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Warum Pechvögel fliegen können.

Die Schutzengel-Trilogie 1
von

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Freundschaft minus Tobi

Heute ist der Tag. Ich werde die große Metropole München unsicher machen. Gelangweilt vom Warten auf die anderen, sitze ich auf meinem gepackten Koffer am Parkplatz unserer Schule. Der plötzlich miaut.

»Koffer?« Verwirrt springe ich von meinem Sitzplatz herunter. »Janiel? Hast du dich etwa in meinen Koffer verwandelt?« (ist doch möglich). Ich traue ihm zu, dass er jetzt halb Katze, halb Koffer ist. Es rumpelt.

»Katze?«, frage ich vorsichtig nach.

»Fauch!«

»Jaja, schon gut, Kater!«

Zufriedenes Maunzen. Okay, so wie es aussieht, ist meine Katze in meinem Koffer gelandet.

»Fauch!«

Als könnte er Gedanken lesen. »Oh Mann!«, reagiere ich darauf. Hoffentlich bekommt Dr. Sommer das nicht mit – oder sonst wer. Hinterher werde ich noch wegen Tierquälerei angeklagt.

»Janiel, komm da sofort raus!«, zische ich den Koffer an.

»Manu, du sprichst jetzt nicht schon mit Koffern, oder?«

Wie versteinert halte ich inne. Wende den Kopf. Da steht KaRottenmeier und grinst mich ganz unverschämt an. »Nein, ich habe nur meine täglichen Selbstgespräche absolviert. Weißt du, ich bin voll auf Turkey ohne«, entgegne ich.

»Das habe ich mir schon gedacht, so siehst du nämlich auch aus.«

Rumms! Mann, war das eine Beleidigung. »Sagt die Karotte«, erwidere ich möglichst gelassen.

»Maunz!«

»Was war das?!« Sichtlich verwirrt hält Karotte Ausschau nach meiner Katze. Ich verpasse dem Koffer einen Tritt.

»Scheinst wohl auch nicht ganz bei Sinnen zu sein, was, Karotte? Kann ich dir nicht verübeln, ich meine, seit wann kann Gemüse denken?« Hehe, jetzt grinse ich. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Naja, bis Tobi auftaucht. Dann lache ich nicht mehr. Das Gemüse hält die Klappe. Eisernes Schweigen. Schon wieder. Irgendwie ist Tobi immer öfter die Ursache für Schweigen.

»Miau!«

Ich werde noch verrückt! Glücklicherweise ist das Maunzen nur mir aufgefallen, weil es zu leise ist, um die Entfernung von fünf Metern zu überschreiten. So weit stehen Karotte und Tobi nämlich weg von mir, während wir auf Dr. Sommer warten. Auf den wir nicht lange warten müssen. Hoch vergnügt tänzelt er herum und es würde mich nicht wundern, würde er gleich eine Pirouette drehen.

»So, gleich geht es los! Seid ihr bereit?«

Nee.

»Wir warten noch auf die drei anderen, aber ihr könnt schon mal in den Bus einsteigen.« Gesagt, getan. Ich verschanze mich nach ganz hinten auf die Fünfer-Plätze. Eigentlich will ich nichts mit den anderen zu tun haben. Denkste. Kurz darauf leistet Karotte mir Gesellschaft.

»Willst du dich jetzt hier hinten ganz alleine breit machen?«

Blöde Frage, was tu ich hier gerade.

»Dann hast du Pech gehabt!«, ruft die Karotte und schmeißt sich auf meine Füße. Der Versuch, meine Festung dadurch zu erobern, scheitert durch die Trampel-Attacke, die ich daraufhin loslasse. Leg dich nie mit Manu an!

Karotte fliegt auf den Gang. »Na warte, das gibt Rache!«, seine Augen funkeln kampflustig, er findet das Ganze wohl witzig (hier ein weiterer Beweis für das wirkliche Alter von Männern: fünf). Ok, zugegeben, nach der Kitzelattacke ist mir die Luft weggeblieben, und ich habe ziemlich rumgequiekt, aber ich weiche trotzdem nicht von meinem Lieblingsplatz. Nur durch die plötzliche Vollbremsung des Busses bekomme ich mit, dass wir am Hauptbahnhof angelangt sind, von dem aus wir mit dem Zug nach München fahren.

Hä, Moment, wann sind wir losgefahren? Ich hatte noch nicht einmal die anderen Teilnehmer in Augenschein genommen, abgesehen von Tobi und Karotte. »Bitte alle umsteigen!«, macht Dr. Sommer die überflüssige Durchsage. Also begeben wir uns zu Gleis 1, fahren ICE. Juhuu, ich bin noch nie ICE gefahren! Ich wollte schon immer mal in dem Bordrestaurant essen! Und ja, ich bin sehr verfressen, nicht nur ein bisschen. Das mit der Diät wird also nix.

Wir hieven unsere Koffer in den ICE, doch mir hilft eine helfende Hand. Die Hand hat auch einen Körper mit Kopf, der Dr. Sommer gehört. »Komm, Manu, ich trag das für dich. Ein Mädchen sollte nicht so viel tragen«, erklärt er mir freundlich und nimmt mir meinen Koffer ab. Etwas verwirrt blicke ich mich um, und das Mädchen, das Josefine Tofurah sein muss, schleppt sich mit ihren drei Koffern gerade zu Tode. Der Lehrer hat echt einen Vogel. Wehe, er fängt jetzt an zu pfeifen.
 

Im Zug können sich immer nur vier Personen zueinander gewandt hinsetzen und so kommt es, dass ich mit Dr. Sommer und Eduart Gelsenberg aus der Zwölften in einem Viersitzer lande. Endlich habe ich es geschafft, dem Gemüse zu entkommen. Ein Manko gibt es dennoch: Jetzt bin ich der strahlend guten Laune von Dr. Sommer ausgesetzt. Das darf doch alles nicht wahr sein! Jetzt bin ich gerade vor der verrückten Karotte geflüchtet, da holt mich Mr. Honigkuchenpferd ein. Ich bin doch echt ein Opfer. Dr. Sommer grinst mich an. Ich tue so, als würde ich zurück grinsen. Eduart spielt wie hypnotisiert Tetris auf seinem Handy. Es ist echt nicht böse gemeint – aber unter Eduart stelle ich mir wirklich den absolut typischen Mathefreak vor. Er trägt eine Nerd-Brille, hat eine Knollnase, das Hemd in der Hose (schon, dass er überhaupt ein Hemd trägt), ist eindeutig vom Pizza-Gesicht-Syndrom betroffen und hat kurze, braune, fettige Haare. Ach ja, und spielt die ganze Zeit dieses Handyspiel.

