zeitlupe. Mit Sonnenbrille und Schal.

»Na, Manu?«, begrüßt er mich. »Lange nicht mehr gesehen.«

»Jaaa … ich soll dir das hier von Karin geben.«

Verwirrt nimmt er den Umschlag an. »Wer ist Karin?«

Ach ja mmmh. Das könnte der Grund sein, warum ICH ihn einladen sollte. »Eine gute Freundin, die morgen Geburtstag hat. Sie hat sich von mir gewünscht, dass du auch kommst.« Noch während ich ihm das sage, wünschte ich, ich hätte es nicht getan.

Er klopft mir auf die Schulter. »Na wenn das so ist, komme ich natürlich! Ich tue dir doch immer gerne einen Gefallen!«

»Jaaa … ich gehe dann mal wieder rein. Bis dann!«, verabschiede ich mich und flüchte.

»Was hat er gesagt? Was hat er gesagt?«, überhäufen Hanna, Karin und Sophie mich sofort.

»Jaaa, er kommt.«

»Manu, du bist die Beste!!«

»Jaaa, ich weiß.«
 

Der Abend, und es ist immer dieser rot-orange-leuchtende Sonnenuntergangsabend, gibt meistens einen Lichtblick auf eine ereignisreiche Nacht. Dieses Prickeln, das man spürt, bevor man aufbricht. Zum Restaurant, ins Kino, zu einer Party. Aufgeregt ist kein Ausdruck für das, was ich an jenem Freitagabend empfinde. Es ist eher: gelangweilt. »Müssen wir da wirklich hin? Ich hab keine Lust mir das Gezeter um unseren Hottest-Man-Alive anzuhören.«

»Ich habe schon einen Salat gemacht, Manu. Der bettelt nach Komplimenten«, entgegnet Janiel, mein treuer Schutz- und Salatengel, der mit seiner Hüfte leicht schwul und schwungvoll die Küchenschublade zustößt.

»Ich weiiiiiß. Leider. Ich verspüre nur nicht den Drang, gewissen Personen … «

» … namens Tobi zu begegnen«, unterbricht er mich.

Motzig blase ich meine Backen auf.

»Was ist? Das wolltest du mir doch damit sagen. Pfeif auf Tobi, auf der Party sind deine Freunde, die solltest du wegen dem Spargeltarzan nicht aufgeben.«

»Seit wann ist Tobi ‚der Spargeltarzan‘?«

»Seit er von Liane zu Liane schwingt.«

»Ach lass die Witze.« Ich werfe mir meine Jacke über. »Gehen wir einfach.«

Auf dem Weg zu Karin, ein kleiner Fußmarsch durch die Vorstadt, fällt mir auf, dass ich wieder einmal mit Janiel zusammen aufkreuze. Valentine hat Recht. Es ist auffällig, dass ich so oft mit ihm abhänge.

»Janiel, wir sollten nacheinander reingehen. Die anderen denken sonst noch, wir wären ein Paar.«

»Zu Befehl.«

Kaum ein Klingeln danach, öffnet mir eine bis über beide Ohren strahlende Karin die Tür zu ihrem bescheidenen Hause. Und wenn ich bescheiden sage, meine ich gigantisch. Soweit ich weiß, hat Karin lediglich einen Bruder – aber dafür ein Architektenpaar als Eltern, die oft viel unterwegs sind und auch größere Projekte in anderen Städten verwirklichen. Darum dämmert mir schnell: Kronleuchter? Ka-Tsching! Glastüren, Holzfassaden an den Wänden, Jugendstiltreppe? Ka-Tsching! Hirschgeweih über der Eingangstür? Ka-... Was zur Hölle, ein Hirschgeweih!? Ka-Tsching, Ka-Tsching!

Janiel tut so, als würde er erst jetzt hinzustoßen. »Ich wünsche dir alles, alles Gute zum Geburtstag! Habe auch extra einen Salat für dich gemacht«, er zwinkert Karin zu. Für eine Sekunde unterbreche ich mein Stirnrunzeln und gratuliere ebenfalls: »Ja, herzlichen Glückwunsch!«

»Och, ist das süß! Lass dich drücken, Jan! Du auch, Manu! Den Salat stellen wir am besten ans Büfett in die Küche … kommt mit.« Die Küche ist offen hin zum Wohnzimmer angebaut, davor hat Karin ein paar lange Bierbanktische hingestellt, auf denen sich bereits Nudelsalate, Buletten, bunt glasierte Muffins und andere Snacks präsentieren. Auch hier durchtränkt der Designergeschmack ihrer Eltern die Zimmer, mit noch mehr Glaswänden, einer schwarzen Holzverkleidung an der einzigen »normalen Wand« und einem modernen Kamin, vor dem sich bereits die ersten Gäste versammelt haben. Sie sitzen auf einem Teppich, der sich fast über das ganze Zimmer erstreckt. Als ich mich zu ihnen setze, bemerke ich, wie flauschig und weich das monströse Stück Stoff ist. Das muss Schaffell aus dem Himmel sein.

»Hallo Manu! Schön, dass du auch da bist. Wir hatten schon befürchtet, dass du noch absagst«, verrät Hanna mir unter vorgehaltener Hand, obwohl diejenigen, die hier sitzen, nur Sophie, Valentine und Karotte sind. Wer hat den eigentlich eingeladen?

»Warum sollte ich denn absagen?« Von der Sache mit Tobi weiß doch niemand außer Valentine und Janiel … oder?

Es klingelt. Karin, die zusammen mit Janiel den Salat anmacht, flitzt prompt zur Haustür. »Halloo, schön, dass du auch gekommen bist!«, hören wir sie aus der Diele sagen. Wer als nächstes das Wohnzimmer betritt, überrascht niemanden – außer mich.

