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Insomnia

Wenn die Angst dir den Schlaf raubt
von

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„Rei, jetzt komm schon, amüsier dich doch mal, du ziehst eine Miene, als wäre gerade dein Hund gestorben!“

Zerstreut fuhr sich der Chinese durch die Haare, während er missbilligend die Versuche Takaos bedachte, ihn in das Geschehen – einen Wohltätigkeitsabend, organisiert von der BBA – mit einzubeziehen – in den Augen des quirligen Japaners kam es nicht besonders gut, wenn die Hauptattraktionen, besser bekannt als die ehemaligen Bladebreakers, schlechte Laune an den Tag legten.

Rei seufzte gedrungen auf, während er teilnahmslos eine unglaublich dicke Frau beim Ballonsaufblasen beobachtete, „Ich fühl mich einfach nicht wohl bei der Sache.“

Takao, der seinem Blick gefolgt war, deutete die Aussage seines Kindheitsfreundes falsch und wollte schon zu einem Vortrag über Oberflächlichkeit und innere Werte ansetzen, ehe ihn Rei augenrollend unterbrach,

Das ist es nicht, was ich meine.“

„Achso, wegen Kai? Meine Güte, lass dir von dem Trauerkloß doch nicht den Abend verderben!“

„Also manchmal frag ich mich echt wer von euch beiden das größere Charakterschwein ist, Takao…“, dieser machte sich nichts daraus und reichte seinem Freund stattdessen ein Glas mit Rotwein, „tut mir Leid, aber mein Mitleid hält sich ein wenig in Grenzen…“
 

Rei hörte schon gar nicht mehr zu, teilnahmslos würgte er etwas trockenen Rotwein herunter, der ihm nicht schmeckte und ließ die Gedanken wieder zu seinem Sorgenkind wandern.

Es war ein offenes Geheimnis, dass Rei Kon und Kai Hiwatari so etwas wie eine Beziehung führten und seit einiger Zeit wohnten sie auch zusammen.

Dennoch hätte man meinen wollen, es lief alles prima, denn meistens hielt sich die Fassade aufrecht – doch das war verkehrt – mit dem Zusammenzug hatten die Probleme erst angefangen.
 

Kai hatte nämlich in der letzten Zeit immer öfter extreme psychische Tiefs und Rei versuchte natürlich, ihm zu helfen, was Kai allerdings nicht leiden konnte, denn dadurch fühlte er sich bevormundet. Infolgedessen waren Streitereien zwar nicht an der Tagesordnung, aber sie kamen häufiger vor, als es Rei und im Grunde wohl auch Kai, lieb war.
 

Als Rei ihm am gestrigen Abend die einfache Bitte vorgetragen hatte, ihn zu dieser Veranstaltung zu begleiten, war dem Russen schier der Kragen geplatzt, hatte Rei beschimpft, hatte seinen Hass auf alle möglichen Dinge geäußert, die schon lange nicht mehr der Ursprung ihres Streites waren, Rei hatte seine liebe Not gehabt ruhig zu bleiben – war er doch fähig zwischen den Zeilen zu lesen und das was er zu lesen bekam gefiel ihm nicht und er war zu folgendem Schluss gekommen: Kai hatte ein Problem über das er nicht sprechen konnte oder wollte und insgeheim wünschte sich Rei, der andere hätte schon längst die Einsicht gehabt einen Psychologen aufzusuchen. Er selbst stieß nämlich langsam an seine Grenzen.

Schon allein der Gedanke, Kai mit so etwas zu kommen, erschien ihm absurd.

Dennoch, etwas ließ ihn nicht los, nichts Genaues, was Kai gesagt hatte, aber er hatte plötzlich ein extrem ungutes Gefühl, seinen Freund zuhause und alleine mit sich selbst zu wissen.

Und sein Gefühl hatte ihn noch nie in etwas getäuscht.
 

„Takao, ich fahr nachhause, ich muss nach ihm sehen“, murmelte Rei, drückte dem verdatterten Japaner sein Glas in die Hand und machte auf dem Absatz kehrt.

Der Zurückgebliebene hob stumm sein Glas, wie zum Prost, zuckte dann mit den Schultern und trank selbiges in einem Zug leer.

Rei war mit Kai zusammen – da brauchte ihn eigentlich gar nichts mehr zu wundern.
 

Der Chinese indes fluchte beim Autofahren leise vor sich hin – immer wenn es wichtig war mussten alle Ampeln auf Rot stehen und alle Kreuzungen verstopft sein.

Das war so typisch – nun gut, was erwartete man auch zur Rush Hour. Nach gut der doppelten Zeit, die er normalerweise für diese Strecke gebraucht hätte schloss Rei mit zitternden Fingern das Schloss ihrer gemeinsamen Dreizimmerwohnung auf.

Leere schlug ihm entgegen im Einklang mit grausamer Stille.
 

„Kai?“, rief er leise, während er das Flurlicht einschaltete und zuckte beim Klang seiner eigenen Stimme zusammen.

Und da war ihm klar, dass er etwas Furchtbares vorfinden würde, etwas, dass ihr gemeinsames Leben völlig aus der Bahn werfen würde.

Wie von einer inneren Stimme geleitet ging der junge Mann mit schnellen Schritten in Richtung Badezimmer, in welchem tatsächlich Licht zu brennen schien.

Die Tür war angelehnt und sie quietschte ekelerregend, als er sie aufschob – und den Schock seines Lebens bekam.

Kai, wie er auf dem Toilettendeckel saß, zitternd, und scheinbar erfolglos versuchte sein blutendes linkes Handgelenk zu verbinden. Er war kreidebleich und als er Rei bemerkte, welcher ihn gerade mit aufgerissenen Augen anstarrte bekam sein Blick etwas Reumütiges.

„Ich wollte das nicht … Ich …“, das schien auszureichen um Rei aus seiner Starre zu reißen, „Erklärungen bitte später, wenn ich nicht mehr befürchten muss, dass du mir hier verblutest“, gab dieser zerstreut von sich, während er aus dem Verbandskasten eine Kompresse kramte und Kai die Blutdurchtränkte Mullbinde aus der Hand nahm. Er drückte die Kompresse auf die Verletzung und wickelte die Mullbinde stramm darum.

Dann griff er nach seinem Handy um einen Krankenwagen zu rufen.
 

Kai hatte dies alles wortlos und mit gesenktem Kopf beobachtet.

Das war verdammt unangenehm, jetzt war er Rei eine Erklärung schuldig – woran momentan allerdings nicht zu denken war, denn ihm war ziemlich schwindelig.

Benommen ließ er sich von Rei hochhieven und ins Wohnzimmer führen, die Beine wurden ihm schwach und drohten unter ihm weg zu knicken.
 

Die Stimmen kamen wieder und sie waren so laut … Doch dieses Mal konnten sie ihm nicht den Schlaf rauben, diesmal war die bleierne Ohnmacht, die Kai überkam stärker.

Und mit einem Lächeln auf den Lippen gab er sich der Dunkelheit hin.

I

Rei weinte.

Diese blöden Zwiebeln – aber zu Bratkartoffeln gehörten die nun einmal dazu und da Kai nicht wirklich im Stande war etwas zu kochen, was über In-die-Mikrowelle-tun hinausreichte (und sich sein Spaß am Kochen im Übrigen auch in Grenzen hielt), hatten sich die beiden schon vor langer Zeit im Stillen darauf geeinigt, Rei das Zubereiten der Nahrung zu überlassen.

Schniefend wischte sich der Chinese mit dem Armrücken über die Augen und blinzelte daraufhin, um das Brennen loszuwerden, was nicht gerade von Erfolg gekrönt war, dann kehrte er die Zwiebeln feinsäuberlich in die bereits erhitzte Pfanne, um sie leicht anzudünsten.

Die schon geschälten und in Scheiben geschnittenen Kartoffeln folgten kurz darauf und bald machte sich in dem kleinen, jedoch gemütlichen Raum ein angenehmer Essensduft breit.
 

Nichtsdestotrotz riss Rei die Fenster auf, der Zwiebelgeruch musste unbedingt raus, außerdem sollten die Scheiben nicht beschlagen.

Einen Moment lang stützte er die Ellenbogen auf dem Fenstersims ab und starrte nach unten. Angenehm kühle Luft schlug ihm entgegen und er genoss das eine Weile.

Die Gedanken zu seinem Freund und ein Schatten legte sich über sein Gesicht.

Ihm saß der Vorfall von vor nicht allzu langer Zeit noch tief in den Knochen, aber eine Erklärung für das Ganze hatte er noch nicht bekommen.

'Wie soll das nur weitergehen, Kai…?'
 

Kai sah mit teilnahmslosem Blick aus dem Fenster. Regen prasselte gegen die Scheiben.

Das eindringliche Gerede des Arztes hatte er ab der Stelle ausgeblendet, ab der die Worte „psychiatrische Behandlung“ gefallen waren.

So etwas brauchte er nicht – er war nicht verrückt.

Er war kein durchgeknallter Psychopath, der Leute umbrachte und sie wie in „Jeepers Creepers“ in Formaldehyd eingelegt an die Decke einer Katakombe pinnte. Solche Leute sollten zum Psychiater, aber nicht er.

Das war verrückt. Dafür hatte man in seinen Augen die Zwangsjacke und die Giftspritze erfunden.

Nicht für jemanden wie ihn, der, wie er glaubte, sich unter Kontrolle hatte und nur gelegentlich seine Flucht in der Selbstverstümmelung fand.
 

Kai Hiwatari hatte kein Problem und wenn er doch mal Probleme hatte, wurde er selbst damit fertig.

Er hatte sich unter Kontrolle.

Und dieser langweilige Arzt, welcher so monoton auf ihn einsprach, dass es beinahe einschläfernd wirkte, stahl ihm nur seine Zeit.

Er hatte da was mit Rei zu klären und das am besten sofort.

Dass er noch ein wenig benommen von Schmerz- und Beruhigungsmitteln war, störte ihn dabei herzlich wenig.

„Herr Hiwatari, ich glaube, Sie begreifen nicht die Dringlichkeit - wissen Sie überhaupt, in welchem Zustand man Sie aufgefunden hat?“

„Wieso verschonen Sie mich nicht einfach mit diesem Scheiß?“, murmelte Kai gelangweilt und ohne den Mann anzusehen.

Der Arzt, welcher auf den Namen Kogoro Matsushita hörte, hatte schon mindestens 30 Stunden keine größere Pause mehr gehabt und verspürte seinerseits nicht wirklich den Drang einem trotzigen Teenager ins Gewissen zu reden.

Also rückte er seine Brille zurecht und meinte betont ruhig: „Nun, Ich werde Ihnen eine Überweisung zu einem guten Psychologen geben, der sollten Sie in ihrem eigenen Interesse nachgehen – und dem Ihrer Mitmenschen.“
 

Kai, welcher auf einer Liege im Schneidersitz gesessen hatte, den Kopf seitlich gegen die Wand gelehnt, stand daraufhin abrupt auf und erwiderte in seiner gewohnten abschätzigen Art: „Wie auch immer …“

„Haben Sie jemanden, der Sie nach Hause bringt?“

„Jaha … Ich weiß, die Medikamente machen mich zu einem Zombie, kann ich jetzt gehen?“

Der Mann im weißen Kittel schüttelte nur resignierend den Kopf und reichte Kai die Überweisung, der sie ihm unfreundlich aus der Hand riss und dann ohne ein Wort des Abschiedes aus dem Zimmer stapfte.
 

Wie er Krankenhäuser hasste.

So abgrundtief, und dann diese ganzen Ärzte, die einem versuchen wollten, einzureden, man habe ein Problem, bis man irgendwann selbst daran glaubte, eins zu haben.
 

Um die Gemüter Kais und Reis war es unterschiedlich bestellt – Kai hatte sich in eine Art teilnahmsloses Schweigen gehüllt, während Rei zunehmend gereizter wurde.

Eine Erklärung, eine Rechtfertigung, irgendetwas konnte er doch erwarten, immerhin hatte er vor wenigen Stunden den Schock seines Lebens davongetragen, aber nein, nichts kam.

Kai saß einfach nur da, tat so, als sei nichts geschehen, und machte ihn mit seinem verdammten Schweigen wahnsinnig.
 

„Hörst du jetzt vielleicht mal auf damit?“, entfuhr es dem Rei schließlich ziemlich gereizt, was ihm einen verständnislosen Blick seitens Kai einbrachte.

Ohne ein Wort verloren zu haben, starrte er daraufhin wieder aus dem Seitenfenster, was Rei die Hände in das Lenkrad krallen und ihn eine Vollbremsung hinlegen ließ, da er im letzten Moment die rote Ampel bemerkt hatte.

So nicht Kai, ging es ihm grimmig durch den Sinn.

Das würde noch ein Nachspiel haben …
 

Kai hatte sich zuhause von ihm abgeschottet und ihm wider Erwarten keine Erklärung abgeliefert und so langsam begann das sogar dem Chinesen, welcher sonst so für seine innere Ruhe und Ausgeglichenheit bekannt war, aufs Gemüt zu schlagen.

Was bitte war verkehrt daran, sich um denjenigen zu sorgen, mit dem man die Welt verband?

Zumindest war das am Anfang ihrer Beziehung so gewesen ... Jetzt war sich Rei da nicht mehr so sicher.
 

Die Umgebung war hier mehr als heruntergekommen, die wenigen Gebäude die noch bewohnt wurden, waren halb verfallen und schimmelten vor sich hin. Die Straßen waren dreckig von Unrat und Müll, denn die Müllabfuhr verschlug es sehr selten hierher.

Kai beobachtete aus teilnahmslosen Augen, an eine fleckige Wand gelehnt und an einer Zigarette ziehend, wie sich zwei kleine, schmutzige Kinder um eine halbe, weggeworfene Tafel Schokolade stritten.

Er stand im Halbschatten einer kleinen Gasse – in der Sonne war es für diese Jahreszeit drückend heiß und im Grunde war die ganze Umgebung unerträglich.

Den Grund, warum er sich ausgerechnet in dem verkommensten Stadtviertel dieser Stadt herumtrieb, kannte er selbst nicht genau, er wusste nur, dass es ihn hier immer wieder herzog – hier hatte er seine Ruhe, hier ging ihm niemand auf die Nerven. Hier wurde man nicht angesprochen, weil sich hier jeder selbst der Nächste war und man Angst vor seinem eigenen Schatten haben musste, da die Zahl der Überfälle zunehmend stieg und auch die Übergriffe an sich von immer mehr Brutalität zeugten.
 

Kai nahm wieder einen tiefen Zug von seiner Zigarette – vor einiger Zeit hatte er wider seiner Einstellung „mens sana in corpore sanum“ mit dem Rauchen begonnen – sein Geist war ohnehin schon verdorben, also war ihm der Rest auch herzlich egal.

Inzwischen hatten die Kinder sich verzogen, nachdem sie sich um das Bisschen Schokolade geprügelt hatten, und es war nur noch das Kläffen eines streunenden Köters zu hören.
 

Auch wenn Rei ihm das nicht wirklich zu glauben schien, er machte sich in der Tat Gedanken.

Nur nicht um die Dinge, die Rei sich vielleicht gewünscht hätte, aber dass sollte mal so dahingestellt sein.

Er hatte das Gefühl, dass es da irgendeinen Knoten gab – seine Launen, seine Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation.

Er ärgerte sich maßlos über sich selbst, dass er sich so hatte gehen lassen an jenem Abend und dass er sich vor Rei solche Blöße gegeben hatte...
 

„Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?“, fragte Rei, während er vor dem Spiegel stand und geschäftig an seiner langen Haarpracht herumzupfte, die nie so saß, wie sie sitzen sollte – zwar konnte er Kais Sturmfrisur damit noch lange nicht das Wasser reichen, aber darüber war er im Grunde auch froh.

Kai indes lag lustlos auf dem Sofa, einen Arm und ein Bein jeweils herunterbaumelnd, während er die Fliegen an der Decke zählte, gehüllt in sein verwaschenstes Lieblings-T-Shirt (irgendeine Band, von der Rei fand, sie klänge, als würde sich jemand rückwärts übergeben und dazu ziemlich falsch auf einer Geige herumkratzen).