Weil ich mit Dr. Sommers Grinserei nichts anfangen kann (im Gegensatz zu Chantal und Lilly und wer weiß noch wem), beschließe ich, mir das Bordrestaurant anzuschauen. Heute sind ziemlich wenig Passagiere anwesend und das Abteil ist dementsprechend leer. Gut, mehr Essen für mich.

Ich lächle in mich hinein. Armer Janiel. Der kriegt gar nichts mit von diesen Köstlichkeiten hier – habe gerade einen gutaussehenden Erdbeerkuchen entdeckt. Ich hole mir noch ein paar weitere Desserts – einen Melonen-Milchshake, einen Schokoriegel und noch eine Cola – und verziehe mich an ein ruhiges Plätzchen.

Nur, dass ich nicht damit gerechnet hatte, dass es problematisch sein könnte, wenn man sich einfach mit vielen Süßigkeiten in irgendein leeres Kabinchen hockt und keinen Fahrschein parat hat, weil der Lehrer ihn hat. Hochkant werde ich rausgeworfen und Dr. Sommer darf dann das Missverständnis zwischen dem Schaffner und mir aufklären. »Fräulein, da haben Sie aber noch mal Glück gehabt«, brummt dieser.

Oh, oh, ich hoffe dem nicht noch einmal zu begegnen. Hey, hat der gerade gesagt, ich habe Glück? Ernsthaft überlege ich, ob das möglicherweise etwas mit einer eingesperrten Katze im Koffer zu tun haben könnte (nein, ich hege keine Vorlieben für Tierquälerei). Da reißt mich Dr. Sommers Stimme aus meinen Gedanken.

»Ganz schön frech, einfach auszubüchsen! Aber keine Sorge, ich werde unser Mathematikgenie nicht verpetzen.« Und wieder dieses Augenzwinkern. Was hat das zu bedeuten? Hat das überhaupt was zu bedeuten? Für einen Moment glotzt Eduart uns beide an, dann wendet er sich wieder seinem Handy zu.

Den Rest der Zugfahrt verbringe ich mit meinem MP3-Player, um nicht noch mehr Chaos zu stiften. Als wir dann endlich am Münchner Hauptbahnhof ankommen, stürze ich mich sofort mit Karotte und den anderen in ein Café, um mir auf Empfehlung von Dr. Sommer so einen leckeren Frappucino zu holen. Das Zeug ist tatsächlich göttlich. Während wir schlürfend auf unser Hotel-Taxi warten, fällt mir auf, dass ich gar nicht mehr die ganze Zeit über Tobi nachdenke, obwohl er mir gerade gegenüber steht. Er redet zwar immer noch nicht wirklich mit mir, aber es macht mir immer weniger aus. So was wie »Gibst du mir bitte mal meinen Kaffee« zählt nicht.

Dieser Gedankengang stimmt mich total fröhlich. Die Angst, bei diesem Preis-Dingens zu versagen, ist komplett verschwunden. Vielleicht bin ich gar nicht so dumm, wie Nadine immer behauptet? Da hält das Taxi vor uns.

»Soll ich dir helfen?«, fragt mich Jonas Hüpsch aus der Q12. Er hat seinen Frappucino bereits weggeworfen und hält meinen Koffer in der Hand. Ich nicke dankend, während ich die eiskalte Vanille-Essenz runterschlucke. Wieso ist er so nett zu mir? Davor hat er noch kein Wort mit mir gewechselt. Was mich auch nicht gewundert hat, da er seinem Nachnamen alle Ehre macht und mich solche Typen grundsätzlich meiden. Ich beschließe, nicht weiter nach zu grübeln und mich einfach darüber zu freuen.

Jonas befördert mein Gepäck in den Kofferraum und ich setze mich schon mal ins Auto. Leider landet Eduart neben mir, sodass ich die ganze Fahrt über diese nervige Tetrismelodie im Ohr habe. In solchen Momenten wäre ich gerne Janiel.

Also starre ich aus dem Fenster und bemerke, wie viele Kaufhäuserketten es hier in München gibt. Irgendwie an jeder Ecke einen. Und die H&M’s erst! Die hatten hier wohl keine neuen Ideen für Geschäfte, wenn die hier alles doppelt bauen. Nach einer halben Ewigkeit erreichen wir das Hotel, und: Es ist echt klasse! Ich sollte öfter Mathematik-Jugendpreise gewinnen. Das Ding ist ein richtiger Nobelschuppen. Auch von innen.

Während Dr. Sommer eincheckt, befördern ein paar Bedienstete unsere Koffer nach oben. Die Hotel-Halle wird von roten Samtvorhängen, Teppichen und goldenen Ornamenten geschmückt. Wenn ich nicht wüsste, dass ich in München bin, würde ich meinen, ich wäre in Hollywood.

Sogar Nerd Eduart hebt für eine Sekunde den Kopf, um seine Umgebung zu bewundern, bevor er wieder in seiner Welt versinkt. Die Einzige, die so was von gar nicht beeindruckt ist, ist meine Zimmergenossin Josefine. Ich frage mich, was sie wohl für ein Mensch ist und hoffe, dass ich mit ihr gut klarkomme. Jemand kneift mich in den Arm. Als ich mich umdrehe, grinst mich Karotte an. Na warte!
 

Nachdem Karotte und ich die Hotelhalle verwüstet haben, geben wir Dr. Sommers Flehen nach und verschwinden auf unsere Zimmer. Wenn Nadine das nur sehen könnte! Das Zimmer ist riesig im Gegensatz zu diesen mickrigen Räumen in Jugendherbergen, in denen gequetscht gerade mal zehn Leute Platz finden.

Mein Bett ist das flauschigste, das es gibt. Am liebsten würde ich es mit heim nehmen. Das Einzige, was meine Stimmung trübt, ist ein flüchtiges »Miau« aus Richtung Koffer, das meine Mitbewohnerin verwundert aufhorchen lässt.

