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Insomnia

Wenn die Angst dir den Schlaf raubt
von

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IV

"Kai, es ist nur zu deinem Besten, das verstehst du doch, oder?"

Der fünfjährige Junge presste die Lippen aufeinander. Er antwortete nicht. Seit er als einziger den Autounfall überlebt hatte, den er mit seinen Eltern gehabt hatte, lebte er bei seinem Großvater.
 

Das war nun etwa ein halbes Jahr her und kaum, dass er in das Anwesen des alten Mannes eingezogen war, hatten die Alpträume begonnen. Am Anfang war es noch einigermaßen auszuhalten gewesen, aber mit der Zeit war es immer schlimmer geworden.

Anfangs war er nachts nur aufgewacht, mit pochendem Herzen, konnte aber auch genauso schnell wieder einschlafen, aber dann waren es irgendwann seine Schreie gewesen, die ihn hatten erwachen lassen, die Schatten an den Wänden seines Zimmers hatten begonnen, sich zu bewegen, hatten sich in Fratzen verwandelt, die ihn zu verschlingen drohten.

Kai wirkte irgendwann nur noch wie ein Geist; Fahle Haut, trüber Blick und ungesunde Augenringe. Er weigerte sich zu essen, wenn er etwas aß, dann übergab er sich kurz darauf wieder und immer diese Schreie... Jede Nacht diese Schreie und das Geräusch von berstendem Metall.

Mittlerweile zehrte es so sehr an Voltaires Nerven, dass er es einfach für das Beste hielt, den Jungen in die Obhut von jemandem zu geben, der mehr davon verstand.

Das Kind war gestört, hatte einen Knacks davon getragen seit dem Unfall und inzwischen war er einfach an seine Grenzen gestoßen. Zumal er wirklich Besseres zu tun hatte, als einen Fünfjährigen davon zu überzeugen, dass die offene Schranktür nicht das Tor zur Monsterwelt war.
 

Der alte Mann hatte seine Sekretäre nach der besten Einrichtung suchen lassen, Geld spielte keine Rolle, Hauptsache er würde dieses kleine Nervenbündel endlich los.

Die Einweisungspapiere hatte dank ausreichend Vitamin B nicht halb so viel Zeit in Anspruch genommen, wie sie das unter normalen Umständen getan hatten.
 

"Kai, das verstehst du doch, oder?", fragte der alte Mann noch einmal nachdrücklich, während er das Kind mit seinen stechenden Augen musterte. Schließlich gab der Junge nach. Gegen Erwachsene hatte man keine Chance, am besten man sagte, was sie von einem hören wollten, wenn man verhindern wollte, dass sie böse auf einen wurden.

"Ja, Großvater", piepste der Junge mit dünnem Stimmchen, woraufhin Voltaire zufrieden nickte.
 

Dann wandte er sich um und ging. Kein freundliches Wort zum Abschied, keine tröstende Geste, wie ein Streicheln über den Kopf oder ein Kuss auf die Wange, nichts.

Kai wurde einfach zurück gelassen und sah seinem Großvater hinterher, sah zu, wie sich hinter ihm die Flügel der Kinderstation schlossen und wie eine Schwester selbige sorgsam absperrte. Dann wandte sie sich ihm zu, lächelte.

"Komm Kai, ich zeig dir mal dein Zimmer, dann lernst du auch gleich deinen Zimmergenossen kennen - er ist wirklich nett."

In einer aufmunternden Geste streckte die junge Schwester Kai eine Hand hin. Die blieb allerdings unbeachtet. Kai nickte zwar und machte Anstalten der Schwester zu folgen, aber er wollte sie nicht berühren.

Er mochte keine fremden Menschen.

Wenn man ihn in die Obhut Fremder gegeben hatte, dann waren bis jetzt immer nur negative Dinge geschehen und das war wirklich traurig, wenn man bedachte, dass ein Kind in diesem Alter schon so eine extreme Portion Misstrauen entwickeln konnte.

Die Schwester, welche sich mit Natalia vorgestellt hatte, ließ sich davon allerdings nicht beirren.
 

"Du brauchst wirklich keine Angst haben, Kai", sagte sie munter und es erinnerte den Jungen daran, wie seine Mama früher mit demselben Tonfall versucht hatte ihn dazu zu überreden, Broccoli zu essen - den er abgrundtief hasste.

Seine Mama. Beim Gedanken an sie, traten ihm Tränen in die Augen und ein dicker Knoten bildete sich in seiner Brust.

"Am Anfang fühlt sich jeder hier ein bisschen allein, aber du wirst sehen, dass du schon bald Freunde findest und dich hier eingewöhnen wirst."

Nachdem sie eine Weile, von dem munteren Geplapper der Schwester begleitet, durch die Gänge gelaufen waren, blieb selbige plötzlich stehen und lächelte.

"Das hier ist dein Zimmer."
 

Überflüssig zu erwähnen.

Schwester Natalia klopfte einmal kurz und drückte dann die Klinke herunter.

"Brooklyn, dein neuer Zimmergenosse ist da, sei lieb zu ihm, ja?"

Der Angesprochene war ein Junge in etwa seinem Alter, stellte Kai fest, welcher auf seinem Bett gesessen und aus dem Fenster gesehen hatte. Als Natalia ihn angesprochen hatte, hatte er nicht reagiert, nur sein Blick war kurz in die Richtung der beiden geflackert.

Allerdings schien die Schwester das Verhalten des anderen Jungen schon zu kennen und ging nicht weiter darauf ein.
 

Kais Gepäck war schon von einem der Pfleger auf das Zimmer gebracht worden und mit dem Hinweis auf einen Klingelknopf, den man ihm Notfall drücken konnte, wenn man die Hilfe einer Schwester oder eines Pflegers brauchte, ließ sie die beiden Jungen erstmal allein. Kai sollte schließlich Zeit haben, sich an die Umgebung zu gewöhnen.
 

Etwas schüchtern rutschte der Junge auf das noch freie Bett und blieb dort erstmal an der Kante sitzen. Irgendwie schien es dem anderen Jungen nicht zu gefallen, dass er jetzt einen neuen Zimmergenossen hatte und Kai fühlte sich sehr unwohl in seiner Haut.

Kaum jedoch hatte Natalia das Zimmer verlassen, drehte sich Brooklyn zu ihm um und lächelte ihn überraschenderweise an.

"Hallo, ich bin Brooklyn, wie heißt du?"

Kai blinzelte überrascht und traute sich kaum den Mund aufzumachen, dann nuschelte er, "Kai Hiwatari."

Brooklyn rutschte von seinem Bett herunter und kam zu Kai hinübergetapst.

"Du darfst den Erwachsenen hier nicht trauen, auf keinen Fall. Am besten du sprichst gar nicht mit ihnen, sie sind alle böse."

