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TMNT - Es liegt in deiner Hand

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In Gedanken bei ihr

Aus Raphaels Sicht:
 

Ein weiteres Mal blicke ich in die Richtung, in der Mikey mit meinem Engel verschwunden sind. Ich hoffe nur, dass es nicht zu spät ist und dass mein Bruder noch rechtzeitig beim Krankenhaus eintrifft. Am liebsten wäre ich an seiner Stelle losgestürmt und würde Bernadette in meinen Armen tragen. Wäre da nicht diese beschissene Verletzung, welche mich daran gehindert hat, selbst zu handeln. Angepisst starre ich nun auf mein Bein. Es schmerzt höllisch. Obgleich ich dieses stechende und pulsierende Gefühl für kurze Zeit ausblenden konnte, hat das viel mehr daran gelegen, dass ich meine komplette Aufmerksamkeit meiner Freundin gewidmet habe. Ich sehe sie noch genau vor mir. Wie sie dalag, mehr tot wie lebendig und doch zierte in ihrem Gesicht ein schwaches und liebliches Lächeln. Bei meinem ersten Eindruck habe ich geglaubt, sie würde, so wie ich, versuchen, die Schmerzen zu vergessen. Doch an ihrer Mimik habe ich sehen können, dass sie ihren Zustand mehr überspielt hat, als was es gut für sie war. Als wollte sie mir einfach ein Stück meiner Sorgen nehmen, damit ich sie mit Mikey gehen lasse. Sie kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich nicht so leicht nachgebe und trotzdem ist mir in diesem Fall nichts Anderes übriggeblieben. Im Moment wünsche ich mir nichts Sehnlicheres, als dass sie durchhält und dass ich so bald wie möglich zu ihr kann. Ich habe es ihr versprochen und ich werde auch dieses Versprechen halten.

„Mach dir keine Sorgen Raphi, sie wird es schon schaffen.“, versucht Leo mich aufzumuntern und ich hoffe inständig, dass er rechtbehält. Bernadette kann zwar richtig stur werden, wenn sie sich etwas vornimmt, aber sie ist schwer verletzt. Da kann mir keiner etwas Anders erzählen. Schließlich habe ich das mit meinen eigenen Augen gesehen und vermutlich werde ich diesen Anblick noch sehr lange in meinem Kopf behalten, wenn es mich nicht noch weiterverfolgen wird. Die vielen Schrammen an ihrem Körper, die Platzwunde, das Metall an ihrem Buch und das viele Blut haben sich bereits in mein Gedächtnis verankert und ich frage mich die ganze Zeit, ob sie es wirklich schaffen wird. Nicht, dass ich nicht daran glauben möchte, aber ich habe einfach Angst, dass sie zu viel Blut verloren hat, sodass ihre Kraft nicht ausreicht. Der Gedanke daran, sie nach dieser holprigen Versöhnung doch noch zu verlieren, schnürt mir die Kehle zusammen. Sie darf einfach nicht sterben und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um so schnell wie möglich zu ihr gelangen. Das ist das Einzige, was ich momentan machen kann, leider. Anstatt aber meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen und auch nur irgendetwas von meinen Gedanken zu erwähnen, schweige ich weiterhin und baue stattdessen eine möglichst kalte Mauer um mich herum auf. Denn ich werde jetzt garantiert nicht schwächeln! Weder vor meinen Brüdern, noch vor sonst irgendwen, das kommt einfach nicht in Frage!

„Leute, ich will jetzt die Stimmung nicht noch mehr vermiesen, aber wir sollten zusehen, dass wir schleunigst von hier verschwinden. Wenn ich das jetzt richtig kombiniert habe, wird es nicht mehr lange dauern, bis demnächst die Polizei und die Feuerwehr hier antanzen. Die Explosion ist mit Sicherheit kilometerweit gehört worden und wenn das keine mitbekommen hat, dann fresse ich einen Besen.“, klinkt sich nun Donnie ein, aber Leo sieht da ein Problem, was er auch ohne zu zögern äußert: „Alles gut und schön, aber in unserer Verfassung werden wir diesmal etwas länger brauchen. Gerade mit Raphis Bein dürfte es etwas schwierig werden. Außer du hast bereits einen Plan, wodurch wir schneller vorankommen.“ „Das habe ich in der Tat. Nachdem ihr euch um Bernadette gekümmert habt, ich den nächstgelegenen Standort eines Krankenhauses ausfindig gemacht habe, habe ich in der Zwischenzeit April informiert. Sie ist gerade unterwegs und gabelt uns später mit Vern auf. Wenn wir uns bis dahin in der nächsten Gasse verstecken, werden wir nicht entdeckt.“, erzählt das Genie weiter, als hätte er geradezu darauf gewartet, dass unser Anführer ihn darauf anspricht. Donnie „spielt“ wieder mit seiner Gerätschaft herum und deutet uns beiden schließlich in welcher Richtung wir uns bewegen müssen: „Ich glaube, wenn wir dort lang marschieren, finden wir eine gute Stelle, wo wir nicht gesehen werden können, aber um dies herauszufinden, müssen wir erst einmal dorthin.“

Leo und ich nicken verstehend. Es klingt nach einem Plan und ich will sowieso so schnell wie möglich von ihr weg. Allein der Anblick, der mir hier noch immer geboten wird, lässt meine Stimmung nur noch mehr in den Keller sinken. Ich spüre bereits, wie sich neben der Angst um Bernadette auch noch der Zorn zu Wort meldet. Ich denke dabei an Lucinda und an die Purple Dragon. Wie gerne würde ich jetzt jeden Einzelnen von ihnen an die Gurgel packen und weit übers Meer schleudern, sodass sie nie wieder mehr auftauchen. Mein Hass gilt besonders diesem Miststück, welches meinen Engel einfach nicht in Ruhe lassen konnte, obwohl Bernadette schon genug wegen dieser Person durchmachen musste. Sie allein ist schuld, dass meine Freundin so schwer verletzt worden ist, sodass ich nun um ihr Leben bangen muss. Wenn ich daher noch länger hierbleibe, weiß ich nicht, ob ich nicht sofort wieder ausraste. Am liebsten würde ich alles zu Kleinholz verarbeiten und wenn ich nicht schon inmitten von lauter Trümmern stecken würde, hätte ich das vermutlich schon bereits gemacht. Stattdessen wandert mein Blick ein weiteres Mal auf jene Stelle, an der noch Bernadettes Blut klebt. Vor meinem geistigen Auge sehe ich ihre hilflose, blasse Gestalt und ihr schwaches Lächeln, was mich nun wieder mehr betrübt. Ich will einfach nur noch weg von hier, sonst drehe ich vermutlich noch durch.

Mühselig versuche ich so weit es geht irgendwie aufzustehen. Mit meinem verletzten Bein ist dies jedoch schwieriger als gedacht und wenn ich meine Brüder nicht an meiner Seite hätte, so würde ich vermutlich immer noch am Boden festsitzen. Dieses verdammte Bein! „Komm, wir helfen dir hoch.“, meint Donnie und reicht mir seine Hand. Gemeinsam mit Leo zieht er mich mit einem Ruck nach oben und legt meinen Arm um seine Schulter. Mein Bruder mit der blauen Maske tut es ihm gleich, wodurch ich nun von beiden Seiten eine Stütze habe. Mit Leo zu meiner Linken und mit Donnie zu meiner Rechten verlassen wir langsam diesen Ort. Ein steiniger Weg, den man in diesem Fall sogar wörtlich nehmen kann, liegt vor uns, während ich mein verletztes Bein unter weiteren Schmerzen hinter mir herziehen muss. Doch während der ganzen Zeit kommt von mir kein Klagen und ich schweige weiterhin, während wir uns anschließend bei der nächstgelegenen Gasse verstecken. Dort müssen wir laut Donnie warten, bis wir endlich von April und Vern aufgegabelt werden. Der Typ mit seinem Van versucht dabei so dicht wie möglich ranzufahren, wodurch meine Brüder und ich nicht mehr allzu viel gehen müssen, um endlich in dieses Fahrzeug einsteigen zu können. Kaum, dass ich im hinteren Bereich Platz genommen habe, ereilt mich ein „erleichtertes“ Gefühl. Ich kann mich nun während der Fahrt etwas „ausruhen“, soweit es mir zumindest irgendwie möglich ist.

Jedoch fühle ich mich, abgesehen von der beschissenen Lage, nicht gerade Wohl in meiner Haut. Ich habe ja nicht viel übrig für diesen Kerl, weil er sich wie Mikey einbilden muss, er könne unsere April mit seiner schmierigen und peinlichen Art umgarnen, aber immerhin scheint er ein loyaler Freund zu sein. Sonst wäre er vermutlich nicht hier und würde uns auch nicht helfen. Wobei April ihm vermutlich den Arsch versohlen würde, würde er irgendetwas gegen ihren Willen machen. So peinlich das auch klingt, in diesem Fall rennt er ihr wie ein Schoßhund hinterher. In meinen Augen ist das ja lächerlich, aber immerhin hat dieser Kerl trotz seiner Macken einen guten Kern und mehr brauche ich auch nicht erwarten. Dennoch würde es mich nicht wundern, wenn dieser Typ sich irgendetwas erhofft hätte, nachdem sie ihm um eine Mitfahrgelegenheit gebeten hatte. Wenn ich so darüber nachdenke, wüsste ich eigentlich nicht, ob April überhaupt ein eigenes Auto besitzt. Sie ist ja immer mit dem Fahrrad und mit der U-Bahn unterwegs. Naja, so kutschiert uns nun Vern durch die Gegend, der in dieser Runde alles andere als begeistert ist. Trotz der vergangenen Zeit merkt man ihm dennoch an, dass er immer noch sauer auf uns ist, als wir seine letzte Karre verschrottet hatten. Dabei war dies ein Unfall, was eigentlich nur Mikey verzapft hatte. So „nebenbei“ hat unser Fahrer diese Geschichte sogar erwähnt, was mir gehörig gegen den Strich geht. Da gibt es weit Schlimmeres, aber das wird dieser Hornochse wohl nie verstehen.

„Was ist eigentlich genau passiert? Ihr habt bis jetzt kaum etwas gesagt.“, unterbricht April diese trübe Stimmung, als sie sich zu uns nach hinten dreht. „Was wird wohl passiert sein? Die Jungs haben einfach mal was auf dem Deckel bekommen und wie es aussieht mit viel Kawumm.“, mischt sich Vern ein, ohne dass auch nur einer von uns eine Chance gehabt hätte, auf ihre Frage zu reagieren. Seine Zwischenmeldung bewirkt bei mir aber nur, dass ich allmählich wieder sauer werde. Schließlich habe ich keine Lust, mir irgendwelche bescheuerten Kommentare von jemandem anhören zu müssen, der nicht einmal dabei war. Ich hasse es einfach, wenn Vern seine große Klappe aufreißt. Wütend balle ich meine Hände zu Fäuste, aber da erweckt Donnie kurz meine Aufmerksamkeit. Ehe ich auch nur irgendeine Reaktion auf diese Zwischenmeldung zeigen kann, hat sich mein Bruder mit der lila Maske zu mir rüber gebeugt und sieht mich nun mit einem Blick an, als wolle er sagen: „Beruhig dich. Das ist es nicht wert.“ Er schüttelt dabei sogar leicht mit dem Kopf, um das Ganze zu verdeutlichen. Verstehend versuche ich mich wieder zu entspannen, jedoch lasse ich es mir nicht nehmen, genervt zu knurren. Leo hingegen will nicht auf Verns idiotischem Gefasel näher eingehen und erzählt April stattdessen, wie es wirklich war: „Um es kurz zu fassen, waren wir auf eine Rettungsaktion. Bernadette wurde von den Purple Dragons entführt, die sie in einer Lagerhalle bei den Docks verschleppt haben.“

„Moment, Auszeit! Wie war das bitte?! Bernadette wurde entführt und das auch noch von den Purple Dragons“, unterbricht April ihn und der Angesprochene bestätigt ihre Frage: „Ja, so ist es.“ Jedoch gibt sich die ehemalige Reporterin keineswegs damit zufrieden. Sie will mehr wissen und fordert uns daher auf, noch weitere Informationen rüberwachsen zu lassen: „Wie konnte das soweit kommen und was haben diese Mistkerle überhaupt damit zu tun?“ „Nachdem Raphi uns Bescheid gegeben hatte, dass Bernadette etwas passiert sein musste, hatten wir unsere geplante Patrouille abgebrochen und nach ihr gesucht. Glücklicherweise hatte sie ihr Handy dabei, mit dem wir sie schließlich orten konnten, bevor das Signal abbrach. Jedoch hätten wir niemals geahnt, dass die Purple Dragon etwas mit der Sache zu tun haben. Bernadettes Feindin, diese Lucinda, muss die Kerle dafür bezahlt haben, damit sie unsere Freundin entführen. Als wir ankamen, fanden wir sie gefesselt vor.“, geht Leo nun mehr ins Detail, aber bei dem Namen Lucinda, wird April wieder hellhörig. „Bitte, die war auch da?! Was hat aber diese Göre mit diesen Typen zu schaffen und was sollte das überhaupt? Mit der Aktion hat sich Lucinda nur noch tiefer ins Schlamassel geritten. … Also in ihrer Haut möchte ich jetzt nicht stecken.“, klinkt sich April dazwischen ein und sie hat damit sogar Recht. Ich frage mich selbst, was dieses Miststück damit bezwecken wollte. Immerhin steht für sie bald der Gerichtstermin vor der Tür und mit dieser Entführung wird sie noch ein weiteres Problem haben. Die hat wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank!

Schließlich fährt Leo nach der kurzen Unterbrechung fort: „Ja, sie war auch dort und war ganz schön geschockt, als sie uns sah. Was mir aber nicht aus dem Kopf will, ist, wie sie es geschafft haben, Bernadette zu entführen.“ „Eigentlich wollte sie in ihrem Zimmer auf Raphi warten. Sie hat mich erst vor ein paar Stunden angerufen und etwas von ihrem Vorhaben angedeutet.“, meint April, aber nun melde ich mich dazwischen: „Da war sie aber nicht. Das Fenster stand zwar offen, aber ihr Smartphone fand ich in der gegenüberliegenden Gasse. Nur das Handy, was Donnie ihr mal gegeben hatte, hatte sie dabei gehabt und das war unser Glück. Sonst hätten wir sie niemals gefunden.“ April grübelt kurz über meine Worte nach und meint schließlich: „Das klingt ja so, als ob sie herausgelockt worden wäre.“ „Womit denn, mit Käse oder was?“, mischt sich Vern sarkastisch wieder ein und wenn er nicht bald die Klappe hält, dann stopfe ich sie ihm! Verletzung hin oder her, den Kerl kann ich auch so fertigmachen! Und dass er meinen Engel mit einer Maus oder Ähnlichem vergleicht, schlägt echt dem Fass den Boden aus! Noch ein so ein Wort und er kann was von mir erleben! Dann ist er der Nächste, der ins Krankenhaus muss. Ich bin sogar schon im Begriff, ihm das auch deutlich zu verklickern, doch dann fragt er plötzlich April: „Hey O'neil, war da nicht mal etwas, was du für das Mädel recherchieren solltest? Vielleicht hat das ja mit der ganzen Sache zu tun. So unwahrscheinlich wäre das ja nicht.“

Hellhörig sehe ich nun zu ihr und frage sie, was er damit meint: „Wovon redet er da, April? Worüber hast du Nachforschungen anstellen müssen? Was hat Bernadette dir erzählt?“ Unschlüssig darüber, ob sie uns das wirklich erzählen soll, sieht die junge Frau uns abwechselnd an und meint dann seufzend: „Eigentlich hatte ich Bernadette versprochen, das für mich zu behalten, bis wir zumindest mehr darüber wissen. Jedoch hatte ich kein gutes Gefühl bei der Sache. Trotzdem bestand sie darauf, dass ich keinen von euch etwas sage.“ Verwirrt sehen meine Brüder und ich sie an. Was zum Henker ist das schon wieder für eine Geheimniskrämerei und warum wollte Bernadette nicht, dass wir das erfahren? Ich verstehe das nicht. Doch bevor ich nun etwas darauf erwidern kann, drängt Donnie April nun, mehr Informationen rüberwachsen zu lassen: „Und worum geht es nun? Ich glaube kaum, dass es jetzt noch einen Sinn hat, wenn du das noch weiterhin für dich behältst. Bernadette steckt schon bereits in Schwierigkeiten, also erzähl uns, was los ist!“ Bei seiner Aufforderung nickt sie zunächst stumm, bis sie uns schließlich berichtet, dass die Sache etwas mit Bernadettes verstorbenen Vater zu tun hat: „Die ganze Story gleicht schon beinahe einer „Verschwörung“, aber Bernadette hat sich in letzter Zeit verfolgt gefühlt. Sie meinte, dass sie ihren verstorbenen Dad immer wieder gesehen hätte. Egal ob sie jetzt mit Freunden, oder allein unterwegs war, tauchte in der Masse dieser Mann auf. Bernadette erzählte mir, dass das kein Zufall sein könnte, aber jedes Mal, wenn sie ihm nachlief, verschwand der Kerl spurlos. Es hörte nicht auf und schließlich bat sie mich, darüber nachzuforschen. Jedoch konnte ich für sie keinerlei Anhaltspunkte finden. Es war irgendwie, als ob sie ständig einen Geist begegnen würde.“

„Als würde jemand sie verrückt machen wollen.“, murmle ich verstehend und stelle mir dabei genau vor, wie das bei meinem Engel stattgefunden haben muss. Ich weiß zwar nicht, was genau Bernadette erlebt hat, aber ich weiß, dass sie April niemals ohne Grund um Hilfe gebeten hätte. Davon bin ich überzeugt. Doch dabei bleibt es nicht, denn ich bin mir sicher, wer hinter dieser Scheiße stecken muss und zwar Lucinda! Allein der Gedanke an dieses Miststück macht mich rasend. Am liebsten würde ich diese Bitch auf der Stelle aufsuchen. Denn die ist nicht nur durchgeknallt, die ist eine Gefahr für jeden, der sie auch nur ansieht! Meiner Meinung nach gehört die in eine geschlossene Anstalt. Zusperren und den Schlüssel wegwerfen, das wäre für jeden das Beste. „Das würde erklären, warum sie nicht in ihrem Zimmer war. Sie mussten sie mit diesem Trick herausgelockt haben und vermutlich wollte Bernadette endlich Antworten haben.“, schlussfolgert Donnie, aber Leo erwidert: „Das kann ich mir nicht vorstellen. Bernadette wäre doch nicht so leichtsinnig und würde sich darauf einlassen.“ Doch da erinnere ich mich an ihr Smartphone, was ich dort fand, was ich nun auch grummelnd miteinbringe: „Deswegen hatte sie sicherheitshalber die Nummer der Polizei eingegeben. Wie ich sie kenne, wird sie mit ihrem Smartphone gedroht haben, als sie sich in die Gasse gewagt hatte. Sie wollte sich damit schützen. Das war auch so, als ich sie kennenlernte. Bernadette geht bei sowas immer auf Nummer sicher.“

„Das hat anscheinend „super“ funktioniert.“, meint Vern mit einem sarkastischen Unterton. Jetzt reicht es! Nun habe ich endgültig die Nase voll von ihm! Ich will ihm schon die Leviten lesen, aber ich kann mich wegen der Verletzung nicht wirklich vom Fleck rühren. Das ist sein verdammtes Glück! Wenn ich könnte, würde ich ihm in diesem Moment den Hals umdrehen! Stattdessen keife ich ihn an: „Fahr lieber und halt endlich deine Schnauze! Du hast keinen blassen Schimmer, was da alles passiert ist!“ „Beruhige dich Raphi.“, versucht April mich mit einer möglichst ruhigen Stimme wieder runterzubringen, aber ich bin einfach nur auf zweihundert, weswegen ich weiterschimpfe: „Ganz sicher nicht! Meine Freundin liegt schwer verletzt im Krankenhaus, ich bange die ganze Zeit um ihr Leben und der Idiot am Steuer hat nichts Besseres zu tun, als blöde Kommentare abzugeben, obwohl er überhaupt keine Ahnung hat!“ Für einen kurzen Augenblick herrscht Stille und keiner wagt es, irgendetwas zu sagen. Ich dagegen kämpfe immer noch mit meiner Wut. Mir würde noch so viel mehr einfallen, was ich den Typen an den Kopf knallen könnte, doch viel lieber würde ich ihm eine scheuern. Dieses verdammte Bein, diese verdammten Verletzungen! Warum kann das Mutagen in mir nicht sofort wirken?! Wenn wir schon die Fähigkeit haben, schneller zu heilen, warum dann nicht in wenigen Sekunden?! Dann könnte ich dem Kerl endlich ein kleines „Dankeschön“ verpassen und wäre eigentlich auch nicht hier. Ich wäre bei ihr, bei Bernadette. „Tut mir leid, das war nicht so gemeint. Ich werde am besten nichts mehr sagen.“, entschuldigt er sich schließlich und das sollte er besser auch, sonst gehe ich ihm wirklich noch an die Gurgel. Auch wenn er es vermutlich nicht so gemeint haben sollte, hatte er kein Recht dazu.