Wir müssen vorsichtiger sein. Josefine ist kein Mädchen von der Sorte, die ständig der neuesten Mode hinterher jagen. Sie ist aber auch kein armer Tropf. Wenn sie nicht diese eiskalte Aura hätte, hätte ich sie wahrscheinlich mit Eduart in einen Topf geworfen. Sie redet nicht besonders viel mit mir, vermutlich ist das nicht ihre Art. Stille Wasser sind tief. Oder sie mag mich nicht, was ich aber seltsam fände, da sie mich gar nicht kennt. Ich belasse es bei unserem Schweigen und inspiziere das Badezimmer. Logisch, dass es hier genauso edel aussieht, wie im Rest des Hotels, doch ich kann mich nicht beherrschen und quieke erfreut auf, als ich die Dusche erblicke. Josefine muss mich für verrückt halten. Ich reiße mir die Klamotten vom Leib und springe augenblicklich darunter. Welch ein Genuss!

Unter dem Rauschen nehme ich ein leises Klicken der Tür wahr. Josefine hat sich aus dem Staub gemacht. Plötzlich öffnet sich die Badezimmertür. Kreischend verdecke ich die wichtigsten Zonen, da knallt die Tür auch wieder zu.

Freche Katze!

Als ich fertig bin, schimpfe ich Janiel. »Was fällt dir ein, in das Badezimmer einer Dame einzubrechen?!«

»Sorry, ich konnte ja nicht ahnen, was du da drin treibst. Ich dachte, du siehst dich nur um.«

»Das ist keine Entschuldigung!«

»Gut, ich mache es nie wieder!«

»Na also.« Völlig fertig von der Reise sinke ich auf mein Bett.

»Wie viel Uhr haben wir?«

»17 Uhr. In einer Stunde gibt es Abendessen«, antwortet Janiel.

»Sag mal, wie willst du dich eigentlich vor den anderen verstecken? Haustiere sind hier verboten und wenn Dr. Sommer dich als Mensch entdeckt, hagelt es Schulverweise.«

»Lass das mal meine Sorge sein.«

Davon lasse ich mich zwar nicht überzeugen, fange aber keine weitere Diskussion an. »Gehst du heute zum Abendprogramm?«, lenkt Janiel vom Thema ab.

»Welches Abendprogramm?«, erkundige ich mich.

»Na, das steht doch auf dem Wisch, den der Sommer dir vorhin in die Hand gedrückt hat.« Janiel holt einen Zettel hervor. In der Tat ist hier das volle Programm für die vier Tage aufgelistet.

»Warum habe ich das nicht mitbekommen?«, wundere ich mich.

»Vielleicht, weil du gerade dabei warst, die Hotelhalle zu zerstören?«

»Gib her!«, fordere ich ihn auf, ohne abzuwarten, das heißt, ich reiße ihm den Zettel aus der Hand. Heute ab acht Uhr gibt es eine kleine Party in der Hotel-Lounge, oben auf dem Dach, zu der wir herzlichst eingeladen sind. Das Ganze Preis-Blabla würde erst am Samstag stattfinden, die Abreise ist für Sonntag geplant. Für Morgen ist tagsüber eine Sightseeing-Tour angesagt. Eigentlich stelle ich mir das Alles ziemlich lustig vor. Wenn Tobi nicht dabei wäre.
 

Im Restaurant gibt es ein Riesenbüfett mit allem Möglichen, was mich gleich zu einem weiteren Fressanfall antreibt. Das Essen hier ist nun mal köstlich! Ich bin auch nicht die Einzige, die kräftig reinhaut. Sogar Eduart hat ausnahmsweise mal sein Handy im Hotelzimmer gelassen, und futtert wie ein Weltmeister. Eventuell starren die anderen uns ziemlich schräg an, jedoch ist mir das völlig Schnuppe. Wenn Manu Hunger hat, bleibt kein Shrimp auf dem anderen. Hin und wieder nehme ich Tobis beschämten Blick wahr, der auf mir ruht, ziehe dabei aber keine falschen Schlüsse. Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, was hier gespielt wird. Denn ich spiele einfach nicht mit.

In diesem Moment prallt eine Erbse an meiner Stirn ab. Entsetzt mustere ich die Runde. Bleibe an dem Gemüse hängen. Das gibt Rache, du kleine Karotte. Essensschlacht!

»Nächstes Mal wird das wirklich Konsequenzen haben, ihr zwei!«, ermahnt uns Dr. Sommer, nachdem ich zum zweiten Mal heute geduscht habe. Ich meine, hey, ich kann doch nicht mit Spaghetti-Haaren zur Fete gehen.

Zugegeben, ich spiele doch mit. Ich kann Karotte nicht einfach gewinnen lassen! Leider kann er mich auch nicht in Ruhe lassen. Kein Wunder, dass wir immer Chaos entfachen. Dass die anderen Menschen in unserer Umgebung sich von unserem Übereifer anstecken lassen würden, konnten wir immerhin nicht ahnen. Alle waren hellauf begeistert von der Idee, dem jeweils anderen sein Essen ins Gesicht zu schmieren, so dass plötzlich das ganze Restaurant in der Essensschlacht unterging. Sogar Tobi wurde von irgendwem eine Portion Cannelloni ins Gesicht gepfeffert.

Das war witzig. Nun ja, Dr. Sommer findet es weniger witzig, glücklicherweise nimmt die Hotelverwaltung uns das alles nicht so krumm wie er. Habe ich es endlich geschafft, ihm sein Honigkuchengrinsen auszutreiben? Leider nein, wie ich später feststellen muss, als ihn jemand auf seine Mathe-Schützlinge anspricht. Eieiei  … kopfschüttelnd schlendere ich auf mein Zimmer um mich partyklar zu machen. Ich bin alleine, Josefine hat sich bereits verkrümelt. Soll mir recht sein. Ich wühle in meinem Koffer, anschließend ziehe ich ein Top an, das ziemlich viel Rücken freigibt. Darum schlüpfe ich noch in eine leichte Jacke.

Da klopft es an der Tür. Ich schaffe es nicht rechtzeitig aufzumachen, dafür schiebt jemand einen Umschlag unter dem Türschlitz durch. Als ich die Tür aufsperre, ist der Gang menschenleer. Gespannt reiße ich den Umschlag auf, es ist eine Nachricht an mich.

