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„Rei, jetzt komm schon, amüsier dich doch mal, du ziehst eine Miene, als wäre gerade dein Hund gestorben!“
Zerstreut fuhr sich der Chinese durch die Haare, während er missbilligend die Versuche Takaos bedachte, ihn in das Geschehen – einen Wohltätigkeitsabend, organisiert von der BBA – mit einzubeziehen – in den Augen des quirligen Japaners kam es nicht besonders gut, wenn die Hauptattraktionen, besser bekannt als die ehemaligen Bladebreakers, schlechte Laune an den Tag legten.
Rei seufzte gedrungen auf, während er teilnahmslos eine unglaublich dicke Frau beim Ballonsaufblasen beobachtete, „Ich fühl mich einfach nicht wohl bei der Sache.“
Takao, der seinem Blick gefolgt war, deutete die Aussage seines Kindheitsfreundes falsch und wollte schon zu einem Vortrag über Oberflächlichkeit und innere Werte ansetzen, ehe ihn Rei augenrollend unterbrach,
„Das ist es nicht, was ich meine.“
„Achso, wegen Kai? Meine Güte, lass dir von dem Trauerkloß doch nicht den Abend verderben!“
„Also manchmal frag ich mich echt wer von euch beiden das größere Charakterschwein ist, Takao…“, dieser machte sich nichts daraus und reichte seinem Freund stattdessen ein Glas mit Rotwein, „tut mir Leid, aber mein Mitleid hält sich ein wenig in Grenzen…“
Rei hörte schon gar nicht mehr zu, teilnahmslos würgte er etwas trockenen Rotwein herunter, der ihm nicht schmeckte und ließ die Gedanken wieder zu seinem Sorgenkind wandern.
Es war ein offenes Geheimnis, dass Rei Kon und Kai Hiwatari so etwas wie eine Beziehung führten und seit einiger Zeit wohnten sie auch zusammen.
Dennoch hätte man meinen wollen, es lief alles prima, denn meistens hielt sich die Fassade aufrecht – doch das war verkehrt – mit dem Zusammenzug hatten die Probleme erst angefangen.
Kai hatte nämlich in der letzten Zeit immer öfter extreme psychische Tiefs und Rei versuchte natürlich, ihm zu helfen, was Kai allerdings nicht leiden konnte, denn dadurch fühlte er sich bevormundet. Infolgedessen waren Streitereien zwar nicht an der Tagesordnung, aber sie kamen häufiger vor, als es Rei und im Grunde wohl auch Kai, lieb war.
Als Rei ihm am gestrigen Abend die einfache Bitte vorgetragen hatte, ihn zu dieser Veranstaltung zu begleiten, war dem Russen schier der Kragen geplatzt, hatte Rei beschimpft, hatte seinen Hass auf alle möglichen Dinge geäußert, die schon lange nicht mehr der Ursprung ihres Streites waren, Rei hatte seine liebe Not gehabt ruhig zu bleiben – war er doch fähig zwischen den Zeilen zu lesen und das was er zu lesen bekam gefiel ihm nicht und er war zu folgendem Schluss gekommen: Kai hatte ein Problem über das er nicht sprechen konnte oder wollte und insgeheim wünschte sich Rei, der andere hätte schon längst die Einsicht gehabt einen Psychologen aufzusuchen. Er selbst stieß nämlich langsam an seine Grenzen.
Schon allein der Gedanke, Kai mit so etwas zu kommen, erschien ihm absurd.
Dennoch, etwas ließ ihn nicht los, nichts Genaues, was Kai gesagt hatte, aber er hatte plötzlich ein extrem ungutes Gefühl, seinen Freund zuhause und alleine mit sich selbst zu wissen.
Und sein Gefühl hatte ihn noch nie in etwas getäuscht.
„Takao, ich fahr nachhause, ich muss nach ihm sehen“, murmelte Rei, drückte dem verdatterten Japaner sein Glas in die Hand und machte auf dem Absatz kehrt.
Der Zurückgebliebene hob stumm sein Glas, wie zum Prost, zuckte dann mit den Schultern und trank selbiges in einem Zug leer.
Rei war mit Kai zusammen – da brauchte ihn eigentlich gar nichts mehr zu wundern.
Der Chinese indes fluchte beim Autofahren leise vor sich hin – immer wenn es wichtig war mussten alle Ampeln auf Rot stehen und alle Kreuzungen verstopft sein.
Das war so typisch – nun gut, was erwartete man auch zur Rush Hour. Nach gut der doppelten Zeit, die er normalerweise für diese Strecke gebraucht hätte schloss Rei mit zitternden Fingern das Schloss ihrer gemeinsamen Dreizimmerwohnung auf.
Leere schlug ihm entgegen im Einklang mit grausamer Stille.
„Kai?“, rief er leise, während er das Flurlicht einschaltete und zuckte beim Klang seiner eigenen Stimme zusammen.
Und da war ihm klar, dass er etwas Furchtbares vorfinden würde, etwas, dass ihr gemeinsames Leben völlig aus der Bahn werfen würde.
Wie von einer inneren Stimme geleitet ging der junge Mann mit schnellen Schritten in Richtung Badezimmer, in welchem tatsächlich Licht zu brennen schien.
Die Tür war angelehnt und sie quietschte ekelerregend, als er sie aufschob – und den Schock seines Lebens bekam.
Kai, wie er auf dem Toilettendeckel saß, zitternd, und scheinbar erfolglos versuchte sein blutendes linkes Handgelenk zu verbinden. Er war kreidebleich und als er Rei bemerkte, welcher ihn gerade mit aufgerissenen Augen anstarrte bekam sein Blick etwas Reumütiges.
„Ich wollte das nicht … Ich …“, das schien auszureichen um Rei aus seiner Starre zu reißen, „Erklärungen bitte später, wenn ich nicht mehr befürchten muss, dass du mir hier verblutest“, gab dieser zerstreut von sich, während er aus dem Verbandskasten eine Kompresse kramte und Kai die Blutdurchtränkte Mullbinde aus der Hand nahm. Er drückte die Kompresse auf die Verletzung und wickelte die Mullbinde stramm darum.
Dann griff er nach seinem Handy um einen Krankenwagen zu rufen.
Kai hatte dies alles wortlos und mit gesenktem Kopf beobachtet.
Das war verdammt unangenehm, jetzt war er Rei eine Erklärung schuldig – woran momentan allerdings nicht zu denken war, denn ihm war ziemlich schwindelig.
Benommen ließ er sich von Rei hochhieven und ins Wohnzimmer führen, die Beine wurden ihm schwach und drohten unter ihm weg zu knicken.
Die Stimmen kamen wieder und sie waren so laut … Doch dieses Mal konnten sie ihm nicht den Schlaf rauben, diesmal war die bleierne Ohnmacht, die Kai überkam stärker.
Und mit einem Lächeln auf den Lippen gab er sich der Dunkelheit hin.