Diese Person in kurzem Minirock und in einem Top, das überlaut »HALLO!« schreit, ist wirklich das Einzige, was mich von dem monströsen HD-Fernseher ablenkt, der gegenüber vom Kamin clever an der Glaswand herunterhängt.

Wirklich. Nicht einmal Tobi hätte mich so sehr flashen können. Nadines dralle Brüste starren mich und die anderen Gäste willig an. Sie muss diese Veranstaltung verwechselt haben.

In dieser Straße gibt es keinen Swinger Club. Und schon gar nicht für Sechzehnjährige. »Ähm, hi Nadine«, begrüßt Hanna sie höflicherweise, zwar mager, aber hey.

»Hal-lo«, hält sich Nadine kurz.

Dann grinst sie frech: »Ich freu mich auf einen schönen Abend mit euch« und stolziert zu Janiel ans Büfett herüber.

Ich nehme Hanna bei Seite: »Was zum Teufel soll das?! Wieso hat Karin sie eingeladen? Und was hat sie denn hier vor?! Ich halte nichts von Orgien!«

»Schschsch! Nicht, dass sie uns noch hört! Es hat sich nun mal ergeben, dass Karin alle Mädels aus der Klasse eingeladen hat – alle, bis auf Nadine. Aber alle bis auf eine einzuladen, ist Mobbing! Deshalb war Karin dazu gezwungen … wir sind alle nicht begeistert, aber das konnte Karin nicht bringen.«

Ich seufze und buhue ein bisschen.

»Ist schon gut, meine Liebe«, klopft sie mir auf die Schulter: »Wir werden den Abend überleben. Irgendwie.«

»Weiß jemand, ob Mona kommt?«, quakt Karotte.

»Ich schätze schon – sie zahlt beim Geschenk mit«, antwortet ihm Valentine. Ach ja, Mona. Es gibt nur acht Mädchen in unserer Klasse: Karin, Sophie, Hanna, Valentine, Nadine, Mona, Elise und meine Wenigkeit. Mona und Elise sind die beiden Gegenpole in unserer Klasse. Da seit jeher die Anzahl unserer männlichen Geschlechtsgenossen überwiegt, haben Mona und Elise sich einen Spaß daraus gemacht, herauszufinden, wer von beiden die Beliebtere ist. Bisher hat sich keiner in den Konkurrenzkampf der beiden eingemischt, nur darüber getratscht. Was vorkommt, wenn mal wieder eines der Mitglieder seinen Fanclub von Mona zu Elise wechselt, oder sie sich gegenseitig den Freund ausspannen. Was gar nicht so selten passiert, wenn ich darüber nachdenke.

»Und Elise?«

»Auch.«

O je. O je. Das kann ja was werden. Ich flüstere zu Hanna: »Diese Party hat das Konfliktpotenzial zum Super-GAU.«

Wie zur Bestätigung bekomme ich aus den Augenwinkeln mit, wie Nadine Valentine in ein »Gespräch« verwickelt, als diese Janiel am Salatbüfett verdrängt, um sich eine Portion Grünzeug auf den Teller zu schaufeln. Auf die Entfernung können Hanna und ich beobachten, wie Nadines Augenbrauen anfangen, wütend zu tanzen und unsere liebe Valentine zur Schnecke machen. Ich will das Theater gerade beenden, da kommt Janiel mir zuvor und drängt sich dazwischen.

In diesem Moment platzen zwei junge Männer mit jeweils zwei Getränkekästen ins Zimmer. »Weiter, weiter, ja unter den Tisch. Stopp! Perfekt!«, dirigiert Karin sie. Beide sind groß, schlank, haben dunkle Haare. Und sind mindestens zwanzig Jahre alt.

»Zwei Sixpacks die Sixpacks bringen, das habe ich auch noch nicht erlebt«, kommentiert Sophie und fächert sich symbolisch imaginären Wind zu. Die »Sixpacks« quatschen mit Karin, und veranlassen Nadine dazu, den Salat samt Janiel und Valentine links liegen zu lassen, um sich kokett dazu zu stellen.

»ALSO, das gönne ich ihr nicht!«, kündigt Sophie an und stellt sich mit an die Front.

O je. O je. Hanna und ich verstehen uns. »Reich mal die Chipstüte her, Karotte«, ordert Hanna. Vornübergebeugt, mit Kartoffel-Riffel-Chips bewaffnet, verfolgen wir gespannt die Szene.

»Hi, wie ich sehe bringt ihr Bier?«, eröffnet Sophie das Feuer.

»Ah Sophie, ich wollte dir meinen Bruder schon länger mal vorstellen. Konstantin, das ist meine liebe Freundin Sophie, von der ich dir erzählt habe! Sophie, das ist Konstantin. Und das hier ist sein Kumpel … «

»Ralf, sehr angenehm.«

Konstantin gibt Sophie die Hand: »Freut mich.«

Sogleich packt Sophie ihr größtes Geschütz aus: Ihr (laut Hanna) berühmt berüchtigtes Ich-zaubere-dir-Pudding-Beine-Lächeln. Leider springt Konstantin nicht darauf an, oder Hanna übertreibt wie immer. Stattdessen fragt er: »Und wer ist dieses liebreizende Geschöpf?«, sich Nadine zugewandt. Karin lacht falsch auf.

»Oh mein Gott, schlechter geht’s gar nicht«, kommentiert Hanna mit Riffelchip in der Hand.

Ich fasse mir an die Stirn. »Verdammt, Karin!«

Eine dritte Stimme zischt: »Haltet die Klappe, ich höre sonst nichts!« Tatsächlich sitzt die Möhre jetzt halb hinter, halb zwischen uns und lauscht mit.

»Das ist Nadine, eine Klassenkameradin von mir … «, stellt Karin widerwillig unser aller Feind vor.

»Oh Schwesterchen, du hast gar nicht erzählt, was für sexy Klassenkameradinnen du hast.« Untermalt von einem heißen Lächeln mit Zwinkern, sagt er das einfach so. Wir Mädels auf dem Teppich, einschließlich Karotte, saugen tief die Luft ein.