»Manu, ich würde gerne wissen, was mit dir los ist. Eigentlich wollte ich dich persönlich fragen, aber das geht ja nicht, weil du mich ignorierst. Antworte bitte, Tobi.«

Ach du liebe Teflonpfanne. Was ist denn in den Jungen gefahren?! Klar bin ich Tobi aus dem Weg gegangen, aber nur, weil er mir quasi genauso aus dem Weg gegangen ist. Eigentlich weiß er selbst ganz genau, was los ist. Er hat mich angelogen, es ist aufgeflogen. Ich habe ihm meine ehemalige Liebe gestanden, somit ist unsere Freundschaft beendet. Es ist doch alles sonnenklar? Ich kritzele meine Antwort auf den Umschlag und schiebe ihn durch den Türschlitz zurück. Als ich das nächste Mal die Tür öffne, sind Briefumschlag samt Tobi verschwunden.
 

Oben auf dem Dach ist Party ohne Ende angesagt. Außer uns sind natürlich auch alle anderen Hotelgäste versammelt, darunter eine Gruppe von jungen Fußballern. Josefine ist immer noch verschwunden, langsam werde ich ein wenig besorgt. Außer mir scheint das hier aber keinen zu kümmern.

Wie aus dem Nichts taucht auf einmal Dr. Sommer auf. »Na, Manu, wie findest du es hier?« Schon wieder dieses Grinsen, das jedes Mädel um den Verstand bringt. Inzwischen bin ich immun gegen jede Art solcher Umhau-Versuche.

»Ganz cool«, erwidere ich ganz cool.

»Freut mich sehr, dass es dir hier gefällt! Es ist fantastisch hier zu sein, eine große Ehre!«, schwärmt er mir vor. Er redet noch weiter, aber ich habe schon längst abgeschaltet.

Da kommt meine große Rettung. »Darf ich der Dame was zu Trinken anbieten?«, sagt Jonas äußerst charmant. Inzwischen habe ich eine Theorie, wieso er sich mit mir abgibt. Es gibt einfach keine Alternative! Josefine geht jeglichem Menschenkontakt aus dem Weg, somit bin ich das einzige Mädel unter fünf Typen. Obwohl ich das weiß, fühle ich mich trotzdem geschmeichelt, als ich Jonas Angebot annehme. So kann ich wenigstens Dr. Sommers Geschwafel entkommen.

»Und? Was ist dein Lieblingscocktail?«, fragt Jonas mich feixend.

Einen Moment lang studiere ich die Kreidetafel und muss zugeben, dass ich nicht den leisesten Hauch einer Ahnung habe, was in dem ganzen Zeugs drin sein könnte. Ich bin der Ansicht, dass ich nichts dafür kann, weil ich noch nicht sechzehn bin, ergo: Ich darf keinen Alkohol trinken. Jonas ist darüber natürlich nicht informiert, da er sich als Achtzehnjähriger keine Gedanken um so was machen muss. Ein Cocktail kann nicht schaden, denke ich mir. »Sex on the Beach, bitte«, wage ich zu bestellen.

Jonas Augenbrauen hüpfen. Er wendet sich dem Barkeeper zu und zeigt ihm Hasenohren. »Zwei.«

Der Barkeeper leert irgendwelche Flüssigkeiten in einen Shaker, die er danach in unsere mit Eiswürfel gefüllten Gläser schüttet. Sobald er mir das Getränk in die Hand drückt, nippe ich daran. Schmeckt irgendwie nach ganz normalem Orangensaft. Ich bin ziemlich durstig, also leere ich die Hälfte in einem Zug.

»Du bist wohl eine ganz Harte, was?« Jonas Augenbrauen kommen mir vor wie zwei Raupen, die auf und ab springen.

»Hää?«, entgegne ich total intelligent.

Er lacht. »Wollen wir tanzen?«

Bevor ich irgendeinen Satz zustande bekomme, zerrt er mich schon auf die Tanzfläche. Mein Schädel pocht, ich spüre nur noch die hämmernde Musik. Zum Glück ist Dr. Sommer nicht mehr in der Nähe. Ich lasse mich von dem Sound treiben. Als das Lied zu Ende ist, zieht Jonas mich an sich. Diesmal ist es ein langsames Lied, alle Pärchen tanzen eng umschlungen. Meine Arme legen sich wie von allein um Jonas Nacken. »Hier ist es so wunderschön … «, lalle ich vor mich hin.

»Genauso wie du«, kommt es zurück. Ich summe die süße Melodie des Liedes mit, meine Augen sind geschlossen.

»Ich mag das«, murmele ich mit dem Kopf an seiner Brust. Seine Hände umschlingen meine Hüfte. Da wird mir auf einmal bewusst, was ich da tue. Ich kenne den Kerl doch gar nicht! Sanft schiebe ich Jonas von mir. »Sorry, ik muss mall.«

Ich stürze die Treppe hinunter zu meinem Zimmer. Was mache ich nur! Daran ist bestimmt dieser »Sex on the Beach« schuld! Nächstes Mal hol ich mir lieber eine »Blumenwiese« oder einen »Verstand« oder so was. Vor meinem Zimmer entdecke ich ein knutschendes Pärchen, deshalb drehe ich gleich wieder um.

Zwar bin ich etwas verwundert, was die da vor meinem Zimmer treiben, aber erfasse die Situation nicht so ganz. Auf einmal renne ich gegen jemanden, der gerade nach unten wollte. Nicht sehr sanft fliege ich zu Boden. Die andere Person fällt auch nicht gerade weich. »Samal spinnst duu?«, fahre ich den Menschen lallend an.

»Manu?« Die Stimme gehört Tobi.

»Nein, hier spricht die Treppe«, entfährt es mir.

»Deinen Humor wirst du wohl echt nie verlieren«, schmunzelt er. »Komm ich helfe dir auf.«

»Ick kann mir sellber elfen!«, protestiere ich, stehe auf und kippe um.

Tobi steht über mir. »Manu? Bist du etwa betrunken?«

»Du bisch ja a Schnellaa!«

Er schüttelt den Kopf. »Dich kann man nicht mal eine Sekunde alleine lassen. Wo ist Karotte?«

»Was für eine Kallotte?!«, keife ich ihn an.

Tobi klatscht die Hand gegen die Stirn. »Ok, es ist zwecklos, jetzt mit dir zu reden. Ich bringe dich auf dein Zimmer.«

»Nein, da machen zwei Li-li-liebe.«, zwitschere ich.

Wehrlos werde ich von Tobi gepackt und in mein Zimmer getragen.

»Ich will will will ni-icht.«

Behutsam legt er mich auf mein Bett, deckt mich zu. »Gute Nacht.« Dann macht er die Tür zu und meine Augen schließen sich ebenso.
 