Neugierig geworden, legte Kai den Kopf schief, "Wieso sind die Erwachsenen alle böse?"

Das war seltsam. Normalerweise sagten einem die Erwachsenen doch, was richtig war und was falsch und sie beschützten einen vor den Monstern im Schrank ... Oder steckten einen in so eine Klinik. Kai biss sich auf die Unterlippe, Tränen kullerten ihm plötzlich über die Wangen und er senkte den Kopf.

"Nicht weinen", sagte Brooklyn mit seinem hellen Stimmchen und umarmte Kai tröstend. "Wenn du nicht mit ihnen sprichst, dann werden sie dir nichts tun. Wenn du unsichtbar bist, dann beachten sie dich nicht. Keine Angst. Ich pass auf dich auf ..."
 

Kai hatte ja in seinem kindlichen Verstand keine Vorstellung davon, wie böse die Erwachsenen in dieser Klinik wirklich waren. Er musste es auch nie am eigenen Leib erfahren, als er das erste Mal dort war.

Nur eine Nacht ... Eine bestimmte Nacht würde ihm immer im Gedächtnis bleiben.
 

Halte dich besonders vor dem Doktor fern, hatte Brooklyn gesagt. Der ist der schlimmste von allen. Man sagt, er sei ein böser Geist, oder ein Dämon. Du darfst ihm niemals in die Augen sehen, denn dann hat er dich. Du beginnst zu glauben, was er sagt und wenn du das erstmal tust, bist du verloren.

Dann ... verschwindest du irgendwann ... Es heißt, er fresse die Seelen der Kinder.
 

Nach einer Woche hatte Kai den ersten Termin mit dem Doktor. Man gab den Kindern in der Regel so viel Zeit um sich einzugewöhnen.

Mit gemischten Gefühlen folgte er einer Schwester, die er nicht kannte, durch die langen Flure der Klinik, die ihm mit einem Mal noch bedrückender und beängstigender vorkamen.

Sein kleines Herz pochte ihm bis zum Halse als sie vor einer Tür Halt machten. Die Schwester klopfte einmal kurz, "Herr Wasikowska? Ich bringe Ihnen Kai."

'Ich bringe Ihnen Kai'. Wie das klang. Als brachte man ihn einem zornigen Gott als Opfer dar.

Kai schüttelte es kurz und am liebsten hätte er jetzt kehrt gemacht und wäre davon gelaufen.

Ihm war schlecht und als die Schwester ihn wenige Augenblicke später in das Behandlungszimmer schob, wäre er beinahe ohnmächtig geworden.

"Ich lasse Sie dann jetzt alleine", hörte er von fern die Stimme der Schwester und fast hätte er sich an ihr Bein geklammert und geschrien, dass sie doch um Himmelswillen bitte da bleiben solle.
 

"Warum kneifst du denn die Augen so zusammen, Kai?", hörte er plötzlich eine freundliche Stimme und der Junge riss die Augen auf. Er hatte gar nicht gemerkt, wie er sie vor Angst fest zugepresst hatte.

Und das was er sah, entsprach so gar nicht seinen Horrorvorstellungen, die er sich aufgrund Brooklyns und der Erzählungen der anderen Kinder gemacht hatte.

Ein freundlich dreinblickender Mann mit einer randlosen Brille und grau meliertem Haar, welcher auf einem Sessel aus weißem Leder saß und ihm aufmunternd zulächelte.

"Setz dich doch bitte, du musst keine Angst haben, ich möchte mich nur ein Bisschen mit dir unterhalten."

Zögernd trat der Junge näher und rutschte dann auf einen der beiden bequemen Stühle, ebenfalls aus Leder, die noch leer waren.

Dabei achtete er darauf, nur an der Kante Platz zu nehmen, so konnte man schneller weglaufen. Nur für den Fall des Falles, verstand sich.

Schon gleich notierte sich der Doktor etwas auf seinem Klemmbrett, dann sah er Kai an. "Wie geht es dir im Moment, Kai, hast du dich hier einigermaßen eingelebt?"

Kai presste verschüchtert die Lippen aufeinander, auch wenn der Doktor freundlich wirkte, er hatte nicht vergessen, was ihm Brooklyn und die anderen erzählt hatten.

Schweigen. Doch anstelle nachzubohren, wie man es sonst von Erwachsenen gewohnt war, sah er Kai nur weiterhin aufmerksam an, ohne ihn jedoch unterbewusst unter Druck zu setzen. Kai wurde ein wenig hibbelig. Warum sagte der denn nichts mehr? Diese Stille war ja ekelhaft.
 

Nach fast fünf Minuten hielt Kai es nicht mehr aus und platzte mit etwas heraus, das vielleicht nicht das Klügste war, was er hätte sagen können: "Die erzählen Dinge über Sie."

Damit sah er den Doktor überraschend direkt an und wunderte sich im Augenblick selbst über seine Aussage. Vielleicht, weil er sich einfach nicht vorstellen konnte, dass der Mann ihm gegenüber böse war, er wirkte so freundlich und vertrauenswürdig.

Einen Augenblick, einen winzigen Augenblick blitzte etwas in den Augen des Mannes auf, viel zu kurz, als dass Kai es hätte bemerken können.

"Tun sie das...?" Doktor Wasikowskas Stimme klang keinesfalls verärgert, wie Kai anfangs befürchtet hatte, viel mehr ... neugierig. Dieser Mann konnte doch nicht böse sein ...

"J-ja..."

"Und was denkst du darüber, Kai?"

"Ich denke...", begann er zögernd, "Ich weiß nicht, aber ich glaub nicht, dass Sie mir was tun wollen."
 

Wenig später ging Kai, durchaus erleichtert in sein Zimmer zurück, wo Brooklyn schon auf ihn gewartet hatte.

"Und?", ereilte ihn gleich die bohrende Frage.

"Was und?"

"Na ... du weißt schon!"

"Also ... ich weiß nicht, ich fand ihn nicht gruselig, oder so..."

Brooklyn stöhnte leise auf. "Du bist ja so ein Dummkopf, Kai!"

Der Junge verengte die Augen. "Ich bin überhaupt kein Dummkopf! Du bist nur ein Blödmann, weil du nicht hier sein willst, redest du lauter solche Sachen!"

Brooklyn ließ ein ungläubiges Schnauben ertönen.

"Dann denk doch was du willst!"
 

Danach herrschte erst einmal Funkstille zwischen den beiden Jungen.

Es wurde Abend. Es wurde Nacht.

Und da hörte er zum ersten Mal dieses entsetzlich jämmerliche Weinen.

Ein Kind das schluchzte. Eigenartig. Normalerweise bekamen sie hier doch alle Medikamente vor dem Schlafengehen, damit sie keine Einschlafprobleme hatten und ohne schlechte Träume schliefen.