Nadines Ego nimmt den ganzen Raum ein.

»Sie muss was tun! Jetzt! Sonst müssen wir uns Nadines Geprahle den ganzen Abend anhören!«, schimpft Hanna.

»Ich hole noch die Kekse aus dem Auto, bis gleich«, verkündet und verschwindet Konstantin wieder. Sophie und Nadine werfen sich gegenseitig einen Blick zu, der töten kann, und plötzlich stehen in der Küche nur noch Ralf und Karin. Und davor Janiel, der nochmal unseren Salat umrührt.

»Tja Karin, sag Bescheid falls du noch was brauchst, ich werde heute gut auf unseren Romeo aufpassen. Auch wenn ich nicht versprechen kann, dass er sich volllaufen lässt, aber das lass mal meine Sorge sein. Deine Eltern kommen erst nächste Woche wieder?«, stellt Ralf fest.

Karin nickt. »Mein Bruderherz hat sich heute zu benehmen, das weiß er! Ich werde seine Kotze nicht aufwischen, zumindest nicht an meinem Geburtstag.«

Ein letztes O je, O je. Karins Bruder scheint eine Partysau und ein Schürzenjäger zu sein.

»Ich wünsche euch auf jeden Fall viel Spaß heute Abend!«, sagt Ralf.

Da stürmt eine aufgebrachte Sophie ins Zimmer, mit einer weißen, abgedeckten Schüssel in den Händen. Sie knallt sie auf den Büffettisch und lässt sich, danach, mit viel Lärm zu uns auf dem Teppich fallen. »Ich bringe sie um, ich bringe sie irgendwann um!«, murmelt sie gehässig vor sich hin.

»Was ist passiert?!«, wollen Karotte, Hanna und ich wissen.

Ohne ein Ding-Dong spaziert der nächste Gast herein. »Hallo, ist das hier Karins Geburtstagsparty? Die Tür stand offen und es scheint die richtige Adresse zu sein, aber da draußen knutscht so ein Pärchen herum … «

»Ich bringe ihn um!«, brüllt die ansonsten so liebe und süße Karin und stampft empört aus dem Haus, Ralf hinterher.

»Also Sophie, sei froh, jetzt halten wir dich zumindest nicht für eine Schlampe«, gibt Karotte seinen Senf dazu ab und greift in die Kartoffel-Riffelchen-Tüte.

Während Sophie ihm die Augen auskratzt und eine Kissenschlacht mit dem einzigen Kissen in Karins Heim anzettelt, stehe ich auf und begrüße Jonas, der irritiert in der Kulisse rumsteht.

»Hey Jonas, supercool, dass du gekommen bist, ich muss dir nur kurz eine Schleife umbinden, immerhin bist du mein Geschenk.« Wie von Zauberhand lasse ich ein Geschenkband und eine Schere erscheinen (okay, ich habe sie vorhin aus meiner Handtasche geholt).

»Wow, hallo Manu, okay … «, stammelt er etwas überfordert. »Du gehst aber schnell ran … «

Meeep. Gar nicht mehr so überfordert. Ich ziehe das Band, das ich um seinen Hals geschlungen habe, sehr fest zu. »Uill u mi äowüren?!!!«, krächzt er. Zu seinem Glück greift Hanna ein und rettet ihn vorm Erstickungstod.

»Manu! Also wirklich, nicht du auch noch! Wir müssen heute hier die Stellung halten! Heb dir deine Gewaltfantasien für Nadine auf, sobald wir betrunken genug sind, um vor Gericht für unzurechnungsfähig erklärt zu werden.« Tief überzeugt von Hannas Ansprache erkläre ich: »Dann hole ich mir Salat.«

34 Millisekunden später stürzen sich Sophie und die gerade neu eintrudelnden Gäste Lilly und Chantal aus unserer Parallelklasse auf unseren Model-Jonas. Warum bloß hat Karin die denn auch noch eingeladen?! Ich muss beizeiten mal ein ernstes Wörtchen mit ihr reden!

Sehr froh darüber, das Schlachtfeld rechtzeitig verlassen zu haben, schaufele ich mir reichlich Nudelsalat auf meinen Designer-Pappteller – sogar die sehen edel und teuer aus. »Eine aufregende Party, was?«, bemerkt Janiel, und reißt sich dabei zusammen, um nicht laut loszulachen.

»Bist du im Himmel nicht gewohnt, was.«

»Naja, Engel feiern nicht«

»Nicht mal an Weihnachten?!«

»Im fünften Himmel nicht, nein.«

»Oh Gott, das muss ja furchtbar langweilig sein … Gib’s zu, ich bin dein Vorwand, um auf der Erde abdancen zu können.«

»Es ging eigentlich, wir haben neben unseren Pflichten eben andere Dinge getan … die meisten Veranstaltungen waren Konzerte – und ich dance nicht ab.«

»Bitte sag mir, dass die ‚Konzerte‘ keine Kirchenliedansammlungen waren, sonst muss ich Mitleid mit dir haben.«

Er lacht auf. »Keine Sorge, die meisten Lieder habe ich selbst komponiert.«

»Darf ich kurz stören?«, unterbricht uns Karotte, der sich einen von den Keksen aus der weißen Schüssel stibitzt.

Ich denke an Janiels Geigenspiel zurück. »Stimmt, Eiael meinte ja, du wärst ein Promi. Wie wird man denn Promi im Himmel?«

Just taucht Karin wieder auf, mit einer klaren Ansage: »Dreht die Musik auf, wir haben jetzt Bier und ich darf legal saufen. Prost!«

Es kreuzen noch mehr Gäste auf, unter anderem unsere Zimtzicken Mona und Elise, aber auch ein ganzer Schwall kompakter, männlicher Testosterone. Ich frage mich, ob Karin die Mädels nur eingeladen hat, damit sie ihren jeweiligen Fanclub mitbringen … Vermutlich ja. Deshalb mussten bestimmt auch Lilly und Chantal kommen.