Am nächsten Morgen werde ich dadurch geweckt, dass mich sechs Jungenaugen wunderlich angaffen. Zuerst einmal bekomme ich einen Schreikrampf. »Was macht ihr in meinem Zimmer!?«

»Was heißt in deinem? Das ist unser Zimmer!«, widerspricht Karottenmeier aufgebracht.

»Genau, wieso schläfst du in Tobis Bett?«, hakt Jonas nach.

Hä? Als ich mich umsehe, muss ich zugeben, tatsächlich nicht in meinem Zimmer zu sein. Aber TOBIS BETT? »Ähm, ich glaube, ich befinde mich hier in den falschen Realität«, sage ich und will wieder einschlafen.

»He, aufwachen, das ist kein Traum!«, mischt sich Karotte ein, indem er mich an den Schultern rüttelt.

Mist. Tobi kommt dazu, reibt sich die Augen. »Alles klar, Leute?«

»NEIN!«, antwortet Jonas statt meinerseits.

Jetzt erst gibt Eduart seinen Kommentar zu dem Debakel ab. »Es ist doch kristallklar, was hier letzte Nacht passiert ist. Müsst ja nicht so tun, als wüsstet ihr das nicht.«

Ooooh. Und sogleich springen sich die drei Übrigen gegenseitig an die Gurgel. Oder besser gesagt, Jonas und Karotte gehen Tobi an die Gurgel.

»Was bist du eigentlich für einer?!«

»Was soll der Scheiß? Man poppt kein betrunkenes Mädel, das nennt man VERGEWALTIGUNG.«

Plötzlich fühle ich mich ganz schrecklich. Was soll passiert sein?! Ich sehe an mir herunter und schlage die Decke beiseite. Sogar die Schuhe habe ich noch an. »Ähm, ich glaube nicht, dass mir jemand was getan hat«, wispere ich und dann ist es mucksmäuschenstill.

Tobi kann sich endlich rechtfertigen. »Mann, regt euch wieder ab! Ich würde sie sowieso nie anrühren! Ich habe sie nur hierher gebracht, weil der da – «, er zeigt auf Eduart: »in ihrem Zimmer mit der einen da rumgemacht hat. Dabei wollte Manu nur schlafen.«

»Mach mal halblang, ich wollte überhaupt nicht schlafen … glaube ich zumindest«, werfe ich ein. »Oder?«

Meine Erinnerung an gestern Abend ist ziemlich benebelt. Ich weiß noch, dass Dr. Sommer mich genervt hat, aber dann … wird es verdammt düster. Fragend sehe ich in die Runde.

»Nein, wir wissen von nichts«, erklärt Karotte. Schulterzuckend winde ich mich aus dem Bett. »Na dann lasst uns das hier vergessen.«
 

So einfach ging das dann doch nicht und ich hege den Verdacht, dass die Jungs mich für eine Schlampe halten. Dabei bin ich das gar nicht! Oder? Immer noch ist meine Erinnerung mehr oder weniger verschwunden. Was muss Tobi mich auch ins Jungenzimmer verschleppen! Alles nur seine Schuld! Ich kann es kaum erwarten, Janiel von dem Schlamassel zu berichten. Der wird mir hundertpro Recht geben, was für ein Idiot dieser Bengel doch ist. Allerdings verdirbt mir das Frühstück die Gelegenheit, meine Katze zu sehen. Dr. Sommer ist der Einzige, der vor lauter Vergnügtheit nicht die Klappe halten kann, während alle schweigend ihr Essen runterkauen. »Heute dürft ihr selbständig in zwei Dreiergruppen München erkunden! Da ihr alle schon alt genug seid, um euch in einer Großstadt zurechtzufinden, werde ich euch nicht begleiten. Dafür bekommt ihr aber meine Handynummer, für den Notfall, der sowieso nicht eintreten wird.« Er zwinkert uns zu.

Ich spähe zu den anderen, Jonas fixiert mich. Wow, er ist nicht sauer auf mich, obwohl ich möglicherweise eine Schlampe bin. Lächelnd beiße ich in meinen Apfel. Ein schriller Klingelton unterbricht das gemeinsame Schweigen. Es ist mein Handy. Schnell begebe ich mich außer Reichweite.

»Hallo?«

»Manu!«

»Valentine! Was gibt’s, hast du nicht Schule?«

»Wir haben Freistunde. Ich musste dich einfach anrufen und wissen, wie es dir geht. Und du wirst nicht glauben, was passiert ist!«

»Oh, erzähl, los!«

»Also, gestern früh kam ich ins Klassenzimmer und Nadine war total happy, weil ihr jemand eine Tafel Schokolade an den Platz gelegt hatte, auf der ‚Für dich’ oder so was stand. Jedenfalls hat sie voll damit angegeben. Ich habe das zuerst nicht so mitbekommen, Karin hat mir den Teil hinterher erzählt. Aber dann in der Mittagspause ist Daniel zu uns Mädchen an den Mensatisch gekommen und meinte, er wolle mit mir reden. Ich habe mir gedacht, dass er vielleicht meine Mathebuch gefunden hat, weil weißt du, das ist auch schon eine Weile verschwunden, aber dann hat er mich gefragt, ob ich sein Geschenk bekommen habe! Und ich dachte mir, hä, was denn für ein Geschenk, und er meinte, na, die Schokolade und da ging mir ein Licht auf!«

»Wow, ich traue Nadine ja vieles zu, aber das ist richtig erbärmlich! Wie kann man das Geschenk von jemand anderem klauen und so tun, als würde es einem gehören? Hart!« Darüber kann ich nur staunen.

Valentine fährt fort: »Als Daniel dann gepeilt hat, dass Nadine damit angibt, hat er sie vor allen Leuten zur Schnecke gemacht. Aber das hat er erst gemacht, nachdem er mich gefragt hat, ob ich morgen mit ihm Eis essen gehe.«

»Und? Was hast du gesagt?«

»Ja, natürlich!«, ruft sie begeistert ins Telefon. »Das ist mein erstes Date überhaupt!«

Ich quieke mit und freue mich für sie. Gut, dass sie nicht weiß, dass Daniel einst einer ihrer Widersacher gewesen ist … aber ich werde ihr das garantiert nicht missgönnen, jetzt. Gerade will ich ihr von meinen bisherigen merkwürdigen Erlebnissen hier in München erzählen, als mir von hinten jemand auf die Schulter tippt. »Warte mal kurz.« Ich hebe mir das Handy an meine Wange. »Was ist los?«

Ich drehe mich nicht um.