„Seh ich so aus ...?“, brummte er und gähnte demonstrativ. „Ne du, den Zirkus tu dir mal lieber alleine an, das ertragen meine geschundenen Nerven nicht ...“

Der Chinese rollte mit den Augen und verdrehte selbige, um Kai durch den Spiegel sehen zu können.

„Das ist wirklich schade, weißt du, wir werden uns sicher betrinken, doofe Partyhüte aufsetzen und Apres Ski-Songs zum Besten geben, wenn uns langweilig wird.“
 

Kai konnte sich eines leichten Schmunzelns nicht erwehren, welches er schnell zum Verschwinden brachte, als er die Schritte Reis sich nähern hörte.

Das Gesicht des anderen erschien über ihm und keine Sekunde später hatte Rei sich heruntergebeugt, um Kai einen flüchtigen Kuss auf den Mund zu hauchen.

„Amüsier dich hier ja nicht zu sehr ohne mich, okay?“

„Ich wird’s versuchen.“ Nach einem letzten kurzen Nasenstupser und einem einnehmenden Lächeln verschwand Rei schließlich und wenige Augenblicke später vernahm Kai das Klirren des Schlüssels und das gedämpfte Zuschieben der Haustür, dann kehrte Stille ein.
 

Nun war er alleine mit sich und seinen Gedanken.

Kai hatte ganz vergessen, wie still es in einer Wohnung sein konnte, wenn man alleine war.

Nur das beständige Ticken der alten Kuckucksuhr war zu vernehmen.

Das Ding war zwar mehr als hässlich, und weder Kai noch Rei gefiel es vom Optischen her besonders, doch hatte sie für den Chinesen eine nostalgische Bedeutung – hatte sie doch seiner Großmutter gehört, welche ihn aufgezogen hatte – und er hätte wohl mehr als ein schlechtes Gewissen, wenn er sie weggeben würde. Dennoch hatte sie trotzdem die angenehme Eigenart, welche die meisten Uhren auf Kai ausübten – sie tickte und das Ticken wirkte unheimlich beruhigend und einlullend.

Kai versuchte die Augen zu schließen, da er ohnehin zu müßig war, sich von dem Sofa weg zu bewegen und versuchte etwas zu dösen. Nun, leider war dieses Unterfangen nicht von wirklichem Erfolg gekrönt, da plötzlich das Telefon klingelte, und das in so einem, wie er sich einbildete, aufdringlichen Ton, dass er es nicht einfach ignorieren konnte.
 

Mit einem entnervten Stöhnen hievte sich der junge Mann schließlich vom Sofa hoch und begann eher halbherzig nach dem schnurlosen Telefon zu suchen – es klingelte beinahe eine Minute weiter, ehe er es endlich gefunden hatte, und im Stillen frage Kai sich, wer hier so inbrünstig mit ihm (oder Rei) sprechen wollte, dass er so eine Geduld aufbrachte. Mit einem kühlen „Hiwatari...?“, nahm er schließlich an.

„Ah, welch ein Zufall, mein Lieber, dass ich dich gleich erwische“, säuselte ihm die Art von kindlicher Stimme entgegen, bei der man am liebsten schreiend wegrennen würde.

Nicht so jedoch Kai – lediglich seine Fingerknöchel wurden ein wenig weiß und das leichte Zittern in seiner Stimme unterdrückend, hauchte er ein „Was willst du ...?“ in die Sprechmuschel.

Ein liebliches Lachen ertönte. „Sag bloß, ich komme irgendwie ungelegen ...?“

„Du kommst immer ungelegen“, ließ Kai herablassend vernehmen und hatte nun vor das Gespräch zu beenden, doch es ging nicht.

Seine Hand hatte sich so dermaßen um das Telefon gekrampft, dass es ihm unmöglich war, sich schnell zu lösen.

„Ehe du jetzt auflegst ...“, fuhr die Stimme am anderen Ende fort, „Ich habe dich letzte Woche vermisst ... Weißt du nicht mehr, was wir uns versprochen haben? Damals? Im Angesicht des Todes?“

„Ich führe jetzt mein eigenes Leben und habe nicht vor, länger in Furcht zu leben, die Vergangenheit könne mich einholen.“
 

Kai setzte alles daran seiner Stimme die nötige Festigkeit zu verleihen, welche für diese Aussage angebracht war, nur war er sich nicht sicher, ob der Andere ihn nicht doch durchschaute – bei so einem Geistesgestörten würde es ihn nicht wundern und immerhin, er wusste Dinge von Kai, die sonst keiner wusste.

Ein Schauer lief über den Körper des Russen und die Stimme klang plötzlich kalt.

„Vergiss das Mädchen nicht, Kai, du bist es ihr schuldig. Und vergiss nicht all jene, die wir über Jahre hinweg zurücklassen mussten. Ich werde kommen und dich daran erinnern, denn ich hasse es, wenn die Dinge, die mir wichtig sind, in Vergessenheit geraten!“
 

Ein Tuten, dann Stille.

Kai hatte die Lippen aufeinandergepresst und starrte mit ausdruckslosem Blick ins Leere.

So voller Hass hatte diese Stimme geklungen und voller Rachsucht.

Dabei wusste er doch um seine Schuld, nur zu gut.

Dachte er jedenfalls, denn mit diesem Anruf, oder besser gesagt jetzt, kurz danach hatten erbarmungslos die Bilder wieder begonnen in seinen Geist zu strömen, malträtierten ihn mit der Präzision eines Vorschlaghammers.

Mit einem wütenden Aufschrei warf Kai das Telefon von sich, sodass es an der Wand in seine Einzelteile zersprang.
 

„Verschwindet endlich ...“, murmelte er danach und suchte taumelnd den Weg ins Bad.

Er musste die Kontrolle behalten.

Durfte nicht zulassen, dass sie wieder begannen seinen Geist zu beherrschen.

Die leeren Augenhöhlen, die zu stummen Schreien verzerrten und zugenähten Münder. Der anklagende Blick des Mädchens.
 

Mit einer fahrigen Bewegung riss Kai das Badeschranktürchen auf, und es damit aus den Angeln, wobei er hektisch nach ein paar bestimmten Tabletten suchte.

Schuldig

Verdammt.

Leer.

Kai glaubte, unter dem Druck müsse sein Schädel zerbersten und er biss sich leicht auf die Zunge, um nicht aufzuschreien.

Punkte tanzten vor seinen Augen.

Schuldig

Die Realität verschwamm und um sich selbst zurückzuholen griff er nach dem Rasiermesser...

Schuldig

Ein Schnitt und mit messerscharfer Präzision ließ er ihn für den Moment wieder klar sehen.

Und plötzlich war Rei da.
 

Kai blinzelte, die Sonne stand in einem schrägen Winkel. Es wäre wohl langsam an der Zeit nach Hause zu gehen ... Er hoffte, Rei würde ihm nicht an die Gurgel gehen, weil er sich um eine Stunde verspätete – aber wozu gab es schließlich Mikrowellen.

II

Kai hatte schlecht geschlafen. Wieder einmal, es wäre auch etwas Neues gewesen, hätte er einmal nachts zur Ruhe gefunden. Als er diesen Morgen erwachte, fühlte er sich wie gerädert, schlicht und ergreifend, er war schon mit dem falschen Fuß aufgestanden, ehe er überhaupt aufgestanden war. Ein unwilliges Brummen entrang sich seiner Kehle und er drehte sich nach rechts, wo Rei noch friedlich neben ihm schlummerte und leichter Ärger überkam ihn, den er sich absolut nicht erklären konnte.
 

Wie konnte dieser es wagen, zu schlafen, während er von Alpträumen und Nachtmahren gequält wurde. Im nächsten Moment erschien ihm dieser Gedanke so absurd, dass er beinahe freudlos aufgelacht hätte, konnte es sich jedoch noch verkneifen, indem er sich auf die Unterlippe biss. Stattdessen schwang er die Beine aus dem Bett und tapste über den Parkettboden, wobei er sich wenig Mühe damit gab, besonders leise zu sein.
 

Als er aus dem abgedunkelten Schlafzimmer trat, blendete ihn der helle Sonnenschein und seine Laune sank nochmal um ein Vielfaches. Warum musste einem der Sonnenschein schon die Laune verderben? Kai war ein notorischer Regenwettermensch, er war erst glücklich, wenn es draußen schüttete wie aus Kübeln, Blitze durch die Nacht zuckten und Windstärke sieben herrschte.

Sagte Rei zumindest immer.

Was Kai ziemlich egal war.
 

Lustlos schlurfte er in die Küche und setzte Kaffee auf. Schließlich kippte er das Fenster und steckte sich eine Zigarette an, setzte sich dabei so, dass der Qualm aus dem gekippten Fenster zog.

Da jedoch noch nichtmal die Zigarette seine Laune heben konnte, wollte er sie gerade wieder ausdrücken, als er von der Tür her eine verschlafene Stimme vernahm, "Du weißt, dass ich es hasse, wenn du in der Wohnung rauchst."

Oha, Rei war auch nicht gerade gut drauf. Da würden sie wohl heute ihren Spaß zusammen haben.

"Ich wollte sie eh gerade ausmachen", brummte Kai und drückte demonstrativ die Zigarette auf einem Bierdeckel aus, welcher noch herumlag, dann stand er auf und warf beides in den Mülleimer.

"Hier stinkts", kommentierte der Chinese das, wobei er missbilligend die Nase kräuselte und tapste ebenso in die Küche, um sich Wasser für Tee aufzusetzen.

Da waren sie irgendwie komplett gegenteilig. Rei trank nur Tee, er Kaffee, er rauchte, Rei verabscheute auch nur den leisesten Hauch Zigarettenmief in den Klamotten. Rei mochte Reis, er Nudeln. Er hasste Fisch, Rei mochte kein Fleisch. Rei stand auf Rammstein, Kai auf klassischen Rock. Rei war das Yin und er das Yang.
 

Ein unterschwelliges Lächeln drängte sich auf seine Lippen, als er so darüber nachdachte und seine Laune hob sich, wenn auch nur minimal. Es war eigentlich paradox, dass ausgerechnet sie beide sich gefunden und festgestellt hatten, dass sie ohne einander nicht mehr konnten, dennoch ... es war Kai in der Letzten Zeit so, als legte sich ein Schatten auf das Glück, welches er zu anfangs noch empfunden hatte und dämpfte es von strahlend hellen Farben in ein Zwielicht.
 

Schließlich saßen sie beide eine Weile schweigend am Tisch, nur das gelegentliche Klimpern der Tassen war zu hören oder das ein oder andere Vogelzwitschern von draußen.

"Kai..."

"Hm?"

Der Chinese streckte sich und meinte, "Was hältst du davon ... wenn wir wegfahren übers Wochenende?"

"Wieso das denn, wo willst du denn hin?"

"Ich weiß nicht ... Wär doch bestimmt mal schön, einfach um dem Alltag zu entfliehen ... Einfach mal alle Verantwortung und allen Stress beiseiteschieben ... würde uns sicher beiden Mal gut tun ..."

Kai runzelte skeptisch die Stirn. Sie lagen sich ja jetzt schon pausenlos in den Haaren und er bezweifelte doch ziemlich, dass sich das ändern würde, nur weil sie den Ort wechselten. Allerdings, wägte er wieder ab, sagte man auch, dass so ein Tapetenwechsel wahre Wunder bewirken konnte.

Kai nahm einen Schluck, des inzwischen leicht abgekühlten Kaffees, "Und, was hast du dir da so vorgestellt?"

"Hm ... Vielleicht ans Meer, da haben wir es nicht weit und wir könnten in diesem kleinen Hotel bleiben, wo wir mal mit den anderen waren vor zwei Jahren. War doch nett."

"'Nett'", äffte der Russe den anderen liebevoll nach und fügte dann hinzu, "Ach, na schön, wenns dich glücklich macht ..."

"Spring nicht gleich in die Luft vor Begeisterung", murrte der Chinese, der sich in seiner Euphorie ein wenig gedämpft sah und stand kurz daraufhin auf.

"Ich werd mal sehen, was sich so spontan findet lässt, wehe du überlegst es dir in der Zwischenzeit anders!"

Damit stand er auf und stiefelte zu dem Laptop im Wohnzimmer, während Kai ihm eine Grimasse schnitt und einen großen Schluck seines inzwischen lauwarmen Kaffees nahm.

"Uäh", entfuhr es ihm leise und übellaunig stellte er die Tasse weg und schob sie demonstrativ weit von sich.

Vielleicht hatte sein Freund gar nicht so Unrecht. Einfach mal abschalten, sich nicht ständig stressen lassen.

Und wer wusste es, dachte er, vielleicht wurde er dann auch mal von seinen Nachtmahren verschont, vielleicht war es einfach die Umgebung...
 

Er bezweifelte es zwar, aber alles andere hatte er schon versucht und es fiel ihm auch zusehends schwerer.

Eine unangenehme Erinnerung, vor allem, da ihm der Anruf jenes Abends wieder unangenehm ins Gedächtnis gerufen wurde.

Ewig würde er nicht davonlaufen können das wusste er.

Stellen jedoch konnte er sich noch nicht, dazu war er noch nicht bereit.
 

Nieselregen prasselte auf die Windschutzscheibe, noch nicht genug für die niedrigste Stufe des Scheibenwischers, doch genug um einem einen nahenden Wolkenbruch anzukündigen.

Sie hatten seit ihrem Aufbruch nicht viel gesprochen. Es hatte einen Streit gegeben, wer nun fahren sollte und Rei war als klarer Sieger hervorgegangen, was Kai nun als Anlass sah vor sich hinzuschmollen.

Der Russe seufzte in sich hinein und betrachtete nachdenklich Reis Profil, welcher sich ganz auf die nasse Straße konzentrierte. Fuhr mit den Augen die fein geschwungenen Züge nach, die leicht gebräunte Haut, den schlanken Hals hinab. Eine Gänsehaut überkam ihn, ohne, dass er wusste warum. Er merkte nicht, wie der Chinese, wie beiläufig in die Ablage griff und eine CD in den Player schob.

Die sanften Klänge einer Pianoversion von 'Boulevard of broken dreams' ertönten, was in jenem Moment wirkte, wie eine akustische Untermalung der allgemeinen Stimmung.

Der Regen verstärkte sich, trommelte in stetem Rhythmus auf das Autodach und die Scheibe, untermalt vom leisen Surren der Scheibenwischer, die Rei nun doch angestellt hatte und die Klänge vermischten sich mit diesem wundervoll epischen Lied und plötzlich überkam ihn der Wunsch mit seinem Freund zu schlafen.
 

"Was ist?", hörte er Reis Stimme in seine Gedanken dringen, sanft, den Blick weiter auf die Straße gerichtet.

"Woher weißt du, dass ich dich angesehen habe?", fragte er leise und fuhr mit den Fingerspitzen über Reis Hand, welche auf dem Schalthebel ruhte.

Rei lächelte.

"Weil ich dich liebe und dich so gut kenne, dass ich dich nicht anzusehen brauche um zu wissen, was du gerade tust."

"Du schnulzt schon wieder."

"Aber, wenn es doch wahr ist?" Ein kurzer Seitenblick, ihre Blicke trafen sich, dann wandte sich der Chinese wieder der Fahrbahn zu.

Daraufhin fiel dem Russen nichts mehr zu sagen ein, doch, so stellten sie beide mit stiller Erleichterung fest, dass die Temperatur gerade um einige Grad angestiegen war.
 

"Also, diese Herberge hatte ich irgendwie anders in Erinnerung", kam es spitzfindig von Kai, als sie schließlich am Ziel ihrer Reise angekommen waren: Ein urig wirkender alter Gasthof, welcher so gar nicht in das traditionell japanische Schema passte, sondern eher westlich wirkte, aber gleichsam den Anschein machte, völlig verlassen zu sein.

Nicht, dass er heruntergekommen wäre, aber es wirkte doch ein wenig menschenleer.

In Gedanken korrigierte Kai sich. Keine Menschen, das bedeutete in jedem Fall Entspannung und Erholung.

Rei hingegen, der von dem inneren Monolog seines Freundes nichts mitbekommen hatte, rollte nur mit den Augen und ließ den Autoschlüssel in seiner Tasche verschwinden, nur um dann zielstrebig auf die Herberge zuzugehen.
 