Wie auf den Befehl von eben wird die Musik lauter gedreht. Ein Bass ist zum Glück nicht im Besitz von Karins Familie, sodass es, wie ich denke, keinen Ärger mit den Nachbarn geben wird. Zumindest nicht deswegen. Inzwischen stehen die meisten auf dem Flausche-Teppich und bewegen sich minimal nach rechts und links, was die heutige Gesellschaft »tanzen« nennt. Ich setze mich samt Salatteller und Schutzengel zu ein paar Hockengebliebenen dazu.

»Boah, diese Kekse sind unheimlich gut!«, stöhnt Karotte.

»Er hat Recht, Manu, probier doch mal!«, entgegnet Valentine, die sich inzwischen zu Karotte gesellt hat. Demonstrativ halte ich meinen Salatteller hoch und kaue sehr deutlich. Sie lassen ab und richten ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Kekse, während ich das Getümmel auf der Tanzfläche beobachte. Genauer gesagt, ist Tobi endlich erschienen.

Vielleicht brauche ich ein Bier. Er schaut herüber. Oder zwei. Also fliehe ich in die Küche, als er sich tatsächlich die Frechheit erlaubt, auf Valentine, Karotte, Janiel und mich zuzusteuern. Dumme Idee, er trottet mir hinterher. Wie ein Dackel. Ja, ich mochte Tobis ollen Hundeblick immer, aber so war das definitiv nicht gemeint!

Er berührt mich am Unterarm. »Hey Manu.«

Hau ab. Hau ab. Hau ab. Deine Nähe tut mir weh. »Hey, Tobi«, sage ich stattdessen. Wir stehen alleine an der Küchentheke, es hat jeder Salat, der Salat haben will. Und hier ist meiner.

»Ich vermisse dich«, gesteht Tobi mir.

Ich spüre einen dicken Kloß im Hals. Wie gern hätte ich das gehört. Vor drei Wochen. Oder so. Aber jetzt … habe ich zu lange geheult, als dass ich mich darüber freuen könnte. »Als Freund oder als Kartoffel«, fatze ich heraus.

Völlig perplex sammelt er sich kurz, erwidert dann: »Als Kartoffel natürlich.«

»Was auch immer das bedeuten mag … «, seufze ich und lasse ihn stehen, um vier Bierflaschen aus dem Kühlschrank zu holen, weil Hanna bereits aus der Ferne winkt und mir zu verstehen gibt, ich solle doch was mitbringen. Und herüberkommen.

Tobi ist alles andere als erfreut, von mir, dem Mädel, das ja sonst nur stottert, gekorbt zu werden und geht erstmal frische Luft schnappen, um den Schock zu verarbeiten. Mal sehen, wie lange er es vor der Haustür mit Nadine und Konstantin aushält. Hanna stößt mit mir an, nachdem Sophie es geschafft hat, Jonas in ein Gespräch mit ihr zu verwickeln. »Das wird Karin nicht gefallen«, schüttelt sie den Kopf. »Nein, nein.«

»Auf eine beschissene Party. Cheers.« Kling!

Ich habe vielleicht ein, zwei Mal Bier in meinem Leben getrunken, aber nie mehr, als einen Schluck im Kreise von Erwachsenen zu Geburtstag und Silvester. Aber dieses pinke Granatapfelbier ist etwas ganz anderes, es schmeckt wie herber Saft, den man erst zu lang in der Sonne hat stehen lassen, um ihn danach in die Kühltruhe zu packen. Schwupps, ist die erste Flasche leer.

»Wow, Manu! Du hast ja einen ganz schönen Zug! Ich habe mich nur kurz umgedreht … «, staunt Hanna, und beschließt, das zum Tratsch-Thema zu machen: »Hey Karin, unsere liebe Manu ist ein Loch!« Während sie das ausspricht, fängt sie schon an zu gackern. Und als sie sich wieder umdreht, habe ich schon die zweite Flasche leer. Ihr Mund klappt herunter. »Ernsthaft?«

»Was denn, ich hatte Durst«, rechtfertige ich mich und zucke mit den Schultern. Einigermaßen munter, steuere ich auf die Tanzfläche zu, wo Janiel mich prompt zu einem Tanz auffordert, äh, abfängt.

»Du hast getrunken. Wegen Tobi. Ich hab’s gesehen. Leugnen ist zwecklos.«

»Na und? Wer kann, der kann!«

»Manu, darf ich dich daran erinnern, dass DU erst fünfzehn bist?«

»Und wie alt bist du? 335?«

»Ich bringe dich an einen ruhigen Ort.«

Er führt mich wieder in die Diele, wo der Hirschkopf über der Eingangstür prangt. »Armer Hirschi. Gestorben als Designerware«, schmolle ich.

»Komm jetzt!«, herrscht Janiel mich an, als ich vor dem Hirsch verweile und langsam meine Unterlippe vorschiebe. Wir gehen die Treppe hinauf in ein Zimmer. Ein rosa-überflutetes Zimmer.