Mit offenen Augen und pochendem Herzen lag Kai also auf seinem Bett und wagte nicht, sich zu rühren.

Das Weinen, es schwoll an, wurde einen Moment lauter, wie als würde es an seiner Tür vorbeigetragen, dann ebbte es langsam wieder ab. Schritte, die Schritte eines Erwachsenen begleiteten es.
 

Kai schluckte, warf einen Blick zu Brooklyn hinüber, welcher offenbar schlief. Sollte er...? Nein, sie hatten gestritten, er wollte nicht mit dem anderen Jungen sprechen, er fürchtete sich.

So fasste er sich ein Herz und ließ seine Füße aus dem Bett baumeln, rutschte lautlos auf den kühlen Laminatboden. Mit wenigen Schritten war er bei der Tür und presste sein Ohr dagegen. Noch konnte er es in der Ferne hören, doch dann ertönte eine Männerstimme und es verstummte.

Eine Tür knallte.

Stille.

Kai wusste nicht, woher er diesen plötzlichen Mut nahm, aber im nächsten Moment drückte er die Türklinke herunter und spähte in den spärlich beleuchteten Flur. Auf beide Seiten. Die eine Seite zu seiner Rechten lag im Dunkel, auf der anderen drang Licht auf den Gang, welches aus dem Raum der Nachtschwester kam.

Niemand da, der ihn sehen konnte. Gut. Kai schluckte noch einmal.

Die kindliche Neugier, sie war doch eine faszinierende Sache.

Dann lief er eilig den Gang entlang. Nicht etwa in Richtung des Lichtes, sondern in den Teil des Ganges, welcher im Dunklen lag.

Wenn böse Menschen etwas verbergen wollten, dann brachten sie es an Orte, an denen es dunkel war, das war eine für seine kindliche Welt, logische Schlussfolgerung.

Auch, wenn er sich sonst im Dunkeln fürchtete, seltsamerweise machte es ihm gerade jetzt in dieser prekären Situation nichts aus.

Dunkelheit konnte einen nicht nur fressen, sie konnte einen auch verbergen.
 

Kai drückte eine Glastür auf, gegen die er beinahe gelaufen wäre und setzte dann seinen Weg fort.

Es ging nach einer Weile eine Treppe nach unten und eine nach oben. Er lauschte kurz auf die Schritte, die sich schon in weiter Entfernung befanden und wählte schließlich schweren Herzens die Treppe, die nach unten führte.

Bald sah er Licht unter einer Tür hindurchschimmern.

Hier im Untergeschoss befanden sich, soweit er wusste, nur die Sporträume und die Lagerräume, die Therapiezimmer und die der Patienten lagen weiter oben.

Der Teil des Gebäudes hier war nie saniert worden und so waren die Türen noch ein Überbleibsel aus den 20er Jahren, mit großen Loch-Schlössern, durch die man bequem hindurchspähen konnte.

Und Kai machte den Fehler, eben das zu tun.
 

Das was er erkennen konnte war, dass sich mindestens zwei Erwachsene dort im Raum befinden mussten. Die Statur des einen kannte er, aber der andere war ihm fremd.

Ein Kind weinte und Kai glaubte, eines der Mädchen erkennen zu können, mit dem er Gruppentherapie hatte.

Der Junge schluckte. Er hatte Angst.

Warum weinte das Mädchen? Taten sie ihm weh? Sie taten ihm bestimmt weh.

Kai konnte sich nicht von der Stelle rühren. Er wollte mehr sehen, wollte sich vergewissern. Allerdings hatte er Angst, dass die Tür vielleicht knarzen würde, wenn er sie aufdrückte und so verharrte er.
 

"Hör auf zu heulen, Anastasya", erklang die Stimme von Dr. Wasikowska. "Je mehr du dich sträubst, desto mehr wird es wehtun. Du bist doch sonst immer so ein artiges und liebes kleines Mädchen."

Warum kommt denn niemand und hilft ihr?, schoss es durch Kais Gedanken.

Er zuckte zusammen, als er das Klatschen der Ohrfeige hörte. Gespenstisch verklang es, außer ihm gab es keine Zeugen.

Sein Großvater hatte ihn niemals geschlagen, auch wenn Voltaire ansonsten ein sehr strenger Mann gewesen war.

Und vor allem Mädchen schlug man doch nicht.
 

Kai presste die Lippen aufeinander. Was er nun sah, würde er seinen Lebtag nicht vergessen können. Sie zogen dem Mädchen das Nachthemd aus und dann ... steckte einer der Männer seinen Piephahn, der merkwürdig groß war und in die Höhe ragte, was er zuvor noch nie gesehen hatte, in sie hinein und das Mädchen schrie so laut vor Schmerzen, dass man ihr den Mund zuhielt und als der eine Mann fertig war, machte der andere genau dasselbe noch einmal.
 

Kai konnte zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr sagen, wie er es geschafft hatte, unbemerkt in sein Zimmer zurückzukehren.

Das Einzige, was er wusste war, dass er in dieser Nacht keinen Schlaf mehr gefunden hatte und eine Woche später hatte man endlich eine Diagnose für den Zustand des Jungen:

Insomnia.

Schlaflosigkeit. Ausgelöst durch ein traumatisches Ereignis, der Patient musste mehrmals schlechte Erlebnisse im Traum oder vor dem Einschlafen gehabt haben, damit sich das entwickeln konnte. Meist in frühester Kindheit.

Kai bekam, auch als er die Klinik Wochen später verließ, starke Schlafmittel verschrieben, denen er verdankte, dass die Träume fernblieben.

Die Träume und die Schuldgefühle.

Auch, wenn er damals nur ein kleines Kind gewesen war, so wurden sie dafür mit dem Alter zunehmend stärker und als er sich ihrer irgendwann nicht mehr erwehren konnte, begann er das erste Mal, sich selbst zu verletzen um etwas von der Schuld von sich zu nehmen.

Doch Absolution sollte man ihm nicht gewähren.

Das Einzige, was man ihm gab war ein weiterer Aufenthalt in dieser schrecklichen Klinik.

Es wäre ein Einfaches gewesen, einfach den Mund aufzumachen und zu sprechen. Vielleicht hätte Voltaire sogar reagiert und ihn in eine andere Klinik einweisen lassen.

Aber er konnte nicht. Weil er somit auch gleichzeitig seine Schuld hätte preisgeben müssen. Und dafür war er nicht stark genug.
 

Kai war 12 Jahre alt, als er das zweite Mal in jene Klinik zurückkehrte.

Er schluckte schwer, als er mit seiner Tasche durch die Türen trat.

Hier hatte sich nichts verändert. Rein gar nichts. Er hoffte so sehr, dass wenigstens dieser Arzt, dieser schreckliche, grauenhafte Mann nicht mehr hier war, aber diese Hoffnung wurde durch seinen Blick auf das Namensschild an dessen Büro zunichte gemacht.