"Das könnte vielleicht daran liegen, dass du damals noch nicht ein ganz so elender Pessimist warst, Kai", frozelte der Chinese und schob kurz darauf die schwere Tür auf, während ihm Kai kommentarlos folgte.

Es gab keinen Empfangsraum, nur so etwas, wie eine kleine Theke, auf der eine typische Klingel stand und dahinter eine Tafel mit Haken an denen sich die Schlüssel für die verschiedenen Zimmer befanden. Teilnahmslos probierte Kai die Klingel aus, welche nur noch ein heiseres Röcheln von sich gab.

"Die funktioniert nicht", murrte er, "und überhaupt, wo..."

Plötzlich ließ Rei genervt seinen Koffer fallen, sodass es knallte.

"Dein ewiges Gemecker geht mir langsam tierisch auf die Eier", fauchte er, wobei er Kai anfunkelte. Ja, Rei war bereits jetzt mehr als genervt und langsam verfluchte er seine eigene Idee hier ein schönes Wochenende mit seinem Freund verbringen zu wollen.
 

Er hätte es sich eigentlich denken können, die angenehme vertrauliche Stimmung von vorhin im Auto war wie verflogen.

Kai hingegen blickte ihn nur verständnislos an, was Rei in jenem Moment nur noch mehr aufregte. Er schwor sich, ein blöder Spruch und er spränge dem Russen an die Gurgel.

Ehe die Situation jedoch eskalieren konnte, trat der Gastwirt herbei, welcher beiden ein entwaffnendes Lächeln schenkte.

"Herzlich willkommen", sagte er freundlich, "Wie kann ich den Herren dienen?"

„Ein Doppelzimmer auf den Namen Kon", murmelte Rei, dem der plötzliche Auftritt des Gastwirtes den Wind aus den Segeln genommen zu haben schien.

Das Lächeln des Wirtes wich nicht, was Rei diesem hoch anrechnete, immerhin war es keine Selbstverständlichkeit in Japan, dass zwei junge Männer sich ein Ehebett teilten. Aber der Mann schien entweder schon einiges gewohnt, oder sehr tolerant zu sein. Dabei tippte er kurz auf dem Laptop herum, nickte dann und griff dann nach einem Schlüssel an dem Bord hinter ihm.

"Wenn Sie mir bitte folgen wollen, die Herren, dann zeige ich Ihnen Ihr Zimmer..."
 

Wenig später schon war der Streit vergessen, nach einem guten Abendessen beschlossen die beiden einen kleinen Spaziergang die Küste entlang zu machen um den wunderschönen Sonnenuntergang zu genießen.

Irgendwann verhakte Rei die Finger mit denen Kais, ein Zeichen der Versöhnung und dieser erwiderte schweigend die kleine Geste.

Der Wind wehte hier besonders heftig und fuhr ihnen in die Haare und Kleidung. Plötzlich blieb der Schwarzhaarige stehen und sah gedankenverloren in die Ferne. Kai blieb ebenfalls stehen und folgte dem Blick seines Freundes an den Horizont, ob dieser ein Boot oder einen Heißluftballon oder dergleichen erspäht hatte. Irgendwann jedoch merkte er, dass Reis Blick eher leer war, Gedanken versunken. Ehe er jedoch die typische Frage stellen konnte, wandte Rei sich um, um ihn in eine unerwartete Umarmung zu ziehen, die Kai eher überrascht erwiderte.
 

"Ich liebe dich", kam es leise geflüstert, fast bedrückt und obwohl Rei nichts weiter sagte, spürte Kai doch den leisen Hilfeschrei, die Verzweiflung, die in diesen Worten lag und er fühlte sich plötzlich schuldig. Schuldig, dass er Rei so im Ungewissen ließ, schuldig, dass er ihm solche Sorgen bereitete. Und leise Wut. Wut darüber, dass er sich nicht hatte beherrschen können. Besänftigend strichen seine Hände über Reis Rücken, sagen konnte er nichts.
 

Irgendetwas hatte ihn geweckt. Der kleine Junge rieb sich über die Augen und blickte orientierungslos in dem Raum herum, in welchen nur das schwache Licht der Außenbeleuchtung fiel. Ein Gitter malte zwei längliche Schatten auf den Boden, die beiden Betten, welche je auf einer Seite des Fensters standen waren in den Schatten getaucht.

Er blinzelte und blickte zu dem anderen Bett, in welchem ein anderer Junge lag. Das hieß, momentan lag er nicht, er hatte sich aufgerichtet und starrte zur Tür.

"Brooky?", murmelte er, "Was ist denn da?"

Der andere Junge antwortete nicht, starrte nur stur weiterhin auf die Tür. Das orangene Haar wirkte fast grau in der Dunkelheit des Zimmers.

Kai bekam es mit der Angst zu tun. "Brooklyn ...?"

"Sie haben sich wieder ein Kind geholt", kam es nur gewispert als Antwort.

Kai schluckte. Er war nun seit drei Tagen in der Kinderpsychiatrie und er hatte die anderen Kinder schon wispern gehört, aber niemand hatte ihm in die Augen sehen können, wenn er sie gefragt hatte. Hier dachte jeder nur an sich. Brooklyn war der Einzige, der mit ihm geredet hatte. Und selbst dieser hatte es ihm nicht sagen können oder wollen.

Und wieder antwortete er nicht auf Kais Frage.

"Darf ich zu dir ins Bett kommen?", flüsterte er nur anstelle einer Antwort und Kai erwiderte nur ein zutiefst irritiertes 'Ja'.

Daraufhin kroch Brooklyn aus seinem Bett und tapste schnell zu Kais hinüber. Der Junge konnte das Zittern des Anderen spüren und wortlos schlossen sie sich in die Arme und zogen die Decke gänzlich über die Köpfe.

Nicht, dass es nun weniger dunkel gewesen wäre, als zuvor, aber hier waren sie zusammen, diese Art von Dunkelheit barg sie...

Plötzlich wurde ihnen die Decke weggerissen und die grausige Fratze eines großen Mannes grinste ihnen höhnisch entgegen, Kai schrie...
 

... Und wachte von seinem eigenen Schrei auf, fuhr senkrecht in die Höhe und atmete abgehackt und schnell, er war schweißgebadet. Neben ihm rieb sich Rei verschlafen die Augen, "Alles in ... Ordnung?", fragte er mit schlaftrunkener Stimme.

Kai keuchte. Nichts war in Ordnung. Es war die blanke Panik, die ihm im Traum erschienen war. Wie beinahe jede Nacht, doch diese hatte er härter gespürt, als sonst.

"Ja, ja, es geht mir gut, schlaf weiter", murmelte er und achtete nicht weiter auf Rei, welcher zwar nicht ganz überzeugt schien, sich jedoch umdrehte und noch einmal die Augen schloss.

Kai für seinen Teil war absolut wach. Er hob den Blick. Draußen wurde es bereits wieder hell. Schlafen konnte er in keinem Fall mehr, also fischte er nach seinem Zigarettenpäckchen, welches sich in der Brusttasche seiner Lederjacke befand, die gestern, kurz bevor sie miteinander geschlafen hatten, achtlos zu Boden geworfen worden war, ebenso wie der Rest der Kleidung. Das Feuerzeug war unter das Bett gerutscht.
 

Kurz darauf lehnte sich der Russe mit den Unterarmen auf das Geländer des kleinen Balkons, der an ihr Zimmer grenzte und blies leicht bläulichen Rauch aus. Nachdenklich blickte er in die Ferne, versuchte die Bilder des Traumes zu verscheuchen, die drohten, ihn zu überrollen.

Ein gequältes Stöhnen verließ seine Lippen. Er durfte nicht wieder unter der Last zerbrechen, die ihn vor nicht allzu langer Zeit dazu bewogen hatte, sich in den Unterarm zu schneiden. Die Zeit war wohl für Rei schlimmer gewesen, als für ihn selbst und er schwor sich schon um seinetwillen, diese üblen Gedanken, Gedanken der Schuld und Sehnsucht nach Sühne, nicht mehr zuzulassen.

Um seinetwillen.

Er würde stark sein.

Um seinetwillen.

Er konnte das.

Er wusste, dass er das konnte.

Um seinetwillen.

III

Er ließ Steinchen springen. Mit heimlichem Stolz zählte er sieben kleine Kreise, die auf dem Wasser hinterblieben, ehe er sich bückte um einen weiteren flachen Stein aufzuheben.

Kai mochte es, Steinchen springen zu lassen. Auch, wenn er sich irgendwie ein wenig albern dabei vorkam, aber es beruhigte. Und vor allem, hatte er dann wieder genug Zeit, sich Gedanken zu machen.

Erneut sprang ein Steinchen. Diesmal kam es nur fünfmal auf, ehe es im dem Fluss versank, der sachte vor sich hinplätscherte. Kai runzelte die Stirn.

Die Kratzer, die er sich am gestrigen Abend zugefügt hatte, brannten ihm noch unterschwellig auf dem Oberarm.

Es war, als wäre nie etwas gewesen, als hätten er und Rei niemals das Wochenende so friedlich und größtenteils einträchtig miteinander verbracht.

Zwei Tage später hatte ihn diese furchtbare Panikattacke heimgesucht und die anklagenden Stimmen, konnten nur wieder zum Schweigen gebracht werden, wenn er ihnen Schmerzen zufügte. Und damit sich selbst. Denn, wie sonst besiegte man etwas Körperloses? Wie sonst brachte man diese Stimmen zum Schweigen?

Das nächste Steinchen folgte. Sechsmal. Ein schmales, siegessicheres Lächeln legte sich auf seine Lippen.

Ein weiteres Steinchen sprang.

Kai stutzte. Das hatte doch nicht er geworfen.
 

„So vertreibst du dir also deine Zeit jetzt“, ertönte eine liebenswürdige Stimme und Kai erstarrte. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer das war. Er hatte ihn also doch gefunden. Kai schloss die Augen.

„Was willst du von mir, Brooklyn?“

Er hörte die Schritte auf dem Kiesufer, bis dieser fast neben ihm stand.

„Ich denke, das weißt du ganz genau.“ Ein leichter Vorwurf schwang in seiner Stimme mit und Kai schauerte es leicht. Hatte er tatsächlich geglaubt, wenn er seine Existenz verleugnete, dann wäre alles ungeschehen?

Töricht.

Die dunkelroten Iriden verengten sich und unwillkürlich ballten sich die Hände vor Anspannung zu Fäusten.

„Ich lebe nicht mehr in der Vergangenheit, Brooklyn. Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen?“, fragte er leise, obgleich er die Antwort schon kannte.

„Als wüsstest du das nicht ganz genau, Hiwatari. Ich habe im Gegensatz zu dir vielleicht ein Gewissen. Oder willst du mir sagen, dass dich die Schreie nachts nicht mehr erwachen lassen? Kannst du ruhig schlafen? Musst du dich nicht mehr umdrehen, weil du glaubst, du wirst verfolgt? Sag es mir, Kai.“ Die letzten Worte flüsterte er nur, während er eine Hand auf seine Schulter legte und ein abermaliger Schauer überlief seinen Körper.

„Dachte ich es mir doch“, sagte Brooklyn, sein Schweigen richtig deutend. „Kai“, sagte er noch einmal eindringlich, „Du weißt, dass wir uns einen Schwur gegeben haben. Ist dein Wort heute etwa nichts mehr wert?“

Kais Fingernägel gruben sich schmerzhaft in seine Handflächen.

„Ich ... bin noch nicht bereit dazu.“

Nun war es Brooklyn, der die Augen verengte. „Und was ist mit ihnen? Sie waren damals auch nicht bereit zu sterben und doch mussten sie es!“, sagte Brooklyn mit scharfer Stimme.

Kai senkte den Blick und starrte auf die Wasseroberfläche.

„Wenn du unsere Vergangenheit verleugnest“, fuhr Brooklyn eindringlich fort, „Dann verleugnest du alles, was uns und den anderen zugestoßen ist, damit verspottest du die Toten! Was ist, huh? Könntest du auch vor einem ihrer Gräber stehen und das wiederholen? Könntest du das, Kai?“

Er konnte es nicht. Er blickte in die Ferne. Keine gute Zeit, um sich zu erinnern.
 

Rei Kon hatte einen Entschluss gefasst. Wenn er wartete, bis Kai von selbst mit ihm über seine Probleme sprach, dann vermutete er, konnte er warten, bis er schwarz wurde. Also griff er auf die einzige Möglichkeit zurück, die ihm blieb. Schnüffeln.

Es ärgerte ihn, weil Kai ihn so dazu trieb, das Vertrauen, das er sich mühsam erarbeitet hatte, zu missbrauchen, immerhin hatten sie ihre gegenseitige Privatsphäre immer respektiert. Aber was sollte er anderes machen, wenn Kai nicht mit ihm sprach, verdammt!
 

Noch entschlossener, begann Rei zu Werke zu gehen. Kai war weg, unterwegs und da er ihm nicht gesagt hatte, wann er vorhatte, wieder zu kommen, war das mit dem Risiko des Erwischtwerdens verbunden.

Reis Herz schlug vor Anspannung schneller, als er an den Wohnzimmerschrank ging, wo jeder von ihnen seine privaten Fächer hatte und die obere Schublade - Kais - aufzog. Da es für sie beide selbstverständlich war, dass sie nicht an die Sachen des jeweils anderen gingen, war es auch nie nötig gewesen, irgendwelche Schlösser oder dergleichen anzubringen.

Wieder ein kleiner Stich.

Mit leicht zitternden Händen schob Rei Kais kleines Heftmäppchen für die Kontoauszüge zur Seite und blätterte daraufhin vorsichtig durch die darunterliegenden Sachen.

Arztquittungen, Garantiebelege, ein kleines DIN A6 Fotomäppchen, ein alter Personalausweis, an sich nichts Besonderes.

"Nun, komm schon!", murmelte Rei leise und hob vorsichtig einen kleinen Stoß von alten Stern-Ausgaben nach oben; Flüchtig glitten seine Augen über die Themen auf der Titelseite:

'9/11 - Verschwörungstheorie, was wirklich dahintersteckt'. 'Die Fußball WM in Südafrika' und ... da wurde er einen Moment aufmerksam: 'Depressionen, jeder dritte leidet heutzutage an dieser Krankheit.'

Rei legte die beiden anderen Zeitschriften abwesend zur Seite und schlug die, die er noch in den Händen hielt, auf, registrierte dabei nicht, wie ein kleiner zusammengefalteter Zettel zwischen den Seiten hervorrutschte und lautlos auf den Boden segelte.
 

Dass Kai an Depressionen litt, war lange kein Geheimnis mehr. Auch, wenn er das, wie vieles andere, was Kai betraf, irgendwie selbst hatte herausfinden müssen.

Was hatte er erwartet? Kai würde ihn sicher nicht mit der Nase in die Suppe drücken, Kai musste man alles aus der Nase ziehen und im Idealfall dessen Gedanken erahnen oder schlicht von selbst drauf kommen. Das war typisch. Wieder mal ärgerte Rei sich über seinen Freund und zudem über sich selbst, ließ es sich jedoch nicht nehmen den Artikel zu lesen, was sicher fast eine halbe Stunde in Anspruch nahm und später schwirrte ihm der Kopf vor lauter Bezeichnungen. Manisch depressiv. Schizotype Störungen. Psychosen. Antidepressiva. Und so weiter und sofort und alles verschwamm ineinander und Rei fühlte sich maßlos überfordert.

Dieser Artikel deckte zwar bei weitem nicht alles ab, was es an psychischen Erkrankungen gab, aber Rei war sich auch nicht wirklich sicher, ob er über alles Bescheid wissen wollte. Er biss sich auf die Unterlippe.
 

"Ich bin so ein Idiot", schalt er sich leise und schlug die Zeitschrift zu, um sie zu den anderen zu legen, nur um einen weiteren Blick in die Schublade zu werfen. Doch er sollte enttäuscht werden. Er fand nichts für ihn Relevantes mehr und schob die Lade nachdem er alles wieder einigermaßen an den richtigen Platz gebracht hatte, sachte wieder zu.

Dann erhob er sich aus seiner knienden Position und ächzte erstmal, da ihm die Beine schmerzten. Rei streckte sich. Irgendwie war er jetzt etwas ratlos und ziellos ließ er den Blick seiner mattgelben Augen im Raum umherschweifen. Gab es sonst noch irgendwelche Orte ...?