Einige Stunden später liege ich in meinem Bett und starre zur Decke empor. Mikey ist in der Zwischenzeit auch schon eingetroffen. Jedoch hat er sich nicht bei mir blicken lassen. Nicht einmal Leo oder Donnie haben ihn wirklich zu Gesicht bekommen. Der Anführer meinte nur, dass er unseren Bruder in Meister Splinters Zimmer hat gehen sehen, ehe er sich dann bald darauf in seine Abteilung verzogen hat. Geredet hat er mit sonst niemandem und dabei frage ich mich, was passiert ist. Ist Bernadette noch am Leben? Konnte er sie noch rechtzeitig ins Krankenhaus bringen? Hat sie noch irgendetwas gesagt? Am liebsten wäre ich zu Mikey gestürmt und hätte ihn das selbst danach gefragt, aber das kann ich mir abschminken. Stattdessen musste ich mir die aufmunternden Worte meiner anderen Brüder ertragen, die mir noch etwas Gesellschaft geleistet haben, ehe auch sie sich wieder verzogen haben. Unsere Wunden wurden in der Zwischenzeit bereits behandelt. Die Explosion hat bei uns allen ganz schön etwas hinterlassen. Doch während zum Beispiel Leos Hand in spätestens zwei Tagen wieder verheilt sein wird, muss ich mit einem Gipsbein in meinem Zimmer versauern. Donnie meinte, dass ich froh sein könnte, Mutagen in meinem Blut zu haben. Schließlich müsste ich diesen Knochenbruch nur höchstens eine Woche durchhalten, während die Menschen das viel länger durchstehen müssen. Doch was habe ich davon, wenn ich nicht zu Bernadette kann? Sie braucht mich und ich habe keine Ahnung, wie es ihr geht.

Mikey hat ja bis auf unserem Sensei niemandem irgendetwas erzählt und das macht mich schon langsam wahnsinnig! Doch solange ich mein Bein nicht belasten kann, stecke ich in der Kanalisation fest. Zugern würde ich mit den anderen tauschen. Besonders mein alberner Bruder hat kaum etwas abbekommen, wofür ich ihn mehr als nur beneide. Warum muss man immer mit voller Wucht auf die Schnauze fallen, wenn man mal fällt? Vermutlich hat sich Bernadette das auch das eine oder andere Mal gefragt. Schließlich geht es ihr ja nicht viel besser, was das angeht. Wir beide scheinen manchmal das Pech förmlich anzuziehen, wobei wir uns gegenseitig doch meistens Glück gebracht haben. Bitte halte durch! Ich bin bald bei dir! Seufzend schließe ich für einen Moment die Augen. Ich versuche mir meinen Engel vorzustellen. Besonders den Moment, bei dem ich sie endlich wieder in meine Arme schließen konnte, werde ich nie vergessen. Es war, als wenn wir jahrelang voneinander getrennt gewesen wären und uns nun das erste Mal wieder berühren durften. Es war so ein schönes Gefühl, sie wieder spüren zu können. Doch nun ist sie mir wieder entrissen und nur weil dieses verdammte Miststück keine Ruhe geben kann und meinen Engel ständig quälen muss. Ist sie schon so verrückt, sodass sie nichts mehr außer Rache im Kopf hat? Und dann noch diese Mistkerle, die mir so und so schon ein Dorn im Auge sind! Am liebsten würde ich jeden Einzelnen von ihnen den Hals umdrehen. Nur bin ich erst einmal ans Bett gefesselt und kann fürs Erste nur in Gedanken bei Bernadette sein. Wie sehr ich sie vermisse und wie sehr ich mich um sie sorge.

Plötzlich klopft es an meiner Tür. Wer nervt denn jetzt schon wieder? Als ich schließlich ein leicht gereiztes „Herein“ erwidere, kommt Donnie hereinspaziert. „Was willst du?“, frage ich ihn seufzend, nachdem ich mein Gesicht wieder in Richtung Decke positioniert habe. „Ich wollte dich fragen, wie es dir geht.“, will er von mir wissen, aber ich antworte nur darauf: „Wie soll es mir schon gehen? Miserabel natürlich.“ Was glaubt er denn? Dass ich vielleicht Freudensprünge mache und das auch noch mit einem Gipsbein? Das ich nicht lache. Irgendwie scheint es aber, dass dies nicht das Einzige ist, was mein Bruder mit der lila Maske und der Brille im Gesicht zu sagen hat. „Ist noch irgendetwas?“, frage ich schließlich, da meine Geduld so und so bereits am seidenen Faden hängt und ich jetzt lieber wieder alleine sein will. Donnie kommt schließlich näher und bleibt direkt neben dem Bett stehen. Vermutlich sieht er mich gerade mit einem mitleidigen Blick an und das hasse ich wie die Pest! Ich bin zwar verletzt, was aber noch lange nicht heißt, dass ich dem Tode nahe bin. Somit kann er sich das schenken und wenn er wieder irgendetwas der Gleichen von sich gibt, kann ich für Nichts garantieren. Ich hege zwar keinen Groll gegen meinen Bruder, aber ich hasse nichts mehr, als bemitleidet zu werden und besonders geht mir das auf dem Zeiger, wenn ich mich nicht verziehen kann.

Schließlich sehe ich ihn wieder an und will ihm gerade verklickern, dass er jetzt ruhig wieder abdampfen kann, als ich etwas bei ihm bemerke. Seine rechte Hand ist leicht zu einer Faust geformt, aber er hält sie so, als würde er irgendetwas mit sich herumtragen. Was er da gerade mit sich herumschleppt? Das direkte Fragen kann ich mir allerdings sparen, denn schon zeigt er es mir. Es ist Bernadettes Amulett, aber dessen Zustand ist mehr als nur bescheiden. Viel mehr sieht es aus, als ob jemand direkt einen Sprengsatz daran montiert hätte und der Stein ist bei der nächsten Gelegenheit gesprengt worden. Mehr oder minder trifft es sogar zu, wobei daran nicht direkt die Spraydose befestigt und gezündet worden ist. Dennoch spiegelt das Resultat diese Nacht wider, was mich an die Purple Dragons und Lucinda denken lässt. Wenn ich die in die Finger bekomme, können die was erleben! „Ich habe das in Bernadettes Nähe gefunden und dachte, ich gebe es dir. Bei dir ist das Amulett noch am besten aufgehoben, obgleich dessen Zustand nicht wirklich mehr darauf schließen lässt. … Da du aber für die nächste Zeit hier festsitzen wirst, könntest du ja versuchen, es wieder zusammenzusetzen. Kleber hätte ich dabei.“, meint Donnie und holt aus seiner Hosentasche zusätzlich eine Tube er heraus, die er mir ebenfalls reicht. Sein Blick wirkt nun eher aufmunternd, als wolle mich mit dieser Puzzleaktion ein wenig ablenken. Naja, das ist immer noch besser als ein Mitleidsgetue. Außerdem könnte ich vielleicht so etwas retten und müsste nicht ständig in die Leere starren.

„Danke.“, murmle ich, was Donnie mit einem freundlichen Nicken abtut und dann schließlich mein Zimmer verlässt. Er mag mich zwar oft mit seinem technischen Firlefanz verwirren, aber ich kann mich sowohl auf ihn, als auch auf den Rest der Familie verlassen. Somit sehe ich mir den Schaden genauer an. Vielleicht ist daran noch etwas zu retten, aber der Stein sieht ziemlich ramponiert aus. Er ist zersplittert. Die Scheibe an sich ist in drei große Stücke zersprungen, wobei das Kleinste davon zu fehlen scheint. Selbst die kleine Schildkröte ist nicht verschont geblieben. Der Kopf ist abgetrennt, der Panzer ist angebrochen und ihr fehlt auch ein Fuß, welches ich wie das andere fehlende Stück nicht finden kann. Vermutlich liegen diese Teile noch irgendwo im Schutt, was ich somit vergessen kann. Dennoch versuche ich das bereits Vorhandene irgendwie zusammenzukleben, was mir am Anfang überhaupt nicht gelingen will. Entweder bleibt alles an meinen Fingern kleben, oder mir rutscht der verdammte Stein aus den Händen. Zum Glück ist bisher nichts auf dem Boden gelandet, sonst hätte ich bei meiner derzeitigen Situation ein Problem. Mir reicht es aber auch so, dieses winzige Teil zwischen mir und der Matratze finden zu müssen. Schließlich kann ich das Amulett trotzdem wieder zusammenflicken und das obwohl zwei Stücke fehlen. Selbst wenn aber alles vorhanden wäre, so ist der Schaden trotzdem sichtbar und damit meine ich nicht nur diesen Stein. Das Loch erinnert mich einfach an dieses Metall, welches in Bernadettes Bauch steckte. Vermutlich ist dieser bereits bei der Operation entfernt worden und diese Ungewissheit, wie es um sie steht, macht mich noch völlig krank. Wir sehr ich sie jetzt gerne aufsuchen würde. Wenn nur dieses Mutagen in mir schneller wirken würde, wäre das Alles kein Problem, aber so muss ich wieder einmal geduldig bleiben und das heißt, dass ich wieder auf eine harte Probe gestellt werde. Jedoch, ich tue das für meinen Engel.

Irgendwie ist alles ... merkwürdig

Aus Bernadettes Sicht:
 

Wo bin ich? Schwarz, nichts als Finsternis umgibt mich. Wohin ich auch meinen Kopf wende, ich sehe nichts. Überall herrscht diese Dunkelheit und ich habe keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin. Was ist das nur für ein Ort und was mache ich hier? Alles hier ist so finster. Selbst meine eigene Hand ist kaum erkennbar. Es ist, als sei ich selbst in einem Schleier aus Dunkelheit gehüllt. Umklammert von der Finsternis, die mich bald vollkommen verschlungen hat. Ich schwebe, zumindest glaube ich das. Es fühlt sich so seltsam an. Scheinbar schwerelos gleite ich im diesem Nichts. Wo ist unten? Wo ist oben? Wo ist überhaupt irgendetwas? Ich kann es nicht sagen, geschweige mir selbst die Frage beantworten. Ich weiß nicht einmal, ob ich stehe oder liege. Ich weiß nur, dass ich rein gar nichts um mich herum erkennen, oder gar wirklich fühlen kann. Als würde ich mich in der Tiefe des Weltraumes befinden, ohne dabei die Möglichkeit zu haben, das Leuchten eines Sternes erblicken zu können. Nichts, rein gar nichts ist hier. Nur ich bin da und warte nur noch darauf, dass auch noch der Rest von mir in dieses unendliche Nichts verschwindet. Löse ich mich gar auf, ohne dass ich das wirklich merke? Es ist so einsam hier und ich bin allein. Doch habe ich kaum die Kraft mich irgendwie bewegen zu können. Es ist, als ob mich eine unsichtbare Macht von allen Seiten daran hindern würde und das macht mir Angst. Ich will nicht hilflos wie eine Fliege sein, die die Beute einer Spinne wurde und nur noch abwarten kann. Verschlungen, bis ich selbst zu einem Nichts werde. Nein, das will ich nicht!

Schweißgebadet wache ich auf und erhebe mich ruckartig von meiner Matratze. Moment, liege ich gerade in meinem Bett? Bin ich etwa zu Hause? War das alles nur ein Traum, ein Albtraum sogar? Unruhig blicke ich auf die Bettdecke, mit der ich noch bis zur Brust zugedeckt bin. Ich fasse den Stoff an und ich spüre ihn. Das kann doch nicht sein, ich dürfte doch gar nicht hier sein. Nicht nach allem, was passiert ist und doch fühle ich den seidigen Saum meiner Sommerdecke. Als hätte ich eine ganz normale Nacht erlebt und diese scheinbar schlafend in meinem Zimmer verbracht. Nein, dass kann doch gar nicht sein! Das ist unmöglich! Ruckartig reiße ich die Decke komplett von mir weg und tastet hastig meinen Körper ab. Doch egal, welchen Bereich ich auch berühre, sei es mein Arm, oder mein Gesicht, ich habe keinerlei Schmerzen. Wie geht das?! Ich wurde doch schwer verletzt! Verwirrt und sogar leicht panisch starte ich einen weiteren Versuch. Doch diesmal hebe ich mein T-Shirt etwas an. Genau auf der rechten Seite von meinem Bauch müsste ich meine Verletzung haben. An dieser Stelle wurde ich doch von einem Stück Metall durchbohrt, aber da ist nichts. Weder ein Verband, noch der kleinster Kratzer ist zu sehen. Wie alles andere an meinem Körper ist auch dieser Teil völlig normal. Nicht einmal ein blauer Fleck, oder irgendetwas dergleichen ist zu sehen. Von Schmerzen brauche ich erst gar nicht zu reden. Hier ist rein gar nichts, aber das ist unmöglich! Das kann doch nicht einfach sein! Spinne ich jetzt endgültig?! Da war doch diese Explosion, das Lagerhaus, die Purple Dragons, Raphael – Das Alles kann ich mir doch nicht eingebildet haben!

Unglaubwürdig berühre ich meinen Bauch. Erst vorsichtig und dann mit mehr Druck gleite ich mit den Fingern über die Stelle, die eigentlich mit einem dicken Verband umwickelt sein müsste. Doch stattdessen fühle ich nur nackte Haut. Der Bereich ist vollkommen unbeschadet. Ich kann das einfach nicht begreifen und ich will es auch gar nicht, weswegen ich den Rest meines Körpers einen weiteren Check unterziehe. Auch dieses Mal ist das Ergebnis dasselbe. Weder im Gesicht, beim Oberkörper, noch bei den Beinen ist irgendetwas festzustellen. Sei es auch nur der kleinste Kratzer, oder winzigste Schramme. Nichts davon ist da. Wie kann das sein? Ich verstehe das nicht, ich bin verwirrt. Das kann ich mir doch nicht alles eingebildet haben, oder? Diese Schmerzen, diese Qual, das kann doch nicht einfach ein Produkt meiner Fantasie gewesen sein. Ich konnte doch sogar den Geschmack meines Blutes schmecken, welches an meiner verletzten Unterlippe hervordrang. Ich zuckte doch zusammen, sobald mich ein weiterer Stich übermannte. Wie kann es also sein, dass ich nun vollkommen gesund bin und nicht die kleinste Verletzung an meinem Leib habe? Überfordert mit der Situation winkle ich meine Beine ab und stütze mich mit meinen Armen und meinem Kopf auf meinen Knien ab. Das ergibt doch keinen Sinn, aber so sehr ich auch darüber nachgrüble, es ändert sich nichts. Wenn das aber tatsächlich nur ein Traum war, heißt das dann, dass ich mich nicht mit Raphael versöhnt habe? Ist dieser Streit überhaupt passiert und habe ich zu den Jungs noch Kontakt? Es gibt so viele Fragen, die geklärt werden müssen. Ich weiß ja nicht einmal welcher Tag heute ist.

„Guten Morgen! Na, sind wir schon wach?“, fragt mich plötzlich eine Stimme und ich wende meinen Blick in die Richtung, aus der sie gekommen ist. Die Tür steht einen Spalt offen und Tante Tina sieht gerade in mein Zimmer herein. Kaum mehr als den Kopf hat sie zu mir hereingesteckt und lächelt mich nun an. Als sie mich aber in meinem Bett erblickt, schnalzt sie einige Male mit der Zunge während sie ihren Kopf schüttelt. „Kindchen, vielleicht sollte ich dir wieder einmal meinen Wecker ausleihen. Irgendwann verschläfst du mir noch. … Also hop, hop! Raus mit dir, du Schlafmütze! Die Schule wartet!“, fordert sie mich nun auf und verdeutlicht dies auch noch mit einer kurzen Handbewegung. Als könnte mich dies noch schneller aus meinem Bett befördern. Doch stattdessen starre ich sie nur verwirrt an. Bitte was? Wovon redet sie denn? Das kann doch gar nicht sein, ich habe doch Sommerferien! Die Schule ist für die nächsten zwei Monate Geschichte. Wie kommt sie also darauf, dass ich heute Unterricht hätte? Selbst Mom hat mich doch freudestrahlend empfangen, nachdem ich an meinem letzten Schultag von der Schule heimgekommen bin. Das muss Tante Tina doch wissen. Schließlich haben wir viele Stunden, eigentlich sogar den ganzen restlichen Tag damit verbracht, Geschichten auszutauschen und gemeinsam Fotos anzusehen. Wir haben sogar eine Pizza zukommen lassen, weil keine von uns ans Kochen gedacht hatte. Wo ist Mom überhaupt, oder ist das Ganze nur ein schlechter Scherz? Wenn das so ist, dann finde ich das überhaupt nicht lustig.

Am liebsten hätte ich dies sogar direkt ausgesprochen. Doch fürs Erste bin ich viel zu verwirrt gewesen, als dass ich das hätte wirklich erwidern können. Zusätzlich hätte ich nicht einmal die Chance dafür gehabt. Denn in diesem Moment steht sie direkt vor mir, zerrt mich aus meinem Bett und drängt mich dazu, mich endlich fertig zu machen: „Also los jetzt, sonst kommst du noch wirklich zu spät und ich will keine Ausflüchte hören.“ Alles in mir sträubt sich gegen diesen Gedanken, dass das wirklich ihr ernst ist und doch redet sie, als wäre so manches noch gar nicht passiert. Als wäre ich noch im alten Trott. Bin ich etwa etliche Wochen in die Vergangenheit zurückgeschleudert worden, sodass nur noch ich weiß, was passieren wird? Lächerlich, das kann doch überhaupt nicht sein. Das ergibt für mich überhaupt keinen Sinn! Schließlich kann ich doch keine Tage, oder sogar Wochen geträumt haben, in denen ich sogar die schlimmsten Dinge erlebt habe. Der Streit, die Verletzungen, all das kann sich doch nicht nur in meine Fantasie abgespielt haben, oder ist der Stress mit Raphael doch passiert und nur die Entführung ist eingebildet? Ich glaube, ich werde allmählich verrückt. Jetzt fehlt nur noch, dass ich noch Schülerin meiner alten High-School bin. Das wäre echt noch die Krönung des Tages, aber dann kann ich für nichts mehr garantieren. Das ist doch ein Schwachsinn! Das muss ein übler Scherz sein! Allerdings bleibt mir momentan nichts Anderes übrig, als es einfach auf mich zukommen zu lassen. Selbst, wenn ich mich jetzt wehren würde, würde ich trotzdem nicht erfahren, was hier eigentlich gespielt wird. Auch wenn sämtliche Alarmglocken in mir schellen.

Das Erste, was ich zu meiner „Erleichterung“ feststellen muss, ist, dass ich doch nicht mehr in meine alte Schule muss. So seltsam, das auch klingt, führt mich mein Weg direkt in Richtung des Schulgebäudes, wo ich auch von meinen beiden Freundinnen begrüßt werde. Beinahe wirkt es so, als wenn alles normal wäre. Trotzdem habe ich ein seltsames Gefühl bei der Sache und auch mein Verstand sagt mir, dass hier irgendetwas faul ist. Noch habe ich keine Ahnung, was hier gespielt wird, aber wenn ich mich weiterhin darauf einlasse, vielleicht fällt mir das eine oder andere auf. Während ich mit den Mädels zum Schein herumalbere, kann ich es nicht lassen, mich immer wieder in meinen Gedanken zurückzuziehen. Ständig habe ich den Eindruck, als würde mir ein kalter Schauer über den Rücken laufen und es wird mir umso mehr bewusst, wenn ich wieder in die „Realität“ zurückgeholt werde, wenn man das hier überhaupt so nennen kann. Es klingt verrückt und ich wage es auch nicht, es laut zu äußern, aber ich zweifle momentan daran, was wirklich ist und was nicht. Grenzt das nicht schon an Verrücktheit? Würde mir gerade einer zuhören, so würde derjenige mich sofort als einen Spinner abstempeln. Es klingt ja auch verrückt und das lasse ich mir nun mal nicht nehmen. Allerdings frage ich mich auch, was das für ein seltsamer Traum war, bevor ich in meinem Zimmer aufgewacht bin. Allein der Gedanke daran, ich könnte mich auflösen und ins Nichts verschwinden, hat mir so sehr Angst gemacht, sodass es auch jetzt noch an mir nagt. War dies vielleicht eine Art Warnung? Ich habe schon des Öfteren gelesen, dass Träume mehr in sich tragen können, als die bloße Verarbeitung von Erlebten und Emotionen.