Kai schloss die Augen kurz und folgte dann dem Pfleger, der ihn auf sein Zimmer brachte.

Diesmal teilte er es sich mit einem Jungen, den er nicht kannte und im Stillen fragte er sich, was wohl aus Brooklyn geworden war. Sie hatten sich komplett aus den Augen verloren, nachdem Kai damals aus der Klinik entlassen worden war.

Dabei fiel ihm auf, dass er gar nicht wusste, was der Grund für dessen Klinikaufenthalt gewesen war.
 

Nachdem er seine Sachen in dem Schrank verstaut hatte, beschloss er, sich ein wenig die Beine zu vertreten. Die Zeiten, in denen er scheu und verängstigt auf seinem Bett saß, waren vorbei.

Vielleicht ging er in den Gemeinschaftsraum und sah ein bisschen fern, wenn nicht so viele andere Patienten da waren. Denn da fühlte er sich seit jeher unwohl, wenn viele fremde Menschen um ihn herum waren und, dass sie krank waren, machte IHN krank.

Es machte einen noch depressiver, wenn man in diese teilnahmslosen und manchmal auch entrückten Gesichter blickte und einfach nichts Lebendiges mehr in ihnen sah.

Natürlich gab es schlimmere und weniger schlimme Fälle, aber, dass sie alle hier drin waren, machte sie gleich.
 

Heute zählte Kai zu den Älteren und es war komisch, diese ganzen Eindrücke in dieser neuen Perspektive auf sich wirken zu lassen. Es war zwar weniger bedrohlich, aber dafür deutlich ernüchternder.

Kai war eine Weile ziellos vor sich hingelaufen, doch plötzlich fiel sein Blick zur Seite und er blieb stehen.

Da war er. Jener Gang, dem er damals gefolgt war, weil er seine Neugier nicht hatte im Zaum halten können.

Kai schluckte. Die Bilder kamen auf einen Schlag wieder hoch. Der Gang, der im Halbschatten dalag wirkte wie das aufgesperrte Maul eines Dämons.

Die Schreie des Mädchens klangen kurz in seinem Gedächtnis wieder.

Kai schüttelte energisch den Kopf und ging schnellen Schrittes weiter.
 

"Du bist ja wieder da, wie ich sehe." Die Stimme hätte ihn fast ins Stolpern gebracht und er sah zur Seite.

Brooklyn hatte sich mit den Ellenbogen auf einer Fensterbank abgestützt und sah hinaus. Er hatte sich nicht umgedreht. Wahrscheinlich hatte er ihn in der Spiegelung gesehen.

Kai schwieg. Er fand erstmal keine Worte.

Brooklyn drehte sich um. Grüne Augen musterten in eindringlich, jedoch nicht unfreundlich.

Zu seiner eigenen Überraschung fand sich Kai im nächsten Moment in einer Umarmung wieder und für einen Moment versteifte er sich, ehe er locker ließ.

"Ich hab dich echt vermisst..."

Nachdem Kai seine erste Verwirrung überwunden hatte, meinte er, "Sag mir nicht, dass du die ganze Zeit..."

Brooklyn lachte.

"Aber Nein. Ich war auch zwischendurch mal draußen, dann in einer anderen Klinik, aber wie es aussieht, zieht es uns immer wieder hier her zurück, was?"

Ein eigenartiges Glitzern erschien in Brooklyns Augen. Und Kai musste zugeben, dass ihm das nicht gefiel.

"Scheint so", meinte Kai nur kurz und wollte dann seinem Drang nachgeben, einfach weiterzugehen und sich aus der Nähe Brooklyns zu entfernen, aber der hielt ihn am Arm fest.

"Kai", sagte er nachdrücklich. "Sie haben nicht aufgehört damit. Wasikowska ist ein Dämon und keiner ... glaubt uns."

Kais Blick verengte sich. "Ich weiß nicht, wovon du redest", zischte er, ohne, dass er über seine Worte nachgedacht hatte und Brooklyn lachte trocken auf. "Du weißt es ganz genau. Ich hab mitbekommen, wie du ihnen damals nachgeschlichen bist. Ganz schön mutig. Ich hab es auch einmal getan. Nur war ich nicht so feige, es für mich zu behalten..."

Da hatte er einen wunden Punkt getroffen.

"Uns glaubt doch eh keiner, das hast du selbst gesagt, was hätte es für einen Unterschied gemacht!", zischte er erbost, machte sich mit einem Ruck aus Brooklyns Griff los und ging ein paar Schritte.

Das musste, wollte, er sich nicht länger anhören.
 

Brooklyn machte ihm einen Stich durch die Rechnung mit wenigen kurzen Schritten war er ihm nachgekommen, hatte ihn gepackt und unsanft gegen die Wand gedrückt, wobei er ihn an den Schultern festhielt.

Seine Augen funkelten wütend und es war irritierend, das zu sehen, früher waren Brooklyns Augen immer sanftmütig und freundlich gewesen.

Nicht so ... kalt.
 

"Verdammt! Begreifst du das denn nicht? Es ist Schicksal, dass wir beide jetzt nach all den Jahren zur selben Zeit wieder hier sind, wir können uns jetzt WEHREN! Die Kleinen können es nicht, wie um alles in der Welt kannst du es mit deinem Gewissen vereinbaren, dass dieses kranke Schwein sich alle Nase lang ein Mädchen oder einen Jungen zu sich holt! Du weißt was er mit ihnen macht! Und er holt sich immer die, die schon von Natur aus zu ängstlich sind, um sich zu wehren oder den Mund aufzumachen. Kai!"
 

Der Silberhaarige hatte den Blick abgewandt, die Hand Brooklyns die ihn bei den Wangen packte und ihn so zwang, diesem wieder in die Augen zu sehen, bohrte sich schmerzhaft in seine Haut.

"Kai", sagte Brooklyn noch mal, diesmal mit gedämpfter Stimme, wobei er sich kurz umsah, ob jemand in der Nähe war, der sie hätte hören können.

"Er ... Ist zu weit gegangen", sagte er leise, "Als du weg warst ... da hat er ... ein Mädchen umgebracht und es wie einen Unfall aussehen lassen. Ich hab es nicht gesehen, aber ich WEIß, dass er es getan hat."
 

In Kai wurde alles eiskalt. In ihm drin schrie eine Stimme, dass ihn das alles nichts anging und, dass er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte, aber andererseits ... Sich von einem Arzt behandeln zu lassen, bei dem er immer den Gedanken haben würde, dass er ein möglicher Mörder war ... Wenn einem jemand so etwas sagte, so ungeheuerlich es auch klingen mochte, einmal ausgesprochen ließ einen so ein Gedanke nicht mehr los.