Plötzlich fiel sein Blick auf das kleine Zettelchen auf dem Boden, im ersten Moment nur ein Stück Müll. Stirnrunzelnd bückte er sich, um es aufzuheben, es war ihm bis heute ein Rätsel, aber manchmal hatte Kai solche Anfälle, dass ihn die kleinsten Kleinigkeiten nervten - wie etwa ein Stück Papier auf dem Boden, das da einfach nicht hingehörte.

Kurz faltete er es auseinander - eine Eigenart, die viele Menschen innehatten, zusammengefaltete Zettel regten nun mal eine gewisse unterschwellige Neugier - und besah es sich. Nichts Besonderes, nur eine Telefonnummer, ohne Namen oder Hinweis wem sie zugehörig war und gelangweilt ließ er es in seine Hosentasche gleiten, um es später wegzuschmeißen.
 

Kai kam wohl heute später nachhause, stellte er fest, das war an und für sich nichts sonderlich Ungewöhnliches und Rei beschloss sich die Zeit mit ein wenig Hausarbeit zu vertreiben.

Irgendwer musste sie ja machen.

Zuerst kümmerte er sich um die Wäsche. Dabei stopfte er einfach alles in eine Maschine, da er schlichtweg zu faul war, um die Wäsche vorher mühsam auseinander zu sortieren, er für seinen Teil hatte kein Problem mit ein paar rosa gewordenen Socken - was ohnehin in den seltensten Fällen passierte. Danach eine zweite Trommel, während er die erste in den Trockner gepackt hatte. Das Bügeln überließ er Kai, er bekam es irgendwie nie hin, ohne, dass da, wo eine Falte verschwunden war, sofort an anderer Stelle eine neue auftauchte. Es musste doch irgendeinen Trick geben, Wäsche glatt zu bekommen. Da er allerdings bezweifelte, dass er das jemals herausbekommen würde, überließ er das von vornherein Kai und erfreute sich an den einfacheren Dingen des Lebens. Zum Beispiel, herauszufinden, warum aus der Wäschetrommel immer weniger Socken herauskamen, als er reingeworfen hatte. Oder mit der Relativitätstheorie.

Der Müll musste natürlich auch noch gemacht werden, ganz zu schweigen von...
 

Gab es eigentlich noch andere Orte, wo Kai vielleicht irgendwelche privaten Sachen aufbewahrte?

Aha. Er hatte sich grade dabei ertappt. Ein paar wenige Stunden hatte Rei es geschafft diese quälend neugierigen Gedanken zu verdrängen, aber nun waren sie wieder da.

"Verdammmich", murmelte er ärgerlich. Irgendwie hatte er plötzlich Lust auf eine Zigarette. Und das, obwohl er eigentlich nicht rauchte.

Der Chinese ließ sich flach auf das Sofa fallen, da blieb sein Blick an dem durchsichtigen Wohnzimmerschrank hängen, in dem verschiedene Spirituosen lagerten. Ein Grinsen schlich sich auf seine Züge. Ein Schlückchen würde vielleicht ganz gut tun.

Wenig später brannte sich der herbe Scotch einen Weg seine Kehle hinunter und Rei schüttelte es. Ab und an brauchte man so etwas.

Plötzlich glitten seine Gedanken zu dem Zettelchen in seiner Tasche und zögerlich holte er es hervor, blickte misstrauisch auf die dort geschriebenen Zahlen, als würden sie ihm eine Antwort geben, wenn er das lang genug tat.

Dann kam ihm eine Idee, die gleichzeitig simpel war, wie dämlich. Sollte er diese Nummer vielleicht einfach mal anrufen? Zur Not konnte er immer noch behaupten, er habe sich verwählt oder dergleichen.

Nach zwei Minuten Nachdenken stand sein Entschluss fest.
 

"Zeig mir deine Arme."

Kai wandte den Blick ab. "Was erhoffst du dir zu sehen?", fragte er leise.

Brooklyn antwortete nicht, sondern packte den Arm seines Gegenüber, welcher das wortlos geschehen ließ.

Barsch wurde der lange Ärmel des Oberteiles zurückgeschoben. Brooklyns Augen verengten sich, als der Blick auf die Narben fiel. "Wolltest du dich umbringen?"

"Ich weiß es nicht. Vielleicht wollte ich fliehen."

Brooklyn lächelte plötzlich, dann ließ er Kais Arm los, trat noch einen Schritt näher und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.

"Mach es das nächste Mal richtig", flüsterte er, "das ist deine einzige Alternative. Oder du kommst mit mir und erfüllst den Schwur, den wir uns damals gegeben haben."

IV

"Kai, es ist nur zu deinem Besten, das verstehst du doch, oder?"

Der fünfjährige Junge presste die Lippen aufeinander. Er antwortete nicht. Seit er als einziger den Autounfall überlebt hatte, den er mit seinen Eltern gehabt hatte, lebte er bei seinem Großvater.
 

Das war nun etwa ein halbes Jahr her und kaum, dass er in das Anwesen des alten Mannes eingezogen war, hatten die Alpträume begonnen. Am Anfang war es noch einigermaßen auszuhalten gewesen, aber mit der Zeit war es immer schlimmer geworden.

Anfangs war er nachts nur aufgewacht, mit pochendem Herzen, konnte aber auch genauso schnell wieder einschlafen, aber dann waren es irgendwann seine Schreie gewesen, die ihn hatten erwachen lassen, die Schatten an den Wänden seines Zimmers hatten begonnen, sich zu bewegen, hatten sich in Fratzen verwandelt, die ihn zu verschlingen drohten.

Kai wirkte irgendwann nur noch wie ein Geist; Fahle Haut, trüber Blick und ungesunde Augenringe. Er weigerte sich zu essen, wenn er etwas aß, dann übergab er sich kurz darauf wieder und immer diese Schreie... Jede Nacht diese Schreie und das Geräusch von berstendem Metall.

Mittlerweile zehrte es so sehr an Voltaires Nerven, dass er es einfach für das Beste hielt, den Jungen in die Obhut von jemandem zu geben, der mehr davon verstand.

Das Kind war gestört, hatte einen Knacks davon getragen seit dem Unfall und inzwischen war er einfach an seine Grenzen gestoßen. Zumal er wirklich Besseres zu tun hatte, als einen Fünfjährigen davon zu überzeugen, dass die offene Schranktür nicht das Tor zur Monsterwelt war.
 

Der alte Mann hatte seine Sekretäre nach der besten Einrichtung suchen lassen, Geld spielte keine Rolle, Hauptsache er würde dieses kleine Nervenbündel endlich los.

Die Einweisungspapiere hatte dank ausreichend Vitamin B nicht halb so viel Zeit in Anspruch genommen, wie sie das unter normalen Umständen getan hatten.
 

"Kai, das verstehst du doch, oder?", fragte der alte Mann noch einmal nachdrücklich, während er das Kind mit seinen stechenden Augen musterte. Schließlich gab der Junge nach. Gegen Erwachsene hatte man keine Chance, am besten man sagte, was sie von einem hören wollten, wenn man verhindern wollte, dass sie böse auf einen wurden.

"Ja, Großvater", piepste der Junge mit dünnem Stimmchen, woraufhin Voltaire zufrieden nickte.
 

Dann wandte er sich um und ging. Kein freundliches Wort zum Abschied, keine tröstende Geste, wie ein Streicheln über den Kopf oder ein Kuss auf die Wange, nichts.

Kai wurde einfach zurück gelassen und sah seinem Großvater hinterher, sah zu, wie sich hinter ihm die Flügel der Kinderstation schlossen und wie eine Schwester selbige sorgsam absperrte. Dann wandte sie sich ihm zu, lächelte.

"Komm Kai, ich zeig dir mal dein Zimmer, dann lernst du auch gleich deinen Zimmergenossen kennen - er ist wirklich nett."

In einer aufmunternden Geste streckte die junge Schwester Kai eine Hand hin. Die blieb allerdings unbeachtet. Kai nickte zwar und machte Anstalten der Schwester zu folgen, aber er wollte sie nicht berühren.

Er mochte keine fremden Menschen.

Wenn man ihn in die Obhut Fremder gegeben hatte, dann waren bis jetzt immer nur negative Dinge geschehen und das war wirklich traurig, wenn man bedachte, dass ein Kind in diesem Alter schon so eine extreme Portion Misstrauen entwickeln konnte.

Die Schwester, welche sich mit Natalia vorgestellt hatte, ließ sich davon allerdings nicht beirren.
 

"Du brauchst wirklich keine Angst haben, Kai", sagte sie munter und es erinnerte den Jungen daran, wie seine Mama früher mit demselben Tonfall versucht hatte ihn dazu zu überreden, Broccoli zu essen - den er abgrundtief hasste.

Seine Mama. Beim Gedanken an sie, traten ihm Tränen in die Augen und ein dicker Knoten bildete sich in seiner Brust.

"Am Anfang fühlt sich jeder hier ein bisschen allein, aber du wirst sehen, dass du schon bald Freunde findest und dich hier eingewöhnen wirst."

Nachdem sie eine Weile, von dem munteren Geplapper der Schwester begleitet, durch die Gänge gelaufen waren, blieb selbige plötzlich stehen und lächelte.

"Das hier ist dein Zimmer."
 

Überflüssig zu erwähnen.

Schwester Natalia klopfte einmal kurz und drückte dann die Klinke herunter.

"Brooklyn, dein neuer Zimmergenosse ist da, sei lieb zu ihm, ja?"

Der Angesprochene war ein Junge in etwa seinem Alter, stellte Kai fest, welcher auf seinem Bett gesessen und aus dem Fenster gesehen hatte. Als Natalia ihn angesprochen hatte, hatte er nicht reagiert, nur sein Blick war kurz in die Richtung der beiden geflackert.

Allerdings schien die Schwester das Verhalten des anderen Jungen schon zu kennen und ging nicht weiter darauf ein.
 

Kais Gepäck war schon von einem der Pfleger auf das Zimmer gebracht worden und mit dem Hinweis auf einen Klingelknopf, den man ihm Notfall drücken konnte, wenn man die Hilfe einer Schwester oder eines Pflegers brauchte, ließ sie die beiden Jungen erstmal allein. Kai sollte schließlich Zeit haben, sich an die Umgebung zu gewöhnen.
 

Etwas schüchtern rutschte der Junge auf das noch freie Bett und blieb dort erstmal an der Kante sitzen. Irgendwie schien es dem anderen Jungen nicht zu gefallen, dass er jetzt einen neuen Zimmergenossen hatte und Kai fühlte sich sehr unwohl in seiner Haut.

Kaum jedoch hatte Natalia das Zimmer verlassen, drehte sich Brooklyn zu ihm um und lächelte ihn überraschenderweise an.

"Hallo, ich bin Brooklyn, wie heißt du?"

Kai blinzelte überrascht und traute sich kaum den Mund aufzumachen, dann nuschelte er, "Kai Hiwatari."

Brooklyn rutschte von seinem Bett herunter und kam zu Kai hinübergetapst.

"Du darfst den Erwachsenen hier nicht trauen, auf keinen Fall. Am besten du sprichst gar nicht mit ihnen, sie sind alle böse."

Neugierig geworden, legte Kai den Kopf schief, "Wieso sind die Erwachsenen alle böse?"

Das war seltsam. Normalerweise sagten einem die Erwachsenen doch, was richtig war und was falsch und sie beschützten einen vor den Monstern im Schrank ... Oder steckten einen in so eine Klinik. Kai biss sich auf die Unterlippe, Tränen kullerten ihm plötzlich über die Wangen und er senkte den Kopf.

"Nicht weinen", sagte Brooklyn mit seinem hellen Stimmchen und umarmte Kai tröstend. "Wenn du nicht mit ihnen sprichst, dann werden sie dir nichts tun. Wenn du unsichtbar bist, dann beachten sie dich nicht. Keine Angst. Ich pass auf dich auf ..."
 

Kai hatte ja in seinem kindlichen Verstand keine Vorstellung davon, wie böse die Erwachsenen in dieser Klinik wirklich waren. Er musste es auch nie am eigenen Leib erfahren, als er das erste Mal dort war.

Nur eine Nacht ... Eine bestimmte Nacht würde ihm immer im Gedächtnis bleiben.
 

Halte dich besonders vor dem Doktor fern, hatte Brooklyn gesagt. Der ist der schlimmste von allen. Man sagt, er sei ein böser Geist, oder ein Dämon. Du darfst ihm niemals in die Augen sehen, denn dann hat er dich. Du beginnst zu glauben, was er sagt und wenn du das erstmal tust, bist du verloren.

Dann ... verschwindest du irgendwann ... Es heißt, er fresse die Seelen der Kinder.
 

Nach einer Woche hatte Kai den ersten Termin mit dem Doktor. Man gab den Kindern in der Regel so viel Zeit um sich einzugewöhnen.

Mit gemischten Gefühlen folgte er einer Schwester, die er nicht kannte, durch die langen Flure der Klinik, die ihm mit einem Mal noch bedrückender und beängstigender vorkamen.

Sein kleines Herz pochte ihm bis zum Halse als sie vor einer Tür Halt machten. Die Schwester klopfte einmal kurz, "Herr Wasikowska? Ich bringe Ihnen Kai."

'Ich bringe Ihnen Kai'. Wie das klang. Als brachte man ihn einem zornigen Gott als Opfer dar.

Kai schüttelte es kurz und am liebsten hätte er jetzt kehrt gemacht und wäre davon gelaufen.

Ihm war schlecht und als die Schwester ihn wenige Augenblicke später in das Behandlungszimmer schob, wäre er beinahe ohnmächtig geworden.

"Ich lasse Sie dann jetzt alleine", hörte er von fern die Stimme der Schwester und fast hätte er sich an ihr Bein geklammert und geschrien, dass sie doch um Himmelswillen bitte da bleiben solle.
 

"Warum kneifst du denn die Augen so zusammen, Kai?", hörte er plötzlich eine freundliche Stimme und der Junge riss die Augen auf. Er hatte gar nicht gemerkt, wie er sie vor Angst fest zugepresst hatte.

Und das was er sah, entsprach so gar nicht seinen Horrorvorstellungen, die er sich aufgrund Brooklyns und der Erzählungen der anderen Kinder gemacht hatte.

Ein freundlich dreinblickender Mann mit einer randlosen Brille und grau meliertem Haar, welcher auf einem Sessel aus weißem Leder saß und ihm aufmunternd zulächelte.

"Setz dich doch bitte, du musst keine Angst haben, ich möchte mich nur ein Bisschen mit dir unterhalten."

Zögernd trat der Junge näher und rutschte dann auf einen der beiden bequemen Stühle, ebenfalls aus Leder, die noch leer waren.

Dabei achtete er darauf, nur an der Kante Platz zu nehmen, so konnte man schneller weglaufen. Nur für den Fall des Falles, verstand sich.

Schon gleich notierte sich der Doktor etwas auf seinem Klemmbrett, dann sah er Kai an. "Wie geht es dir im Moment, Kai, hast du dich hier einigermaßen eingelebt?"

Kai presste verschüchtert die Lippen aufeinander, auch wenn der Doktor freundlich wirkte, er hatte nicht vergessen, was ihm Brooklyn und die anderen erzählt hatten.

Schweigen. Doch anstelle nachzubohren, wie man es sonst von Erwachsenen gewohnt war, sah er Kai nur weiterhin aufmerksam an, ohne ihn jedoch unterbewusst unter Druck zu setzen. Kai wurde ein wenig hibbelig. Warum sagte der denn nichts mehr? Diese Stille war ja ekelhaft.
 

Nach fast fünf Minuten hielt Kai es nicht mehr aus und platzte mit etwas heraus, das vielleicht nicht das Klügste war, was er hätte sagen können: "Die erzählen Dinge über Sie."

Damit sah er den Doktor überraschend direkt an und wunderte sich im Augenblick selbst über seine Aussage. Vielleicht, weil er sich einfach nicht vorstellen konnte, dass der Mann ihm gegenüber böse war, er wirkte so freundlich und vertrauenswürdig.

Einen Augenblick, einen winzigen Augenblick blitzte etwas in den Augen des Mannes auf, viel zu kurz, als dass Kai es hätte bemerken können.