»What the fuck! Sind wir im Schlaraffenland? Einhornprinzessin? Wohnst du hier? Sieht ja fast so aus wie bei mir.«

Janiel durchbohrt mich mit einem zweifelhaften Blick: »Das ist Karins Zimmer, oder aber auch: ‚die Ausnüchterungszelle‘. Und bei dir sieht es schlimmer aus, an deiner Stelle würde ich mich also nicht darüber lustig machen. Ich hab hier ein Wasser für dich.«

»Also wirklich, ich bin nicht betrunken!«

»Wie trinkfest du bist, hast du in München bereits bewiesen.«

»Aber hallo, das ist nur Bier und kein Sex.«

Es klopft an der Tür. »Entschuldigt, wenn ich euch unterbreche … ihr Turteltauben hihi.« Karin kann ihr Gekicher nicht für sich behalten: »Aber an der Tür ist jemand, der ist auf der Suche nach einem gewissen ‚Janiel‘ und Karotte ist es nicht … Alsoo, du hast nie erzählt, dass Jan nur eine Abkürzung ist, Janiel!«

Ungläubig starren Janiel und ich uns an. Niemand kennt seinen richtigen Namen. Echt, niemand. Außer mir. Schnell fasst sich der Engel wieder: »Jaa, es war mir etwas peinlich, mein Vater kommt aus Israel … und Jan klingt einfach deutscher. Ich komme sofort.«

Mit dieser Erklärung scheint Karin sich abzufinden und haut wieder ab. Janiel warnt mich vor: »So seltsam das auch ist, egal was passiert, du wartest hier oben, ist das klar?!«

Brav nicke ich, bis er aus dem Zimmer verschwindet, um einen großen Lachanfall zu kriegen. »Haha Israel! Bei den blonden Strähnchen! Eher ein Arier mit NS-Vergangenheit!«, amüsiere ich mich selbst. Nach ein, zwei Minuten beruhige ich mich langsam wieder von meinem Flash, der sich in Kopfweh verwandelt hat. Es pocht und pocht … verdammt, das will ich nicht.

Karins Zimmer ist wirklich DAS Mädchentraumzimmer. Ein Himmelbett, mit zartrosa Vorhängen, eine Kommode mit integriertem, ovalem Spiegel und ein weißer Schrank mit Verzierungen, Schnörkeln und Ornamenten stehen darin – alles im Jugendstil, versteht sich. Das Prinzessinnen-Klischee passt nun mal am besten dazu … Oh mein Gott, woher weiß ich das? Habe ich etwa … bei unserem Schlaftabletten-Kunstlehrer aufgepasst? Schande über mich!

Nicht zu vergessen, das Wichtigste: Karins Zimmer hat zwei Türen, natürlich auch mit eingeschnitzten Schnörkeln. Ich kann es mir zwar denken, aber nicht glauben. Deshalb tapse ich zur zweiten Tür, um sie vorsichtig zu öffnen – nicht, dass ein Löwe herausspringt: Ich sage nur Hirsch. Siehe da: Karin besitzt ein eigenes Badezimmer! Zugegeben, es hat noch eine Tür zur gegenüberliegenden Seite hin, was mich schwer vermuten lässt, dass sie sich das Bad mit ihrem Bruder teilt. Denken bei eins Promille? Kann ich!

Mir ist klar, dass ich hier mit Sicherheit eine Lösung für mein permanentes Pochen im Kopf finden werde. Also reiße ich alle Schränke auf, auf der Suche nach Aspirin. In weniger als einer Minute finde ich, was ich brauche. Ich gehe zurück ins Zimmer, werfe die weiße Tablette ein und spüle sie mit dem Wasser von Janiel runter. Für eine Weile verharre ich auf Karins Bett. Wie lang dauert das denn, bis das wirkt?
 

Das nächste, was passiert, ist, dass ich aufwache. Aber nicht in Karins Zimmer. Und nicht in einem Bett. Aber mit einem Kerl. »Himmel nochmal, nicht schon wieder!«, zische ich. Was ist jetzt wieder gewesen? Und wer ist das?! Ein kurzer Blick allein auf den Haarschopf bestätigt mir, dass es weder Janiel noch Tobi ist. Gott sei Dank! Oder auch nicht … wer … ? Wir liegen übrigens in einer Badewanne – in Karins Badezimmer, soweit ich mich erinnere. Und der Kerl ist – wie ich feststelle, indem ich sein Gesicht zerrupfe und auseinanderziehe – Karins Bruder Konstantin. Ich liege zwischen seinen Beinen, mit dem Rücken zur Brust und angezogen, was mich sehr erleichtert. Er hat nur eine Hose an, aber hey, er hat eine Hose an! Das wäre die größte Katastrophe überhaupt: Manuela, das Flittchen 2.0. Immerhin ist der Titel ansonsten offenbar an Nadine vergeben – so der letzte Stand. Kräftig klopfe ich ihm auf die Brust, damit er aufwacht und steige aus der Badewanne.

»Hm? Was ist los … «, murmelt Konstantin verschlafen.

»Das frage ich dich!«

Sekundenlang starrt er mich an, mit dem größten Hääää im Gesicht, das ich je gesehen habe. »Karins Freundin?«

»Ich habe auch einen Namen, den solltest du wissen, nachdem wir die Nacht in der Badewanne verbracht haben!«

Konstantin hebt seine Hand hoch und lässt den Zeigefinger im Uhrzeigersinn kreisen. »Warte mal … Nadja, Christina, Sophia … «

Unbeeindruckt verziehe ich keine Miene.

»Mona? Vielleicht?«

»MANU!«, brülle ich ihn an. Da klopft er mit der Faust auf die Handfläche. »Stimmt! Stimmt ja, Manuela! Ich erinnere mich!«

»Ich mich aber nicht. Was ist passiert? Und willst du nicht aufstehen und dir was anziehen?!«

»Nö. Ist doch schön frisch hier.«

Ich glaub’s nicht. Was ist das für einer?!

»Aber wenn du dich dann besser aufs Denken konzentrieren kannst, ziehe ich mich natürlich gerne an.« Er zwinkert mir zu.