Allerdings komme ich so nicht weiter. Klarheit, das ist es, was ich will. Ich will verstehen, was hier vor sich geht, bevor ich noch wirklich verrückt werde. „Hey, Erde an Bernadette, bist du noch da? … Worüber grübelst du eigentlich schon wieder? Du bist schon die ganze Zeit so komisch.“, fragt mich Mia, nachdem sie mit ihrer Hand vor mein Gesicht herumgewedelt hat. Augenblicklich sehe ich sie an. Das Mädchen blickt mir skeptisch in die Augen, als müsste sich meine Freundin um mich Sorgen machen. Allerdings versuche ich nun zu lächeln und antworte darauf, obgleich das auch eine Lüge ist: „Ach nichts. Ich fühle mich heute einfach … irgendwie müde. Das ist alles.“ Mias Blick wird umso skeptischer. Leicht kneift sie ihre Augen zusammen und geht näher auf mich zu. Zwischen mir und ihr kann man kaum noch eine Handbreite dazwischen legen, so nah ist sie mir. Ich fühle mich nicht wohl dabei, weswegen sich mein ganzer Körper versteift. „Du kommst mir eher so vor, als hättest du ein ganzes Buch auf einmal gelesen und würdest jetzt den Inhalt hinterfragen. Sei ehrlich, hast du wieder die ganze Nacht durchgemacht?“, kichert sie schließlich und weicht endlich von mir. Doch ich weiß momentan nicht, was ich davon halten soll. Ich frage mich auch, was sie jetzt damit gemeint hat. Im Grunde ist es wahr, dass ich etwas hinterfrage. Um ehrlich zu sein, zweifle ich an allem hier, was mir gerade vor die Nase gesetzt wird. Das kann ich ihr aber unmöglich sagen.

„Ich habe nur schlecht geschlafen, aber wie kommst du darauf?“, stelle ich ihr nun die Gegenfrage, erhalte aber augenblicklich ein verschmitztes Grinsen, sowie auch ein kurzes Achselzucken. Worauf will sie hinaus? Irgendwie ist ihre Art sehr merkwürdig. Zwar hat Mia schon immer einen eigenen Charakter gehabt, aber selbst das ist eher untypisch für sie. Überraschend drückt mich Cori plötzlich an sich und meint schmunzelnd: „Ach vergiss es einfach Bernadette. Mia schließt gerne schnell Dinge von sich auf andere. Womöglich hat sie wieder einmal was von ihrem Dad zu hören bekommen, weil sie selbst wieder die ganze Nacht lang auf war. Schließlich kann sie nicht einmal nach der Schule den Kopf abschalten und muss ständig an ihren Gedichten arbeiten.“ „Ja, wahrscheinlich.“, erwidere ich nur darauf, wobei ich das Gefühl nicht loswerde, als ob nicht doch mehr dahinterstecken würde. Cori stößt sie sogar „unauffällig“ in die Seite, worauf diese sofort reagiert und räuspernd, so wie lachend meint: „Ach, was soll ich machen, wenn mich diese wunderbaren Worte ständig verfolgen? Das ist nun mal so.“ Wenn sie meint, aber so ganz wohl ist mir dabei nicht. Hat Mia mir etwa angesehen, dass mir das alles so komisch vorkommt, weswegen sie sowas in der Art gesagt hat? Klingt vermutlich unwahrscheinlich, aber derweil kann für mich vieles in Frage kommen, weswegen ich das nicht ausschließen möchte. Trotzdem halte ich besser dicht.

„Hey, hast du Lust mit uns am Wochenende nach Coney Island zu fahren? Da können wir mit dem Cyclone fahren. Der soll ja hammergeil sein.“, wechselt Cori auf einmal das Thema, ich winke jedoch desinteressiert ab: „Da waren wir doch erst und ja er war toll, aber irgendwie ist mir nicht danach.“ Ich habe wirklich keine Lust auf eine Achterbahnfahrt. Mein Leben scheint ja bereits selbst eines zu sein, bei dem es ständig bergauf und bergab geht. Daher brauche ich momentan nicht noch mehr von dieser Sorte. Viel mehr will ich meine Ruhe haben, ohne dabei mit dem nächsten Schlamassel rechnen zu müssen. Als ich mich jedoch augenrollend wieder meinen Freundinnen widme, ernte ich gerade einen mehr als nur fragenden Blick. Die beiden sehen sich zunächst an, bis Mia schließlich darauf erwidert: „Ähm, sag mal, wie meinst du das? Wir waren doch noch gar nicht gemeinsam dort.“ Bitte was?! Was redet sie da?! Wollen die zwei mich etwa veralbern, oder was soll das Ganze? „Na sicher! Wir waren doch am Anfang bei den Schießbuden. Mia hat Zuckerwatte gegessen und nach der Fahrt mit dem Cyclone war ihr mehr als nur übel. Ich dachte schon, sie würde bereits bei der Fahrt wie eine Fontäne drauf sein und alles vollkotzen. Doch sie konnte sich noch zurückhalten. Später waren wir dann noch in diesem Spiegelkabinett, wo wir …“, erzähle ich daraufhin. Ich komme mir dabei vor wie ein Wasserfall, während mir sämtliche Details einfallen. Allerdings breche ich nach einigen Sätzen wieder ab.

So wie mich die Mädels gerade ansehen, könnte man meinen, ich wäre gerade aus einer Irrenanstalt ausgebrochen. Egal wen ich dabei in die Augen schaue, jede von ihnen hat denselben Gesichtsausdruck. Glauben die etwa, ich würde mir das gerade aus den Fingern saugen?! Wofür halten die mich eigentlich?! Das ist doch aber alles passiert! Egal, was ich auch erwähnt habe. Ich sah auch diesen Kerl, der sich als meinen verstorbenen Vater ausgegeben hatte. Ich habe die beiden doch an jenen Tag nach diesem Typen gefragt. Ich weiß noch, wie ich herausgestürmt kam und die Mädels stürmisch danach fragte. Daran müssen die sich doch erinnern! Schließlich haben sie mich an diesem Tag auch so seltsam angesehen, als würde ich gerade eine verrückte Schauergeschichte erzählen. Das kann ich mir doch nicht alles eingebildet haben! Eine Weile sehen mich die beiden noch so verdattert an, bis sie sich dann aber links und rechts bei mir einhängen und mich angrinsen. Als wäre nichts gewesen meint Cori: „Ähm, weißt du was, vergessen wir das einfach. Das wühlt dich einfach zu sehr auf. Da ist es doch besser, wenn wir das schnell wieder vergessen.“ Die Blondine grinst mich an. Als könnte sie mich damit wie die Grinsekatze höchstpersönlich hypnotisieren. Es bewirkt bei mir aber nur, dass ich unsicher werde. Wie soll ich nun darauf reagieren? „Ja, vielleicht hast Recht. Vergessen wir das einfach.“, kann ich schließlich nur seufzend darauf antworten, denn was bleibt mir auch anderes übrig. Ich verstehe es ohnehin nicht und selbst wenn ich darauf weiterhin beharren würde, ich fürchte, dass mich das kein Stück weiterbringt.

Es ist aber nicht nur das. Mittlerweile bekomme ich allmählich Angst von den beiden. Normalerweise benehmen sie sich nicht so komisch, aber seit ich in meinem Bett aufgewacht bin, habe ich den Eindruck, dass alles Kopf steht. Ich sehe zwar, dass ich in meiner gewohnten Umgebung bin, aber ich habe ständig den Eindruck, als wenn das nicht der Realität entspricht. Auch benehmen sich alle in meinem Umfeld so komisch und wie kann es sein, dass ich noch immer Schule habe und das keiner von dem Ausflug nach Coney Island Bescheid weiß? Es ist, als wäre ein Teil meines Lebens ausradiert worden. Ich muss hier dringend weg und jemandem, oder irgendetwas finden, damit ich endlich aufgeklärt werde. Schön langsam habe ich das Gefühl, dass ich wirklich meinen Verstand verliere und das macht mir höllische Angst. Wenn ich nicht weiß, was hier gespielt wird, wie soll ich dann wissen, was ich machen soll?
 

Aus Erzählersicht:
 

Unruhig steht Mikey auf dem Dach und richtet seinen Blick auf das hohe Gebäude. Verborgen im Schatten betrachtet der Turtle mit der orangen Maske das Krankenhaus, während er zeitgleich mit seinem Handy beschäftigt ist. Der sonst so fröhliche Geselle zeigt diesmal eine ernste und zugleich besorgte Mimik. Ein Tag ist bereits vergangen, seitdem er seine Freundin dort abgeliefert hat. Er fragt sich, wie ihr Zustand ist und ob sie noch lebt. Der Gedanke an die schweren Verletzungen lassen ihn jedoch erschaudern. Schon so viele verwundete Menschen hatte er bereits gesehen und es ist dabei egal, ob er denen diese selbst zugefügt hatte, oder ob er diese nur beobachtet hatte. Schließlich passieren tagtäglich Unfälle und das Krankenhaus ist das beste Beispiel dafür, dass es immer etwas zu tun gibt. Krankheiten oder Verletzungen, sie sind nun mal ein Bestandteil des Lebens und der Turtle weiß nur zu gut, dass die Menschen es schwerer haben als er selbst oder seine Familie. Selbst ein Kratzer verheilt im Vergleich zu ihnen viel langsamer, während sie als Mutanten es kaum bemerken. Da muss schon etwas Gröberes passieren, wie es zum Beispiel bei Raphael der Fall ist. Auch wenn das Mutagen im Blut eine rasche Regenerierung hervorruft, so muss sich auch der Hitzkopf etwas gedulden, bis er wieder laufen kann. Jedem ist voll und ganz bewusst, dass es ihn am schwersten getroffen hat. Schließlich hat er im Vergleich zu seinen Brüdern nicht nur die schwerste Verletzung davontragen müssen, er ist auch seelisch sehr stark angeschlagen. Wenn es nach ihm gehen würde, wäre er bei Bernadette und wenn er könnte, würde er sogar stundenlang an ihrer Seite verweilen und nicht eher von ihr weichen, bis er sie wieder aus dem Krankenhaus tragen kann. Doch dies ist nur ein Wunschdenken, was dessen Laune weiterhin im Keller sacken lässt.

Nur ungern hatte sich Mikey in der Nacht zuvor wieder zu Hause blicken lassen. Der Grund dafür war, dass er einfach nicht ausgefragt werden wollte, wie es Bernadette der ganzen Zeit ergangen war. Schließlich hatte er selbst keine Ahnung, wie viel Kraft in ihr noch steckte und so, wie er sie neben dem Krankenwagen zurücklassen musste, hatte er kein gutes Gefühl. Auch wenn die Verletzte versucht hatte, es sich nicht anmerken zu lassen, so spürte er dennoch sehr deutlich, wie schlecht es ihr erging. Genau dies den anderen, insbesondere Raphael zu erzählen, wollte er sowohl sich als auch den anderen ersparen. Zu groß ist bereits die Sorge um die Freundin und er wollte auf keinen Fall, dass er es mit seinen Worten noch verschlimmert. Somit zog er sich schnell zurück, nachdem er Meister Splinter kurz und bündig Bericht erstattet hatte. Wovon auch später die anderen erfahren haben. Doch nun ist er wieder hier. Bereit herauszufinden, wie es Bernadette nun ergeht, klärt er Leo per Handy über seine momentane Lage auf: „Ich bin jetzt hier Leo. Soweit ich erkennen kann, gibt es entweder auf dem Dach selbst eine Möglichkeit hineinzukommen, oder ich könnte in eines der Fenster einsteigen. Es ist jetzt halt nur die Frage, wo sie sich gerade befindet. Nicht, dass ich ein Zimmer betrete und dann von Patienten oder von einer Krankenschwester höchst persönlich begrüßt werde. … Wie sieht es sonst aus, Bro? Hat Donnie herausgefunden, ob es auch im Krankenhaus selbst auch Überwachungskameras gibt?“ Auf diese Frage muss er nicht lange warten. Nach einigen Sekunden erhält er von seinem Bruder schon die Antwort: „Laut Donnie hat dieses Gebäude nur die Standardsauführung, was die Überwachungstechnik angeht. Somit sind nur der Eingangs- und der Empfangsbereich davon betroffen. Sei aber trotzdem vorsichtig und gib uns Bescheid, wenn du sie gefunden hast.“

„Gut mach ich. … Als wenn ich das nicht so oder so draufhätte.“, erwidert Mikey darauf und betont es so, als würde er solche „Krankenbesuche“ tagtäglich machen und genau das hört der Anführer ebenfalls heraus. So belehrt er seinen Bruder: „Du weißt schon, dass ich dich noch hören kann? Vergiss nicht, dass du manchmal zur Leichtsinnigkeit neigst.“ „Jaja, ist ja schon gut. Nur weil ich das eine oder andere Mal ein bisschen Spaß habe, bin ich sofort wieder leichtsinnig.“, meckert Mikey und äfft dabei seinen Bruder sogar etwas nach. Diesen Vortrag hat sich des Öfteren schon anhören müssen, jedoch sieht er nicht ein, dass er immer leichtsinnig handelt. Nach seiner Meinung würde sonst nie ein kleines Abenteuer stattfinden, aber das erspart er sich zu äußern. Er weiß ganz genau, dass er sich dann die nächste Belehrung anhören müsste und wenn er das vermeiden kann, so tut er das auch. Stattdessen begnügt er sich, mit der freien Hand Leos „Plappern“ nachzuspielen. Ein Seufzen ist auf der anderen Leitung zu hören, doch dann meint der Turtle mit der blauen Maske: „Lassen wir das lieber, sonst geht die Sonne wieder auf, ehe wir mit unserer Diskussion fertig sind.“ Das lässt sich der Orangemaskierte nicht zweimal sagen, da ihm bereits schon etwas langweilig ist. Vielmehr will er jetzt losdüsen und dennoch brennt ihm noch eine Frage: „Geht klar Bro, aber auf welcher Etage sollte ich mich eher halten? Das Gebäude ist nicht gerade klein.“ „Bernadette wird sich sicherlich noch auf der Intensivstation befinden. Halte dich also eher im dritten Stock auf. Donnie vermutet, dass sie dem Lageplan nach dort sein muss.“, gibt Leo ihm als Antwort, woraufhin sein Bruder nickt und das Gespräch beendet.

Kaum, dass er das handyähnliche Gerät in die nächste Tasche verstaut hat, macht er sich schon bereit. Der Turtle nimmt Anlauf und springt von der Kante weg. Wie ein Akrobat segelt er durch die Luft und lässt sich trotz der eher miesen Stimmung nicht nehmen, ein kleines Kunststück zu vollführen, während er sich von dem Wind tragen lässt. Ein kurzes Gefühl der Freiheit und der Leichtigkeit überkommt ihn, bis er schließlich sicher mit beiden Füßen das Dach des Krankenhauses berührt. „So und was jetzt? Von außen, oder von innen?“, fragt sich Mikey selbst, während er sich grübelnd am Kopf kratzt. Ihm ist es wichtig, Bernadette so schnell wie möglich zu finden, ohne dabei entdeckt zu werden. So oder so würde es eine Weile dauern, wobei er sich vorstellen kann, dass er noch eher erwischt werden könnte, würde er vom Dach aus in das Innere gelangen. So beschließt er sein Glück bei den Fenstern zu versuchen. Schließlich könnte er sich immer noch etwas überlegen, sollte das Entsprechende geschlossen sein. Somit beginnt seine Kletteraktion. Erst lässt er sich von der Dachkannte hinab, ehe er Stück für Stück sich fallen lässt. Dabei hält er sich immer rechtzeitig am Vorsprung fest, die die Fensterbretter ihm bieten. Somit gelangt er von fünften Stockwerk rasch in den dritten, ehe er sich von einem Fenster bis zum Nächsten angelt. Durch jedes, woran er vorbeikommt, späht er einen Moment lang hinein, bis er sich vergewissert hat, dass seine Freundin dort nicht ist. In den meisten ist bereits das Licht erloschen und die Patienten schlafen. Manche ruhiger und andere wiederum wimmern, oder klagen anders ihr Leid. Daran versucht der Turtle aber nicht zu reagieren. Nicht das ihm diese Menschen nicht leidtäten, aber er will dieses unangenehme Gefühl in seiner Brust nicht noch weiter verstärken, weswegen er so schnell wie möglich weiterklettert.

Es müssen bereits an die zwanzig Fenster sein, die Mikey hinter sich gelassen hat, ehe er das Richtige findet. Ein kurzer Blick auf das Bett und schon kann er Bernadette erspähen. Doch dieses Zimmer ist erleuchtet, weswegen er schnell in Deckung geht. Nur langsam und vorsichtig wagt er einen neuen Blick und bemerkt schließlich zwei weitere Menschen. Eine Frau sitzt ganz nah an dem Bett, während der Arzt ein Stück weiter weg daneben steht und ein Klemmbrett in der Hand hält. Tränen haben sich bei der Dunkelhaarigen gebildet, die scheinbar unaufhörlich ein Weg ins Freie suchen. Nur zwingend kann sich die Frau etwas zusammenreißen, während sie schluchzend fragt: „Sagen Sie mir bitte: Was hat meine Tochter? … Wer hat ihr das angetan?!“ Ihre letzten Worte klingen verzweifelt, jedoch bleibt der Arzt dagegen ganz ruhig und geht schließlich auf die Fragen ein. Was Mikey jedoch da hört, lässt ihn vor Schreck das Blut in den Adern gefrieren.

Nächtlicher Besuch

Erzählersicht:
 

Ungeduldig starrt die Pilotin den Arzt an. Doch jener erwidert dies mit einem Blick, als hätte er eine Maske aufgesetzt, die kaum Emotionen zeigt. Ruhig bittet er die verzweifelte Frau: „Mrs. Shepherd, ich verstehe, dass Sie sich große Sorgen um ihre Tochter machen. Dennoch bitte ich Sie, sich etwas zu beruhigen.“ „Sagen Sie mir nicht, was ich tun, oder lassen soll! Ich will wissen, wer das hier zu verantworten hat!“, schreit Mrs. Shepherd ihn unter Tränen an. Jeder andere hätte nun versucht, sich zu verteidigen, oder hätte sogar selbst die Beherrschung verloren. Der Arzt jedoch behält seine steife Haltung und fährt fort: „Mrs. Shepherd, ich kann Ihnen zu meinem Bedauern nicht sagen, was ihrer Tochter zugestoßen ist. Sie wurde nicht weit vom Eingang dieses Krankenhauses gefunden. Egal, wer die junge Dame hierhergebracht hat, es war noch zur rechten Zeit. Die Operation ist gut verlaufen und ich kann Ihnen versichern, dass Ihre Tochter noch großes Glück gehabt hat.“ Bei den Worten „großes Glück“, glaubt die Pilotin, ihr Gegenüber würde sich sowas wie ein Scherz erlauben. Denn wie Glück sieht es in ihren Augen nicht aus. Im Gegenteil, sie befürchtet das Schlimmste, was sie auch vor Wut zum Ausdruck bringt: „Großes Glück?! Meine Kleine liegt hier und wacht nicht mehr auf und das soll ich wirklich als Glück ansehen?!“ „Ich kann Ihren Schmerz nachvollziehen und es ist mit Sicherheit nicht leicht, wenn ein enges Familienmitglied im Koma liegt. Jedoch muss ich auch betonen, dass Ihre Tochter auch hätte sterben können. Neben den deutlich sichtbaren Hämatomen, der Platzwunde und der leichten Gehirnerschütterung, hat sie zudem auch leichte Quetschungen und einige Prellungen am Brustkorb, sowie auch bei der linken Hand. Theoretisch wäre dies kein Grund zur Sorge, wäre da nicht diese schwere Verletzung an ihrem Bauch, wodurch sie viel Blut verloren hat. Sie hat großes Glück gehabt, dass nicht auch noch wichtige Organe schwer verletzt worden sind. Wäre dies der Fall gewesen, so hätte Ihre Tochter das vermutlich nicht überlebt.“, klärt der Arzt sie nun auf.