"Tun sie das...?" Doktor Wasikowskas Stimme klang keinesfalls verärgert, wie Kai anfangs befürchtet hatte, viel mehr ... neugierig. Dieser Mann konnte doch nicht böse sein ...

"J-ja..."

"Und was denkst du darüber, Kai?"

"Ich denke...", begann er zögernd, "Ich weiß nicht, aber ich glaub nicht, dass Sie mir was tun wollen."
 

Wenig später ging Kai, durchaus erleichtert in sein Zimmer zurück, wo Brooklyn schon auf ihn gewartet hatte.

"Und?", ereilte ihn gleich die bohrende Frage.

"Was und?"

"Na ... du weißt schon!"

"Also ... ich weiß nicht, ich fand ihn nicht gruselig, oder so..."

Brooklyn stöhnte leise auf. "Du bist ja so ein Dummkopf, Kai!"

Der Junge verengte die Augen. "Ich bin überhaupt kein Dummkopf! Du bist nur ein Blödmann, weil du nicht hier sein willst, redest du lauter solche Sachen!"

Brooklyn ließ ein ungläubiges Schnauben ertönen.

"Dann denk doch was du willst!"
 

Danach herrschte erst einmal Funkstille zwischen den beiden Jungen.

Es wurde Abend. Es wurde Nacht.

Und da hörte er zum ersten Mal dieses entsetzlich jämmerliche Weinen.

Ein Kind das schluchzte. Eigenartig. Normalerweise bekamen sie hier doch alle Medikamente vor dem Schlafengehen, damit sie keine Einschlafprobleme hatten und ohne schlechte Träume schliefen.

Mit offenen Augen und pochendem Herzen lag Kai also auf seinem Bett und wagte nicht, sich zu rühren.

Das Weinen, es schwoll an, wurde einen Moment lauter, wie als würde es an seiner Tür vorbeigetragen, dann ebbte es langsam wieder ab. Schritte, die Schritte eines Erwachsenen begleiteten es.
 

Kai schluckte, warf einen Blick zu Brooklyn hinüber, welcher offenbar schlief. Sollte er...? Nein, sie hatten gestritten, er wollte nicht mit dem anderen Jungen sprechen, er fürchtete sich.

So fasste er sich ein Herz und ließ seine Füße aus dem Bett baumeln, rutschte lautlos auf den kühlen Laminatboden. Mit wenigen Schritten war er bei der Tür und presste sein Ohr dagegen. Noch konnte er es in der Ferne hören, doch dann ertönte eine Männerstimme und es verstummte.

Eine Tür knallte.

Stille.

Kai wusste nicht, woher er diesen plötzlichen Mut nahm, aber im nächsten Moment drückte er die Türklinke herunter und spähte in den spärlich beleuchteten Flur. Auf beide Seiten. Die eine Seite zu seiner Rechten lag im Dunkel, auf der anderen drang Licht auf den Gang, welches aus dem Raum der Nachtschwester kam.

Niemand da, der ihn sehen konnte. Gut. Kai schluckte noch einmal.

Die kindliche Neugier, sie war doch eine faszinierende Sache.

Dann lief er eilig den Gang entlang. Nicht etwa in Richtung des Lichtes, sondern in den Teil des Ganges, welcher im Dunklen lag.

Wenn böse Menschen etwas verbergen wollten, dann brachten sie es an Orte, an denen es dunkel war, das war eine für seine kindliche Welt, logische Schlussfolgerung.

Auch, wenn er sich sonst im Dunkeln fürchtete, seltsamerweise machte es ihm gerade jetzt in dieser prekären Situation nichts aus.

Dunkelheit konnte einen nicht nur fressen, sie konnte einen auch verbergen.
 

Kai drückte eine Glastür auf, gegen die er beinahe gelaufen wäre und setzte dann seinen Weg fort.

Es ging nach einer Weile eine Treppe nach unten und eine nach oben. Er lauschte kurz auf die Schritte, die sich schon in weiter Entfernung befanden und wählte schließlich schweren Herzens die Treppe, die nach unten führte.

Bald sah er Licht unter einer Tür hindurchschimmern.

Hier im Untergeschoss befanden sich, soweit er wusste, nur die Sporträume und die Lagerräume, die Therapiezimmer und die der Patienten lagen weiter oben.

Der Teil des Gebäudes hier war nie saniert worden und so waren die Türen noch ein Überbleibsel aus den 20er Jahren, mit großen Loch-Schlössern, durch die man bequem hindurchspähen konnte.

Und Kai machte den Fehler, eben das zu tun.
 

Das was er erkennen konnte war, dass sich mindestens zwei Erwachsene dort im Raum befinden mussten. Die Statur des einen kannte er, aber der andere war ihm fremd.

Ein Kind weinte und Kai glaubte, eines der Mädchen erkennen zu können, mit dem er Gruppentherapie hatte.

Der Junge schluckte. Er hatte Angst.

Warum weinte das Mädchen? Taten sie ihm weh? Sie taten ihm bestimmt weh.

Kai konnte sich nicht von der Stelle rühren. Er wollte mehr sehen, wollte sich vergewissern. Allerdings hatte er Angst, dass die Tür vielleicht knarzen würde, wenn er sie aufdrückte und so verharrte er.
 

"Hör auf zu heulen, Anastasya", erklang die Stimme von Dr. Wasikowska. "Je mehr du dich sträubst, desto mehr wird es wehtun. Du bist doch sonst immer so ein artiges und liebes kleines Mädchen."

Warum kommt denn niemand und hilft ihr?, schoss es durch Kais Gedanken.

Er zuckte zusammen, als er das Klatschen der Ohrfeige hörte. Gespenstisch verklang es, außer ihm gab es keine Zeugen.

Sein Großvater hatte ihn niemals geschlagen, auch wenn Voltaire ansonsten ein sehr strenger Mann gewesen war.

Und vor allem Mädchen schlug man doch nicht.
 

Kai presste die Lippen aufeinander. Was er nun sah, würde er seinen Lebtag nicht vergessen können. Sie zogen dem Mädchen das Nachthemd aus und dann ... steckte einer der Männer seinen Piephahn, der merkwürdig groß war und in die Höhe ragte, was er zuvor noch nie gesehen hatte, in sie hinein und das Mädchen schrie so laut vor Schmerzen, dass man ihr den Mund zuhielt und als der eine Mann fertig war, machte der andere genau dasselbe noch einmal.
 

Kai konnte zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr sagen, wie er es geschafft hatte, unbemerkt in sein Zimmer zurückzukehren.

Das Einzige, was er wusste war, dass er in dieser Nacht keinen Schlaf mehr gefunden hatte und eine Woche später hatte man endlich eine Diagnose für den Zustand des Jungen:

Insomnia.

Schlaflosigkeit. Ausgelöst durch ein traumatisches Ereignis, der Patient musste mehrmals schlechte Erlebnisse im Traum oder vor dem Einschlafen gehabt haben, damit sich das entwickeln konnte. Meist in frühester Kindheit.

Kai bekam, auch als er die Klinik Wochen später verließ, starke Schlafmittel verschrieben, denen er verdankte, dass die Träume fernblieben.

Die Träume und die Schuldgefühle.

Auch, wenn er damals nur ein kleines Kind gewesen war, so wurden sie dafür mit dem Alter zunehmend stärker und als er sich ihrer irgendwann nicht mehr erwehren konnte, begann er das erste Mal, sich selbst zu verletzen um etwas von der Schuld von sich zu nehmen.

Doch Absolution sollte man ihm nicht gewähren.

Das Einzige, was man ihm gab war ein weiterer Aufenthalt in dieser schrecklichen Klinik.

Es wäre ein Einfaches gewesen, einfach den Mund aufzumachen und zu sprechen. Vielleicht hätte Voltaire sogar reagiert und ihn in eine andere Klinik einweisen lassen.

Aber er konnte nicht. Weil er somit auch gleichzeitig seine Schuld hätte preisgeben müssen. Und dafür war er nicht stark genug.
 

Kai war 12 Jahre alt, als er das zweite Mal in jene Klinik zurückkehrte.

Er schluckte schwer, als er mit seiner Tasche durch die Türen trat.

Hier hatte sich nichts verändert. Rein gar nichts. Er hoffte so sehr, dass wenigstens dieser Arzt, dieser schreckliche, grauenhafte Mann nicht mehr hier war, aber diese Hoffnung wurde durch seinen Blick auf das Namensschild an dessen Büro zunichte gemacht.

Kai schloss die Augen kurz und folgte dann dem Pfleger, der ihn auf sein Zimmer brachte.

Diesmal teilte er es sich mit einem Jungen, den er nicht kannte und im Stillen fragte er sich, was wohl aus Brooklyn geworden war. Sie hatten sich komplett aus den Augen verloren, nachdem Kai damals aus der Klinik entlassen worden war.

Dabei fiel ihm auf, dass er gar nicht wusste, was der Grund für dessen Klinikaufenthalt gewesen war.
 

Nachdem er seine Sachen in dem Schrank verstaut hatte, beschloss er, sich ein wenig die Beine zu vertreten. Die Zeiten, in denen er scheu und verängstigt auf seinem Bett saß, waren vorbei.

Vielleicht ging er in den Gemeinschaftsraum und sah ein bisschen fern, wenn nicht so viele andere Patienten da waren. Denn da fühlte er sich seit jeher unwohl, wenn viele fremde Menschen um ihn herum waren und, dass sie krank waren, machte IHN krank.

Es machte einen noch depressiver, wenn man in diese teilnahmslosen und manchmal auch entrückten Gesichter blickte und einfach nichts Lebendiges mehr in ihnen sah.

Natürlich gab es schlimmere und weniger schlimme Fälle, aber, dass sie alle hier drin waren, machte sie gleich.
 

Heute zählte Kai zu den Älteren und es war komisch, diese ganzen Eindrücke in dieser neuen Perspektive auf sich wirken zu lassen. Es war zwar weniger bedrohlich, aber dafür deutlich ernüchternder.

Kai war eine Weile ziellos vor sich hingelaufen, doch plötzlich fiel sein Blick zur Seite und er blieb stehen.

Da war er. Jener Gang, dem er damals gefolgt war, weil er seine Neugier nicht hatte im Zaum halten können.

Kai schluckte. Die Bilder kamen auf einen Schlag wieder hoch. Der Gang, der im Halbschatten dalag wirkte wie das aufgesperrte Maul eines Dämons.

Die Schreie des Mädchens klangen kurz in seinem Gedächtnis wieder.

Kai schüttelte energisch den Kopf und ging schnellen Schrittes weiter.
 

"Du bist ja wieder da, wie ich sehe." Die Stimme hätte ihn fast ins Stolpern gebracht und er sah zur Seite.

Brooklyn hatte sich mit den Ellenbogen auf einer Fensterbank abgestützt und sah hinaus. Er hatte sich nicht umgedreht. Wahrscheinlich hatte er ihn in der Spiegelung gesehen.

Kai schwieg. Er fand erstmal keine Worte.

Brooklyn drehte sich um. Grüne Augen musterten in eindringlich, jedoch nicht unfreundlich.

Zu seiner eigenen Überraschung fand sich Kai im nächsten Moment in einer Umarmung wieder und für einen Moment versteifte er sich, ehe er locker ließ.

"Ich hab dich echt vermisst..."

Nachdem Kai seine erste Verwirrung überwunden hatte, meinte er, "Sag mir nicht, dass du die ganze Zeit..."

Brooklyn lachte.

"Aber Nein. Ich war auch zwischendurch mal draußen, dann in einer anderen Klinik, aber wie es aussieht, zieht es uns immer wieder hier her zurück, was?"

Ein eigenartiges Glitzern erschien in Brooklyns Augen. Und Kai musste zugeben, dass ihm das nicht gefiel.

"Scheint so", meinte Kai nur kurz und wollte dann seinem Drang nachgeben, einfach weiterzugehen und sich aus der Nähe Brooklyns zu entfernen, aber der hielt ihn am Arm fest.

"Kai", sagte er nachdrücklich. "Sie haben nicht aufgehört damit. Wasikowska ist ein Dämon und keiner ... glaubt uns."

Kais Blick verengte sich. "Ich weiß nicht, wovon du redest", zischte er, ohne, dass er über seine Worte nachgedacht hatte und Brooklyn lachte trocken auf. "Du weißt es ganz genau. Ich hab mitbekommen, wie du ihnen damals nachgeschlichen bist. Ganz schön mutig. Ich hab es auch einmal getan. Nur war ich nicht so feige, es für mich zu behalten..."

Da hatte er einen wunden Punkt getroffen.

"Uns glaubt doch eh keiner, das hast du selbst gesagt, was hätte es für einen Unterschied gemacht!", zischte er erbost, machte sich mit einem Ruck aus Brooklyns Griff los und ging ein paar Schritte.

Das musste, wollte, er sich nicht länger anhören.
 

Brooklyn machte ihm einen Stich durch die Rechnung mit wenigen kurzen Schritten war er ihm nachgekommen, hatte ihn gepackt und unsanft gegen die Wand gedrückt, wobei er ihn an den Schultern festhielt.

Seine Augen funkelten wütend und es war irritierend, das zu sehen, früher waren Brooklyns Augen immer sanftmütig und freundlich gewesen.

Nicht so ... kalt.
 

"Verdammt! Begreifst du das denn nicht? Es ist Schicksal, dass wir beide jetzt nach all den Jahren zur selben Zeit wieder hier sind, wir können uns jetzt WEHREN! Die Kleinen können es nicht, wie um alles in der Welt kannst du es mit deinem Gewissen vereinbaren, dass dieses kranke Schwein sich alle Nase lang ein Mädchen oder einen Jungen zu sich holt! Du weißt was er mit ihnen macht! Und er holt sich immer die, die schon von Natur aus zu ängstlich sind, um sich zu wehren oder den Mund aufzumachen. Kai!"
 

Der Silberhaarige hatte den Blick abgewandt, die Hand Brooklyns die ihn bei den Wangen packte und ihn so zwang, diesem wieder in die Augen zu sehen, bohrte sich schmerzhaft in seine Haut.

"Kai", sagte Brooklyn noch mal, diesmal mit gedämpfter Stimme, wobei er sich kurz umsah, ob jemand in der Nähe war, der sie hätte hören können.

"Er ... Ist zu weit gegangen", sagte er leise, "Als du weg warst ... da hat er ... ein Mädchen umgebracht und es wie einen Unfall aussehen lassen. Ich hab es nicht gesehen, aber ich WEIß, dass er es getan hat."
 

In Kai wurde alles eiskalt. In ihm drin schrie eine Stimme, dass ihn das alles nichts anging und, dass er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte, aber andererseits ... Sich von einem Arzt behandeln zu lassen, bei dem er immer den Gedanken haben würde, dass er ein möglicher Mörder war ... Wenn einem jemand so etwas sagte, so ungeheuerlich es auch klingen mochte, einmal ausgesprochen ließ einen so ein Gedanke nicht mehr los.

Er machte sich von Brooklyn los.

"Was willst du denn dagegen tun? Wir sind fast noch Kinder, uns wird eh keiner zuhören und sonst kriegen wir noch Ärger..."

In Brooklyns grünen Augen blitzte es verräterisch auf und wenn Kai zu einem späteren Zeitpunkt zurückdachte, dann erinnerte dieser Blick schon längst nicht mehr an den eines 12-jährigen Jungen. Brooklyn hatte seine Unschuld schon lange verloren.

"Kai ... Weißt du, was er noch getan hat?"

Kai schüttelte den Kopf, wollte es gar nicht wissen.

"Er hat mich gefickt ... und ich will, dass du mir hilfst, mich zu rächen ... und die ganzen anderen armen Seelen, denen es genauso ergangen ist ..."
 

"Wie willst du das machen?", fragte Kai, nachdem sie auf Brooklyns Zimmer gegangen waren, dass dieser momentan alleine bewohnte. Er hatte sich auf ein Bett gesetzt und die Knie angewinkelt, dabei das Kinn darauf abgestützt. Fast so wie früher, als er als kleiner Junge das erste Mal hierhergekommen war.

Brooklyn starrte an die Decke, dann aus dem Fenster. Eine ganze Weile lang.

"Wir töten ihn."
 

Kai war nervös. Nervös war noch untertrieben. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass er diesem wahnwitzigen Plan zugestimmt hatte.