»Kann ich dich kurz mal sprechen?« Erst jetzt begreife ich, dass das Tobis Schultertipper war.

»Ähm, ich telefoniere gerade«, piepse ich ein wenig kleinlaut.

»Mit wem?«, will er wissen.

»Mit Jemandem.«

»Soll ich wieder verschwinden?«

»Mach, was du willst?« Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, wie wir so dastehen, ich ihm den Rücken zugewandt. Dann horche ich, wie sich seine Schritte entfernen. »Duu, Valentine, ich ruf dich später zurück, ok?«
 

Pünktlich um neun Uhr stehen Jonas und ich startklar vor dem Hotel, um München zu erkunden. Leider fehlt uns noch ein dritter Begleiter. Da Eduart unbedingt mit Josefine zusammenbleiben will, streiten sich Karotte und Tobi darum, wer bei uns bleiben darf (kann ich total nachvollziehen, ich würde denen auch nicht beim Schlabbern zusehen wollen).

Nach einer Abstimmung ist schließlich Tobi das Opfer. Irgendwie scheine nicht nur ich momentan einen Groll gegen ihn zu hegen. Somit begeben Jonas, die Karotte und ich uns auf den Weg in die Innenstadt. Das einzige Dumme an unserer Gruppe ist, dass die zwei Burschen Penisse haben. Das bedeutet, dass die beiden garantiert nicht mit mir shoppen gehen werden, wobei das das Beste ist, was man in einer Stadt wie München tun kann! Zu meiner Überraschung bieten die zwei mir einen Kompromiss an: »Wenn du in den High-Tech-Laden mitkommst, kommen wir mit Unterwäsche kaufen«, schlägt Jonas vor, womit er einen Fausthieb in den Magen einkassiert. Der Junge muss ziemlich belämmert sein, weil er immer noch vor sich hin grinst.

Die eigentliche Message ist trotzdem bei mir angekommen. So kommt es, dass ich wider meinen Erwartungen mit zwei Nerds in der Computerabteilung stehe. Ich nutze die Zeit, um Valentine zurückzurufen. Leider bin ich nicht so schlau daran zu denken, dass sie jetzt höchstwahrscheinlich keine Freistunde mehr hat. »Waah, tut mir leid!«, entschuldige ich mich, als sie ran geht.

Sie lacht. »Passt schon, hast Glück gehabt, es ist gerade Pause.«

Erleichtert atme ich auf. Nachdem ich ihr alles was ich weiß, erzählt habe, ist Valentine nachdenklich gestimmt.

»Pass mit diesem Jonas auf. Hört sich nach einem Weiberheld an, der jeder an die Wäsche geht.«

»Och komm, das ist schon ziemlich krass formuliert.«

»So ist die Wahrheit nun mal. Ich muss auflegen, du weißt schon, so was wie Unterricht«, scherzt sie. Wir verabschieden uns. Glücklicherweise sind auch die Jungs endlich bereit zu gehen, gekauft haben sie nichts. »Total überteuert«, lautet die Begründung.

Mmh. Gut, so haben sie alle vier Hände frei! Nein, so gemein bin ich dann doch nicht, aber der riesige Schuhladen ist trotzdem ein Muss. Das tut den Zweien auch nicht weh. Nach einer geschlagenen Stunde ist mein Geldbeutel dünner und Karotte mit meinen neuen Sneakers beladen. »Komm ich trage das für dich«, bietet er mir an, als wir den Laden verlassen.

Irgendwie habe ich mir die Shoppingtour mit Jungs blöder vorgestellt, dennoch muss ich zugeben, dass es schon cool ist, wenn man sogar die einfachsten Einkäufe hinterher getragen bekommt. Jedenfalls wissen wir nicht so ganz wohin, so dass wir ein, zwei Stunden ziellos in der Stadt herumirren, bis wir zufällig an einem McDonalds vorbei latschen. »Herr Trotz hat mal mit uns gewettet, wir würden uns nicht trauen, in einem McDonalds zu feilschen«, erzählt Jonas, als wir das Fast-Food-Restaurant betreten.

»Das hat er uns auch erzählt«, sage ich. Herr Trotz ist ein Deutschlehrer von der Sorte, die gerne Dinge in Bücher interpretiert, die nicht einmal der Autor weiß. Als er einmal veranschaulichen wollte, dass bei uns heutzutage kein Mensch mehr mit Händlern feilscht, hat er uns aufgefordert, im McDonalds feilschen zu gehen. Bisher hat sich keiner von uns getraut, das umzusetzen, da keiner Hausverbot in einem McDonalds in Umgebung riskieren wollte. Hier wäre das allerdings etwas anderes.

»Wollen wir?« Jonas lächelt mich verschmitzt an.

»Worum geht’s?«, mischt sich Karotte ein.

»Wirst schon sehen«, würgt Jonas ihn ab.

Nach sehr aktivem Anstehen befinden wir uns vor einer kleinen Asiatin, die uns ein sehr freundliches »Bestellung bitte« entgegen bringt. Jonas wirft mir einen auffordernden Blick zu. Ich mache eine kurze Kopfbewegung nach dem Motto: Na, mach schon!

»Zwei Eistüten bitte.«

»Macht 4,38 Euro«, erwidert die Asiatin. Lässig lehnt sich Jonas auf die Ladentheke, einen Arm auf dem Tresen und eine Hand in der Hosentasche. »Können wir da nicht feilschen?« Er zieht eine Augenbraue hoch. »Mein Gebot lautet vier Euro.«
 

»Mann, Jonas du bist so ein Trottel! Ich wollte noch einen Cheeseburger kaufen, hättest mich ruhig vorher einweihen können!«, mault Karotte, nachdem wir hochkant aus dem Laden heraus geworfen worden sind. Wir haben es tatsächlich geschafft, in einem McDonalds Hausverbot zu bekommen. Naja, zum Glück bauen die hier in München alles doppelt.

Da wir nun wieder orientierungslos und hungrig sind, entscheiden wir uns, eine Fresstour kreuz und quer durch die Stadt zu machen. Das heißt, wir gehen in jedes Restaurant, das uns in die Quere kommt. Damit uns das nicht teuer zu stehen kommt, bestellen wir immer nur einen Teller für drei. Acht Mahlzeiten später sind wir nicht nur voll gefressen und arm, sondern haben auch absolut keinen Bock mehr, uns zu bewegen. Schließlich landen wir in einer Umkleide eines Designer Klamottenladens. »Was machen wir eigentlich, wenn man uns erwischt?«, mache ich mir Sorgen.