Mrs. Shepherd schweigt, während sie sich diese Aufzählung an Verletzungen hat anhören müssen. Bei jeden weiteren „Punkt“ hat sie das Gefühl, jemand würde ihr die Luft immer um ein Stück zuschnüren. Der Gedanke daran, welche Schmerzen Bernadette dabeihaben muss, ist für sie beinahe unbegreiflich. Ihr Gesicht ist dabei sogar so blass vor Angst geworden, sodass der Mann im Kittel nun befürchtet, es mit seiner Erklärung übertrieben zu haben. Aus diesem Grund versucht er der Frau nun etwas Hoffnung zu geben und entschuldigt sich sogar bei ihr: „Verzeihen Sie mir, sollte ich Ihre Sorge um Ihre Tochter durch die aufgezählten Fakten vergrößert haben, aber eines kann ich Ihnen versichern: Ihre Tochter beweist großes Durchhaltevermögen. Sie ist trotz der Verletzungen stark und das Koma, in der sie sich nun befindet, beweist nur, dass sie weiterhin kämpft. Ihr Körper ist dabei, sich zu regenerieren und diese Zeit braucht sie.“ Bernadettes Mutter erwidert darauf nichts. Seine Worte haben auch ihre Angst um ihre Tochter nicht geschmälert. Trotzdem ist sie innerlich für jeden noch so kleinen Hoffnungsschimmer dankbar. Selbst wenn sie das offenbar nicht zeigen kann. Ihr Blick fällt nun wieder auf Bernadette. Als würde diese nur schlafen, liegt sie im Krankenbett. Doch die Maschinen um sie herum zeigen jeden, der das sieht, dass ihr Zustand auf keinen Fall auf ein „Dornröschenschlaf“ zurückzuführen ist. Mit Tränen in den Augen ergreift sie nun die Hand ihrer Tochter und flüstert dieser etwas zu, was der Orangemaskierte aber kaum verstehen kann.

Mikey hat nun genug gehört. Die Nachricht darüber, dass seine Freundin nicht allzu bald aufwachen wird, hat ihm erschüttert. Dass Bernadette noch lebt, ist nur ein kleiner Trost. Denn allein, was er in diesem Augenblick für Informationen über die Verletzte erfahren hat, reicht schon aus, sodass er sprachlos in die Leere starrt und die Worte des Doktors noch einmal in sein Gedächtnis rufen lässt. Jedoch muss er sich leider selbst eingestehen, dass er kaum etwas Anderes hätte erwarten können. Bei diesen Verletzungen ist es für ihn sogar ein Wunder, dass das Mädchen überhaupt so lange durchgehalten hat und nicht bereits schon Vorort gestorben ist. Dennoch wollte er sich, bevor er heute wieder hierhergekommen ist, nicht einmal für eine Sekunde vorstellen, dass Bernadette es vielleicht doch nicht geschafft haben könnte. Jetzt weiß der Orangemaskierte, dass sie noch lebt, doch zu welchem Preis? Da er hier aber nun nichts tun kann, entscheidet sich der Turtle, nach Hause zurückzukehren. Ohne weiter Zeit zu verlieren, klettert er unbemerkt seitlich die Mauer wieder nach oben, ehe er sich mit etwas Anlauf auf das nächstgelegene Dach schwingt und sich in Bewegung setzt. Er beeilt sich sogar. Als hätte ihn etwas gestochen, folgt der Mutant seinen Weg. In Gedanken hört er noch die Mutter seiner Freundin, wie diese bitterlich um ihre Tochter weinte. Um dies nicht zu sehr zu spüren und irgendwie zu verdrängen, beschleunigt er sogar sein Tempo, was allerdings nur begrenzt hilft. Dieses beklemmende Gefühl verfolgt ihn weiterhin.

Mikey hat kaum die Straßen von New York hinter sich gelassen und ist in die Kanalisation zurückgekehrt, stößt er wenig später mit einem seiner Brüder zusammen. Es ist Leo, den er beinahe umgerannt hat. Verwirrt sieht jener den Aufgebrachten an und fragt ihn schließlich: „Mikey? Wieso bist du nicht im Krankhaus und warum hetzt du hier durch die Gegend? … Hast du etwas wegen Bernadette herausfinden können?“ Mikey nickt zunächst stumm, während er erst einmal Luft holt. Erst dann blickt er den Anführer geknickt an und geht auf seine Fragen nun direkt ein: „Ja, ich konnte zwar nicht direkt zu ihr, aber … ich habe da einiges mitbekommen.“ „Und was?“, hakt Leo schon leicht ungeduldig nach, aber die Antwort, die nun folgt, gefällt dem Anführer der Truppe ganz und gar nicht: „Bernadette liegt im Koma.“ „Sie ist was?!“, fragt Leo geschockt. Er kann nun mal nicht glauben, was Mikey da gerade behauptet. Jedoch seufzt dieser, wiederholt diesen Satz und geht sogar noch näher darauf ein: „Ich sage es nicht gern Bro, aber die Kleine liegt im Koma. … Ich habe sie selbst dort liegen sehen und kann dir garantieren, dass dieser Anblick nicht gerade sehr erfreulich war.“ „Was war nicht sehr erfreulich?“, mischt sich nun Donnies Stimme in die Runde ein, der gerade aus seinem Labor kommt. Der Lilamaskierte hat gerade mal den letzten Teil dieses Satzes mitbekommen, ist jedoch auch neugierig geworden, worüber sich die Brüder gerade unterhalten. Allein schon die Tatsache, dass Mikey, früher als vermutet, nun wieder in der Kanalisation ist, verstärkt sein Interesse. Abwechselnd schaut das Genie seine Brüder an und wartet nun auf eine Antwort.

„Mikey hat mir gerade erzählt, dass unsere Freundin im Koma liegt.“, berichtet Leo kurz und knapp, während jener dabei stumm nickt. Donnies Augen werden größer, doch bevor er nun wild herumfragt, will er zunächst wissen, ob das wirklich wahr ist. Es hätte nach seiner Meinung nach auch sein können, dass sich der Orangemaskierte vielleicht überhört hat. Mikey wiederholt aber zum Bedauern seiner Brüder, dass es wirklich so ist. Eine kurze, aber dennoch unerträgliche Stille kehrt ein, bis Donnie vor sich her murmelt: „Ich hab´s befürchtet.“ „Wie meinst du das?“, fragt Mikey ihm, dem der Kommentar seines Bruders etwas verwirrt. „Diese Verletzungen, … es ist schon ein Wunder, dass sie nicht auf der Stelle gestorben ist und dennoch …“, meint Donnie, kann seinen Satz aber nicht vollenden. So sehr Leo ihn auch auffordernd ansieht, schweigt das Genie der Familie. Doch anstatt diesen schließlich darauf anzusprechen, widmet sich der Anführer seufzend wieder Mikey zu. Er will von ihm wissen, ob er sonst noch etwas herausbekommen hat: „Hast du noch irgendetwas mitbekommen? Irgendwelche Details, von denen wir noch nichts wissen? Wer war überhaupt dort, sodass du nicht direkt zu ihr konntest?“ „Ich habe kaum das richtige Fenster erreicht, schon habe ich Bernadettes Mom an ihrem Bett sitzen sehen. Sie scheint nicht lange dort gewesen sein, als ich antraf. Sie wirkte aufgeregt und hatte keine Ahnung, wieso ihre Tochter überhaupt in diesem Krankenhaus lag. … Ich vermute mal, dass Bernadettes Verschwinden nicht lange unentdeckt geblieben ist. Ich weiß zwar nichts Fixes, aber mich würde es nicht wundern, wenn diese Frau so manche Orte, wenn nicht schon andere Krankenhäuser abgeklappert hat.“, fängt Mikey zu erzählen an, bis er dann eine kurze Pause macht.

„Und weiter?“, hakt Donnie nach und sein Bruder setzt mit der Erzählung fort: „Laut dem Arzt sei zwar die Operation gut verlaufen, dennoch hätte Bernadette einiges davontragen müssen. Neben den Häma…, ähm … den blauen Flecken, hat sie noch einige Prellungen am Brustkorb und auch bei der linken Hand. Weiter folgen eine Platzwunde, leichte Quetschungen, sowie auch eine leichte Gehirnerschütterung. Doch am schlimmsten sei die Wunde am Bauch. … Er meinte, dass Bernadette noch großes Glück gehabt hat, dass keine wichtigen Organe schwer verletzt worden sind. Ich schätze mal, ein paar cm tiefer und sie hätte das garantiert nicht überlebt. … Am Ende sagte er auch, dass es schon ein Wunder ist, dass sie nicht schon wegen dem hohen Blutverlust bereits gestorben ist, aber das war mal ´ne schwere Kost. … Ihr hättet mal Bernadettes Mom erleben sollen. Die war kreidebleich, das sage ich euch. Ich habe zwar nur einen kurzen Blick riskiert, aber der hat schon gereicht. Während sie sich die ganze Liste an Verletzungen anhören musste, war sie still und trotzdem war ihr deutlich anzusehen, dass sie den Arzt am liebsten zum Schweigen gebracht hätte. Die Frau hätte mit diesem Gesicht locker in eine Horrorszene hineingepasst und hätte sie sich nicht zusammengerissen, wären wohl zwei Wasserfälle aus ihren Augen gesprungen. Wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob sie nicht noch mehr getan hätte. Dieser Arzt kann von Glück reden, wenn Bernadettes Mom ihn nicht wie eine Hyäne anfällt.“ „Dabei kann dieser Mann nicht einmal etwas dafür, wenn er schlechte Nachrichten überbringen muss.“, muss Leo einwenden, fügt aber dann hinzu: „Jedoch verstehe ich auch die Mutter. Das ist sicherlich nicht leicht für sie.“

„Leicht ist es für Bernadette auch nicht. Dass sie im Koma liegt, ist nicht zu unterschätzen. Es kann Tage, Wochen, Monate, wenn nicht sogar noch viel länger dauern und bis dahin gibt es auch keine Garantie, ob derjenige eines Tages tatsächlich wieder aufwacht. Es gibt sogar Fälle, bei denen die Chancen so gering sind, sodass die Maschinen aus Verzweiflung der Angehörigen abgeschaltet werden. Nur wenig hört man von Patienten, die nach einer eher „kurzen“ Zeitspanne das Bewusstsein wiedererlangen und ohne weitere Schäden ihr Leben einfach weiterleben können.“, meint Donnie, was aber von Mikey eher negativ aufgefasst und daher auch so kommentiert wird: „Das ist nicht gerade sehr hilfreich Bro.“ „Sorry, wenn dir die Tatsachen nicht gefallen. Zu deiner Info, mir auch nicht. … Zumindest ist es noch offen, was Bernadette betrifft.“ „Wie meinst du das?“, wirft der Angesprochene nun ein und Donnie antwortet ihm: „Wie gesagt, es ist noch alles offen, was sie betrifft. Auf der einen Seite dürfen wir nicht vergessen, dass Bernadette noch nicht lange im Koma liegt. Das heißt, es besteht immer noch die Möglichkeit, dass sie bald wieder aufwachen wird. Es kommt halt nur darauf an, wie es um ihre Verletzungen steht. Verheilen diese relativ rasch, so wird sich unsere Freundin demnach schneller erholen. Zumindest besteht da eine große Wahrscheinlichkeit. … Allerdings macht mir ihr hoher Blutverlust etwas Sorgen.“ „Nicht nur dir.“, murmelt Leo, bis nun zwischen allen drei Brüdern wieder Stille herrscht.

Die Stimmung unter ihnen ist betrübt. Zwar hätte keiner von ihnen damit gerechnet, dass es ihrer gemeinsamen Freundin vielleicht doch bessergehen würde, als erwartet, jedoch ist die momentane Tatsache nicht einfach zu verdauen. Mit vielen haben die drei gerechnet, aber dass das Mädchen vielleicht im Koma liegen könnte, wollten die Schildkrötenmutanten nicht einmal in Erwägung ziehen. Sie alle hätten dem Paar sogar gewünscht, dass Raphael Bernadette schon bald und auch ohne Probleme im Krankenhaus besuchen könnte. Doch dies hat sich leider in ein Wunschdenken entpuppt und die Realität hinterlässt stattdessen einen sehr bitteren Beigeschmack. Doch eine Sache gibt es noch, was alle in diesem Raum beschäftigt: Wie sollen sie Raphael diese Information beibringen, der sich auch ohne dieses Wissen große Sorgen um die Liebe seines Lebens macht? Nie hätte Raphael es gewagt, seiner Familie irgendwelche Anzeichen von Schwäche zu zeigen. Sooft sich einer der drei Brüder hat bei ihm blicken lassen, sooft hat der Rotmaskierte seine undurchdringbare Mauer um sich gebaut. Kein einziges Mal hat er bisher seine Sorge um Bernadette in Worte gefasst. Nicht einmal bei seiner Mimik hat er sich diesbezüglich etwas anmerken lassen. Als hätte er sich eine Maske aufgesetzt, ist er in seiner selbsternannten Rolle geblieben. Jedoch kann er trotz seinen Bemühungen niemandem etwas vormachen: Er hat schreckliche Angst um seine Freundin und das wissen die Brüder nur zu gut.

„Wie geht es jetzt weiter Leo? In Raphis momentanen Zustand können wir es ihm nicht sagen. Der würde durchdrehen und alle Hebel in Bewegung setzen, nur damit er bei ihr sein kann. Auch wenn dies mit einem Gipsbein eher schwer werden dürfte, aber ihr kennt ihn ja. Er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, nur damit er endlich zu ihr kann.“, wirft Donnie nun in die Runde ein. Leo hingegen sieht nachdenklich etwas zur Seite. Auch er hat sich bereits selbst gefragt, wie sie nun am ehesten vorgehen sollten. Nur hat er dies nicht ausgesprochen, was aber schon sein Bruder mit der lila Maske und der Brille im Gesicht übernommen hat. Würden sie Raphael jetzt über die momentane Erkenntnis setzen, so würde dies seinen seelischen Zustand noch weiter verschlimmern. Selbst wenn jener diese Art von Gefühlen vor allen zu verstecken versucht. Auch heute war der Rotmaskierte den ganzen Tag mit seinem Kopf nur bei einem Thema und das ist Bernadette. So war es für die anderen nicht verwunderlich, dass dieser sich mit dem reparierten Amulett, sowie mit Bernadettes Gedicht beschäftigt hatte. Ständig waren seine Gedanken nur bei ihr, das sah man ihm an und dennoch sagte er kein Wort dazu. Am Anfang hatte dies die drei anderen Turtles mehr als nur beunruhigt, aber als sie Meister Splinter darauf ansprachen und fragten, was sie nun tun sollten, meinte dieser nur Folgendes: „Euer Bruder wird nun ein weiteres Mal auf die harte Probe gestellt, bei der er viel Geduld beweisen muss. Er weiß ganz genau, was auf ihm zukommen wird und dabei braucht er jede Unterstützung, die er in seiner momentanen Lage bekommen kann.“

Somit versuchten die drei alles, um ihren Bruder irgendwie eine Stütze zu sein. Doch weder Mikeys Aufmunterungsversuche, noch andere Methoden ihn irgendwie anders abzulenken, wirkten. Die Brüder konnten somit bisher nichts weiter tun, als Raphael gut zuzureden und ihm auch die Ruhe zu gönnen, die er braucht. Nur fürchtet Mikey, dass dieser nicht entspannt bleiben wird, wenn er merkt, dass ihm was verheimlicht wird: „Meint ihr nicht, dass unser Bro ein Recht darauf hat? Schließlich macht er sich so oder so Sorgen um sie. Auch wenn er vor uns den kalten Eisblock vorspielt. Wenn er aber merkt, dass wir bereits was wissen, was er nicht weiß, dann möchte ich ehrlich gesagt nicht in seiner Nähe sein. Ihr wisst doch, wie schnell er ausflippen kann.“ Der Orangemaskierte stellt sich diese Situation sogar bildlich vor, wodurch er im nächsten Augenblick erschaudert. Donnie hingegen sieht das anders und beharrt auf seiner Meinung: „Das mag sein Mikey, aber so wie er momentan drauf ist, will ich ihm das ehrlich gesagt auch nicht antun. … Was meinst du Leo? Was sollen wir machen?“ Leo fühlt sich gerade hin und her gerissen. So ungern er seinen hitzköpfigen Bruder im Dunkeln lassen will, so will er auch nicht, dass er sich mit diesem Wissen noch mehr auf seine Schultern lastet. Er weiß ganz genau, wie stark seine Gefühle zu Bernadette sind und nichts auf der Welt würde den Sturkopf davon abbringen, an sie zu denken, geschweige auf irgendeinen Weg zu ihr zu gelangen. Koste es, was es wolle.

Schließlich meint der Anführer: „Mikey hat da nicht ganz Unrecht. Ewig können wir es ihm nicht vorenthalten und spätestens dann, wenn er wieder aufstehen kann, wird er es erfahren und wer weiß, wie er dann reagieren wird. Wir machen es daher folgender Maßen: Noch sagt keiner etwas zu ihm. Ich werde mir morgen selbst ein Bild von der Situation machen und dann sehen wir weiter.“ Mit diesem Beschluss sind die anderen beiden zunächst einmal einverstanden, auch wenn dieser sie noch nicht wirklich weitergebracht hat, geschweige wirklich zufriedenstellt. Dennoch ist es ein Anfang und so setzt Leo seine Idee am nächsten Abend um. Kaum dass die Sonne untergegangen ist, hat sich der Anführer bereits auf dem Weg gemacht und befindet sich nun, wie Mikey in der Nacht zuvor, auf dem gegenüberliegenden Gebäude. Noch wartet der Blaumaskierte auf dem richtigen Moment, ehe er schließlich Anlauf nimmt und hinüberspringt. Sein Bruder hatte ihm bereits mitgeteilt, nach welchem Fenster er Ausschau halten sollte, weswegen er zunächst am Dach entlanggeht und sich erst dann nach und nach herunterlässt. Seine Verletzungen sind fast alle verheilt, weswegen er nur ab und zu einen kurzen Stich bei seiner Hand spürt, wenn er bei sich den Vorsprüngen festhält. In Gegensatz zu Mikey muss Leo nicht lange suchen und alle scheinen im Krankenhaus zu schlafen, jedoch ist das Fenster zu Bernadettes Krankenzimmer verschlossen und von außen gibt es keine Möglichkeit irgendwie hinzukommen.

„Mist!“, zischt der Blaumaskierten schimpfend, ehe er schließlich nach einer anderen Möglichkeit sucht, um ins Innere zu gelangen. Leo muss jedoch zwei Fenster weiter rechts klettern, bis er schließlich eines findet, welches um einen Spalt offen steht. Wie er das schon einmal getan hatte, hebelt er mit einem seiner Katanas die Verriegelung auf und kann nach einigen Minuten vorsichtig hineinklettern. Hier muss er allerdings leise sein. Denn im diesen Zimmer befinden sich zwei Krankenbetten mit jeweils einen Patienten. Um sie nicht aufzuwecken, schleicht der Turtle vorsichtig an ihnen vorbei, öffnet langsam die Tür und späht hinaus. Der Gang ist zu seiner Überraschung nur ansatzweise beleuchtet. Manche Bereiche sind sogar in völliger Dunkelheit gehüllt, so wie auch der Teil, in der er sich gerade befindet. Leo vermutet, dass die Menschen das machen, um Kosten zu sparen und damit die Leute, die hier ein- und ausgehen trotzdem etwas sehen zu können. Für ihn scheint das nicht wirklich einen Sinn zu ergeben, aber dafür kann er das zu seinem Vorteil nutzen und dabei ungesehen bleiben. Viel los ist hier so und so nicht. Zumindest betrifft das diese Etage. Leo bekommt gerade mit, wie eine Krankenschwester einige Meter weiter weg einen Raum betritt und nicht sofort wieder herauskommt. Diese Chance nutzt er und sucht schließlich Bernadettes Zimmer auf, die sich zwei Türen weiter links von ihm befindet.