So leichtfertig, konnte man fast sagen.

Vielleicht ... Ja, vielleicht, weil er sich dem armen Mädchen von damals gegenüber unendlich schuldig fühlte?

Vielleicht bekam er dadurch seine Absolution.

Es schauerte ihn, als er die Klinke zu Wasikowskas Behandlungszimmer herunterdrückte. Er hatte jetzt seinen Termin.

Eigentlich. Uneigentlich hatte er etwas ganz anderes im Sinn und es widerte ihn jetzt schon an.

“Hallo, Kai”, sagte der Psychologe freundlich und mit einem Schlag wunderte sich Kai, wie er diesen Mann nur damals so harmlos und fast sogar nett finden konnte? Wenn er ihn ansah, sah er auf den ersten Blick, wie trügerisch, wie falsch und aufgesetzt dessen Miene war. Ihm wurde schlecht.

“Hallo”, erwiderte er tonlos.

“Wie geht es dir, hast du dich gut eingelebt, seit du wieder hier bist?”

“Ja.” Derselbe Tonfall.

“Das freut mich, zu hören. Gibt es etwas Bestimmtes, das du auf dem Herzen hast und das du mir erzählen möchtest?”

Kai zögerte. Er wollte nicht zu berechnend wirken. Er schwieg eine Weile, dann meinte er zögerlich, “Nun, da ... wäre tatsächlich was ... Aber ... Ich weiß nicht, ob ...”

“Du weißt, dass du mir alles anvertrauen kannst, Kai?”, hakte der Arzt nach und rückte seine Brille zurecht, “Aber fühle dich nicht gezwungen, erzähle mir nur das, was du möchtest.”

Kai holte einmal tief Luft.

“Ich ... glaube, ich bin schwul.”

Kaum merklich zuckte die Augenbraue Wasikowskas in die Höhe. “Erzähl mir mehr darüber - wie kommst du zu der Annahme?”

Kai legte sich sorgsam die Geschichte zurecht, die er und Brooklyn sich ausgedacht hatten.

“Nun, ich ... Hab gemerkt, dass wenn die anderen Jungs in meinem Alter über Mädchen reden, mich das überhaupt nicht interessiert und Mädchen fand ich irgendwie schon immer ... naja, langweilig. Also ...” Kai versuchte, verlegen zu wirken, was ihm sogar gelang, da er, und das war eine Tatsache, von der Brooklyn nichts wusste und auch kein anderer Mensch, tatsächlich eine Vorliebe für das eigene Geschlecht hegte.

Es war schon seltsam, etwas vorzutäuschen, was man war, ohne, dass die anderen wussten, dass man es wirklich war.

“Und ich glaube, es ... Es gibt da jemanden ...”

Kai sah bedrückt aus.

Der Arzt ergriff wieder das Wort und er sagte mit beinahe sanfter Stimme, “Das ist nichts, wofür man sich schämen muss, Kai, im Gegenteil. Ich finde es sehr beeindruckend, dass du so offen mit mir darüber reden kannst. Ist dieser Junge in deinem Alter? Wie hast du ihn kennengelernt?”

“Das ist ja das Problem an der Sache, Doktor.”

Er wurde interessiert angesehen und DAS war ihm nun wirklich unangenehm.

“Ich bin nicht normal ... also, ich ... Ich mag keine Jungs in meinem Alter.”

Etwas blitzte in den Augen Wasikowskas auf. “Sondern?”
 

Kai druckste herum, ließ sich bewusst Zeit für seine Antwort um den Schein der Unsicherheit aufrecht zu erhalten.

“Ich glaube ich ... hab mich in einen ... älteren Mann verliebt.”

Kai warf einen scheuen Blick in Wasikowskas Gesicht. Und zu seiner inneren Erleichterung schien diesem das zu gefallen, was er hörte. Er hatte ganz offensichtlich angebissen.

Jetzt durfte er in seinem weiteren Vorgehen keinen Fehler machen.

Der Psychologe lehnte sich auf seinem Sessel nach vorne und stützte die Ellenbogen locker auf den Knien ab. Er war Kai so nahe, dass dieser den gierenden Glanz in seinen Augen sehen konnte.

“Ich ... kann Ihnen das unmöglich sagen ...”
 

Voller Ekel bemerkte Kai, wie Wasikowska ihm mit einer sanften Geste über die Wange strich.

“Keine Scheu, du weißt, ich stehe unter Schweigepflicht.”

“... Sie sind es, Herr Doktor.”

Dabei schlug er die Augen nieder.
 

“Und?” Brooklyn schaute ihn erwartungsvoll an, als Kai in den Gemeinschaftsraum kam, wo sie sich verabredet hatten.

Ein angewiderter Ausdruck zierte sein Gesicht. “Ich weiß echt nicht, welcher Teufel mich da geritten hat, mitzumachen!”, beschwerte sich der junge Russe leise und pflanzte sich neben Brooklyn auf einen, der gemütlichen Sessel, die hier standen.

“Nun sag schon!”, hakte Brooklyn ungeduldig nach und Kai rollte mit den Augen. “Der Kerl ist sowas von pädophil! Ihm wär fast der Geifer aus dem Mund gelaufen.”

“Also haben wir ihn?”

Kai nickte, vermied es dabei aber, Brooklyn anzusehen.

Dieser fasste ihn bei den Schultern, zwang ihn so, ihm ins Gesicht zu sehen. “Kai, du weißt, dass das eine gute Sache ist, was wir vorhaben, oder? Du lässt mich nicht im Stich?”

Widerwillig schüttelte Kai den Kopf. “Nein, ich lass dich nicht im Stich, aber ...”

“Für einen Rückzieher ist es ohnehin zu spät. Hast du ihn irgendwie dazu gekriegt, dass er dich zu sich in diesen Raum holt?”

Abermals ein Nicken.

“Wann?”

“Morgen Abend. Eine halbe Stunde nach der Nachtruhe.”
 

Andreij Wasikowska war bei bester Laune. Zugegeben, er hatte schon damals, als der junge Hiwatari klein gewesen war, ein Auge auf ihn geworfen und eigentlich war er ihm jetzt schon viel zu alt, aber ... Wie oft kam es schon vor, dass jemand wie Kai freiwillig zu ihm kam? Trotz seines Alters war der Junge ein Leckerbissen und, dass dieser von sich aus Anstalten machte, machte die Sache sehr angenehm.

Er hatte heute offiziell schon Feierabend gemacht, als er noch einmal zurückkehrte und sich unbemerkt von der Nachtschwester zu jenem Raum begab.

Seinem Raum. Für den niemand außer er einen Schlüssel hatte.

Sein Raum.

Sein Reich.

In dem er die Macht hatte über all die Kinder die ihre Unschuld verloren.

Er leckte sich über die Lippen, als er die Tür aufsperrte. Er würde Hiwatari schon in die Kunst der Liebe einführen und oh, er würde ihn bis zur Besinnungslosigkeit bumsen. Der Junge würde sich nie wieder etwas anderes wünschen.
 

In Kai drin war es eiskalt, als er das zweite Mal in seinem Leben diesen Höllengang entlang lief. Er hatte es im inneren Höllengang getauft, weil es ihn seinem schlimmsten Alptraum Schritt um Schritt näher brachte.

Es war eiskalt in ihm, weil er wusste, was sie gleich tun würden.

Diesmal würde er nicht vor der Tür stehen bleiben und vorsichtig hinein schmulen. Diesmal würde er nicht angstvoll davon laufen und Augen und Ohren verschließen.

Es gab kein Zurück mehr. Sein Hals fühlte sich rau an, wie Sandpapier, er konnte nicht mal schlucken, ohne, dass ihm die Kehle zusammenklebte.

Er zwang sich zur Ruhe. Schließlich hatte er die Tür erreicht, die ihn von jenem Raum trennte.

Er atmete einmal tief durch. Dann klopfte er. Behutsam, einmal lang, zweimal kurz.
 

Er hörte ein Klicken, als die Tür sich öffnete. Dr. Wasikowska sah ihn wohlwollend an, trat zur Seite, damit er herein kommen konnte.

‘Lass mich jetzt nicht im Stich, Brooklyn’, ging es Kai durch die Gedanken und beinahe atmete er erleichtert auf, als er das leise Geräusch hörte, das davon zeugte, dass sich die Tür nicht komplett schloss und er hoffte inständig, dass Wasikowska nichts davon bemerkt hatte.

Seine Sorge war unbegründet. Der Mann hatte nur Augen für Kai.

Selbiger ließ seinen Blick hektisch im Raum umherschweifen. Viel war hier nicht, aber was hatte er erwartet? Eine Art Neverland-Ranch?

Es schauerte ihn.
 

“Du musst keine Angst haben, ich werde zärtlich sein, Kai.”

Er deutete sein Erschauern völlig falsch und legte ihm, wie er meinte, beruhigend die Hände auf die Schultern, senkte sich herab um ihm einen Kuss auf die Stirn zu hauchen.

Kai roch Tabak. Er musste mit seinen gesamten inneren Dämonen kämpfen, um nicht zu würgen.
 

“Du bist ein wirklich hübscher Junge, Kai.” Die Stimme klang mit einem Mal rau und er dirigierte ihn zu der gewöhnlichen Pritsche, die hier aufgestellt war.

Kai fixierte sie, so sehr, dass ihm die Augen brannten, weil er vergaß zu blinzeln. Versuchte nicht die Hand zu spüren, die ihn mit sanftem Druck führte. Unangenehm lag sie auf seiner Hüfte.

“Doktor...”, sagte Kai und er musste nicht einmal schauspielern, damit seine Stimme zitterte.

Der Mann legte ihm den Finger auf die Lippen, “Schh. Jetzt bin ich nicht mehr Dr. Wasikowska ... mein Name ist Andreij.”
 

Dann presste er ihm auf einmal und unerwartet die rauen Lippen auf und Kai zuckte vor Schreck zurück, so, dass er das Gleichgewicht verlor und mit dem Rücken auf die Matratze fiel.

Der Arzt lachte kurz auf und nahm das zum Anlass sich über ihn zu beugen und sich seinem Hals zu widmen.

Dem schönen, schlanken, weißen Hals.

Das wurde Kai zu viel, wo blieb Brooklyn, hatte er ihn doch allein gelassen? Kai bekam auf einmal Panik und er konnte nicht mehr still halten, als ihm bewusst wurde, dass dieser Kerl ihn gleich vergewaltigen könnte, wenn Brooklyn ihn tatsächlich im Stich gelassen hätte. Er wehrte sich, drehte das Gesicht weg, doch das schien dem Anderen nur zu gefallen.

Ja, Andreij mochte es, wenn sie sich wehrten und bei Kai machte es ihn doppelt an, da er der festen Überzeugung war, es gehöre zu einem kleinen Spiel.

“Nun hab dich doch nicht so”, raunte er und eine Hand schob sich unter Kais Hemd, welcher verzweifelt versuchte, sie daran zu hindern und schließlich ... Abermals küsste er ihn, drückte ihm seine Lippen auf und Kai spürte etwas widerwärtig Glitschiges in seiner Mundhöhle ... Da brannte ihm etwas durch. Scheiß auf Brooklyns Plan, das war doch krank!
 

Mit einer einzigen verzweifelten Gegenwehr biss Kai beherzt zu, als er die Zunge des Mannes in seiner Mundhöhle wusste.

Ließ nicht los. Biss so fest, bis er Blut schmeckte und sich Wasikowska mit einem schmerzerfüllten Aufschrei losmachte. Instinktiv verpasste er Kai einen Schlag, der sich schützend zusammenkrümmte, und wich zurück.

Blut lief ihm aus dem Mund. Er hatte wohl eine Arterie getroffen. Mit einer Art trotzigem Grimm starrte Kai den Mann an und keine Angst, sondern blanke Wut funkelte in seinen Augen.

“Fass mich ja nie wieder an, du krankes Schwein!”, fauchte er und Wasikowska prallte vorerst perplex zurück. Verstand die Welt nicht mehr.

Im nächsten Moment überrollte ihn wieder die Wut und er wollte sich mit einem Schwung auf Kai stürzen, um ihm so den Hals zuzudrücken. Genauso, wie er es bei den anderen gemacht hatte, wenn sie aufmüpfig geworden waren.
 

In seiner Bewegung hielt Andreij Wasikowska plötzlich inne. Riss die Augen auf.

Blutströpfchen spritzten in Kais Gesicht, der das Szenario erstarrt und mit geweiteten Augen beobachtete.

Der Mann gab ein Gurgeln von sich und es klang ganz danach, als würde ein Schwall Blut seine Lunge verstopfen.

In einem verzweifelten Versuch wollte er sich von der Quelle des Schmerzes losmachen, aber die Schwere der Verletzung ließ ihn in die Knie gehen. Er blickte sich um und sah Brooklyn, der soeben das Messer aus ihm herausgezogen hatte.

Blut klebte daran.

Das dunkle Blut, das tief aus dem Innersten eines Körpers kommt.

Brooklyns Blick war kalt und gleichsam voller Genugtuung, dann sagte er zu Kai, "Los, mach du den letzten Stich!"

Damit hielt er ihm das Messer entgegen, doch Kai, schüttelte starr den Kopf, "Na mach schon!", fauchte Brooklyn, ergriff Kais Hand und presste ihm das Messer hinein. Seine Hand schloss er über der des Silberhaarigen, sodass dieser nicht loslassen konnte und wie mechanisch ging Kai mit der Bewegung mit.

Kai kniff die Augen zusammen, doch er spürte es nur allzu deutlich, als das Messer sich durch Fleisch und Rippen bohrte, bis zum Herzen hin.
 

Dann ließ Brooklyn los und Kai ließ das Messer augenblicklich fallen.

Der Mann war in wenigen Sekunden tot.

Schließlich war es still im Raum.
 

"Verdammt, Kai!", schrie Brooklyn plötzlich und packte selbigen bei den Schultern, "Du hast es fast vermasselt!"

In Kais Augen schimmerten Tränen, ihm war unglaublich schlecht und er wollte einfach nur weg hier.

Brooklyn ließ ihn los und hob das Messer auf. Verstaute es sorgsam in seiner Kleidung.

"Los, komm", befahl er und Kai setzte sich, wie mechanisch in Bewegung.

Was danach geschah, daran konnte er sich kaum noch erinnern, es kam ihm alles so unwirklich vor.
 

Wenig später saßen sie in Brooklyns Zimmer. Der hatte Kai gerade eröffnet, dass Wasikowska der Einzige war, der einen Schlüssel zu diesem Raum hatte. Es konnte also noch eine Weile dauern, ehe man ihn dort unten fand.

Kai hörte ihm schweigend zu.

Er sollte seine Kleidung verstecken und bei einem günstigen Zeitpunkt verbrennen. Um das Messer würde sich Brooklyn kümmern.

Es war so einfach.

Sie hatten einen Menschen ermordet.

Einfach so.

Wirklich gut fühlte er sich jetzt allerdings nicht.
 

Sie standen noch immer dort am Wasser. Schweigend. Brooklyn und er hatten sich damals einen Schwur geleistet.

Sie würden dorthin zurückkehren.

Die Leiche des Arztes hatte man erst ganze zwei Monate später gefunden, zu dem Zeitpunkt waren sie beide schon längst entlassen worden.

Daraufhin hatte man die Klinik geschlossen. Und das Gebäude war seitdem auch nie wieder genutzt worden.

Das war nun fast zehn Jahre her.

Brooklyn legte ihm eine Hand auf die Schulter. Eisern und schwer lag sie dort und gleichsam beruhigte es ihn irgendwie.

"Bist du bereit?"

Kai nickte. Brooklyn setzte sich in Bewegung, Kai verharrte allerdings und fügte hinzu, "Da wäre allerdings noch etwas ..."

Brooklyn drehte sich um. "Ja?"

"Warum warst du damals in der Klinik?"

Ein Lächeln umspielte die fein geschwungenen Lippen.

"Borderline."

V

Mit pochendem Herzen lauschte Rei auf das Freizeichen. Er wusste nicht ganz, warum genau er so nervös war; War es eher, weil er sich erhoffte, dass niemand abnahm und sich diese Spur im Sand verlief und er dann innerlich wenigstens mit dem Gedanken ruhen konnte, alles versucht zu haben, oder war es mehr der Gedanke an das, was er vielleicht zu hören bekommen und ihm das nicht gefallen könnte?