Er machte sich von Brooklyn los.

"Was willst du denn dagegen tun? Wir sind fast noch Kinder, uns wird eh keiner zuhören und sonst kriegen wir noch Ärger..."

In Brooklyns grünen Augen blitzte es verräterisch auf und wenn Kai zu einem späteren Zeitpunkt zurückdachte, dann erinnerte dieser Blick schon längst nicht mehr an den eines 12-jährigen Jungen. Brooklyn hatte seine Unschuld schon lange verloren.

"Kai ... Weißt du, was er noch getan hat?"

Kai schüttelte den Kopf, wollte es gar nicht wissen.

"Er hat mich gefickt ... und ich will, dass du mir hilfst, mich zu rächen ... und die ganzen anderen armen Seelen, denen es genauso ergangen ist ..."
 

"Wie willst du das machen?", fragte Kai, nachdem sie auf Brooklyns Zimmer gegangen waren, dass dieser momentan alleine bewohnte. Er hatte sich auf ein Bett gesetzt und die Knie angewinkelt, dabei das Kinn darauf abgestützt. Fast so wie früher, als er als kleiner Junge das erste Mal hierhergekommen war.

Brooklyn starrte an die Decke, dann aus dem Fenster. Eine ganze Weile lang.

"Wir töten ihn."
 

Kai war nervös. Nervös war noch untertrieben. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass er diesem wahnwitzigen Plan zugestimmt hatte.

So leichtfertig, konnte man fast sagen.

Vielleicht ... Ja, vielleicht, weil er sich dem armen Mädchen von damals gegenüber unendlich schuldig fühlte?

Vielleicht bekam er dadurch seine Absolution.

Es schauerte ihn, als er die Klinke zu Wasikowskas Behandlungszimmer herunterdrückte. Er hatte jetzt seinen Termin.

Eigentlich. Uneigentlich hatte er etwas ganz anderes im Sinn und es widerte ihn jetzt schon an.

“Hallo, Kai”, sagte der Psychologe freundlich und mit einem Schlag wunderte sich Kai, wie er diesen Mann nur damals so harmlos und fast sogar nett finden konnte? Wenn er ihn ansah, sah er auf den ersten Blick, wie trügerisch, wie falsch und aufgesetzt dessen Miene war. Ihm wurde schlecht.

“Hallo”, erwiderte er tonlos.

“Wie geht es dir, hast du dich gut eingelebt, seit du wieder hier bist?”

“Ja.” Derselbe Tonfall.

“Das freut mich, zu hören. Gibt es etwas Bestimmtes, das du auf dem Herzen hast und das du mir erzählen möchtest?”

Kai zögerte. Er wollte nicht zu berechnend wirken. Er schwieg eine Weile, dann meinte er zögerlich, “Nun, da ... wäre tatsächlich was ... Aber ... Ich weiß nicht, ob ...”

“Du weißt, dass du mir alles anvertrauen kannst, Kai?”, hakte der Arzt nach und rückte seine Brille zurecht, “Aber fühle dich nicht gezwungen, erzähle mir nur das, was du möchtest.”

Kai holte einmal tief Luft.

“Ich ... glaube, ich bin schwul.”

Kaum merklich zuckte die Augenbraue Wasikowskas in die Höhe. “Erzähl mir mehr darüber - wie kommst du zu der Annahme?”

Kai legte sich sorgsam die Geschichte zurecht, die er und Brooklyn sich ausgedacht hatten.

“Nun, ich ... Hab gemerkt, dass wenn die anderen Jungs in meinem Alter über Mädchen reden, mich das überhaupt nicht interessiert und Mädchen fand ich irgendwie schon immer ... naja, langweilig. Also ...” Kai versuchte, verlegen zu wirken, was ihm sogar gelang, da er, und das war eine Tatsache, von der Brooklyn nichts wusste und auch kein anderer Mensch, tatsächlich eine Vorliebe für das eigene Geschlecht hegte.

Es war schon seltsam, etwas vorzutäuschen, was man war, ohne, dass die anderen wussten, dass man es wirklich war.

“Und ich glaube, es ... Es gibt da jemanden ...”

Kai sah bedrückt aus.

Der Arzt ergriff wieder das Wort und er sagte mit beinahe sanfter Stimme, “Das ist nichts, wofür man sich schämen muss, Kai, im Gegenteil. Ich finde es sehr beeindruckend, dass du so offen mit mir darüber reden kannst. Ist dieser Junge in deinem Alter? Wie hast du ihn kennengelernt?”

“Das ist ja das Problem an der Sache, Doktor.”

Er wurde interessiert angesehen und DAS war ihm nun wirklich unangenehm.

“Ich bin nicht normal ... also, ich ... Ich mag keine Jungs in meinem Alter.”

Etwas blitzte in den Augen Wasikowskas auf. “Sondern?”
 

Kai druckste herum, ließ sich bewusst Zeit für seine Antwort um den Schein der Unsicherheit aufrecht zu erhalten.

“Ich glaube ich ... hab mich in einen ... älteren Mann verliebt.”

Kai warf einen scheuen Blick in Wasikowskas Gesicht. Und zu seiner inneren Erleichterung schien diesem das zu gefallen, was er hörte. Er hatte ganz offensichtlich angebissen.

Jetzt durfte er in seinem weiteren Vorgehen keinen Fehler machen.

Der Psychologe lehnte sich auf seinem Sessel nach vorne und stützte die Ellenbogen locker auf den Knien ab. Er war Kai so nahe, dass dieser den gierenden Glanz in seinen Augen sehen konnte.

“Ich ... kann Ihnen das unmöglich sagen ...”
 

Voller Ekel bemerkte Kai, wie Wasikowska ihm mit einer sanften Geste über die Wange strich.

“Keine Scheu, du weißt, ich stehe unter Schweigepflicht.”

“... Sie sind es, Herr Doktor.”

Dabei schlug er die Augen nieder.
 

“Und?” Brooklyn schaute ihn erwartungsvoll an, als Kai in den Gemeinschaftsraum kam, wo sie sich verabredet hatten.

Ein angewiderter Ausdruck zierte sein Gesicht. “Ich weiß echt nicht, welcher Teufel mich da geritten hat, mitzumachen!”, beschwerte sich der junge Russe leise und pflanzte sich neben Brooklyn auf einen, der gemütlichen Sessel, die hier standen.

“Nun sag schon!”, hakte Brooklyn ungeduldig nach und Kai rollte mit den Augen. “Der Kerl ist sowas von pädophil! Ihm wär fast der Geifer aus dem Mund gelaufen.”

“Also haben wir ihn?”

Kai nickte, vermied es dabei aber, Brooklyn anzusehen.