»Ach Quatsch, das passiert eh nicht«, quasselt Karotte. »Und wenn, ist doch auch egal.« Wer schon einmal in so einer Umkleide war, will gar nicht mehr hinaus, das garantiere ich. Sie sind nicht nur großzügig mit Platz und Bänken ausgestattet, nein, die Wände sind sogar mit super-flauschigem pinken Plüsch überzogen!

So was muss man einfach gesehen haben. Ursprünglich wollte ich mal einen Edelschuppen von innen sehen, daraufhin sind wir nicht mehr fähig gewesen, diese Plüschzone zu verlassen.

»Manu, hast du eigentlich einen Freund?« Diese Frage stürzt aus heiterem Himmel herunter.

»Wieso willst du das wissen?« Ich hebe den Kopf, um Karotte in die Augen zu sehen.

»Nur so. Mir ist langweilig«, begründet er lässig.

»Mir auch«, seufzt Jonas. »Und? Was ist jetzt?« Jetzt glubscht der mich auch noch fragend an.

Ich gebe nach. »Nein. Und ihr?«

Jonas feixt mich an. »Nein, ich hatte noch keinen Freund.«

»Oh Mann, du weißt schon was ich meine.«

Er scheint jetzt ernsthaft zu überlegen. »Früher mal.«

»Karottchen?«, ermittle ich.

»Nada.«

Anscheinend bin ich nicht der einzige Loser auf Erden. Das beruhigt mich ungemein. Jonas wirft einen Blick auf sein Handgelenk. »Leute, es ist schon halb sieben!«

»Scheiße, wir sollten doch spätestens um sechs im Hotel sein!«

»Na, merkste was?«
 

Nachdem wir viel zu spät in unserer Bleibe eintrudeln, müssen wir uns die entsprechende Predigt über Pünktlichkeit von Dr. Sommer anhören, die heute überraschenderweise für seine Verhältnisse sehr kurz ausfällt. »Seid nächstes Mal bitte früher da«, murmelt er so nebenbei, als wir drei bei ihm um acht Uhr antanzen.

Theoretisch gesehen wären wir früher da gewesen, wenn wir uns nicht verfahren hätten, beziehungsweise in die richtige U-Bahn gestiegen wären (Karottchen hat gemeint zu wissen, wo es lang geht).

Dr. Sommer lässt uns einfach in der Hotelhalle stehen, vor sich hin brabbelnd latscht er in Richtung Restaurant. Komisch. Ich frage mich, was mit dem heute los ist. Sonst lässt er immer das Honigkuchenpferd raus hängen. Nachdenklich laufe ich zum Fahrstuhl und begebe mich in mein Zimmer. Mal wieder habe ich Glück, Josefine ist ausgeflogen.

Janiel schlüpft unter meinem Bett hervor und verwandelt sich. »Na endlich bist du wieder da! Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen.«

»Ja, wir haben uns ewig nicht mehr gesehen, geheimnisvoller Kellner vom Chinesen«, decke ich Janiels wahre Identität auf.

»Verflixt! Du hast mich ertappt«, ärgert er sich.

»Mir kannst du so schnell nichts vormachen, du bist ein echt schlechter Stalker«, entmutige ich ihn noch mehr.

»Danke!«, erwidert der Engel ironisch. Ich grinse ihn an. Janiel kramt den Ablauf-Zettel hervor. »Heute Abend sind wir auf eine Filmpremiere eingeladen, sie zeigen so einen Vampirfilm.«

»Was heißt hier ‚Wir’?!«

»Na, du und ich.«

»Nur in deinen Träumen!«

»Keine Sorge, diesmal wirst du mich kein einziges Mal zu Gesicht bekommen.«

Da bin ich mal gespannt.

»Wirklich!«

Skeptisch ziehe ich eine Augenbraue hoch (habe ich von Jonas geklaut).

»Gut, wenn du mir nicht glauben willst … du wirst schon sehen.«

»Ja du hast Recht, ich werde schon sehen«, stimme ich zu.
 

Erst im Taxi bekomme ich Dr. Sommer und die anderen wieder zu Gesicht. Diesmal bin ich glücklicherweise neben Jonas gelandet. Vor dem Fenster rauscht die Stadt an mir vorbei, überall brennt Licht. Es ist wunderschön. Romantisch. Nur schade, dass mein imaginäres Liebesleben sich bereits in Luft aufgelöst hat. Viel zu schnell ist die Fahrt vorbei, wir steigen aus dem Taxi und ich habe bereits den Snackstand im Visier – die Diät ist endgültig aufgegeben worden.

Der Kinosaal ist komplett überfüllt, es ist echt ein Wunder, dass wir die Karten gekriegt haben. Ich schaue auf meine Eintrittskarte. Mhm. Reihe E, Platz 12.

Suchend drehe ich mich um. Der Typ an der Kasse hat es geschafft, Mist zu bauen, denn Dr. Sommer winkt mir drei Reihen weiter hinten zu, Josefine und Eduart im Schlepptau. Ganz vorne in der ersten Reihe kann ich Karotte erkennen.

Schlecht. Ich versuche das Beste aus der Situation zu machen, und überlege, wer von den Menschen hier Janiel sein könnte. Währenddessen futtere ich am laufenden Band meine Nachos auf, es läuft noch nicht einmal die Kinowerbung, da ist schon ein Drittel in meinem Magen verschwunden. Jemand setzt sich neben mich. Ha! Bestimmt mein kleiner Engel! Verdutzt starre ich meinen Sitznachbar an. Fail. »Ich habe Platz Nummer Dreizehn.« Tobi winkt mit seiner Karte.

»Schön für dich«, erwidere ich trotzig. Ich haue noch mehr rein. Das gefällt mir ganz und gar nicht! Was bildet der sich ein?! Als ob nichts gewesen wäre, so benimmt er sich. Nur blöd, dass eben doch was gewesen ist.

Die Werbung läuft bereits. Besuchen sie dies, kaufen sie das, schließen sie eine Rentenversicherung ab. Es ist doch immer das Gleiche. Das einzig coole sind die Trailer. »Wow, in den FILM muss ich unbedingt rein!«, rufen wir beide gleichzeitig begeistert aus. Halt, wir beide? Absichtlich wende ich den Blick in die entgegengesetzte Richtung von Tobi. Das ist echt peinlich.