So leise wie möglich schleicht er sich herein, bis er schließlich einige Schritte vor ihr steht. Hier liegt sie, an mehreren piependen Maschinen angeschlossen und von Kabeln und Schläuchen umgeben. Eines dieser weißen Röhren endet direkt bei ihrem Mund, wobei es nicht den äußeren Mundbereich betrifft. Das Ding führt direkt durch die Luftröhre und eine Pumpe sorgt stets dafür, dass das Mädchen regelmäßig Sauerstoff bekommt. Zu der Linken der Verletzten kann der Turtle einen Überwachungsmonitor erkennen. Er zeigt die Herzstromkurve, den Puls, den Blutdruck, die Sauerstoffsättigung im Blut und viele andere Funktionswerte an. Dicht daneben stehen die Infusionsgeräte, die dafür sorgen, dass der Teenager mit genügend Flüssigkeit und Medikamenten versorgt wird, welche direkt in das Blut geleitet werden. Bernadette selbst ist übersät von Verbändern. Scheinbar jede mögliche Stelle ihrer Haut ist davon bedeckt, während sie friedlich in diesem Krankenbett ruht. Leo muss bei diesem Anblick schlucken. Immer wieder hatte er sich ausgemalt, wie er seine Freundin vorfinden würde, aber in der Realität sieht es für ihn schlimmer aus als in seiner Fantasie und dennoch versucht der Anführer sich nicht davon übermannen zu lassen. Stattdessen schreitet er direkt auf sie zu, wo er sich dann langsam auf dem daneben stehenden Sessel niederlässt und sie weiterhin betrachtet.

Ihre Augen unter ihren Lidern bewegen sich und irgendwie scheint es fast so, als würde sie nur träumen. Wenn der Rest nicht wäre, könnte man dies wirklich glauben. „Hey, ich dachte mal, ich sehe mal nach dir.“, fängt Leo schließlich an in der Flüsterstimme den Teenager anzusprechen. Wohlwissend, dass Bernadette keine Antwort, oder sonst irgendeine Reaktion von sich geben wird, spricht der Blaumaskierte weiter: „Ich weiß nicht, ob du mich gerade hörst, aber du sollst wissen, dass wir stets an dich denken. Besonders Raphi macht sich Sorgen um dich. Naja, etwas Anderes wäre ja nicht von ihm zu erwarten, oder? Er liebt dich und am liebsten wäre er an meiner Stelle hier, aber noch kann er nicht. Er wird aber bald kommen, das verspreche ich dir.“ Hier macht der Turtle eine kurze Pause und streicht sanft über die rechte Hand, bis er schließlich traurig seufzt. Zu sehr wünscht er sich, er könnte an ihrem Zustand etwas ändern. Doch das Einzige, was er machen kann, ist mit ihr zu reden und ihr gut zuzusprechen: „Irgendwie scheint ständig alles drunter und drüber zu gehen. Kaum dass eine Hürde überstanden ist, so folgt schon die Nächste. … Es ist echt manchmal entmutigend, aber dennoch dürfen wir uns nicht unterkriegen lassen. Wir müssen immer an das denken, was wir haben und was wir noch haben werden. Du hast zum Beispiel deine Familie und du hast auch uns. Donnie, Mikey, Meister Splinter, April, wir alle stehen hinter dir und warten auf dich. Besonders Raphi sehnt sich nach dir und ich weiß auch, dass du das ebenfalls tust. So kämpfe bitte Bernadette. Lass dich nicht unterkriegen. Egal was auch war, du wirst es schaffen. So wie du auch alles andere gemeistert hast. Davon bin ich felsenfest überzeugt.“

Mit diesen Worten lächelt er leicht. Auch wenn Bernadette es nicht sehen kann, so will er ihr damit zeigen, dass er zu dem steht, was er gerade gesagt hat, ehe er sich dann wieder erhebt und zum Fenster geht. Diesmal braucht er ja keinen Umweg zu nehmen als vorhin, weswegen er einfach dieses öffnet und mit einem letzten verabschiedenden Blick den Raum verlässt. So wie er gekommen war, führt sein Weg zunächst über die Dächer, bis er schließlich in der Kanalisation den Heimweg antritt. Auch wenn er bei seiner Freundin nur dagesessen und geredet hat, so fühlt er sich doch irgendwie besser. Er weiß nicht warum, aber er hat trotz der Äußerlichkeiten das Gefühl, als ob seine Worte bei ihr angekommen wären. Körperlich zeigte sich nichts bei ihr, für den Anführer ist das aber viel mehr ein Gefühl, was er später den anderen auch erzählt. „Wie geht es nun weiter Leo?“, wird der Blaumaskierte daraufhin von Donnie gefragt, der auf die Sache wegen Raphael ansprechen will. Diesem ist wiederum bewusst, dass das irgendwann mal rauskommen wird, weswegen der Anführer den Rotmaskierten nicht weiter im Dunkel lassen will: „Ich werde dann später mit ihm reden. Er wird es so und so erfahren und ich glaube, dass er es so besser auffassen kann, als wenn er plötzlich Wind davon bekommen sollte. Außerdem hat er es jetzt so und so schwer genug, da will ich unnötige Streitereien wie „Warum habt ihr mir nichts gesagt!“ lieber vermeiden. … Aber mal was anderes: Wie sieht es eigentlich mit seinem Bein aus?“

„Den Umständen entsprechend ganz gut. Raphi achtet wirklich pingelig auf meine Anweisungen und lässt das Mutagen seine Arbeit tun. Auch wenn man ihm seine Ungeduld förmlich von der Nasenspitze ablesen kann, bewegt er sein Bein so gut wie gar nicht und versucht es auch auf keinen Fall irgendwie zu belasten. Sonst muss man ihn ja quasi ans Bett fesseln, wenn es um solche Dinge geht.“, berichtet das Genie der Familie, was Leo wiederum nur erheitert: „Hast du etwas Anderes erwartet? Schließlich geht es um Bernadette und er will sie so schnell wie möglich sehen. Dafür tut er alles, selbst wenn er sich zu Tode langweilen müsste.“ Daraufhin nickt Donnie zustimmend und meint: „Stimmt, hier lässt mal wieder sein Dickschädel schön grüßen. Aber gut, so ist er nun mal. … Ich hoffe nur, dass du rechtbehältst. Nicht, dass er sich noch mehr Sorgen um sie macht und dann nicht mehr stillhält. Wenn er noch ein paar Tage durchhält, ist er schneller wieder auf den Beinen, als was er „Ninja“ sagen kann. Das kannst du ihm gleich mitteilen, sollte er doch aus der Haut fahren. Auf dich hört er zumindest.“ Beim letzten Satz sieht Donnie Leo mit einem leicht schiefen Grinsen an, worauf dieser wiederum keck antwortet: „Das war wohl der Witz des Tages, oder?“ Der Lilamaskierte jedoch zuckt nur mit den Achseln und zieht sich schließlich in sein Labor zurück. Der Anführer dagegen schlägt eine völlig andere Richtung ein, nur das ihm nun das Grinsen wieder vergangen ist.

Eine Frage der Geduld

Aus Raphaels Sicht:
 

Angepisst liege ich in meinem Bett und starre lustlos zur Decke empor. Nur ein genervtes Seufzen entweicht aus meiner Kehle, während ich meinen Blick kaum von meinem momentanen Standpunkt abweiche. Es ist einfach ätzend, hier dumm rumzuliegen. Dabei würde mir vieles einfallen, was weit besser wäre, als das hier. Selbst von einem Besuch ins Hashi wäre ich nicht abgeneigt, nur damit ich dieser Einöde entkommen kann. Es ist ja nicht so, als könnte ich mich nicht im Bett beschäftigen. Wenn ich daran denke, wie viele Comics Mikey hier angeschleppt hat, könnte ich theoretisch stundenlang darin blättern. Ich habe es sogar in Betracht gezogen, aber nicht eines davon habe ich zu Ende gelesen. Die Lust darauf ist mir einfach vergangen und ich will mich auch nicht einmal zu überwinden. Viel lieber wäre es mir, ich könnte einfach aufstehen und den Untergrund verlassen. Doch mit diesem Bein stecke ich hier unten fest und das macht mich wütend. Wäre da nicht die Tatsache, dass ich unbedingt zu meinem Engel will, so hätte ich einfach auf Donnies Anweisungen gepfiffen und wäre schon längst von meinem Bett aufgesprungen. Ich hätte beinhart irgendetwas ergriffen, damit ich mich fortbewegen kann, nur damit ich mich von dieser Trostlosigkeit fernhalten kann. Selbst wenn ich mein vergipstes Bein hinter mir her hätte schleifen müssen, ich hätte es beinhart getan. Jedoch wurde mir mehr als nur einmal verklickert, dass ich mein Wunsch, endlich zu ihr zu kommen, nur noch weiter nach hinten verschieben würde, würde ich mich nicht schonen.

Es ist echt zum Aus-der-Haut-fahren! Ich soll mich „gedulden“, wie ich dieses Wort hasse! Das war schon früher so und das wird auch weiterhin so sein! Dabei komme ich mir bereits schon so vor, als hätte ich meine Zeit bereits eine Woche in diesem Raum verplempert. Kaum zu glauben, dass im Gesamten betrachtet, kaum Zeit vergangen ist. Dabei kommt mir bereits jede einzelne Stunde wie eine Ewigkeit vor. Als würde sie sich extra wie Kaugummi ausdehnen, nur damit ich länger zapple. Doch wenn ich auf die Uhr sehe, werde ich leider eines Besseren belehrt. Die Realität erzählt eine vollkommen andere Geschichte, was auch jetzt wieder der Fall ist, als ich meinen Blick auf dieses Ding gerichtet habe. Seufzend lasse ich meinen Kopf wieder in den Polster zurückfallen. Es ist einfach ätzend, auch wenn ich es bisher gekonnt vor den anderen verborgen habe, aber ich fühle mich einfach nur angepisst und ich mache mir auch Sorgen. Bis jetzt habe ich keine Ahnung, wie es Bernadette momentan ergeht. Ich weiß nur, dass Mikey sie ins Krankenhaus bringen konnte. Davon habe ich irgendwie mitbekommen. Alles Andere ist jedoch im Dunklen geblieben und in mir schleicht sich der Verdacht, dass ihre Lage noch ernster ist, als was ich befürchtet habe. Doch kein Schwein sagt mir was! Mann, ich hoffe, dass ich falsch liege. Ich will es mir einfach nicht vorstellen. Nachdenklich seufze ich. Meine Gedanken sind wieder vollkommen bei ihr, was in meinem Fall nicht einmal eine Verwunderung sein dürfte, aber was andere davon halten, ist mir momentan scheißegal.

Ich will mich momentan auch nicht ablenken, so wie ich es die ganze Zeit zuvor versucht habe. Es bringt sich ohnehin nichts. Da ist es mir lieber, wenn ich meine Gedanken einfach schweifen lassen und an Bernadette denke. Wenn ich das tue und ihr Gesicht dabei vor mir sehe, muss ich sogar wieder ein wenig lächeln. Die Tatsache, dass wir wieder zusammen sind, lässt in mir noch einmal diesen Glücksmoment in mir hervorrufen. Den ganzen Tag über wollte sie es mir schon irgendwie sagen. Zumindest wartete sie laut April stundenlang in ihrem Zimmer, bis ich schließlich zu ihr kommen würde. Dabei war Aprils Aussage, ich sollte mal bei ihr vorbeischauen, mehr als nur deutlich für mich. Jeder Idiot hätte dabei sofort kapiert, was Sache ist. Nur gibt es einiges, was ich einfach nicht begreife. Warum ist sie zum Beispiel nicht einfach dortgeblieben? Sie hat sich doch sonst auch immer in ihrem Zimmer aufgehalten, bis ich sie von dort geholt habe, oder liegt es doch etwa an unseren Streit, wodurch es anders verlief? Glaubte sie etwa, ich würde diesmal nicht direkt an ihr Fenster klopfen? Sie müsste doch wissen, dass das nicht meine Art ist, aber so sehr ich mir das auch vorstelle, ich kann mich einfach mit dieser Theorie nicht anfreunden. Das Ganze passt einfach nicht zu ihr und daher kommt für mich nur eines noch in Betracht und zwar, dass sie von Lucinda und den Purple Dragons aufgelauert wurde.

Hätte Vern sein blödes Maul nicht so weit aufgerissen und unsere Freundin direkt darauf angesprochen, so hätte ich niemals davon erfahren, dass mein Engel schon seit einiger Zeit aufs Kreuz gelegt wurde. So ungern ich das auch zugebe, aber einmal hat mir seine große Klappe, wenn auch eher ungewollt, irgendwie weitergeholfen. Sonst hätte ich es bis heute nicht verstanden, wie es überhaupt dazu kam, dass wir Bernadette bei den Docks gefunden und welche Rolle die Pappnase mit ihren Gummiadlern dabei gespielt haben. Ich kann mir es daher nur so vorstellen, dass diese Idioten wieder sie Show mit ihr abgespielt haben, wodurch sie ihr Haus verließ. Hätte sie es nur nicht getan und wäre in ihrem Zimmer geblieben, dann wäre das Ganze wohl nicht passiert. Andererseits wäre es mir noch lieber gewesen, wenn es gar nicht zu diesem Streit gekommen wäre. Dann hätte sie es mir vielleicht erzählt, oder ich hätte zumindest etwas geahnt, dass irgendetwas nicht stimmt. Ich hätte so meine Fühler ausgestreckt und nach diesen Typen gesucht, die Bernadette so sehr auf die Pelle gerückt waren. Ich hätte so auf sie aufpassen können und ich hätte sogar etwas unternehmen können, bevor sie entführt wurde. Es wäre einfach so vieles anders gelaufen und ich säße nun nicht ihr unten fest, während meine Freundin im Krankenhaus liegt. Egal was es auch wäre, ich wäre immerhin dann bei ihr.

Am liebsten würde ich jetzt die Zeit zurückdrehen und alles, was bis jetzt passiert ist, verhindern. Ich würde sogar noch weiter zurückreisen und diesen einen Abend noch einmal mit ihr beginnen. Vielleicht wäre unser Streit niemals zustande gekommen und dann wären all die Wochen nicht voneinander getrennt gewesen. Wir wären ohne jegliche Zwischenfälle weiterhin zusammengeblieben und ich hätte sie so besser beschützen können. Ich hätte zumindest schon viel früher von diesem Trickbetrüger erfahren, der sich als ihren verstorbenen Vater ausgeben hatte und Lucinda hätte das nicht ausnutzen können. Ich weiß ganz genau, dass meine Liebste es mir erzählt hätte, wäre dieser verdammte Streit nicht gewesen, der alles nur verkompliziert hatte. Wir hätten gemeinsam Nachforschungen anstellen können. Donnie hätte dabei mit Sicherheit ein paar öffentliche Kameras hacken können, mit denen wir den Typen auf frischer Tat erwischt hätten und dann wären er, seine Kumpanen und dieses Miststück nicht so leicht davon gekommen. Es wäre so vieles anders gewesen. Das Alles hätte nicht sein müssen und so sehr ich es mir auch wünsche, etwas daran ändern zu können, es wird nicht passieren. Hätte ich diese Chance, so würde ich diese sofort ergreifen und so vieles anders machen. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Nur gibt es diese Möglichkeit nicht und richtige Zeitmaschinen, die auch wirklich funktionieren, sind auch noch nicht erfunden worden.

Das Einzige, was ich aber jetzt tun kann, ist, jetzt den Bruch verheilen zu lassen, bis ich endlich zu ihr kann. Ich will es auch, ich will einfach zu ihr und dafür nehme ich alles im Kauf. Daher weigere ich mich, wie eine Heulsuse herum zu jammern und über diese Situation zu klagen. Bis jetzt ist vor meinen Brüdern nichts aus meinem Mund gewichen, was auf dieses hindeuten könnte und das wird auch weiterhin so bleiben. Darauf können die verdammt noch mal Gift nehmen! Das bin ich nun mal nicht und mit Sicherheit würde Bernadette das ebenfalls nicht sehen wollen. Sie würde von mir mit Sicherheit erwarten, dass ich mich von diesem Hindernis nicht runterkriegen lasse. Ich bin kein Schwächling und ich habe ihr oft genug bewiesen, dass ich einiges aushalten kann. Da werde ich mich nicht von dieser läppischen Verletzung ins Bockshorn jagen lassen. Abgesehen davon, ist diese im Vergleich zu ihren Schmerzen, wohl eine Lachnummer. Nicht nur, dass Bernadette ein Mensch ist und daher auch weit mehr anfälliger ist als ich, ihre Verletzungen waren weit schlimmer und vermutlich wird sie auch jetzt noch mit jeder Menge Medikamenten vollgedröhnt sein. Ich hoffe nur, dass es ihr soweit gut geht, dass sie das Krankenhaus bald wieder verlassen kann. Dass sie vermutlich noch eine Zeit lang dort verweilen wird, ist mir vollkommen bewusst. Weswegen ich sie umso mehr wieder in die Arme schließen möchte, aber erst einmal stecken wir beide fest. Ich bin hier und sie liegt im Krankenhaus. Erst wenn ich diesen Gips wieder loswerde, kann ich zu ihr. So sehr mir das auch wurmt, ich muss da durch.

Gerade halte ich Bernadettes Amulett in meiner rechten Hand, welches ich mühselig irgendwie zusammengeflickt habe. Jedoch zeigen die Linien der abgebrochenen Stellen noch sehr deutlich, was damit passiert war und kein Kleber der Welt kann das je kaschieren und von den fehlenden Stücken möchte ich erst gar nicht anfangen. Vorsichtig gleite ich mit dem Daumen darüber, während ich meinen Blick kein einziges Mal davon abwende. Noch immer denke ich an sie und sehne mich nach dem Moment, an den wir uns beide endlich wiedersehen werden. Ich seufze und blicke schließlich auf, als nach einem kurzen Klopfen Leo mein Zimmer betritt. „Na, wie ich sehe bist du immer noch gut verpackt.“, meint er sarkastisch und mit einem aufmunternden Blick kommt er schließlich auf mich zu. Ich dagegen rolle bei dieser „Begrüßung“ leicht genervt mit den Augen und erwidere: „Komm du mir nicht auch noch mit diesem „Witz“. Den hat Mikey schon vor dir loslassen müssen. Da musst du dir schon etwas Neues einfallen lassen. … Also wehrte Anführer, was verschafft mir der Besuch? Was willst du?“ Die Frage musste ich gleich daraufstellen. Irgendetwas will er ja von mir, das spüre ich. Außerdem wäre er ja sonst nicht hier. Es ist halt nur die Frage was, weswegen ich gleich lieber Nägel mit Köpfe mache, anstatt um den heißen Brei zu reden. Allerdings hoffe ich für ihn, dass es nicht das ist, was ich momentan befürchte. Denn wenn das wieder aber eine von diesen absurden Aufmunterungsaktionen sein sollte, dann kann er sich das gleich wieder abschminken und sich verkrümeln. Davon habe ich nämlich für heute wieder genug.

Als ich meinen Bruder mit der blauen Maske aber genauer ansehe, merke ich, dass da etwas nicht stimmt. Er wirkt auf mich nicht, es wollte er mich wieder aufmuntern. Stattdessen scheint ihm etwas zu beschäftigen. Seine Mimik wird nämlich ernst. Es ist zwar meist bei ihm so, weil er da gerne den „großen Anführer“ besser raushängen lassen kann, aber dieses Mal ist er anders. Gerade, wo er doch vor kurzem noch ein nerviges, keckes Grinsen im Gesicht gehabt hat, ist seine momentane Stimmung beinahe schon gruselig. „Hey, hörst du schlecht, oder bist du nun stumm geworden?“, frage ich ihn genervt, als noch immer nichts aus seinem Mund gekommen ist. Kann er nicht einmal sofort eine Antwort geben? Scheinbar nicht, denn er reagiert wieder nicht darauf. Stattdessen schnappt er sich schweigend meinen Sitzsack, der normalerweise immer in der Ecke steht und setzt sich erst einmal. Wie ich es hasse, wenn er das macht! Er bringt mich immer zur Weißglut, wenn er mich völlig ignoriert und seelenruhig sein Ding durchzieht. „Ich wollte mit dir kurz unter vier Augen reden.“, sagt er auf einmal. Ich dagegen kann darauf nur sarkastisch reagieren und erwidere: „Ach, da wäre ich jetzt nicht darauf gekommen. …“ „Ich meine es ernst Raphi. … Ich war vor kurzem im Krankenhaus und habe nach Bernadette gesehen.“, schneidet er mir das Wort ab, woraufhin ich hellhörig werde und meinen Mund sofort wieder schließe. Dabei hätte ich noch etwas im Petto gehabt, aber nachdem er meine Freundin erwähnt hat, ist das jetzt vollkommen egal geworden. Viel lieber will ich wissen, was geschehen ist. Sein Gesicht gefällt mir gerade ganz und gar nicht.