Dieser fasste ihn bei den Schultern, zwang ihn so, ihm ins Gesicht zu sehen. “Kai, du weißt, dass das eine gute Sache ist, was wir vorhaben, oder? Du lässt mich nicht im Stich?”

Widerwillig schüttelte Kai den Kopf. “Nein, ich lass dich nicht im Stich, aber ...”

“Für einen Rückzieher ist es ohnehin zu spät. Hast du ihn irgendwie dazu gekriegt, dass er dich zu sich in diesen Raum holt?”

Abermals ein Nicken.

“Wann?”

“Morgen Abend. Eine halbe Stunde nach der Nachtruhe.”
 

Andreij Wasikowska war bei bester Laune. Zugegeben, er hatte schon damals, als der junge Hiwatari klein gewesen war, ein Auge auf ihn geworfen und eigentlich war er ihm jetzt schon viel zu alt, aber ... Wie oft kam es schon vor, dass jemand wie Kai freiwillig zu ihm kam? Trotz seines Alters war der Junge ein Leckerbissen und, dass dieser von sich aus Anstalten machte, machte die Sache sehr angenehm.

Er hatte heute offiziell schon Feierabend gemacht, als er noch einmal zurückkehrte und sich unbemerkt von der Nachtschwester zu jenem Raum begab.

Seinem Raum. Für den niemand außer er einen Schlüssel hatte.

Sein Raum.

Sein Reich.

In dem er die Macht hatte über all die Kinder die ihre Unschuld verloren.

Er leckte sich über die Lippen, als er die Tür aufsperrte. Er würde Hiwatari schon in die Kunst der Liebe einführen und oh, er würde ihn bis zur Besinnungslosigkeit bumsen. Der Junge würde sich nie wieder etwas anderes wünschen.
 

In Kai drin war es eiskalt, als er das zweite Mal in seinem Leben diesen Höllengang entlang lief. Er hatte es im inneren Höllengang getauft, weil es ihn seinem schlimmsten Alptraum Schritt um Schritt näher brachte.

Es war eiskalt in ihm, weil er wusste, was sie gleich tun würden.

Diesmal würde er nicht vor der Tür stehen bleiben und vorsichtig hinein schmulen. Diesmal würde er nicht angstvoll davon laufen und Augen und Ohren verschließen.

Es gab kein Zurück mehr. Sein Hals fühlte sich rau an, wie Sandpapier, er konnte nicht mal schlucken, ohne, dass ihm die Kehle zusammenklebte.

Er zwang sich zur Ruhe. Schließlich hatte er die Tür erreicht, die ihn von jenem Raum trennte.

Er atmete einmal tief durch. Dann klopfte er. Behutsam, einmal lang, zweimal kurz.
 

Er hörte ein Klicken, als die Tür sich öffnete. Dr. Wasikowska sah ihn wohlwollend an, trat zur Seite, damit er herein kommen konnte.

‘Lass mich jetzt nicht im Stich, Brooklyn’, ging es Kai durch die Gedanken und beinahe atmete er erleichtert auf, als er das leise Geräusch hörte, das davon zeugte, dass sich die Tür nicht komplett schloss und er hoffte inständig, dass Wasikowska nichts davon bemerkt hatte.

Seine Sorge war unbegründet. Der Mann hatte nur Augen für Kai.

Selbiger ließ seinen Blick hektisch im Raum umherschweifen. Viel war hier nicht, aber was hatte er erwartet? Eine Art Neverland-Ranch?

Es schauerte ihn.
 

“Du musst keine Angst haben, ich werde zärtlich sein, Kai.”

Er deutete sein Erschauern völlig falsch und legte ihm, wie er meinte, beruhigend die Hände auf die Schultern, senkte sich herab um ihm einen Kuss auf die Stirn zu hauchen.

Kai roch Tabak. Er musste mit seinen gesamten inneren Dämonen kämpfen, um nicht zu würgen.
 

“Du bist ein wirklich hübscher Junge, Kai.” Die Stimme klang mit einem Mal rau und er dirigierte ihn zu der gewöhnlichen Pritsche, die hier aufgestellt war.

Kai fixierte sie, so sehr, dass ihm die Augen brannten, weil er vergaß zu blinzeln. Versuchte nicht die Hand zu spüren, die ihn mit sanftem Druck führte. Unangenehm lag sie auf seiner Hüfte.

“Doktor...”, sagte Kai und er musste nicht einmal schauspielern, damit seine Stimme zitterte.

Der Mann legte ihm den Finger auf die Lippen, “Schh. Jetzt bin ich nicht mehr Dr. Wasikowska ... mein Name ist Andreij.”
 

Dann presste er ihm auf einmal und unerwartet die rauen Lippen auf und Kai zuckte vor Schreck zurück, so, dass er das Gleichgewicht verlor und mit dem Rücken auf die Matratze fiel.

Der Arzt lachte kurz auf und nahm das zum Anlass sich über ihn zu beugen und sich seinem Hals zu widmen.

Dem schönen, schlanken, weißen Hals.

Das wurde Kai zu viel, wo blieb Brooklyn, hatte er ihn doch allein gelassen? Kai bekam auf einmal Panik und er konnte nicht mehr still halten, als ihm bewusst wurde, dass dieser Kerl ihn gleich vergewaltigen könnte, wenn Brooklyn ihn tatsächlich im Stich gelassen hätte. Er wehrte sich, drehte das Gesicht weg, doch das schien dem Anderen nur zu gefallen.

Ja, Andreij mochte es, wenn sie sich wehrten und bei Kai machte es ihn doppelt an, da er der festen Überzeugung war, es gehöre zu einem kleinen Spiel.

“Nun hab dich doch nicht so”, raunte er und eine Hand schob sich unter Kais Hemd, welcher verzweifelt versuchte, sie daran zu hindern und schließlich ... Abermals küsste er ihn, drückte ihm seine Lippen auf und Kai spürte etwas widerwärtig Glitschiges in seiner Mundhöhle ... Da brannte ihm etwas durch. Scheiß auf Brooklyns Plan, das war doch krank!
 

Mit einer einzigen verzweifelten Gegenwehr biss Kai beherzt zu, als er die Zunge des Mannes in seiner Mundhöhle wusste.

Ließ nicht los. Biss so fest, bis er Blut schmeckte und sich Wasikowska mit einem schmerzerfüllten Aufschrei losmachte. Instinktiv verpasste er Kai einen Schlag, der sich schützend zusammenkrümmte, und wich zurück.

Blut lief ihm aus dem Mund. Er hatte wohl eine Arterie getroffen. Mit einer Art trotzigem Grimm starrte Kai den Mann an und keine Angst, sondern blanke Wut funkelte in seinen Augen.

“Fass mich ja nie wieder an, du krankes Schwein!”, fauchte er und Wasikowska prallte vorerst perplex zurück. Verstand die Welt nicht mehr.