Er konnte es nicht genau sagen.
 

Es hatte ein paar Mal getutet und Rei hatte, beinahe erleichtert, schon wieder auflegen wollen, als plötzlich ein Klicken am anderen Ende der Leitung zu hören war, woraufhin eine Frauenstimme ertönte.

"Iwanova?" Definitiv Russisch.

"Ähm ...", begann er und die Nervosität machte sich wieder breit. Er hätte sich vorher überlegen sollen, was er sagen wollte.

"Hallo?"

Rei atmete einmal tief durch, dann antwortete er, "Hallo, mein Name ist Rei Kon, bitte entschuldigen Sie, wenn ich Sie belästige, aber ... Kenn ... Kennen Sie einen Kai Hiwatari?"

Kurze Stille. "Wer sind Sie?", wollte die Stimme misstrauisch wissen.

Aha. Sie kannte ihn also definitiv.

"Ich ... bin ein ... enger Freund und er ... Es geht ihm nicht besonders gut. Sie sind eigentlich der einzige Anhaltspunkt, den ich habe ...", gab er hilflos zu und fuhr sich durch die Haare. Eine Eigenart von ihm, wenn er nervös war.

Die Frau schien kurz zu überlegen. "Ja ... Ja, ich erinnere mich an einen Kai Hiwatari ... Das ist aber schon wirklich sehr lange her ..."

Wieder ein aufgeregtes Pochen. Sie kannte ihn. Wusste vielleicht sogar über das Bescheid, was ihn krank gemacht hatte?

"Können ... Sie mir irgendetwas erzählen? Ich ..."

"Nicht am Telefon. Es wäre besser, wenn wir uns treffen. Mein Mann und ich wollten morgen in die Stadt fahren und ein paar Besorgungen machen, ich bin sicher, dass ich eine Stunde erübrigen könnte ..."

Reis Miene hellte sich auf. "Das wäre wundervoll, Sie wissen gar nicht, was für einen Gefallen Sie mir damit tun!"

"Freuen Sie sich nicht zu früh - das was Sie vielleicht zu hören bekommen, wird nicht unbedingt angenehm sein.“
 

Sie musste um die 35 sein, stellte Rei fest, als er sie sah. Sie hatte rot gefärbtes Haar und war stark geschminkt. Außerdem trug sie viel Goldschmuck, stilvoll, nicht billig. Typisch die Art der russischen Frauen.

Ganz leichte Fältchen hatte sie um die hellblauen Augen und als sie ihn erblickte, blitzte es kurz in ihnen und sie trat einen unsicheren Schritt auf ihn zu.

"Natalia Iwanova?", fragte Rei unsicher. Sie nickte und er streckte ihr seine Hand hin. "Ich danke Ihnen noch einmal für Ihr Kommen", sagte er dezent.

"Keine Ursache ... Gehen wir doch in das Café dort vorne. Bei einem heißen Tee lässt es sich besser reden."

Rei stimmte zu und wenige Augenblicke später studierte er die Karte, bestellte sich dann Yasmintee.
 

Sie spielte einen Moment mit den Ringen an ihren Fingern, dann sah sie ihn an. "Sie müssen verzeihen, wenn ich noch einmal fragen muss, wie Sie überhaupt an meine Nummer gekommen sind ...?"

"Purer Zufall. Ich hab sie beim Aufräumen auf einem Zettel gefunden", antwortete Rei wahrheitsgemäß. "Ich weiß auch nicht, aber ich bin ... momentan ziemlich verzweifelt."

Der Chinese beschloss einfach, alle Karten auf den Tisch zu legen.

"Kai spricht kaum mit mir, dabei merke ich, dass ihm irgendetwas fehlt. Und Sie waren die einzige Person, die möglicherweise mit seiner Vergangenheit in Verbindung zu bringen ist. Ich will ihm helfen ..."

Sie schwieg eine kurze Weile. "Lieben Sie ihn?"

Rei sah verblüfft auf. Er hatte doch keinerlei Andeutung in dieser Richtung gemacht.

"Schon gut", antwortete sie, "Ich bin in einer sehr toleranten Umgebung aufgewachsen. Außerdem sieht man es Ihnen an der Nasenspitze an. Entschuldigung, ich wollte nicht ablenken. Was ... Was fehlt Kai denn genau?"
 

Rei begann zu erzählen. Erst zögernd, immerhin war die Frau vor ihm nach, wie vor eine Fremde, doch schließlich ... Schließlich platzte alles aus ihm heraus. Er redete und redete und vergaß daraufhin fast die Zeit.

"... So, das ... ist momentan der Stand der Dinge", schloss Rei irgendwann und nahm einen Schluck von seinem, inzwischen lauwarmen Kaffee.

Natalia hatte ihm sehr ernst zugehört. Nahm dann ebenfalls einen Schluck von ihrem Tee.

"Sie ... wissen, dass Kai vor zehn Jahren mal in einer Psychiatrie war?"

Er riss die Augen auf. "Nein, das wusste ich nicht!"

Sie lächelte mit schmerzhaftem Gesichtsausdruck. "Ich war zu der Zeit Krankenschwester in jener Klinik. Als er das erste Mal zu uns kam, war er gerade Mal fünf, hatte seine Eltern verloren, aber das mit dem Unfall wissen Sie sicher?"
 

Rei nickte. Das zumindest hatte Kai ihm erzählt.

"Ich erinnere mich, als wär es gestern gewesen ... Ich hatte damals gerade meine Lehre abgeschlossen und in dieser Klinik eine Stelle bekommen - Sie müssen wissen, es war schon immer ein Traum von mir mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten ... Er wirkte so unglaublich verloren und alleine gelassen ... Er hat kaum gesprochen und ich hab immer wieder versucht, ihm mal eine kleine Freude zu machen, ihn aus seiner Muschelschale zu locken ... Ab und zu ist mir das auch gelungen, aber meistens hatten ich und das andere Pflegepersonal es schwer. Ich hab mich wirklich gefreut, als er sich mit dem kleinen Brooklyn angefreundet hat-"

"Brooklyn Masefield!?", warf Rei verblüfft ein.

"Ja - Sie kennen ihn?"

"Er ... ist Blader, ein sehr bekannter sogar ...", murmelte Rei fassungslos. Kai hatte nie erwähnt, dass er Brooklyn noch von früher kannte.
 

Irgendwie fühlte es sich, je mehr erfuhr, immer stärker so an, als wäre er mit einem vollkommen fremden zusammen.

"Ich weiß nicht genau, was passiert ist", fuhr Natalia fort und runzelte nachdenklich die Stirn. "Aber an einem Tag war er wie ausgewechselt. Er war immer ein stiller, zurückhaltender Junge, müssen Sie wissen, aber plötzlich schrie und weinte er nachts so heftig, dass die Medikamentendosis erhöht werden musste und eine Woche später ungefähr hatten wir auch endlich die Diagnose ..."

Rei schaute sie erwartungsvoll an.
 

"Ich weiß nicht, ob ... Nunja, andererseits existiert diese Klinik nicht mehr, ich bin nicht mehr dort angestellt und- Also, seit meinen letzten Informationen hatte Kai ... Er war manisch depressiv und litt an dieser chronischen Schlafstörung - Insomnia. Keine schöne Sache, besonders, wenn diese beiden Erkrankungen miteinander einhergehen ..."
 

In Reis Hals bildete sich ein Kloß. Das klang sehr ernst. Über manische Depressionen hatte er neulich etwas mehr gelesen, aber die andere Krankheit war ihm fremd.

"Die ... Die Klinik, warum wurde sie geschlossen?", fragte Rei, nur um etwas zu sagen.

"Der Oberarzt, Andreij Wasikowska wurde eines Tages ermordet aufgefunden. Niemand weiß, wer es war, geschweige denn, wie es dazu gekommen ist. Es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt. Allerdings ..." Ihr Blick wurde mit einem Mal sehr betrübt und traurig. "Hätte es wohl so viele gegeben, die ... Ein Motiv gehabt hätten ..."

"I-ich verstehe nicht ..."

Natalias Augen wurden plötzlich feucht und sie zückte ein Stofftaschentuch um sich die Tränen aus den Augenwinkeln zu tupfen.

"Man ... Also er ... Er tat dort schreckliche Dinge mit den Kindern ... Unter unser aller Augen und keiner hat es gemerkt ... Wir wissen nie, wie vielen er Gewalt angetan hat, aber ... Allein das Wissen hat ausgereicht, um sich unendlich schuldig zu fühlen. Ich sah mich danach nicht mehr fähig, weiterzuarbeiten und hab daraufhin gekündigt, noch ehe die Klinik geschlossen worden ist."
 

Rei war aschfahl geworden. Diese Information musste er erst einmal sacken lassen. Es war ein Schock und mit Entsetzen stellte er fest, dass das vielleicht der Grund war, warum Kai nie mit ihm gesprochen hatte. Scham.

Hatte man seinem Freund etwa auch so etwas Schreckliches angetan? War er einer von ihnen?

Seine Hände ballten sich unter dem Tisch zu Fäusten. Allein bei dem Gedanken daran, wurde ihm ganz schlecht und noch schlimmer die Tatsache, dass dieser furchtbare Mann niemals vor dem Gesetz dafür belangt werden würde.

Eine Vergewaltigung, das war eines der schlimmsten Dinge, die man einem anderen Menschen antun konnte.

Hoffentlich schmorte dieser Bastard in der Hölle.
 

Natalia setzte an, noch etwas zu sagen, als plötzlich ihr Handy klingelte. "Augenblick", sagte sie und ging dran.

"Das war mein Mann", sagte sie wenig später, "Es tut mir wirklich leid, aber ich muss jetzt langsam los, er wird schon ungeduldig."

Sie lächelte kurz, dann schien ihr noch etwas einzufallen und sie kramte in ihrer Handtasche. Kurz darauf zog sie eine Visitenkarte heraus und reichte sie Rei.

"Hier, da stehen auch meine Handynummer und die Emailadresse drauf, wenn ... Wenn ihr irgendwelche Probleme bekommt, bitte lasst es mich wissen, ja? Ich will helfen, wo ich kann, vor allem, weil ich es damals nicht gekonnt habe."

Daraufhin verabschiedete sie sich und ließ Rei alleine mit seinen Gedanken zurück.
 

Der junge Chinese saß noch eine ganze Weile in dem Café und dachte nach.

Diese ganze Informationsflut, das reichte erst mal für ein Leben.

Draußen wurde es langsam dunkel, aber Rei scheute sich irgendwie nachhause zu gehen. Was, wenn Kai schon zuhause war?
 

Rei hatte absolut keine Ahnung, wie er nun mit Kai umgehen sollte. Er empfand einerseits unendlich tiefes Mitgefühl mit seinem Freund und andererseits auch Enttäuschung darüber, dass dieser ihn nie ins Vertrauen gezogen hatte. Dann kam er sich schlecht vor, weil er glaubte, es stünde ihm nicht zu, enttäuscht und verletzt zu sein, wo Kai so etwas hatte durchmachen müssen.

Allerdings war da auch noch Wut. Wut auf sich selbst: Weil er nicht früher die Initiative ergriffen hatte.

Zwar war es nur Zufall, dass er Natalias Telefonnummer gefunden hatte, aber trotzdem. Er hätte schon reagieren müssen, als er Kai damals aus dem Krankenhaus nachhause gebracht hatte.

"Ich bin so ein Idiot", fluchte er leise und beschloss, sich nun doch langsam auf den Heimweg zu machen.

Er zahlte und verließ das Café. Es war kalt. Der Sommer war bereits in den Herbst über gegangen und so angenehm mild die Tage noch waren, so kalt waren bereits die Nächte.

Vielleicht sollte er Kai vorschlagen, dass sie die Wintermonate über in China verbrachten, bei seiner Familie, die hatte er nämlich auch schon lange nicht mehr gesehen.
 

Ärgerlich schüttelte er im nächsten Moment den Kopf. Das war so typisch, wenn er um eine Entscheidung rang, wandten sich seine Gedanken automatisch solchen trivialen Dingen zu.
 

Auf dem Heimweg blieb Rei an einem Zigarettenautomaten stehen. Kai rauchte. Er hatte es immer gehasst, aber ganz plötzlich hatte er richtige Sehnsucht nach einem Glimmstängel.

Verrückt, Sehnsucht nach etwas zu haben, was man noch nie zuvor ausprobiert hatte.
 

Rei verzog das Gesicht, als er den Rauch gleich beim ersten Versuch in die Lunge sog. Es schmeckte bitter, aber wirkte irgendwie ausfüllend. Und das Ausatmen, es war fast entspannend.

Er lehnte sich kurz an die Mauer neben dem Automaten und spielte mit der anderen Hand gedankenverloren mit dem Streichholzheftchen, das schon seit Monaten in seiner Tasche gelegen hatte und nun endlich zum Einsatz gekommen war.
 

"Kai", flüsterte er in die Nacht. Er hatte es noch ein Stück nachhause, so stieß er sich nach ein paar Minuten von der Wand ab und trat den Heimweg an.

Rei hätte auch mit der Straßenbahn fahren können, aber das ging ihm zu schnell. Er wollte lange brauchen, damit er Zeit zum Nachdenken hatte, wie er am besten mit Kai sprach.

Lief aber dennoch weiter, weil er vor sich selbst nicht als Feigling dastehen wollte, der vor einer Konfrontation davon lief. Wobei Kai eigentlich derjenige war, der davon lief, wenn man es so betrachtete, allerdings ... Jetzt konnte er es ihm nicht mehr verdenken.

Und wer weiß? Vielleicht hoffte der Russe im Inneren ja sogar, dass Rei einfach WUSSTE, was mit ihm los war, ohne, dass sie den Umweg über die Sprache nehmen mussten.

Komplizierte Situation. Wie ging man mit einer Sache um, die man eigentlich nicht wissen durfte, die es einem aber auch unmöglich machte, so zu tun, als hätte man nie von ihr erfahren?
 

Kai selbst kam erst spät an diesem Abend wieder. Es war seltsam gewesen, das alte verlassene Gebäude so zu sehen. Es waren noch nicht genug Jahre ins Land gezogen, als dass man von Verfall sprechen könnte, aber seitdem hatte man sich auch nicht mehr großartig um die Instandhaltung gekümmert. Sie hatten sich heimlichen Zutritt verschafft.

Sich die Orte von damals angesehen.

Nie zuvor hatten sie über das gesprochen, was sie damals getan hatten.
 

"Würdest du es wieder tun?", fragte Kai und Brooklyn wusste natürlich genau, was 'es' war.

Er zögerte ein wenig. "Ich bereue es nicht, wenn du das meinst", murmelte er. "Aber der andere Schweinehund ist davon gekommen."

"Welcher andere?"

"Der Pfleger, der Wasikowska gedeckt hat."

Kai hatte Brooklyn nicht angesehen, als er gefragt hatte: "Willst du ihn etwa auch umbringen?"

"Er hat es verdient", hatte Brooklyn eiskalt gesagt, "Aber ... Ich weiß nicht, wer er ist. Er war damals nicht da, als ..." Sein Blick war verbittert geworden.

"Weißt du, vielleicht ... wäre es besser, wenn wir uns stellen ..."

"Auf keinen Fall!"

"Brooklyn, wir waren damals erst 12, nicht schuldfähig und wahrscheinlich auch nicht zurechnungsfähig! Ich meine, wenn man bedenkt, WO wir waren."

Brooklyn zog eine Augenbraue hoch. "Kai, du warst doch derjenige, der immer davongelaufen ist, oder? Woher plötzlich dieser Sinneswandel?"

"Mag sein", sagte der Russe eiskalt, "Aber mittlerweile merke ich, dass ich damit vielleicht hätte abschließen können, wenn ich es nicht getan hätte. Vielleicht wäre ich heute gesund und müsste mich nicht mit dieser Scheiße herumschlagen."
 

"Ach. Willst du es tatsächlich riskieren, lebenslang ins Gefängnis zu kommen? Verdammt, das was wir getan haben, war nicht falsch!"

Brooklyn traten Tränen in die Augen, was Kai verblüffte, allerdings mit unbewegter Miene registrierte.