Ist Bernadette etwa …, nein! Das darf nicht sein! Ich will mir das einfach nicht vorstellen! „Jetzt sag schon, was mit ihr?!“, brülle ich Leo nun voller Ungeduld an. Ich will sofort wissen, was mit ihr ist und wenn er nicht gleich die Informationen ausspuckt, dann werde ich ihn dazu zwingen! Ob ich es möchte, oder nicht, mir schwirren gerade die schlimmsten Befürchtungen durch den Kopf, aber ich muss Klarheit haben und das sofort! Dabei frage ich mich, wie lange er mich noch auf der Folter spannen will! Er ist so ungewöhnlich ruhig, als könnte sich im nächsten Augenblick mein Verdacht tatsächlich bewahrheiten. Ob es nun so ist, oder nicht, ich will endlich wissen, was mit meinem Engel ist! Wenn er mir aber jetzt wirklich verklickern will, dass sie tot ist, dann schwöre ich: Mich halten keine zehn Pferde mehr in diesem Bett! Unruhig verkrampft sich mein ganzer Körper und ich kralle meine Finger Fest in die Matratze hinein, während ich meinen Bruder wutentbrannt anstarre. „Sie lebt, aber …“, sagt er zögernd und auch möglichst ruhig, aber mir platzt gleich der Kragen. Ich bin einfach viel zu ungeduldig und aufgebracht, als dass ich noch länger darauf warten kann: „Aber was?! … Verdammt noch mal Leo, jetzt rede endlich!“ Ich bin jetzt schon in Rage. Was zur Hölle ist nun mit ihr?! Leo soll gefälligst Tacheles reden, sonst garantiere ich für nichts! Doch er sieht mich nun vorwurfsvoll an und reagiert schließlich: „Glaubst du etwa, mir fällt das leicht?! Wir haben uns schon die ganze Zeit überlegen müssen, wie wir dir das verklickern, ohne dass du gleich Amok läufst! Also mache es mir nicht noch schwerer, als es bereits ohnehin schon ist!“

Noch sieht er mich zornig an und seine typisch belehrende Stimme, die er als Anführer bei mir immer wieder gern anwendet, lässt mich eher kalt. Seine Worte dagegen prallen diesmal nicht bei mir ab, weswegen ich meinen Mund, den ich zunächst zum Protestieren geöffnet habe, sofort wieder schließe. Ich soll es ihm also nicht noch schwerer machen, als was es bereits ist, wie? Dann soll er mir auch gefälligst sofort mitteilen, was nun mit ihm ist. Noch kann ich mich zusammenreißen. Auch wenn es mir gerade alles andere als einfach fällt. Gerade weil es sich um meine Freundin handelt, ist mein Geduldsfaden vollkommen angespannt. Daher schwöre ich ihm, wenn er ich nicht schleunigst mit der Sprache rausrückt, sehe ich für ihn schwarz. Ich werde mich dann nicht mehr zurückhalten. Zwar weiß ich noch nicht, wie ich das anstellen werde, aber ich werde schon meine Information bekommen, darauf kann er Gift nehmen! Noch sammle ich alle Geduld in mir zusammen, die ich noch habe, aber lange wird dies nicht anhalten. Denn wenn es um Bernadette geht, gibt es für mich keinen Kompromiss. Leo seufzt, ehe er mich schließlich mit einem sorgenvollen Blick ansieht und mich mit einer ruhigeren Stimme endlich aufklärt: „Sie liegt im Koma.“ Mehr sagt er nicht, sondern wartet einfach auf meine Reaktion. Dabei lässt er mich keine Sekunde aus den Augen. Ich dagegen bin im Moment unfähig auch nur irgendetwas darauf zu erwidern. Ich habe mit vielen gerechnet, aber es gab zwei Dinge, an die ich einfach nicht denken wollte und genau eines davon hat sich bewahrheitet.

Obwohl ich es eigentlich hören wollte, wünschte ich, er hätte es nicht gesagt und genau das scheint er von meinem Gesicht ablesen zu können, weswegen er nach seiner Pause mich weiter anspricht: „Raphi, ich weiß, dass das nicht leicht ist und vermutlich wird sich das, was ich jetzt sage, unsinnig für dich anhören, aber sie wird es schaffen. Da bin ich mir sicher.“ Sein Gesicht, welches zunächst dieses beklemmende Gefühl in mir bewirkt hat, ist nun milder geworden. Viel mehr sieht er mich auffordernd und sogar mit einem hoffenden Blick an. Ist er etwa wirklich davon überzeugt? Wie kann er da überhaupt so sicher sein? „Wie … Wart ihr …“, versuche ich nach einer Weile Worte dafür zu finden und meinen Bruder die Frage direkt zu stellen, aber irgendwie scheint es mir nicht zu gelingen. Die Information darüber, dass mein Engel nicht so bald ihre Augen öffnen wird, hat mir quasi den Boden unter den Füßen weggerissen. Ich versuche es Leo nicht zu zeigen, aber ich habe Angst um Bernadette und wenn ich könnte, so würde ich ihn sofort links liegen lassen und mein Mädchen selbst aufsuchen. Ich muss wissen, wie es wirklich um meine Freundin steht, ich kann es nun mal nicht glauben. War einer meiner Brüder etwa direkt bei ihr, sodass Leo das überhaupt beurteilen kann? Kann er da überhaupt so sicher sein und wie geht es ihr wirklich? Ich habe zwar wenig Ahnung, was Krankheiten angeht, aber vom Koma habe ich bereits schon das eine oder andere gehört. Dass mit dem nicht gut Kirschenessen ist, ist mir klar, denn nur selten habe ich von Fällen gehört, bei denen die Patienten wieder aufwachen. Noch dazu kommt mir die Frage, wie lange das dauern wird.

Wie lange wird Bernadette so liegen, eine Woche, ein Monat, ein Jahr? Leo muss mir genau diese Frage angesehen haben, denn schon folgen eine weitere Aufklärung, sowie auch eine Aufmunterung am Ende: „Mikey hatte uns gestern davon erzählt, nachdem er ein Gespräch zwischen dem Arzt und Bernadettes Mutter mitbekommen hatte. Bevor wir dir aber etwas sagen wollten, wollte ich mir zunächst selbst ein Bild davon gemacht und habe sie heute besucht. Ich kann dir leider nicht sehr viel mehr dazu erzählen, es scheint ihr aber den Umständen entsprechend gut zu gehen. Zumindest hätte ich nichts davon bemerkt, was dagegensprechen könnte. Eines weiß ich aber auf jeden Fall: Sie wartet auf dich. Also versuche dich bitte voll und ganz auf deine Genesung zu konzentrieren, damit du dann endlich zu ihr kannst.“ Der hat gut reden, aber andererseits hilft es nichts, den Kopf noch weiter in den Sand zu stecken. Ich habe Bernadette versprochen, dass ich so schnell wie nachkommen werde und das werde ich auch. Somit nicke ich bei seinem letzten Satz, als Zeichen, dass ich ihn verstanden habe, womit sich mein Bruder mit der blauen Maske zufriedengibt. Bevor er jedoch geht, wiederholt er noch einmal seine letzten Worte: „Wie gesagt, konzentriere ich einfach darauf, dass du schnell wieder auf den Beinen bist. Ich bin mir sicher, dass sie genau auf dich wartet, wie du auf sie.“ Vermutlich will er mir diese ins Hirn eintrichtern, damit ich ja nicht die Hoffnung verliere.

Typisch Leo, das kann ja nur von ihm kommen. In der Weise ist keiner sonst so penetrant wie er und er weiß ganz genau, was ich von ihm halte. Dennoch ist es gut zu wissen, dass sowohl er, als auch die anderen hinter mir stehen. Sooft er mir auch als Bruder und als Anführer auf den Geist geht, so weiß ich es dennoch zu schätzen, dass er mir Mut machen will. Was es mir auch hier wiederum zeigt, ist, dass er nie mehr in meine Beziehung zu Bernadette dazwischenstehen will. Das hätte er ruhig viel früher schnallen können, aber besser spät als nie. Mit dem muss ich mich nun mal zufriedengeben, aber nun muss ich erst einmal zusehen, dass ich schnell wieder gesundwerde. Drei weitere Tage vergehen, bis sich Donnie wieder mein verletztes Bein vornimmt. Dank seinen merkwürdigen Apparaten hat er es gescannt und stellt nach einigem nervenden Herumgemurmel schließlich zufrieden fest, dass der Knochen gut verheilt ist: „Sehr gut, ging ja schneller, als was ich mir erhofft habe. Ich hatte schon befürchtet, du würdest es nicht ganz durchziehen.“ „Erspar mir das und nimm mir schon dieses verdammte Ding ab, bevor ich noch sauer werde!“, keife ich ihn schon vor lauter Ungeduld an. Lange genug habe ich in meinem Zimmer versauern müssen und da habe ich schon viel zu viele Nerven dafür opfern müssen. Jetzt reicht es mir! Doch meinem Bruder mit der lila Maske und der Brille im Gesicht macht keine Anstalten einen Zahn zuzulegen. Stattdessen meint er nur: „Jetzt bleib mal auf dem Teppich, bevor du mir noch ganz abhebst. Ein bisschen Geduld musst du noch haben. Auch wenn ich dir den Gips jetzt abnehme, kannst du noch lange nicht sofort aufspringen.“

„Ja, hör auf ihn Bro und chill erst einmal.“, hören sowohl ich, als auch Donnie Mikey sich einmischen, der gerade seinen Kopf in mein Zimmer hineinsteckt. Dämlich grinst er mich an, doch ich knurre ihn nur an: „Klappe zu, sonst bist du der Erste, bei dem ich meine wiedergewonnene Freiheit auskoste!“ „Bin schon weg.“, kommt es von ihm zurück und er verschwindet so schnell, wie er aufgetaucht war. Wobei ich es mir nicht nehmen lasse, dass ich bei Mikey noch immer dieses dämliche Grinsen im Gesicht gesehen habe. Wann kann er einmal nicht nerven? Vermutlich werde ich das nie erleben, denn die Chancen dafür stehen mehr als nur schlecht. Da ist es wahrscheinlicher, ein vierblättriges Kleeblatt im Central Park zu finden. Während ich mich die ganze Zeit über den Witzbold geärgert habe, habe ich kaum mitbekommen, wie Donnie dabei ist, mich von dem Gips zu befreien. Er hat einfach stumm alles vorbereitet, bis ich schließlich von einem beißenden Ton aufgeschreckt werde. Technisch gesehen klingt das, als wenn man beim Zahnarzt wäre und dessen nervenraubende Geräte ausgeliefert wäre. Ein Glück, dass weder meine Familie noch ich, das jemals über uns ergehen lassen mussten. Ein Vorteil hat es ja, wenn man kein Mensch ist, man erspart sich solche Krankenbesuche. Auch wenn das Genie der Familie immer wieder gemeint hat, dass man diesen Beruf nicht einfach so in die Horrorabteilung stecken sollte. Naja, wenn er meint. Ganz koscher ist mir das ja trotzdem nicht.

Schließlich habe ich bereits den einen oder anderen Film gesehen, bei der der Zahnarzt nicht gerade einen tollen Ruf hat. Den wird er wohl auch kaum loswerden, wenn man mich fragt. Doch diese Meinung lasse ich erst einmal noch bei mir und warte einfach „geduldig“ und doch angespannt ab, während ich Donnie dabei beobachte, wie er mich aus dem harten Material herausschneidet. Ganz wohl ist mir dabei nicht, was ich auch in einem sarkastischen Kommentar verpacke: „Wenn`s geht, nicht daneben schneiden.“ „Halt lieber mal still, bevor ich noch wirklich danebenziele.“, bekomme ich von Donnie als Antwort, ohne dass er von seiner Arbeit aufsieht. Völlig konzentriert geht er dabei vor, bis ich endlich davon befreit bin. Ich kann gar nicht beschreiben, was das für ein angenehmes und befreiendes Gefühl ist, endlich davon erlöst zu sein. Vorsichtig hebe ich mein Bein an und lasse mein Fußgelenk ein wenig kreisen, um die Gelenke etwas zu lockern. „So das wär´s, aber fürs Erste belaste dein Bein noch nicht zu sehr.“, warnt er mich vor, aber der „Herr Doktor“ kann sich meinetwegen brausen gehen: „Du glaubst wohl nicht etwa, dass ich jetzt noch länger herumsitze?“ „Wäre besser, zumindest bis die Nacht hereinbricht. Denn wie ich dich kenne, wird dich dann eh nichts mehr aufhalten können. Also pass zumindest bis dahin auf.“, kommt prompt von ihm die Antwort und dabei sieht er mich auch noch gelassen an, während er seine Brille zurechtrückt. „Wenn du das schon so genau weißt, warum also dieses Theater?“, hake ich nach, aber er antwortet nur achselzuckend darauf: „Auch wenn du unverbesserlich bist, solltest du auf dich achten. Wir sind weder unsterblich, noch unverwundbar Raphi. Das sollte dir klar sein.“

Als wenn ich das nicht wüsste. Immerhin habe ich das am eigenen Leib erfahren und das nicht zum ersten Mal. Da braucht er mich nicht darauf hinweisen. Bevor ich mir aber noch weitere solche Belehrungen von ihm über mich übergehen lassen muss, seufze sich nur und verdrehe die Augen. Donnie wiederum packt nun seine sieben Sachen und verlässt schließlich mein Zimmer und genau das werde ich auch tun. So drehe ich mich zur Seite und setze meine Beine auf dem Boden ab. Mit einem Ruck stehe ich schließlich auf, was zunächst noch ein ungewohntes Gefühl für mich ist. Auch wenn ich nur wenige Tage im Bett festsaß, so merke ich es doch und wenn ich so darüber nachdenke, bin ich meistens irgendwie in Bewegung. Vermutlich fällt es mir deswegen jetzt auch so auf, aber nun kann ich endlich zu ihr.

An deiner Seite

Aus Raphaels Sicht:
 

Nichts hält mich heute auf, meine Verletzung ist verheilt und ich werde den Teufel tun, um noch länger hier unten zu verharren. Darauf können meine Brüder Gift nehmen! Es ist ein befreiendes und trotzdem auch irgendwie ein seltsames Gefühl, wieder auf eigenen Beinen zu stehen und das meine ich wortwörtlich. Nicht nur, dass ich jetzt nicht mehr auf andere angewiesen bin, um mich zu bewegen, ich bin endlich dieses lästige Ding losgeworden, welches mich fast buchstäblich ans Bett gefesselt hat. Mikey hat ganz schön Augen gemacht, als er mich aus meinen Zimmer hat rausgehen sehen. Ich weiß zwar nicht, was bei ihm wieder einmal durch den Schädel gegangen ist, aber er hat es nicht lassen können, er musste wieder einmal ein Kommentar abgeben. Er glaubt wirklich, dass er witzig ist. Doch seine Witze findet meistens nur er lustig. Besonders, wenn er darauf besteht, irgendwelche Wortwitze zu machen, würde ich ihm am liebsten sein Mund zutackern. Diesmal kann er froh sein, dass meine Laune diesmal nicht so leicht reizbar ist. Nicht nur, dass ich heute keine Lust habe, mich mit ihm zu streiten, mein Verstand ist hauptsächlich auf eine Sache fixiert und zwar auf Bernadette. Ich will sie unbedingt wiedersehen. Ich habe es ihr versprochen und allein die Tatsache, dass sie im Koma liegt, hat nur bewirkt, dass mein Wille umso stärker geworden ist. Es ist daher gerade zu lästig, dass ich mich noch etwas gedulden muss, ehe ich den Untergrund verlassen kann. Doch wenn es soweit ist, wird mich keiner aufhalten. So viel ist schon mal klar. Daher nutze ich die Zeit, um mich an meine wiedergewonnene Freiheit zu gewöhnen.

Kaum dass die Nacht hereingebrochen ist, mache ich mich gemeinsam mit meinen Brüdern auf dem Weg. Zunächst habe ich geglaubt, die drei würden mich nur ein Stück begleiten, ehe sie sich wieder an die Arbeit machen und auf Patrouille gehen. Jedoch habe ich sie weiterhin an der Backe. Keiner von ihnen hat mir bisher Auskunft gegeben, in welchem Krankenhaus sich mein Engel befindet. Viel mehr haben sie darauf bestanden, mich dort hin zu führen. Als könnte ich es nicht selbst machen, aber anstatt zu streiten, lasse ich mir von ihnen grummelnd den Weg zeigen. Das ist jedoch nicht der einzige Hintergedanke. Mein Bruder mit der orangen Maske hat zudem noch gemeint, dass sie mir helfen wollen, schneller ins Gebäude zu kommen: „Bevor du sie noch extra suchen musst, machen wir dir am besten den Weg frei. Schließlich haben wir sie einige Nächte zuvor beehrt und wissen daher, wie man am geschicktesten hineinkommt.“ Grinsend hat er mich dabei angesehen. Als wäre er nun ein Experte dafür geworden. Selbst Donnie und Leo machen keine Anstalten, um mich alleine zu lassen. Ich hoffe nur, dass sie mich nicht auch noch im Krankenhaus selbst auf dem Wecker fallen. Denn ich will Bernadette endlich sehen und da brauche ich nicht auch noch „Zuschauer“, von denen es vielleicht sogar blöde Kommentare hagelt. Wenn es sein muss, werde ich sie hochkantig aus dem Zimmer befördern, sollten sie mir in die Quere kommen. Allerdings behalte ich den Gedanken für mich. Ich will einfach keine Zeit verschwenden und eile hinter meinen Brüdern her, während wir über die Dächer springen.

Es dauert eine Weile, bis wir endlich das Dach des Krankenhauses erreichen. Ich bin währenddessen schon etwas ungeduldig geworden. Inzwischen haben wir einige Blocks hinter uns gelassen und unter denen sind sogar einige andere Krankenhäuser dabei gewesen, die ich aus der Ferne erspähen konnte. Zu meinem Leidwesen ist keines von ihnen das Richtige gewesen, sonst hätte ich mich schon vorher von der Gruppe abgekapselt. Nun stehe ich endlich auf dem richtigen Dach und sehe mich suchend um. „Ich checke mal die Lage.“, meint Donnie leicht abwesend, während sich wieder seinen Geräten widmet. Er hat nicht einmal auf eine Antwort unsererseits gewartet, sondern legt einfach los. Mikey unterstützt ihn sogar und peilt die Lage. Grinsend „stürmt er ins Getümmel“ und lässt mich mit dem Anführer allein. Leo wiederum deutet mir, ihm zu folgen. Er stellt sich an die Kante des Daches und zeigt mir, nach welchem Fenster mich richten sollte: „Also, es gibt zwei Wege, um in dieses Gebäude zu gelangen. Der Erste ist die Tür auf dem Dach, die direkt ins Treppenhaus führt. Von dort aus haben wir es schon mal geschafft, hinzukommen. Es gibt aber auch die Möglichkeit von außen in eines der Fenster einzusteigen. Wichtig ist, dass du dich auf dem dritten Stockwerk aufhältst. Dort liegt die Intensivstation. Hier, von da aus ist ihr Fenster. Wenn du Glück hast ist es zumindest gekippt. Notfalls müsstest du es bei einem benachbarten Fenster versuchen.“

Wortlos stehe ich da, blicke in die Tiefe hinab und höre meinem Bruder zu. Jedoch überkommt mich auf einmal ein merkwürdiges Gefühl. Es ist, als würde etwas meine Kehle zuschnüren wollen. Allerdings verstehe ich nicht, warum das jetzt ist und warum es überhaupt so plötzlich gekommen ist. Ist es vielleicht, weil ich mich um Bernadette sorge, oder steckt doch etwas Anderes dahinter? Ich sehe einfach stumm auf die Stelle, auf die Leo hindeutet. Kein Wort erwähne ich von diesem seltsamen Gefühl. Ich will es sogar abstreifen, denn ich habe keine Zeit für diesen Scheiß. Ich bin hier, um Bernadette zu sehen und alles andere ist momentan egal. Der Anführer und ich sehen nun auf, als die anderen beiden wieder zu uns stoßen. „Also, Mikey und ich haben jetzt die Lage gecheckt: Die Tür vom Dach aus ist diesmal von innen versperrt. Vermutlich wurde das bei unserem letzten Besuch bemerkt, aber …“, klärt Donnie uns auf, wird aber mitten im Satz von Mikey unterbrochen: „Aber das Fenster steht diesmal offen! Da haben wir ein leichtes Spiel!“ Wie ein Kind freut er sich und grinst auch dementsprechend. Ich sehe es schon vor mir, dass ich die drei wohl auch weiterhin an der Backe haben werde, hätte mich da Leo nicht wieder eines Besseren belehrt. „Kein „WIR“ Mikey. Raphi soll endlich einmal Zeit mit ihr haben und dass alleine.“, erwidert Leo und schüttelt dabei den Kopf. Sowohl ich, als auch Mikey sehen ihn fragend an. Was hatte das Ganze dann für einen Sinn? Warum sind sie dann mitgekommen?