Kotz. Würg. Was für ein Arsch. Wie kann die liebe Karin mit dem verwandt sein? »Tu. Es. Einfach.«

Tatsächlich erhebt er sich aus der, wie ich feststelle, frei stehenden Marmorbadewanne (sind das vergoldete Henkel?) und schlurft in sein Zimmer. Nach einem Schulterblick sagt er: »Was ist? Willst du da wie angewurzelt stehen bleiben? Ich tu dir nichts, komm rein. Ich denke, ich erinnere mich wieder an alles.«

Widerwillig folge ich ihm also in sein Zimmer. Wie beim Rest des Designerhauses spürt man auch hier den Geschmack seiner Eltern – allerdings mit einer persönlichen Note. Lampen auf Kopfhöhe zieren die beleuchten, schwarze Wände. Das Bett aus dunklem Holz unterstreicht den Old-School-Charakter, vor allem durch die zwei gekreuzten Eishockeyschläger, die darüber hängen. »Setz dich doch!«, fordert er mich auf.

»Ich stehe lieber.«

»Nun gut, also letzte Nacht … war echt der HAMMER!«

»Komm auf den Punkt, Junge.«

Konstantin hüstelt. »Ralf und ich kamen gegen zwei Uhr wieder, weil unsere Party etwas lahmer war als gedacht … wir hatten leider unsere Cookies hier vergessen. Die waren aber futsch als wir hier ankamen, die Partymeute hat sie aufgegessen. Leider waren es Spezial-Cookies … «

»BITTE WAS?! Was war da drin, Konstantin?!«, herrsche ich ihn an.

Immerhin habe ich auch welche gegessen!

»Da war etwas Haschisch – aber wirklich nicht viel, man muss schon zehn Kekse essen, um davon ernsthaft high zu werden. Wir haben das Zeug verdünnt und extra klein pro Keks portioniert. Sollte ein Appetizer zu den Drinks werden, eine coole Partydroge. Wer baggert schon eine Schnalle an mit: Willst du mal in meinen Keks beißen?«

Ich fasse mir an die Stirn. »Ich will gar nicht so genau wissen, wie du Tussis abschleppst.«

»Jedenfalls war da einer von euch, der hat nur noch gereihert, den hat der noble nüchterne Ralf ins Krankenhaus gefahren«

»Oh mein Gott, wer war das?! SAG, WER … ?«

»Ouuuh ich erinnere mich nicht so gut an Namen … ihr wart so viele Milchbubis … fällt mir schon bei Frauen schwer mit Namen, das sage ich dir. Aber ich glaube, er hatte rote Haare.«

Oh nein. Es ist Karotte. Stimmt. Karotte hat die Kekse wie verrückt gefuttert. »G-geht es ihm gut … ?«, winsele ich.

»Keine Ahnung?!«

»Du Schwein!«

»Mach mal halblang, tot ist er glaub’ nicht.«

»DU GLAUBST?« Hektisch suche ich nach meinem Handy, das ich doch tatsächlich neben der Badewanne liegen sehe. Ich habe Karottes Nummer nicht, darum rufe ich Karin an. Die sofort abhebt.

»Manu, hi, alles klar?«, fragt die fürsorgliche Karin mit sanfter Stimme.

»Ja, bei mir schon. Konstantin ist bei mir. Wo bist du? Wie geht es Karotte?«, frage ich hektisch.

»Es geht ihm gut. Sie haben ihm den Magen ausgepumpt, ich bin mit Ralf im Krankenhaus. Ich habe zu Konstantin gesagt, er soll die Stellung halten.« Das hat ja mal super geklappt … Ich denke an das Aufwachen in der Badewanne.

»Danke Karin! Ich hatte gerade schon totale Panik, du glaubst nicht, wie mich das erleichtert. Geht es sonst allen gut?«

»Das wirst du wohl selbst herausfinden, wenn du ins Wohnzimmer schaust, haha.« Karins Lachen klingt leicht verzweifelt. Wir beenden das Telefonat und ich blinzele Konstantin böse an.

»Bevor ich da jetzt runtergehe, erklärst du mir, warum du nackt mit mir in der Badewanne geschlafen hast!«

Er seufzt. »Mach dich mal locker. Aber gut. Dich hat’s auch echt heftig erwischt, als ich dich in meinem Bad gefunden habe. Du standest knallhart auf meiner Kloschüssel – auf einem Bein – und hast ‚Atemlos‘ von Helene Fischer pausenlos durchgesungen. Ich kam so wie vorhin rein, weil ich duschen wollte. Als du mich entdeckt hast, hast du angefangen mir dein komplettes Liebesleben zu offenbaren und mich mindestens zwanzig Minuten lang zugelabert. Aber da warst du mir noch sympathisch. Aua, wofür war das?!«

Oh Gott, ich habe ausgerechnet dieser Pflaume von Tobi erzählt … ? Erschieß mich einer!

»Du hast nicht so ganz gecheckt, was war und dich einfach an mich rangeschmissen – das war schon sexy, muss ich sagen!« Verdorben zwinkert er mir zu, mit einem schmalzigen Lächeln.

Würg. »Bitte sag mir, wir haben nicht … «

»Keine Sorge, mein Pensum ist schon erschöpft gewesen für den Tag. Ich wollte eh nur Duschen, weil ich davor die Kleine geknallt hatte.« Warte, WAS?! Will ich das überhaupt wissen? »Aber ich wollte nun mal ein Bad nehmen … du bist einfach hinterher, und dann eingeschlafen. Ich konnte mich nicht wirklich rühren. Ok, vielleicht wollte ich ja auch nicht.« Er streckt mir die Zunge raus. »Du warst einfach zu süß, mit deinem ‚Janiel, bitte bleib bei mir!‘«

Moment. Janiel? Ich rede im Schlaf von Janiel? »W-was habe ich dir denn aus meinem Liebesleben erzählt?«

»So ziemlich alles. Da war dieser Tobi-Schwuchtel, der dir erzählt hat, er habe eine Freundin, dann wieder doch nicht. Dass du ihm deine rückwirkende Liebe gestanden hast und er nicht die Bohne darauf reagiert hat, aber dafür dieser Janiel sich ja ach so toll um dich kümmert, aber manchmal von einer anderen Schnalle redet, die dir ähnlich sein soll und so weiter und sofort. Wenn du mich fragst, kannst du beide in die Tonne kicken. Der eine hat einfach keine Ahnung von Frauen und der andere lebt in der Vergangenheit.«