In diesem Moment sah er Brooklyn in einem anderen Licht.

Er sah nicht mehr den rachsüchtigen Irren, der ganz in seiner Selbstjustiz aufging.

Er sah den kleinen Jungen, dem damals niemand zugehört hatte. Außer ihm. Mit einem Mal verstand er, warum Brooklyn ihn nie hatte loslassen können.

Weil er der Einzige war, der ihm je geglaubt hatte.

Er fühlte einen leichten Stich.

Schuld.

Mal wieder.
 

Kai ließ seine Tasche fallen, als er die Wohnung betrat. Es war fast zehn Uhr abends. Eigentlich noch keine Uhrzeit.

Aus dem Wohnzimmer drang das Geräusch des Fernsehers.

Langsam trat er ins Zimmer rein, vorerst ohne von dem anderen bemerkt zu werden.

Plötzlich fiel sein Blick auf etwas, das ihn die Stirn runzeln ließ. Ein Päckchen Zigaretten, es lag auf dem Couchtisch. Und seine waren es definitiv nicht, denn er rauchte keine Marlboro. Nur Luckys.

Wortlos setzte er sich dann zu Rei aufs Sofa.

"Hey", erwiderte dieser und schenkte ihm ein Lächeln.

Täuschte er sich oder wirkte Rei irgendwie unsicher?

"Hey", erwiderte Kai, "Kannst du mir das vielleicht erklären?" Ein Seitenblick dabei auf das Zigarettenpäckchen.

Rei schaute ihn mit einem komischen Blick an, dann fasste er mit beiden Händen seitlich an Kais Hals, sodass er mit dem Daumen sanft die Wangen liebkosen konnte.

Er zog ihn zu sich und küsste ihn zärtlich auf die Lippen, lehnte dann seine Stirn gegen Kais.

Selbiger murmelte leicht, "Okay, hast du dir wieder irgendeinen melancholischen Film angeschaut, oder was?"

"Nein, du Dummkopf ... Ich ... Auch, wenn du das jetzt wieder für schmalzig hältst, ich wollte dir sagen, dass ich, egal, was sein sollte, immer für dich da bin. Du kannst mit mir über alles reden, das weißt du doch, oder?"

Kai wirkte sichtlich verwirrt. Er hob nun selbst die Hand um Reis von sich weg zu zupfen, dann sah er ihm in die Augen.

War das Besorgnis, die sich in dem matten Goldbraun widerspiegelte? Melancholie? Oder Unsicherheit? Irgendwie erschien es ihm, wie eine Mischung aus allem.

Und es gefiel ihm nicht. Rei strahlte immer Stärke aus. Sein Sternzeichenelement war die Erde und es passte so sehr. Bodenständig, mit beiden Beinen im Leben und immer das Wesentliche im Sinn. Der Fels in der Brandung.

Aber jetzt ... Jetzt wirkte er irgendwie anders.

Rei wich im nächsten Moment seinem Blick aus, Kai hatte ihn unbewusst intensiv gemustert.

Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in dem jungen Russen aus. "Stimmt irgendetwas nicht?", fragte er, nachdem er einmal tief Luft geholt hatte.

Nach dem heutigen Tag konnte er es gerade noch brauchen, dass er Stress mit Rei bekam.

Rei antwortete nicht sofort. Dann sagte er langsam:
 

"Gibt es da ... Eigentlich gar nichts in deinem Leben, das du mir bis jetzt verschwiegen hast? Über das du mit mir vielleicht reden möchtest?"
 

Kai fühlte sich plötzlich so, als habe ihm jemand einen Beutel Eis in den Magen gekippt. Wusste Rei davon? Wie um alles in der Welt hatte er davon erfahren? Das ergab doch keinen Sinn!

Es sei denn ... Brooklyn hatte ihn irgendwie informiert, aber das war unlogisch, denn dadurch hätte der sich auch selbst belasten müssen.
 

Kai schluckte schwer und entgegnete dann betont gleichgültig: "Ich weiß nicht, was das sein könnte."

Rei wirkte verletzt, auch, wenn er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und Kai biss sich auf die Unterlippe. Jetzt hatte er ein schlechtes Gewissen.

"Ich hab die Telefonnummer von Natalia Iwanova gefunden."

Kais Augen weiteten sich, vorbei war es mit der Selbstbeherrschung.

"Wo ... hast du die her?", fragte er mit zitternder Stimme, wobei er nicht sagen konnte, ob sie ihm vor Wut zitterte, oder vor Angst, was Rei vielleicht erfahren haben könnte. Denn er wusste, dass er den Namen der Frau definitiv nicht mit auf den Zettel geschrieben hatte.

Allerdings konnte er seine Frage im nächsten Moment selbst beantworten. Kais Augen verengten sich, "Du hast in meinen Sachen herumgeschnüffelt!", grollte er erbost. "Wie kommst du eigentlich dazu?"

Unbewusst war er aufgesprungen, funkelte Rei nun wütend an, welcher sich seinerseits nun auch erhob. Es war immer angenehmer mit seinem Gegner auf Augenhöhe zu sein.
 

Rei, sich seiner Schuld durchaus bewusst seiend, tat dennoch das Erste, was einem Menschen in der Situation der Beschuldigung als Erstes einfiel. Er verteidigte sich.

"Na hör mal, du hast mir doch keine Wahl gelassen!", schnappte er.

Kai schnaubte und Rei fügte hinzu, "Weißt du eigentlich, was das für ein scheiß Gefühl ist, zu wissen, dass mit dem Menschen, den man liebt irgendetwas nicht stimmt und man Tag um Tag mit ansehen muss, wie der leidet und sich selbst zerstört und man weiß einfach nicht WARUM? Du redest ja nicht mit mir!"

"Das gibt dir noch lange nicht das Recht in meinen persönlichen Dingen herumzuschnüffeln!", knurrte Kai als Gegenantwort und versuchte die leichte Schuld, die sich ihm schon wieder aufzwang zu verdrängen.

"Du denkst immer nur an dich!", platzte es mehr als verärgert aus Rei heraus. "Ich frag mich langsam, was ich dir eigentlich wert bin, dass du mir nie etwas anvertraust! Ich sehe dich jeden Tag und plötzlich stelle ich fest, dass ich dich eigentlich gar nicht kenne, weil du mich einfach total aus deinem Leben ausschließt!"

Kai schnappte nach Luft. Man konnte Dinge auch verdrehen und das war sicher nie seine Absicht gewesen.

"Ist dir eigentlich schon mal der Gedanke gekommen, dass ich dich vielleicht nicht damit belasten will?", fauchte er.

Rei fuhr sich durch die Haare, begann erregt auf und ab zu gehen. Kai folgte ihm dabei mit den Augen.

"Warum will das eigentlich nicht in deinen verfluchten Schädel rein, Hiwatari, es belastet mich tausendmal mehr, nicht zu wissen, was eigentlich LOS ist mit dir. Oh warte. Ich weiß es. Sie hat es mir gesagt. Weißt du eigentlich, wie verdammt TRAURIG das ist, dass ich erst eine fremde Frau fragen muss, was mit meinem verdammten Freund los ist!?! Ich hab mich sehr wohl mies gefühlt, glaub mir, aber ich nehm' deinen Zorn gerne auf mich, wenn ich dafür weiß, wie ich mit dir umgehen soll, was dich belastet, denn dann kann ich wenigstens nach einer Möglichkeit suchen, dir zu helfen! Das ist nun wirklich das geringere Übel!"
 

Kai war erstarrt. Plötzlich war alle die Wut aus ihm entwichen, wie die Luft aus einem Luftballon und machte einem Ringen um Fassung Platz.

"Was hat sie dir erzählt ...?"

"Alles."
 

Kai öffnete den Mund um etwas zu sagen, schloss ihn aber, weil er nicht wusste, was.

Sein Geheimnis war nun kein Geheimnis mehr. Er wusste gar nicht, was er jetzt tun, sagen sollte.

Es war, wie es war.

Drückende Stille herrschte einen Moment zwischen den beiden.

Kai fühlte sich schwach. Und müde. Unglaublich müde.

Er ließ sich auf die Couch sinken. Stützte die Unterarme eine Weile auf den Oberschenkeln ab und starrte ins Leere. Dann fischte er nach dem Zigarettenpäckchen und zündete sich eine an.
 

Und dann ... Kai wusste nicht, was es war, dass plötzlich die Dämme brachen, die Hemmungen fielen. Er wusste nur, dass er es nicht länger für sich behalten wollte.

Und so begann er, zu erzählen.
 

Am Ende hielten sie sich einfach nur still in den Armen. Die Verbundenheit war stärker, als jemals zuvor und Kai fasste einen Entschluss.

Er würde sich stellen. Das war das Richtige. Vielleicht würden sie ihn sogar nicht weiter belangen, da er damals noch ein Kind gewesen war.

Alles würde gut werden. Das wurde es doch immer irgendwie.
 


 

„Die Wege der Menschen deuten ein bestimmtes Ende voraus,

auf das sie hinführen, wenn man auf ihnen beharrt.

Aber wenn man von den Wegen abweicht, ändert sich auch das Ende.“
 

('A Christmas Carol', Charles Dickens)

VI

Kai sollte Recht behalten. Man hatte ihn davon kommen lassen. Die einzige Auflage, die man ihm erteilt hatte, war, sich wieder in psychiatrische Behandlung zu begeben und alle drei Monate dem Gericht einen Nachweis über seinen psychischen Zustand vorzulegen.

Alles in Allem hätte es wesentlich schlimmer kommen können. Und er fühlte sich befreit.

Unendlich befreit.

Seine Beziehung mit Rei sollte sich bald wieder festigen, das Vertrauen, auch, wenn es angeknackst war, würde langsam wieder heilen.

Was allerdings nicht heilen würde, waren die Wunden, die Brooklyns Dämonen in seinem Herzen gerissen hatten.

Kai hatte versucht, den Kontakt aufrecht zu erhalten. Für eine Weile. Es hatte sich im Sand verlaufen und Kai wusste eine ganze Weile nicht, was aus Brooklyn geworden war.
 

Irgendwann erhielt er eine Karte. Sie hatte kein besonders hübsches Motiv, war wohl eine Zugabe aus irgendeiner Zeitschrift gewesen.

Nur ein kurzer Satz war darauf vermerkt, keine Unterschrift, kein Absender. Aber Kai hatte kurz lächeln müssen.

Brooklyn war noch nicht verloren. Er hoffte nur, dass er endlich an einen Ort kam, wo man ihm wirklich half.

Wo man ihm nicht mehr weh tat und seine Seele heilen konnte.
 

Vielleicht würde Kai irgendwann herausfinden, was das für ein Ort war.
 


 


 

'Ich danke dir, Kai ...'



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Von:  man-chan89
2012-02-01T20:10:41+00:00 01.02.2012 21:10
hey :)
also mir fällt eigentlich nur ein wort ein: WOW!!
bis jetzt hab ich noch nie so eine art ff gelesen - lese eigentlich nur schöne, romantische storys, aber keine ahnung warum - ich musste diese ff anklicken und fing an sie zu lesen... und irgendwie konnte ich einfach nicht mehr aufhören...

die storys war einfach nur spannend, aufregend, bewegend,.... einfach klasse!

und das ende war auch sehr schön - vor allem das mit der karte :)

weiter so :)
lg
manchan
Von:  Tales_
2011-09-16T20:22:03+00:00 16.09.2011 22:22
Huhu,
also es ist echt schockierend was Kai da erlebt. Aber es war richtig sich endlich damit zu befassen und sich auch der Polizei zu stellen.

Eine schöne traurige Story :D
Lg Shanti

Von:  Tales_
2011-09-16T20:21:43+00:00 16.09.2011 22:21
Huhu,
ob das gut geht?
Bin ja mal gespannt was Broocklyn genau will, so ne Ahnung hab ich schon…
Konnte immer noch keine Schreibfehler usw. erkennen ;) Top
Gruß Shanti

Von:  Tales_
2011-09-16T20:20:58+00:00 16.09.2011 22:20
Hi,
nun ist also zumindest ein kleiner Teil davon gelüftet warum Kai das gemacht hat. Rei tut mir leid, ich wüsste nicht wie ich mit so einer Situation umgehen sollte.
Freu mich schon aufs nächste Kapi ;)
Lg Shanti

Von:  Tales_
2011-09-16T20:20:33+00:00 16.09.2011 22:20
Hi,
der Prolog hat mir schon mal sehr gut gefallen 
Dieses Paar ist noch Neuland für mich und ich freue mich jetz schon darauf mehr zu lesen ;)
Ich will unbedingt wissen was Kai so fertig macht…
Lg Shanti

Von:  Finvara
2011-06-20T10:53:06+00:00 20.06.2011 12:53
Bin ich froh, dass die Ff zu Ende ist. Sie war so verstörend.
Mir gefällt das Ende, auch wenn ich nicht immer an ein Hapy-End geglaubt habe, passt es einfach n ur.
Ich freue mich für Kai und Rei. Es geht ihnen gut, die Liebe hält. obwohl die Sache klar warm, nachdem letzten kapitel.

Noch viel schöner ist die Erleichterung, das es Brooklyn wohl auch gut geht und sich jemand seiner annimmt und ihm hilft. Viuelleicht trifft er eines Tages noch einmal auf Kai und die beiden können reden.
Von:  Finvara
2011-06-20T10:48:39+00:00 20.06.2011 12:48
Das Kapitel war unglaublich toll.
Ich mag die Krankenschwester, Natalia, glaube ich. Ebenso mag ich es, dass du sie noch mal auftreten lässt und das der Leser auch etwas über sie erfährt. Ich mag sie, irgendwie.

Rei ist unglaublich mutig, dass er sie anruft, und auch, dass er Kai so offen anspricht. Im Grunde hatte er keine andere Möglichkeit, aber es ist trotzdem mutig.
Kais reaktion, das er wütend ist, ist verständlich, aber es ist gut, dass er bleibt. Ich habe das erste Mal wirklich das Gefühl, alles wird gut, weil die Liebe zwischen den beiden so spürbar ist, so echt ist. Ein wunderschönes Gefühl.

Ich habe Mitleid mit Brooklyn. Er tut mir einfach nur Leid, und ich hoffe das beste für ihn.

Das Zitat finde ich unglaublich schön und sehr passend, ebenso wie das Ende.
Ich hoffe, Kai wird irgendwann von seiner Schuld befreit und kann glücklich werden.
Von:  Finvara
2011-06-20T10:34:27+00:00 20.06.2011 12:34
Verstörend.
Mehr fällt mir gerade nicht ein. Der Mord an dem Doktor, wie du die Gefühle beschreibst, einfach verstörend.
Und dabei so grandios. Ich komm nicht dran vorbei mit zu fiebern, zu zittern, Angst zu haben.
Du machst das wirklich gut.

Auch wie du Kai darstellst als Kind. Das ist einfach niedlich. AUch das Brooklyn sein Zimmergenosse ist, finde ich gut. Es passt zusammen, irgendwie.
Ich finde es toll, dass Klinik irgendwie immer wieder zum Treffpunkt der beiden wird. Das hebt die Bedeutung hervor, die diese Klinik im Leben der beiden hat.
Von:  lawless
2011-06-02T21:21:51+00:00 02.06.2011 23:21
Du beschreibst die Situationen einfach immer so detailiert, dass sich sofort ein Bild im Kopf zusammensetzt. Auch wie Ray, als Nichtraucher, plötzlich Verlangen nach einer Zigarette hat, ist vollkommen verständlich. Ebenso ist diese kleine, liebevolle Geste, die Ray Kai schenkt ist einfach wunderschön zu lesen!

Verdammt schade, dass das Kapitel nur so kurz war. Dafür war es kurzweilig, bewegend und unterhaltsam.
Die Liebe zwischen ihnen wieder zu spüren ist für mich, als Leser, unheimlich befriedigend.
Von:  lawless
2011-06-02T20:58:11+00:00 02.06.2011 22:58
Oh~ Zum Schluss wurde es ja noch mal wirklich rührend. Ich bin immer angetan von einem Happy End, besonders wenn ich zu Anfang der Geschichte nicht davon überzeugt war.

Wie die Anderen schon sagten:
Einfach eine tolle, spannende, bewegende, anrührende Geschichte.
Weiter so!


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