Im nächsten Moment überrollte ihn wieder die Wut und er wollte sich mit einem Schwung auf Kai stürzen, um ihm so den Hals zuzudrücken. Genauso, wie er es bei den anderen gemacht hatte, wenn sie aufmüpfig geworden waren.
 

In seiner Bewegung hielt Andreij Wasikowska plötzlich inne. Riss die Augen auf.

Blutströpfchen spritzten in Kais Gesicht, der das Szenario erstarrt und mit geweiteten Augen beobachtete.

Der Mann gab ein Gurgeln von sich und es klang ganz danach, als würde ein Schwall Blut seine Lunge verstopfen.

In einem verzweifelten Versuch wollte er sich von der Quelle des Schmerzes losmachen, aber die Schwere der Verletzung ließ ihn in die Knie gehen. Er blickte sich um und sah Brooklyn, der soeben das Messer aus ihm herausgezogen hatte.

Blut klebte daran.

Das dunkle Blut, das tief aus dem Innersten eines Körpers kommt.

Brooklyns Blick war kalt und gleichsam voller Genugtuung, dann sagte er zu Kai, "Los, mach du den letzten Stich!"

Damit hielt er ihm das Messer entgegen, doch Kai, schüttelte starr den Kopf, "Na mach schon!", fauchte Brooklyn, ergriff Kais Hand und presste ihm das Messer hinein. Seine Hand schloss er über der des Silberhaarigen, sodass dieser nicht loslassen konnte und wie mechanisch ging Kai mit der Bewegung mit.

Kai kniff die Augen zusammen, doch er spürte es nur allzu deutlich, als das Messer sich durch Fleisch und Rippen bohrte, bis zum Herzen hin.
 

Dann ließ Brooklyn los und Kai ließ das Messer augenblicklich fallen.

Der Mann war in wenigen Sekunden tot.

Schließlich war es still im Raum.
 

"Verdammt, Kai!", schrie Brooklyn plötzlich und packte selbigen bei den Schultern, "Du hast es fast vermasselt!"

In Kais Augen schimmerten Tränen, ihm war unglaublich schlecht und er wollte einfach nur weg hier.

Brooklyn ließ ihn los und hob das Messer auf. Verstaute es sorgsam in seiner Kleidung.

"Los, komm", befahl er und Kai setzte sich, wie mechanisch in Bewegung.

Was danach geschah, daran konnte er sich kaum noch erinnern, es kam ihm alles so unwirklich vor.
 

Wenig später saßen sie in Brooklyns Zimmer. Der hatte Kai gerade eröffnet, dass Wasikowska der Einzige war, der einen Schlüssel zu diesem Raum hatte. Es konnte also noch eine Weile dauern, ehe man ihn dort unten fand.

Kai hörte ihm schweigend zu.

Er sollte seine Kleidung verstecken und bei einem günstigen Zeitpunkt verbrennen. Um das Messer würde sich Brooklyn kümmern.

Es war so einfach.

Sie hatten einen Menschen ermordet.

Einfach so.

Wirklich gut fühlte er sich jetzt allerdings nicht.
 

Sie standen noch immer dort am Wasser. Schweigend. Brooklyn und er hatten sich damals einen Schwur geleistet.

Sie würden dorthin zurückkehren.

Die Leiche des Arztes hatte man erst ganze zwei Monate später gefunden, zu dem Zeitpunkt waren sie beide schon längst entlassen worden.

Daraufhin hatte man die Klinik geschlossen. Und das Gebäude war seitdem auch nie wieder genutzt worden.

Das war nun fast zehn Jahre her.

Brooklyn legte ihm eine Hand auf die Schulter. Eisern und schwer lag sie dort und gleichsam beruhigte es ihn irgendwie.

"Bist du bereit?"

Kai nickte. Brooklyn setzte sich in Bewegung, Kai verharrte allerdings und fügte hinzu, "Da wäre allerdings noch etwas ..."

Brooklyn drehte sich um. "Ja?"

"Warum warst du damals in der Klinik?"

Ein Lächeln umspielte die fein geschwungenen Lippen.

"Borderline."



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von:  Finvara
2011-06-20T10:34:27+00:00 20.06.2011 12:34
Verstörend.
Mehr fällt mir gerade nicht ein. Der Mord an dem Doktor, wie du die Gefühle beschreibst, einfach verstörend.
Und dabei so grandios. Ich komm nicht dran vorbei mit zu fiebern, zu zittern, Angst zu haben.
Du machst das wirklich gut.

Auch wie du Kai darstellst als Kind. Das ist einfach niedlich. AUch das Brooklyn sein Zimmergenosse ist, finde ich gut. Es passt zusammen, irgendwie.
Ich finde es toll, dass Klinik irgendwie immer wieder zum Treffpunkt der beiden wird. Das hebt die Bedeutung hervor, die diese Klinik im Leben der beiden hat.
Von:  caramel-bonbon
2011-05-22T11:55:27+00:00 22.05.2011 13:55
oh, wie interessant – ein kapitel ganz der vergangenheit gewidmet. ich frage mich, was das mit dem titel auf sich hat. aber wenn ich an die vorherigen kapitel denke, kommt mir unweigerlich etwas ekliges in den sinn. uärks, ich hoffe nicht...
armer kleiner kai, ihn gleich in eine geschlossene anstalt zu stecken ist schon sehr hart. und dann auch gleich in ein zimmer mit brooklyn, der ist ja als kind schon voll gestört. leidet der an einer multiplen persönlichkeitsstörung?? Ôo wobei irgendwie ist er ja ganz süss, dass er kai beschützen will... herrje ist das schräg!

der doktor scheint ja ein einziges mysterium zu sein... du schaffst es wirklich, dass ich zwischen misstrauen und vertrauen hin und her schwanke.
der fette satz mit dem osterhasen und dem weihnachtsmann kommt mir ziemlich gestört rüber. XD irgendwie passt er, aber irgendwie auch nicht, ich weiss nicht... bizarr halt... wie die ganze ff hier, sorry XD

grosse lochschlösser? wie praktisch! bzw eher blöd, dann muss kai das mitansehen, was da drin passiert... :(
ich hab ansgt >.<
wie grausam... T_T

insomnia, was für dummköpfe. eigentlich leidet der arme lediglich an einem schock. die insomnia hat er doch dieser blöden klinik zu verdanken!! T_T

[nach dem Kai damals aus der Klinik entlassen worden war.] nachdem zusammen geschrieben
[zieht es uns immer wieder hier her zurück, was?] hierher auch zusammen

brooklyn scheint gar nicht so schrecklich zu sein. irgendwie will er doch einfach nur ausbrechen und diese grausamen taten ans licht bringen. zu blöde, dass geistig gestörten kindern niemand glauben schenkt.
ich hab’s mir fast schon gedacht, dass brooklyn das erleben musste... er ist nur das resultat dieser klinik und des doktors...

wie kann man lang klopfen und wie kurz? meinst du vielleicht die pausen dazwischen?

der typ ist ja so widerlich!

borderline... wie unglaublich passend.

was für ein kapitel *schauder*
*bonbon da lass*
Von:  lawless
2011-05-05T21:05:12+00:00 05.05.2011 23:05
> piepste der Junge mit dünnem Stimmchen
- oh, der süße Kleine! Wenn ich Bilder des jungen Kais sehe möchte ich ihn am Liebsten in die Arme schließen.