Es hätte genauso gut gereicht, wenn sie mir so mitgeteilt hätten, wo genau ich meine Freundin finden würde. Da hätten meine Brüder nicht unbedingt mitkommen müssen und auch wenn ich für ein paar Tage nicht einsatzfähig war, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht im Stande bin, um das alleine zu regeln. Was denkt sich Leo dabei?! Wollen er und die anderen beiden mich etwa wieder provozieren? Verwirrt sehe ich meine Brüder abwechselnd an. Mikeys Enttäuschung steht ihm direkt auf der Stirn geschrieben und das sagt er auch: „Schade, dabei wollte ich ihr wieder einen Besuch abstatten. … Na gut, dann halt beim nächsten Mal.“ Diese negative Einstellung hat ja nicht lange angehalten, aber das hätte ich mir auch denken können. Das fröhliche Gemüt der Nervensäge kann man nicht so schnell brechen. Da muss schon etwas Gröberes passieren und das wissen wir alle. Nur kann ich immer noch nicht ganz begreifen, warum sie alle trotzdem mitgekommen sind. Steckt etwa nicht Leo, sondern Donnie dahinter? Will er mit dieser Aktion nur sichergehen, dass ich es mit meinem Bein nicht übertreibe? Das würde zumindest mehr Sinn ergeben. Schließlich hat er mir, wie er mich vom Gips befreit hat noch einmal darauf hingewiesen, dass ich es ruhig angehen soll. Wäre daher plausibel, dass er gemeinsam mit den anderen dafür sorgen wollte, dass dies auch geschieht. Wie es auch wirklich ist, ich will einfach nur, dass sie jetzt endlich abhauen. Ich brauche keine Aufpasser und ich will auch keine! Ich will einfach nur meine Ruhe!

„Also Raphi, wir sehen uns dann später. Wir werden erst einmal die Lage in der Gegend abchecken. Das heißt, dass du in den nächsten Stunden mit Bernadette allein sein kannst.“, meint Leo, während er für einen Moment seine linke Hand auf meine linke Schulter platziert und sich dann verabschiedet. Donnie folgt seinem Beispiel und nickt mir kurz, ehe auch er sich vom Acker macht. Der Letzte ist Mikey, der mir noch zuruft: „Grüß sie von mir, vergiss aber nicht!“ Er rennt einfach an mir vorbei, grinst schelmisch und springt im selben Augenblick von der Kante weg. Dabei kann er es nicht lassen, mit einem kleinen Kunststück anzugeben. Indem er eine Luftrolle vollzieht und sein Skateboard, welches er diesmal mitgeschleppt hat, aus der Halterung zieht, verschwindet er gemeinsam mit den anderen beiden in die Dunkelheit. „Brüder“, zische ich genervt zwischen meinen Zähnen und setzte mich nun selbst in Bewegung. Ich habe einfach keine Lust, meine wertvolle Zeit weiterhin zu verschwenden und ich bin eigentlich sogar froh, dass ich nun allein bin. Auch wenn es mir nicht gefällt, dass sich die drei so aufgespielt haben, so genieße ich umso mehr meine Ruhe. Allerdings ist dieses beklemmende Gefühl, welches ich noch immer spüre, nicht verschwunden. Viel glaube ich, dass es stärker wird, je näher ich Bernadette bin, aber ich versuche es zu ignorieren. Mein Weg führt direkt vom Dach einige Etagen tiefer, wo ich mich dem offenen Fenster nähere. Wohl eher ist es gekippt und vermutlich wollte man das Zimmer etwas durchlüften. Für mich ist es einfach die Gelegenheit, um ohne komplizierte Umwege direkt zu ihr zu gelangen.

Somit zücke ich einen meiner Sais und heble die Verriegelung auf, damit ich endlich durchs Fenster einsteigen kann. Vorsichtig klettere ich nach getaner Arbeit hinein und sehe Bernadette schon. Umgeben von Schläuchen, Kabeln und Maschinen liegt sie in ihrem Krankenbett. Das Geräusch des Beatmungsgeräts, sowie auch jenes von dem Gerät, welches ihre Herzfrequenz anzeigt, sind das Einzige, was ich in diesem Raum hören kann. Sonst herrscht völlige Stille. Auch wenn ich in diesem dunklen Raum nicht viel sehen kann, so reicht mir dieser Anblick bereits. Das wenige Licht, welches von den Straßenlaternen in dieses Zimmer scheint, lässt keines der wichtigen Details aus. Hier liegt sie, umgeben von Maschinen, während sie selbst in ihrer eigenen Welt eingetaucht ist. Ich habe sie schon oft schlafen gesehen, aber das ist einfach etwas Anderes. Es verschlägt mir sogar die Sprache. Mit halboffenen Mund stehe ich da und sehe mir das an. Selbst das Gefühl von vorhin macht sich nun deutlich bemerkbar, aber diesmal erscheint es mir, als ob es nun stärker als zuvor wäre. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein und es ist mehr die Sorge um sie, die aus mir spricht. Ich mache mir einfach Vorwürfe. Wäre nur dieser Streit nicht gewesen, oder wäre ich zumindest eher bei ihr gewesen, so hätte ich das Alles verhindern können. Davon bin ich nun mal überzeugt. Auch wenn ich bisher niemandem etwas davon gesagt habe, diese Tatsache lässt sich einfach nicht verleugnen. Ich trage nun mal Schuld an dem, was ihr wiederfahren ist und wenn ich es könnte, so würde ich es rückgängig machen.

Mit einem traurigen Seufzen nähere ich mich schließlich dem Bett und setze mich auf dem beigestellten Sessel. Eine Weile sehe ich sie nur an, bis ich sie schließlich ganz sachte beim Gesicht berühre und zärtlich streichle. Ein kleiner Kuss folgt darauf, den ich ihr zwischen ihren Augen schenke. Wie lange das wieder her ist. Beinahe fühlt es sich wie eine Ewigkeit an, an dem ich sie das letzte Mal berührt habe, aber die Tatsache, dass sie hier in diesem Krankenhaus liegt, macht es nicht gerade besser. Ich nehme meine Hand wieder weg. Stattdessen sehe ich meinen Engel einfach nur an, bis ich schließlich folgende Worte zu ihr flüstere: „Ich bin hier, so wie ich es dir versprochen habe.“ Natürlich zeigt sich von ihrer Seite keine Reaktion. Als würde sie nur schlafen, liegt sie einfach da. Wäre da nicht dieser Schlauch, der direkt bei ihrem Mund endet, so könnte das auch wirklich glauben. Jedoch ist dies leider kein normaler Schlaf. So genau ich sie auch betrachte, sie bewegt sich nicht und zeigt auch so keine Reaktion, was mich innerlich enttäuscht. Was hätte ich auch anders erwarten sollen, dass sie mir nun um den Hals fällt, sobald sie mich hört? In einem Märchen wäre das vielleicht sogar der Fall gewesen. Dies hier ist aber die Realität und hat kein bisschen mit einer fantasievollen Geschichte zu tun, in der es zum Schluss ein „Happy End“ gibt. Da würde nicht einmal ein Kuss helfen, der sie ins Leben zurückholen könnte. Wäre das so einfach, so hätte ich dies sofort getan. Doch abgesehen davon, dass der Schlauch für das Beatmungsgerät im Weg ist, ist dies nun mal kein Märchen.

Bemühend die ganzen Maschinen um sie herum zu ignorieren, versuche ich mich ganz und gar auf sie zu konzentrieren. Ob Bernadette überhaupt weiß, dass ich hier bin? Hört sie mich, oder spürt sie mich zumindest? Donnie meinte, ich solle viel mit ihr reden, als ich mich mit ihm über dieses Thema unterhalten habe. Komapatienten würden angeblich mehr mitbekommen, als was Außenstehende vermuten würden, wobei es auch darauf ankommt, wie stark das Koma tatsächlich ist. Mein Bruder erklärte mir, dass es dabei Unterschiede gibt. Allerdings kenne ich diese nicht und vermutlich könnte mir keiner genau bestätigen, wie stark dieses Koma tatsächlich ist. Das Einzige, was mir bleibt, ist, dass ich mit ihr rede und so versuche, sie wieder zurückzubringen. So wie es auch meine Brüder abwechselnd die Nächte zuvorgetan hatten. Ich würde mich dann auch nicht so nutzlos vorkommen. Vielleicht hört sie mich ja doch und ich kann irgendwann zu ihr vordringen. Dass das wieder Zeit beanspruchen wird und dass das wieder an meine Geduld nagen wird, hatte ich schon verstanden, nachdem ich zum ersten Mal von ihrem Zustand erfahren hatte. Schon da hatte ich den Eindruck, wir beide wären auf dem Weg zueinander ein weiteres Mal um ein gutes Stück zurückgeschleudert worden. Es war mir klar, aber fürs Erste reicht es mir, dass ich sie wiedersehen, berühren und einfach wieder an ihrer Seite sein kann. Ich werde auf keinen Fall jetzt Trübsal blasen und keine Nacht von ihrer Seite weichen, bis sie endlich ihre Augen aufschlägt. Das ist ein Versprechen und nichts wird mich davon abhalten. Genauso wenig, wie mein Vorhaben, dass Lucinda das eines Tages bereuen wird. Zu lange hat sie meinen Engel gequält und irgendwann wird sie dafür bezahlen.

Ich werde nicht mehr länger tatenlos rumstehen und abwarten, bis wieder etwas passiert. Es muss ein für alle Mal aufhören. Doch noch braucht Bernadette mich hier und ich werde sie auf keinen Fall allein lassen. Es reicht schon, dass es tagsüber nicht geht. So möchte ich zumindest nachts bei ihr sein und wenn ich sie nur da sehen kann, ich werde jede Nacht an ihrem Bett sitzen, bis dieser Spuk endlich ein Ende hat. „Ich verspreche dir, ich werde dich nicht alleine lassen. Ich werde sooft kommen und solange bleiben, wie ich nur kann. Wir werden gemeinsam einen Weg finden und dieser Lucinda werden wir ebenfalls das Handwerk legen. Weder sie, noch die Purple Dragons werden uns davonkommen, das schwöre ich dir. … So kämpfe und komm zu mir zurück. Ich warte auf dich.“ Ein weiteres Mal streiche ich ihr sanft über die Wange und fange nun an, ihr etwas zu erzählen. So wie es mir die anderen geraten haben. Ich frage mich nur, ob sie mich wirklich hört und was gerade in diesem Augenblick in ihr vor geht.
 

Aus Bernadettes Sicht:
 

Ein kurzer Hauch, mehr war es eigentlich nicht, was ich für eine Sekunde auf meiner Stirn gespürt habe. Was war das? Unsicher greife ich meiner rechten Hand auf die Stelle zwischen meinen Augen, aber dieses Gefühl ist wie weggeblasen. Ich kann es mir einfach nicht erklären, was es gewesen sein soll. Es kam so plötzlich und verschwand auch gleich wieder, kaum dass ich es gefühlt habe. Wie erstarrt, stehe ich noch immer an derselben Stelle und grüble nach. „Alles in Ordnung bei dir?“, werde ich schließlich von Cori gefragt, die sich nun vor mir stellt und mich mit einem leicht geneigten Kopf ansieht. „Ich glaube schon. Irgendwie hatte ich für eine Sekunde das Gefühl, ich hätte etwas auf meiner Stirn gespürt.“, antworte ich darauf und nehme meine Hand wieder runter. Meine Freundin dagegen sieht mich noch immer fragend an und meint schließlich: „He, nicht, dass dich gerade etwas gestochen hat, oder so.“ Schon sucht sie nach einem vermeintlichen Bienenstich, oder nach etwas Ähnlichem. Ihr Blick ist nun besorgt, doch das ist absurd, was ich auch gleich einmal klarstelle: „Nein, ganz sicher nicht! Es war nicht mal schmerzhaft, viel mehr … ach keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es nicht unangenehm war, aber mehr kann ich dir auch nicht sagen. Es war einfach zu kurz.“ „Du siehst ja schon wieder mal Gespenster. Bist du sicher, dass alles bei dir in Ordnung ist?“, lacht sie schließlich und grinst mich an, als könnte ich mal langsam Urlaub vertragen.

Wobei das eigentlich nicht ganz verkehrt wäre. Ich fühle mich in letzter Zeit nicht wirklich wohl in meiner Haut. So sehr ich auch versuche, es irgendwie zu vergessen, ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Seit ich vor einigen Tagen nach diesem Albtraum im meinem Bett aufgewacht bin, habe ich den Eindruck, als wäre ich in einer Art Paralleluniversum. Gerade die ersten Tage waren besonders schlimm für mich, denn mir will es einfach nicht in den Kopf, dass ich mir eine wochenlange Szenerie einfach nur eingebildet haben könnte. Zwar habe ich Raphael noch nicht gesehen, aber auf meine Nachrichten reagiert er jedes Mal und wie alle anderen scheint er von allem, was ich glaube zu wissen, keine Ahnung zu haben. Weder der Streit, noch sonst irgendetwas, ist ihm ein Begriff. Er ist sogar felsenfest davon überzeugt, dass er sowas niemals zulassen würde. Dafür würde er auf keinen Fall unsere Beziehung aufs Spiel setzen. Für mich ist das eher ein Wunschdenken, denn ich weiß noch ganz genau, was wir uns beide an jener Nacht gegenseitig an dem Kopf geworfen hatten und wie es dann am Ende ausging. Ich war verletzt, sowohl seelisch, wie auch körperlich und kam humpelnd nach Hause. Obgleich mich Donnie sogar zwischendurch aufgegabelt und mich vor einem Verrückten beschützt hat. Ich kann einfach nicht vergessen, wie schlimm es damals für mich war. Dieser Zorn, dieser Schmerz, als schien an diesem Abend drunter und drüber zu gehen. Ich wollte Raphael ja nicht mehr sehen. So wütend war ich auf ihn und es dauerte sogar, bis ich endlich wieder klardenken konnte.

Jedoch beteuerte mir mein Freund ein weiteres Mal, dass das nicht sein kann und dass er das niemals zulassen würde. Er meinte sogar, er müsste mich bei seinem nächsten Besuch irgendwie ablenken, damit ich mich wieder besser fühle und diese „absurden“ Gedanken hinter mir lassen kann. Ich würde seiner Ansicht nach etwas gestresst wirken. Dabei hat er keine Ahnung, wie mir wirklich zumute ist. Ich verstehe das einfach nicht und irgendwie kann ich auch mit niemandem darüber reden, selbst mit meinem Liebsten nicht. Würde ich das jemandem erzählen, würde man mich vermutlich sofort für verrückt halten, weswegen ich auch versucht habe, ruhig zu bleiben und mir nichts anmerken zu lassen. Doch mir geht es alles Andere als gut. Ich fühle mich irgendwie allein, selbst wenn ich zuhause, oder in der Schule bin. Manchmal glaube ich sogar, ständig in eiskalte und seelenlose Augen zu blicken, wenn ich meine Mitmenschen betrachte. Als wenn sie selbst nur geisterhafte Gestalten wären. Ist das denn wirklich normal? Stimmt irgendetwas mit mir nicht, oder ist doch etwas an der Sache etwas faul? Ich weiß es einfach nicht. Ich spüre es nur und meist ist mir unwohl dabei. Es ist nur phasenweise, dass dieses Gefühl abnimmt und stattdessen ein wenig Geborgenheit und etwas Vertrautes seinen Platz einnimmt. Als wenn jemand unsichtbar an meiner Seite stehen würde, egal was auch passiert.

Zudem habe ich ständig den Eindruck, ich würde für einen kurzen Augenblick eine Art Berührung wahrnehmen. Es ist kaum spürbar und ich kann es wirklich nur wie einen Hauch beschreiben. So wie es auch vorhin der Fall gewesen war und jedes Mal ist es nur kurz von Dauer. Dass ich Cori von diesem einen Moment erzählt habe, ist bis jetzt auch das einzige Mal gewesen. Der Grund ist einfach, dass ich irgendwie niemandem hier vertrauen kann, ohne wieder das Gefühl zu bekommen, dass ich langsam verrückt werde. Dasselbe Problem hatte ich ja auch, als dieser Wahn mit diesem Betrüger war. Doch passierte es wirklich? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass hier irgendwie nichts für mich einen Sinn ergibt. Es ist einfach falsch. So dumm es auch klingen mag, aber ich kann es nun mal nicht wirklich abstellen. Ich kann es nur verdrängen und für einen kurzen Moment vergessen. Dies gelingt mir aber meist auch nur, wenn jemand anderes seine Hand im Spiel hat und dieses Mal ist es meine Freundin mit den kurzen blonden Haaren. Wir sind gerade bei mir zu Hause und haben es uns im Wohnzimmer bequem gemacht, wo wir einen kleinen Filmabend veranstalten. Die Idee kam eigentlich von Cori und auch wenn es mich nicht so sonderlich reizte, stimmte ich dem zu. Irgendwie muss ich mich ja selbst aus meinen Sumpf der Trostlosigkeit herausziehen, weswegen mir jede Ablenkung recht ist. Schade nur, dass Mia nicht auch zu uns stoßen konnte, aber sie muss wegen ihrer Familie auf ein Klavierkonzert fahren.

Eigentlich hätte ich es ja verschoben, damit wir zu dritt beisammen sein können, aber da meinte sie, wir könnten das ja an einem anderen Abend nachholen. Somit setze ich mich wieder in Bewegung und mache es mir auf der Couch bequem, was Cori nun ebenfalls tut. Nur greift sie schon gleich darauf nach der Schüssel mit Popcorn, welches wir vorhin vorbereitet haben und schaufelt sich gleich einmal eine große Portion in den Mund. „Was denn?“, fragt sie mich leicht beleidigt, nachdem ich ihr einen eher skeptischen Blick zugeworfen habe. „Der Film hat noch nicht einmal angefangen.“, belehre ich sie, aber die Blondine zuckt nur grinsend die Schultern und meint: „Das nennt man „vorgenießen“, so stimme ich mich immer bei einem guten Film ein.“ Na wenn sie meint. Ich rolle einfach nur mit den Augen und sehe wieder zum Fernseher hin, während ich meinen Kopf auf die Rückenlehne zurückfallen lasse. Doch je mehr ich mich ruhig verhalte, desto mehr habe ich wieder den Eindruck, dass ich nicht alleine bin und damit meine ich nicht Cori. Während sie zu meiner Linken weiterhin das salzige Popcorn futtert und mit großen Augen auf dem Film starrt, habe ich das Gefühl, dass noch jemand hier ist. Kurz lasse ich meinen Blick umherschweifen, aber da ist niemand. Tante Tina und Mom sind für heute wieder gemeinsam unterwegs, weswegen ich auch das Haus für mich und meine Freundin allein haben kann. Daher kann keiner außer uns hier sein und trotzdem spüre ich eine Art Präsenz.