»Danke, auf den Rat kann ich verzichten!«

»Hey hey! Ich mein’s ja nur gut. Aber wenn du dir unbedingt einen krallen willst, schaffst du’s bei dem Lutscher eher. Der scheint’s mal nötig zu haben.«

Ich pfeffere ein herumliegendes T-Shirt auf Konstantin. »Ich wiederhole, danke für deinen Rat, Konstantin. Schön, dass ich einem Fremden so viel über mich erzählen konnte!«

»Ich sage es nur, weil ich mich echt überwinden müsste, um mit dir zu vögeln oder so was.«

»Danke, wirklich, DANKE!« Es reicht mir endgültig, darum stapfe ich die Treppe runter ins Wohnzimmer. Hätte ich das tun sollen … ?

Der Anblick von über zehn rumliegenden Teenagern ist kein gewohnter. Noch ist keiner wach, aber alle Anwesenden scheinen einen Kater zu haben oder total fertig mit der Welt zu sein. Das einzig bekannte Gesicht unter den Dornröschen gehört Hanna. Ich rüttele an ihrer Schulter.

»Ummh? Manu?«

»Aufwachen, Hanna! Du musst mir erzählen, was hier noch passiert ist! Konstantin hat aus Versehen seine Cookies hier gelassen!« Noch leicht benommen rappelt Hanna sich mit Stirnrunzeln auf und lässt dann ihren Blick durch den Raum schweifen.

»Huh, was?« Ich zerre sie raus, vorbei an dem Hirschkopf, in den Vorgarten. Dort berichte ich ihr von allem, was ich weiß. Hanna seufzt. »Von den Cookies habe ich nur zwei oder so gegessen, Karotte war so gefräßig, da hat kaum einer was abbekommen … der Arme. So was ist aber mal wieder typisch Konstantin. Der verpeilt immer alles Mögliche, Karin regt sich regelmäßig darüber auf.«

»Das glaube ich auch«, bestätige ich aus Erfahrung. »Was ist hier noch passiert? Sonst geht es allen gut, ja?«

»Du hast einen Filmriss, oder Manu?«

Dumpf schaue ich sie an. Hanna lacht nur. »Haha, hätte nicht gedacht, dass dir das mal passiert! Sonst wirkst du immer so brav!!«

»Moment, wir haben alle die Kekse gegessen, nicht nur ich!«

»Ja schon, aber ich kann mich an alles erinnern. Du hast kurz bevor Jan dich in die Heia gebracht hat, noch zwei Bier geext. In der Geschwindigkeit hätte das kaum einen nicht besoffen gemacht.«

»Ach Hanna … «

»Keine Sorge, bis auf Karottes Kotzorgie hast du nur verpasst, wie Mona und Elise mit irgendwelchen Typen rumgemacht haben und wie Konstantin mit Nadine abgehauen ist.«

OMG. Die Kleine, die er geknallt hat. Nadine. Echt jetzt?!

Hanna kichert und ich fühle mich postpubertär.

»War irgendwie klar, dass es so endet. Sophie war nicht sonderlich glücklich darüber. Trotzdem sollte sie dankbar sein – Konstantin ist echt nicht cool.«

Eine Sache, bei der wir uns einig sind. »Hast du Jan gesehen?«, frage ich.

Sie schüttelt den Kopf. »Der ist verschwunden, seit er dich ins Bett gebracht hat. Ich dachte, er wäre bei dir?«

Schluck. Oh nein.

»Immerhin ist es kein großes Geheimnis, dass du und Jan wieder zusammen seid.«

»W-warte, wo hast du das denn aufgeschnappt?!«

»Ihr hängt ständig zusammen rum, aber auch überall, das ist ja wohl nicht zu übersehen. Und ihr versteht euch super. Erzähl mir nicht, dass ich falsch liege«, beharrt Hanna.

»O jee … «

»Außerdem hat Tobi euch zusammen in München gesehen.«

»Häh … ?« In München … »Wo soll das bitte gewesen sein?«

»In der Mondscheinnacht auf der Terrasse, ganz romantisch! Hihi«, freut sich Hanna. Ich freue mich gar nicht. Tobi hat uns an dem Tag gesehen? Oder gar belauscht? Hat er was davon gehört? Und wenn ja, was …

»Hanna … wo ist Valentine?« Sie war nicht unter den Schlafenden.

»Nachdem du sicher in Karins Bett lagst, haben wir unten noch ein paar Kartenspiele gespielt, ein bisschen was getrunken und uns das Flirt-Spektakel auf der Tanzfläche angesehen. Valentine ist nach Hause gegangen, bevor Karotte ins Krankenhaus musste. Aber weißt du was? Sie wurde in Begleitung heimgebracht!«

Wenigstens geht es ihr scheinbar gut.

»Und rate mal, von wem!«

»Hanna, ich habe keine Lust zu raten.«

»Tobi!!«

»WAS?«

»Da staunst du, hättest wohl nicht gedacht!«

Nein, ich denke es immer noch nicht. Hanna interpretiert in meine Reaktion ein Gott-sei-Dank-nichts-weiter rein und fragt mich stattdessen, ob ich nicht mit zu Karotte ins Krankenhaus kommen möchte. Hinter einem der Haussträucher blitzt kurz etwas Weißes hervor. Das ist wohl das beste Ereignis des heutigen Morgens: Janiel ist noch da.
 

Eine halbe Stunde braucht der Bus zum Kreiskrankenhaus. Als wir dort eintrudeln, sitzen bereits Sophie und Karin bei unserer angeschlagenen Karotte. »Psst, er ist gerade eingeschlafen!«, heißt Sophie mich willkommen.