Ich muss zugeben, ich weiß nicht was ich über die Klinik-Szenen schreiben soll. Wie ein Horrorfilm. Grammatikalisch ausgezeichnet. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Kein Wunder, dass Kai ein Psycho ist. Die Erzählung aus Sicht eines Kindes ist ebenso sehr gut gelungen.

Das Borderline-Syndrome passt zu Brook. Das kann man ihm bei seinem Verhalten und dem irren Lachen echt abkaufen.
Von:  Jeschi
2011-04-25T14:38:09+00:00 25.04.2011 16:38
Ich mag den Rückblick.
Vor allem mag ich die Darstellung, wie sehr sich Kinder gegenseitig Angst machen können und wie man in kindlicher Naivität auch alles glaubt.
Ob nun was wahres dran ist, oder nicht.

Boar, diese Stille, die diese Psychodocs immer anschlagen.
Da fühlt man sich so unter Druck gesetzt. Ich hab das immer so gehasst. T__T Da fühlt man sich ja auch noch unwohl. x.X
Kein Wunder, dass Kai das so was rausrutscht, Hauptsache, er sagt was.

Der Streit zwischen den Beiden ist ja niedlich. Und ich finde, die Schlüsse die Kai zieht, sind wirklich naheliegend. Vor allem, weil er ja noch ein Kind ist. XD Auch, wenns ja nicht passt. xD

Ja, ja, die kindliche Neugier. Ich würde Kai jetzt gerne packen und anschreien: Geh nicht weiter!!!
Aber so weiß er jetzt wenigstens, dass Brooky recht hatte. o,o

Der Rückblick ist überhaupt wieder sehr schön geschrieben. xD Ich steh auf so Rückblicke. ^^"

Ich kann Kais Gedanken so nachvollziehen. Das er damit am liebsten nix zu tun hätte, es verdrangen möchte~
Ich finde überhaupt das ganze Gespräch mit den Beiden sehr gelungen. Und so komisch Brooky auch ist, ich mag ihn immer mehr. x3

Der Rest ist wirklich fesselnd erzählt.
Ich saß nur da und hab auf meinen Lippen rumgekaut. XD Wirklich spannend.
Auch, wenn es ziemlich eklig war und ich Kais Panik sehr gut nachempfinden konnte.
Am liebsten hätte ich dem Alten das Messer selbst reingepresst.
Aber ich kann auch verstehen, dass er sich nicht wirklich gut gefühlt hat, danach~ Wer hätte das schon.
Das ist so... man tut das Richtige, aber es bleibt trotzdem falsch~ .__.
Von:  Luke_Skywalker1989
2010-12-27T17:50:40+00:00 27.12.2010 18:50
Klasse Geschichte, hast einen guten Schreibstil^^
Hoffe es gehgt bald weiter, bin schon gespannt was noch kommt.
lg
Von: abgemeldet
2010-12-27T15:51:44+00:00 27.12.2010 16:51
ehrlich gesagt, musste ich die anderen Kapitel erst mal wieder lesen....xD
Aber ich liebe diesen herrlichen Spannungsbogen, den du aufgebaut hast...
ich habe wirklich eine der typischen Horrormelodien im Kopf gehabt...wo man sich dann denkt "gleich passiert was, gleich passiert was....aaaaaw" xD

und ich finde es toll wie du Voltaire darstellst....er ist in ALLEN Punkten einfach ein Bequemer Mann...oO sobald es Probleme gibt, schiebt er sie ab, oder lässt sie andere erledigen *Augen verdreh*

ich meine für ein KIND in dem Alter ist das doch klar, dass er ein Trauma davontrug und wenn man gleich darauf allein auf sich gestellt ist, wird das auch nicht besser...

mir gefällt vor allem wie du versuchst die kindliche Naivität darzustellen....das finde ich ist, wenn man erwachsen wird, relativ schwer.... und Kais scheue Art ist schon beinahe süß...xD wobei ich auch Krankenschwestern gehasst habe, die mich zugeplappert haben.....xD~

Brooklyn als Zimmergenossen finde ich gut gewählt...weil ich denke er hat im allgemeinen eh schon eine "leicht" durchgeknallte Ader, so dass er gut dahin passt.....

und ihre Begegnung finde ich iwie mehr als unheimlich....gar nicht so wie fremde Kinder aufeinander treffen, ich finde keinen Vergleich dafür, aber man merkt schon, dass es keine normale Begegnung ist halt...allein schon, weil Brooklyn Kai gleich anfängt "Gruselmärchen" zu erzählen....ehrlich....jedem hätte das sofort Angst eingejagt, denke ich...und zuerst hätte ich ihm auch nicht geglaubt und diesen Twist finde ich schön beschrieben


ich weiß nicht wieso, aber ich hatte bei der Szene mit der Vergewaltigung des Mädchens einen Flash zu Girls Interrupted und liebe das Kapitel allein dafür, weil ich mir den später auch ansehen werde....^^

(Piephahn...wie kommst du da drauf? *schmunzel* ich habe schon SO viele Bezeichnungen gelsen, ich könnte hier von Mexx ne ganze Liste machen, aber Piephahn war noch nicht dabei) xD

Du umschreibst deine Zeitsprünge immer so schön ;_;
Interessant ist schon das Brooklyn und Kai wieder an dem gleichen Ort aufeinandertreffen....oO

WTF....Brooklyn hat ja Ideen....alle Achtung an Kai, dass er das dennoch mitgemacht hat und sich doch so "mutig" gezeigt hatte....aber ich glaube dieser Doktor ist auch besessen gewesen....perverse Sau...>_>

Aber doch interessant, dass sich scheinbar zwischen Brooklyn und Kai eine recht starke Verbindung aufgebaut hat, dass sie sich derartig unterstützen?

ich bin jetzt echt neugierig geworden wie es weitergeht...

allerdings kann ich gut nachvollziehen, dass du mit dieser FF Probleme hast....hier hast du dir wirklich sehr hohe Ansprüche gesetzt....erstens das Thema, und zweitens wird es nicht sehr leicht sein, den Aufbau weiterhin SO aufrecht zu erhalten.....weil spätestens ab diesem Kapitel erwarte ich weiterhin nervenkitzel....xDDDDD




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