Jetzt öffnet sich der Vorhang vollkommen, der Saal hüllt sich in Dunkelheit. Der Film fängt an. Eine bleiche Dame erscheint auf der Leinwand. Um ehrlich zu sein: Ich stehe nicht so auf Vampire. Bienen sind viel cooler, die sind wenigstens zu irgendwas zu Nutze.

»Manu?«, flüstert Tobi.

Ich schüttele den Kopf. Der Film läuft, du Trottel! Wenige Sekunden später vibriert mein Handy. Eine SMS von Unbekannt. Ich weiß, ich hätte es ausschalten sollen, aber hey, lautlos ist doch auch in Ordnung?

»Manu, bitte rede mit mir«, steht da.

Erzürnt funkle ich Tobi an. Ich denke nicht, dass ich ihm etwas schuldig bin. Wenn ich keinen Grund habe, mit ihm zu reden, werde ich es auch nicht tun. Und woher zum Teufel hat er meine neue Handynummer?! Genervt packe ich die Nerv-Buchse weg. Ein paar Minuten später: erneuter Vibrationsalarm. Diesmal ist es ein Anruf. Wütend drücke ich ihn weg, schalte ich es aus. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm geboxt, doch ich kann nicht. Er ist es nicht wert, seine Energie darauf zu verschwenden.

Die Vampir-Lady hat inzwischen Freunde gewonnen. Ich vermisse Janiel. Der hätte jetzt dämliche Witze über den Film gerissen. Seltsamerweise würde ich ihn gerade nur zu gerne zu Gesicht bekommen. Woran das wohl liegen mag? Der Film ist an seinem Höhepunkt angelangt. Die Vampirfrau beißt ins Gras (haha).

Warme Finger greifen nach meiner Hand. Das darf doch nicht wahr sein! »Bist du noch ganz dicht?! Fass mich nicht an!«, zische ich.

»Ich wollte doch nur … «, setzt er an sich zu verteidigen, doch ich unterbreche ihn: »Ja, du würdest mich ja sowieso niemals anrühren, schon kapiert!«

Zum ersten Mal seit unserem Streit, oder nein, Streit kann man das auch nicht nennen … eher seitdem dieses Desaster seinen Lauf genommen hat, sehen wir uns in die Augen. Tobi ist wieder auf Rückzug, ihm hat es die Sprache verschlagen.

Mir nicht. In diesem Augenblick wird mir klar, was ich tief in mir drinnen die ganze Zeit über gewusst habe. Tobi ist nicht mit mir befreundet. Wir waren nie Freunde. »Hör mal. Wir können keine Freunde mehr sein. Weil wir es nie gewesen sind«, bricht es aus mir hervor. »Du weißt jetzt, dass ich dich liebe … und zwar nicht nachträglich … und ich weiß, wie du dazu stehst. Ich habe gehört, was du zu Jan gesagt hast, vor zwei Wochen. Ich weiß, dass du jetzt nicht mehr mit mir befreundet sein willst. Und wenn ich ehrlich bin, will ich das auch nicht.«

Nicht, wenn du mich nicht liebst.

Tobi ist fassungslos. »Du hast uns gehört?«

Ich nicke.

»Manu … ich … ich liebe dich nicht. Tut mir leid.«

Alles, ja wirklich alles, was bisher passiert ist, ist ein nichts gegen diesen Moment. Es ist, als ob mir jemand einen Eispfahl in die Brust rammt, dort herumbohrt und stochert. »Dann wäre jetzt ja alles geklärt!«, presse ich hervor, beiße mir auf die Lippen, um zu verhindern, loszuheulen. Kralle meine Finger in das Fleisch meiner Oberschenkel.

»Aber deswegen heißt das nicht, dass ich nicht mit dir befreundet bleiben will«, gesteht er. »Ich meinte das, was ich zu Jan gesagt habe, anders … wenn man mal ein Paar war ist es schwer, befreundet zu bleiben, das finde ich immer noch.«

Ha. Ja stimmt. Tobi hatte nie romantische Gefühle für mich. Für ihn ist es einfach. Einfach, mit mir befreundet zu bleiben. Nur für mich ist es schwer.

»Das ist total egoistisch!«, erhebe ich zum ersten Mal meine Stimme gegen Tobi. »Nur weil wir kein Paar waren, heißt das nicht, dass die Situation großartig anders ist. Weißt du, es ist vielleicht meine Schuld, dass ich diese Gefühle für dich habe … aber ich kann nicht von heute auf morgen so tun, als wäre da nichts! Das ist zu viel verlangt!«

»Bei Jan hat es offenbar auch geklappt.«

»Weißt du was, ich habe gelogen, ich war nie mit ihm zusammen! Genau wie du gelogen hast, als du mir sagtest, du hättest keine Freundin!«

»Moment … was … du hattest also keinen Freund … ?«, realisiert Tobi. »Aber er … und du … und woher hast du diese Information?«

»Ich habe euch gesehen«, entgegne ich ernst. »In der Stadt.«

Tobi hebt sich die Hand vor die Stirn. Fährt sich durch die Haare. »Ich habe dich nicht belogen, Manu. Das war meine Cousine.«

Oh.

»Aber … warum hast du dich dann so seltsam verhalten danach? Ich dachte, du hättest mich auch gesehen?!« Ich bin verwirrt.

»Na klar habe ich dich gesehen. Mit Jan.« Er klingt bitter.

Oh.

»Du hast Recht, Manu. Wir waren nie Freunde.«

Tropf, Tropf.

Ruckartig bewegt er seinen Kopf zur Seite, so dass ich ihm nicht mehr ins Gesicht blicken kann. Tobi windet sich aus seinem Kinosessel, erhebt sich. Der Abspann läuft, es ist immer noch dunkel. Als er geht, wischt er sich mit dem Ärmel über die Augen. Und als es hell ist, bin ich allein.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Suewu
2018-08-13T07:33:26+00:00 13.08.2018 09:33
Was... ist da gerade passiert..?!?
Hat Tobi geheult..?!
Warum das denn? Und wieso fand er es schlimm Manu da mit Jan zu sehen..? >.<
Omg was passiert..!?!?!
Ok ich hab das gefühl ich nerve... xD
Antwort von:  Whiscy
13.08.2018 14:17
Hahahaha du nervst überhaupt nicht! Ich freue mich immer sehr über deine Kommentare <3
Antwort von:  Suewu
13.08.2018 16:09
Ok cool ^~^


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