»Armer Jan, das war einfach der dümmste Zufall aller Zeiten … «, seufzt Karin, woraufhin Sophie trocken erwidert: » … oder aber auch die dümmste Sache, die dein Bruder je zustande gebracht hat. Abgesehen von der Sache mit Nadine, natürlich.«

Soso, Sophie ist stinkig. »Es geht ihm also besser?«, stelle ich fest.

»Ja, Gott sei Dank!« Als Karin das ausruft, zucke ich kurz zusammen. Wer ist wohl Karottes Schutzengel? Und was hat dieser Miesling nur getrieben gestern Abend?!

Gerade jetzt kommt jemand zur Tür herein, ein Jemand namens Valentine. Sie sieht sichtlich bedrückt aus und trägt einen Strauß Lilien unter den Arm geklemmt. »Ich habe es erst jetzt erfahren … wie konnte das nur passieren … «

»Iiiich sage dir wie!«, poltert Sophie gleich los, aber Hanna schüttelt den Kopf und hält sie mit der Hand vorm Gesicht zurück.

»Jetzt nicht.«

Auf dem Krankentisch steht eine leere Vase. Valentine stellt ihre Tasche auf den Boden und trägt die Vase samt Lilien zum Waschbecken.

»Konstantin sollte sich schämen! Noch nicht mal zu Besuch ist er gekommen! Dabei saßen Karin, Karottes Eltern, Ralf und ich die halbe Nacht hier, während er seinen Spaß hatte!«, reißt Sophie trotzdem ihre Klappe auf. Karin sieht bedröppelt zu Boden.

»Aber Konstantin ist genauso berauscht gewesen, Sophie, gib ihm nicht die Schuld«, sagt sie mit zerbrechlicher Stimme. Es ist ihr unangenehm, denn hinter Konstantins Eskapaden scheint mehr zu stecken als sie zugibt. Aber wenn Konstantin auf Droge war, stimmt dann überhaupt, was er MIR erzählt hat?!

»Was allerdings viel interessanter ist, als der Fakt, dass Konstantin ein Idiot ist, ist, warum Valentine des Nachts mit Tobi abgehauen ist?« Hanna, Applaus für deinen Scharfsinn. Die bedrückte Stimmung kippt und plötzlich sind wir alle sehr aufgeregt zu hören, was Valentine uns zu sagen hat. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich es wirklich hören will. Wenn Tobi sich in Valentine verliebt hat, würde ich das nicht ertragen. Dass wir zwei nicht mehr miteinander reden, ist für mich kein Problem – aber mit Valentine, meiner Freundin … Es würde mir das Herz zerreißen. Als mir das klar wird, fühle ich, dass ich mich ein Stück weit selbst belogen habe. Aber nur ein Stück.

»Das ist nicht so spektakulär, wie du das darstellst, Hanna.« Valentine kneift dabei die Augen zusammen und hebt abwehrend die Hände hoch. »Wirklich nicht, ich hatte nur Angst im Dunkeln, und Tobi war so freundlich, mich heimzubringen, er wohnt ja auch in der Richtung und wollte gehen.«

Ohne, dass es jemand bemerkt, atme ich erleichtert auf. Valentine lügt nicht. Sie lügt nicht.

Hanna kann es erst nach einiger Überlegung fassen. »Jetzt wo du es sagst … Tobi ist schon ein Netter. Nadine hilft er ja auch bei Zeugs, und mit dir ist er ja auch gut befreundet, gell, Manu?«

Ich muss mich zusammenreißen. »Joa, ein bisschen.«

»Vielleicht ist Tobi ja schwul!«, entfährt es Sophie.

Karin guckt sie ganz entsetzt an. »Aber Sophie … «

Die plappert gleich drauf los: »Mein Cousin hat sich auch erst letztens geoutet, mit 23! Meine Familie war total geschockt, so an sich hätte es keiner von ihm gedacht, aber mir sind schon immer so kleine Dinge an ihm aufgefallen … zum Beispiel hing er auch immer nur mit Mädchen ab, hat aber nie was mit einer angefangen. Und irgendwann fing er dann an, sich die Haare zu gelen, Harry Potter zu lesen … «

Hanna prustet los: »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Harry Potter lesen schwul macht.«

Sophie: »Man kann nie wissen.«

Ich fühle mich berufen, mich einzumischen: »Mädels! Ich glaube nicht … dass Tobi schwul ist.«

Alle saugen scharf die Luft ein.

»Oh la la, weißt du da etwa mehr als wir?«, sagt Sophie überspitzt und zieht dabei beide Augenbrauen hoch.

»Uuh, uhrgh …«, unterbricht Karottes Stöhnen unsere Unterhaltung.

»Jan!« Valentine stürmt zu Karottes Bett. »Ich glaube, er wacht auf!« Die übrigen Mädchen versammeln sich um ihn herum. Karotte blinzelt ein paar Mal, bevor er mit einem leicht gequälten Gesichtsausdruck die Augen aufschlägt. »Bin ich … im Himmel?«



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Suewu
2018-08-14T16:55:34+00:00 14.08.2018 18:55
Uff... da ist jetzt aber viel auf einmal passiert... O.o‘
Ich komm mir vor wie Manu.. erst mal gar nich mehr durchblicken... xD
Aber also ich bin ja immer noch auf jeden Fall dafür das Manu mit ihrem Schutzängelchen zusammen kommt ;)
Und nach dem was sie angeblich Konstantin vorgebrabbelt hat ist es gar nich so aussichtslos von ihrer seite aus... ^~^
Was sie natürlich noch nicht so richtig checkt.. xD
Hach.... :3
Antwort von:  Whiscy
16.08.2018 22:31
Hehehe, Team Janiel, was? :D
Antwort von:  Suewu
16.08.2018 23:42
Jaaa...! :3
Antwort von:  Whiscy
16.08.2018 23:49
<3


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