Als wenn eine vertraute Seele an meiner Seite wäre. Ob das vielleicht Raphael ist? Das kann aber nicht sein, denn in seiner letzten WhatsApp erwähnte er, dass er heute gemeinsam mit seinen Brüdern Jagd auf ein paar Gaunern machen würde, die in letzter Zeit vermehrt ihr Unwesen treiben. Außerdem weiß er, dass Cori heute bei mir ist. Ich kann mir daher kaum vorstellen, dass er dieses Risiko eingeht. Dennoch hält dieses Gefühl weiterhin an, weswegen ich schließlich aufstehe und sofort einen fragenden Blick von meiner Freundin einkassiere. Schnell sage ich zu ihr: „Ich komm gleich, du kannst du ruhig weiterschauen.“ „Wie du meinst, aber beeil dich, sonst verpasst du noch zu viel.“, meint sie achselzuckend und ich verlasse schnell das Wohnzimmer. Mein Weg führt direkt die Treppen hinauf, bis ich schließlich mein Zimmer betrete und sofort zum Fenster schreite. In mir ist einfach dieses Gefühl, al ob es mich dort hinziehen würde. Doch als ich schließlich hinaussehe, kann ich niemanden entdecken. Meine große Erwartung entpuppt sich als Enttäuschung. Schade eigentlich, auf solch eine Überraschung hätte ich mich sogar gefreut. Auch wenn ich zunächst darüber verwundert gewesen wäre, aber leider ist dem nicht so. Enttäuscht seufze ich. Wie sehr ich meinen Schattenkrieger gerne wiedersehen möchte, aber leider kann er nicht. Er muss ja seinem „Job“ nachgehen. Da kann er nicht immer Zeit für mich haben, leider.

Ich will mich gerade mit gesenktem Blick umdrehen, als ich plötzlich wieder eine zarte Berührung auf meiner Wange fühle. Ganz zart spüre ich ein leichtes Kribbeln auf meiner Haut. Wie vorhin ist kaum wahrnehmbar und auch nur kurz da, doch diesmal bin ich mir sicher, dass das keine Einbildung war. Dies auf mehreren Tagen verteilt zu empfinden ist eine Sache, aber wenn das in kürzester Zeit passiert, kann da etwas nicht stimmen und ich werde der Sache auf dem Grund gehen. Irgendwann werde ich die Wahrheit erfahren.

Auf der Lauer

Aus Raphaels Sicht:
 

Fast jede Nacht, an dem ich Bernadette besuche, sitze ich an ihrem Bett und sehe sie an. In einer flüsternden Stimme spreche ich zu ihr und versuche die ganze Zeit zu ihr durchzudringen. Doch bis jetzt hat sich bei ihr kaum eine Veränderung gezeigt. Weder meine Stimme, noch meine Berührungen scheinen irgendetwas zu bewirken. Sie liegt einfach da, während die Maschinen um sie herum dafür sorgen, dass ihr Herz nicht aufhört zu schlagen. Das Einzige, was sich verändert hat, ist, dass die Verbände an ihrem Körper mit Zeit weniger geworden sind, sie selbst aber sieht nun etwas magerer und auch blasser aus. Mit jedem darauffolgenden Besuch kommt es mir vor, als ob ich das nun deutlicher erkennen würde und das bereitet mir große Sorgen. Nun sind bereits sechs Wochen vergangen und ich frage mich wirklich, wie es nun weitergehen wird. Meine größte Sorge ist, dass das so bleiben wird und dass ihre Familie vielleicht sogar irgendwann einknicken wird. Wenn das passiert, dann werden sämtliche Geräte abgestellt. Das wird Bernadette nicht überleben! Sie braucht immer noch das Beatmungsgerät! Ohne ihn ist sie aufgeschmissen und solange ihr Bewusstsein nicht ein Stück in die Realität zurückkommt, wird das auch so bleiben. Donnie meinte, dass meine Sorge darüber unbegründet wäre. Bernadettes Familie würde diese Entscheidung niemals in so „kurzer“ Zeit treffen und sie alle würden sie nicht so schnell aufgeben. Ich hoffe, er hat Recht. Dennoch wünsche ich mir, dass mein Engel so schnell wie möglich erwacht. Hätte dieses verdammte Miststück Bernadette nur in Ruhe gelassen. Dann hätte mein Engel so manches nicht durchmachen müssen und sie würde auch nicht hier liegen. Wenn ich nur an diese feige Göre denke, kommt mir schon die Galle hoch. Dass sie an jener Nacht solch eine Furcht vor meinen Brüdern und mir hatte, ist nichts im Vergleich dazu, was ich noch mit ihr vorhaben werde.

Heute bin ich schon etwas eher an der Oberfläche unterwegs. Den ganzen Tag über war es bereits stark bewölkt gewesen und ständig zeigten sich einige Regenschauer, wodurch es im Allgemeinen nicht besonders hell, sondern sogar eher düster war. So war es mir möglich, bereits am Nachmittag die Kanalisation zu verlassen und Bernadette aufzusuchen. Doch besuchen kann ich sie diesmal nicht. Denn kaum, dass ich inmitten des Regengusses das Fenster erreicht habe, muss ich schon in Deckung gehen. Es befindet sich bereits wer darin und diesmal sehe ich keinen Arzt, sondern ihre Tante. Doch nicht nur sie ist hier. Auch ihre Mutter ist an wesend, welche an Bernadettes Bett sitzt und deren rechte Hand hält. Zum ersten Mal weiß ich nun, wie ihre Mom aussieht und sie hat starke Ähnlichkeiten mit ihrer Tochter. Allein ihre Augen und die natürliche Haarfarbe sprechen für sich. Anstatt aber lange Haare zu tragen, hat diese eine kurze Frisur. Doch nicht nur die beiden Frauen sind in diesem Raum. Zwei junger Männer, die vermutlich zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt sind, sehen bedrückt zu meinem Engel. Ob das Bernadettes Brüder sind? Ein paar Ähnlichkeiten wären zumindest da. Sowohl beim Gesicht, wie auch bei den Haaren gibt es so manche Gemeinsamkeiten. Der Ältere wirkt stämmiger und nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, könnte man bei ihm meinen, dass er eher in den Keller lachen gehen würde. Dabei glaube ich nicht, dass dies allein mit dieser Situation zusammenhängt, denn der andere, ein schmächtigerer Kerl wirkt auf mich, als würde er mehr Gefühle zulassen.

Eine Weile beobachte ich sie und warte ab, was passiert. Der Ältere der beiden seufzt schließlich und fragt in der Runde: „… Weiß man eigentlich schon etwas? Hat die Polizei schon irgendwas herausgefunden?“ Angesprochen fühlt sich darauf seine Mutter, welche sogleich den Kopf schüttelt und erwidert: „Nein Paul, bis auf die Blutspuren bei den Docks und ein paar wenige, alte Spraydosen, die man in diesem Schutt auftreiben konnte, konnte man noch keine weiteren Anhaltspunkte feststellen. Man kann nicht einmal zu hundert Prozent sagen, wie es überhaupt so weit kommen konnte, dass dieser Lagerraum explodierte. … Mich würde es allerdings nicht wundern, wenn man dort überhaupt etwas findet. Angeblich soll die Explosion mögliche Beweise und Hinweise vernichtet haben, die uns vielleicht hätten weiterhelfen können.“ „Was hatte unsere Schwester da überhaupt zu suchen? Wie ist sie da überhaupt hingekommen?“, mischt sich nun der Zweite ein, doch auch hier hat keiner eine Antwort. Die meisten schweigen sogar. Nur die Tante versucht darauf einzugehen, bis auch sie selbst am Ende schweigt: „Das kann wohl nur Bernadettchen selbst beantworten, jedoch …“ Sie sieht zu meiner Freundin hinüber und umklammert umso fester ihre Arme, die sie die ganze Zeit verschränkt hält. Das Ganze gleicht einem Trauerspiel und wüsste ich es nicht besser, so könnte man sogar glauben, dass diese Menschen vor einer Verstorbenen stehen und um diese trauern.

Wenn sie alle nur wüssten, wer eigentlich dahintersteckt und was mein Engel die ganze Zeit durchmachten musste. Dann könnten sie verstehen, warum meine Freundin hier liegen muss. Um ehrlich zu sein, haben sie alle nur ein Bruchteil einer Ahnung davon und ich kann es ihnen nicht einmal erzählen, weil ich mich ihnen nicht zeigen darf. Nicht nur, dass keiner aus Bernadettes Familie weiß, dass sie einen festen Freund hat, ich bin kein Mensch und kann daher nicht einfach ins Zimmer hineinspazieren und sie aufklären. Obwohl ich es am liebsten tun würde, verharre ich weiterhin an der Außenmauer und beobachte vorsichtig das Geschehen. Ich möchte mir nicht einmal ausmalen, wie sie alle reagieren würden, würde ich einfach hineinspazieren, aber selbst, wenn ich ein Mensch wäre und sie wegen Bernadette aufklären würde, würde es sie vermutlich kaum weiterbringen. Um Lucinda etwas anzuhängen, braucht man Beweise und was ich da eben gehört habe, wird es wohl kaum welche geben. Selbst wenn man etwas finden würde, ist die Wahrscheinlichkeit eher gering, dass man dies mit diesem Miststück in Verbindung bringen könnte. Davon bin ich überzeugt. Trotzdem hoffe ich, dass dieser Fall noch weiter untersucht wird, damit irgendetwas und sei es nur ein kleiner Hinweis gefunden werden kann. Betrübt und zornig zugleich beobachte ich diese Familie. Bernadettes Mom kann gerade nichts weiter tun, als mühselig die Tränen zu unterdrücken und den Schmerz irgendwie herunterzuschlucken. Vergeblich versucht sie nicht zu weinen und trotzdem erkenne ich bei ihr glasige Augen.

„Dorian, geh doch bitte Mal mit deinem Bruder nach draußen. Ich muss mal kurz mit eurer Mutter reden.“, bittet Bernadettes Tante schließlich die beiden. Vermutlich will sie verhindern, dass die Brüder ihre Mutter weinen sehen, weswegen diese nun rausgeschickt werden. Während der Ältere auf dieser Forderung stur nickt und schon zur Tür schreitet, bleibt der Angesprochene noch kurz auf derselben Stelle stehen, bis auch er den Raum seufzend verlässt. Vermutlich hätte er etwas erwidern wollen, aber nach einem ernsten Kopfschütteln seitens der Tante, ist er der Aufforderung gefolgt. Schließlich wendet sich die Frau ihrer Schwester zu, die ihre Tränen einfach nicht mehr zurückhalten kann, kaum dass die Tür wieder geschlossen ist: „Anika, bitte beruhige dich doch.“ „Wie soll ich das Tina? Meine Jüngste liegt hier im Krankenhaus und ich habe keine Ahnung, ob sie je wieder aufwachen wird. … Nach alldem, was passiert ist, wollte ich endlich was ändern … sie besser verstehen … ihr beistehen … und jetzt …“, schluchzt sie und dreht ihren Kopf zu ihrer Tochter. Sanft, aber auch zitternd streicht sie über ihr Gesicht, während Bernadettes Tante ihren Blick leicht zu Boden senkt. „Ich verstehe dich ja, oder glaubst du etwa, dass ich mir etwa nicht die ganze Zeit für Vorwürfe mache? … Mein Gott, ich hätte viel früher begreifen müssen, dass sie auf ihre Schule gemobbt wurde und dass es ihr so schlecht ging. Ich war so blind und jetzt wo ich geglaubt habe, wir würden uns nun wieder etwas annähern, musste ausgerechnet das passieren?“, spricht diese kurzer Zeit weiter, wobei ihre Stimme nun mehr gebrochen klingt, als hätte sie sich vorhin die ganze Zeit zusammengerissen, um für alle Anwesenden die Starke zu spielen.

Nun scheint ihr Kartenhaus aber allmählich zusammenzufallen und so sehr ich Bernadettes Tante zustimme, den eigentlichen Vorwurf hat immer noch Lucinda verdient. Denn die ist es, die einfach nicht aufgehört hat, meinen Engel zu terrorisieren und nun leidet nicht nur Bernadette selbst, sondern auch ihre ganze Familie. Wütend balle ich meine linke Hand zu einer Faust. Mir reicht es nun endgültig! Ich will verdammt noch mal etwas tun und ich meine nicht, dass ich nur an Bernadettes Bett sitze und versuche sie irgendwie zurück ins Leben zu holen. Ich will mir endlich dieses Miststück vorknöpfen! Schon viel zu lange ist Lucinda davor verschont worden und ich sehe keinen Grund, dies noch länger hinauszuzögern. Wohlwissend, was ich nun zu tun habe, klettere ich auf das Dach und zücke sogleich mein Handy aus der Tasche, mit dem ich Donnie anrufe. Kaum dass dieser abgehoben hat, kommt von mir schon die erste Ansage: „Hey du Genie, ich brauch mal deine Fachkenntnisse.“ „Äh na gut, aber sag, ist alles ok bei dir? Du klingst so genervt.“, antwortet dieser leicht überrumpelt. Der hat keine Ahnung, aber ich habe jetzt keine Zeit dafür, was ich mit etwas Sarkasmus verdeutliche: „Wie kommst du darauf? „Bei mir ist alles palletti.“ – Natürlich bin ich genervt, was dachtest du denn?!“ „Schon gut, reg dich ab. Du musst ja nicht gleich wieder an die Decke gehen. Also, was kann ich für dich tun?“, versucht mein Bruder mit der lila Maske und der Brille mich wieder zu entspannen. Na wenigstens kommen wir gleich einmal zum eigentlichen Thema und so fordere ich ihn auf, Folgendes für mich tun: „Check mal, wo diese Lucinda wohnt. Ich muss da mal was erledigen.“

Kaum dass ich diesen Namen ausgesprochen habe, wird Donnie schon nervös. Ohne sofort meiner Bitte nachzugehen, will er wissen, was ich vorhabe: „Was hast du vor Raphi? Mach ja keinen Blödsinn. Das ist die nicht wert.“ Natürlich befürchtet er bei mir immer das Schlimmste. Zwar könnte ich ihm das nicht einmal verübeln, aber ich habe nicht vor, bei dieser Zicke Blut fließen zu lassen. Mir schwebt da etwas völlig anderes vor, aber das ist meine Sache. Um meinen Bruder aber zu beruhigen, verklickere ich ihm mal die Tatsachen: „Hey, ich bring sie schon nicht um, auch wenn ich ihr am liebsten den Hals umdrehen würde! … Es gibt immerhin auch andere Wege, um ans Ziel zu gelangen und nur damit du es weißt: Ich werde ihr nur einen Besuch abstatten.“ Wie zu erwarten, stoße ich da wieder auf Widerstand. Dass ich mal wieder nicht verstanden werde, ist ja schon Normalität. „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, wenn du einfach, wie aus dem Nichts, bei ihr auftauchst. Was erhoffst du dir damit überhaupt?! Sie wird dir wohl kaum irgendetwas geben können, was hilfreich sein könnte. … Außerdem, warum jetzt auf einmal? Was ist passiert? Ist Bernadettes Zustand etwa schlechter geworden, dass du so drauf bist?“, hakt er besorgt nach und ja, es ist etwas „passiert“. Alles steht auf Stillstand, keiner weiß, wie es nun weitergehen wird und da ich mich Bernadettes Familie nicht einmal zeigen und ihnen den eigentlichen Grund für Bernadettes Zustand erklären kann, werde ich die Sache nun höchst persönlich in die Hand nehmen. Auch wenn ich dazu nur einen kleinen Beitrag leisten kann, ich werde nicht mehr tatenlos rumstehen.

Das kann ich Donnie nur nicht sagen, weil ich genau weiß, dass er die anderen benachrichtigen wird. Meine Brüder werden dann das Schlimmste befürchten und mich sofort von meinem Vorhaben abhalten. So bleibt mir nichts Anderes übrig, als dafür zu sorgen, dass ich das alleine machen kann und fordere Donnie daher auf, mich nicht weiter damit zu nerven: „Lass das mal meine Sorge sein und sag ja Leo nichts davon! Das will ich alleine regeln, verstanden?!“ „Wenn du mir nicht sagst, was du vorhast, dann kannst du das gleich wieder vergessen!“, höre ich nun überraschender Weise seine Überzeugung. Er klingt sogar, als könnte er sofort aus dem Gerät herausspringen, wenn er das nur wollen würde. Noch dazu bin ich überrascht, wie stark er sich mir in den Weg stellt, nur damit ich weitere Informationen rüberwachsen lasse. Eigentlich dachte ich immer, dass das gerade bei ihm leichter sein würde. Er ist immerhin nicht so störrisch wie Leo und wenn man ihn sonst um etwas bittet, dann tüftelt er sofort an seiner Gerätschaft herum, ohne viele Fragen zu stellen. Die kommen meistens zwischendurch, oder danach. Doch diesmal ist es anders. Ich habe aber weder die Nerven, noch die Zeit dafür, um noch mehr ins Detail zu gehen. Was genau ich außerdem mache, sehe ich erst dann, wenn ich vor dieser Göre stehe und selbst bis dahin ist noch genügend Zeit, um mir irgendetwas einfallen zu lassen. Damit wird sich mein Bruder aber sicherlich nicht zufriedengeben, davon bin ich überzeugt.

„Ich will nur sichergehen, dass diese Pute nicht noch mehr Schaden anrichtet. Bernadettes Familie sitzt jetzt schon auf heißen Kohlen, kapier das mal!“, erkläre ich ihm, wobei ich dabei eher wieder schroff klinge, aber ich will jetzt endlich was tun und meine Geduld wird eh schon genug strapaziert. Außerdem muss das jetzt als Information reichen. Mehr braucht er nicht zu wissen und dass Bernadettes Familie wirklich leidet, muss für ihn Grund genug sein, um mir zu helfen. Von der anderen Leitung höre ich nur ein tiefes Seufzen, bis mein Bruder meint: „Ich seh‘ mal, was ich tun kann, aber wehe du stellst etwas an, was die ganze Angelegenheit nur noch verschlimmert. Das bringt nämlich überhaupt nichts. … Warte kurz, ich melde mich dann gleich wieder.“ Schon legt er auf. Vermutlich checkt er jetzt einmal das Internet und bevor er mich in der „Warteschleife“ hängen lässt, sieht sich die Sache wohl erst in „Ruhe“ an. Allerdings glaube ich kaum, dass wirklich lange warten muss. So wie ich diese Göre einschätze, wird sie als „Modepüppchen“ eher leicht zu finden sein. Solche Menschen tun ja alles dafür, damit sie im Vordergrund stehen können und da ist es egal ob dies virtuell oder im realen Leben geschieht. Meistens sind diese beiden Dinge sogar eng miteinander verbunden und mich würde es stark wundern, dies diese Lucinda nicht ständig irgendetwas postet. Seien es nun Selfies, oder andere Bilder.

Nach gefühlten zehn Minuten meldet sich Donnie bei mir wieder. Na endlich, ich dachte schon, ich müsste das auf eigener Faust irgendwie hinkriegen. Dabei dachte ich, dass Donnie sich schneller melden würde. Anstatt aber herumzunörgeln, höre ich mir erst einmal an, was er zu sagen hat. Kurz und knapp erzählt er mir, an welchen Orten ich diese Göre noch am ehesten erwischen kann und das sind leider nicht gerade wenige. Lucinda scheint noch mehr herumzukommen, als was ich mir gedacht habe. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich sie nicht finden werde. Irgendwo wird sie schon stecken und wenn ich sie erst einmal habe, wird sie sich wünschen, meiner Freundin niemals begegnet zu sein. Das versichere ich ihr! „Also, ich habe dir alles gesagt, was ich weiß. Ich hoffe aber, dass dir klar, ist, dass ich damit kein bisschen einverstanden bin. Mach also ja keine Dummheiten! Es bringt sich nichts, wenn es durch unbedachtes Handeln nur noch schlimmer wird.“ „Werde ich nicht, aber sag weder Leo, noch sonst irgendwem was. Ich hoffe, ich kann mich darauf verlassen.“, grummle ich und verabschiede mich dann mit einem schellen und kurzen Danke, bevor er auch nur irgendetwas dagegen erwidern kann. Ich habe jetzt keine Zeit zu verlieren, denn ich muss einige Orte aufsuchen, die Donnie mir aufgelistet und auf meiner Karte markiert hat. Hoffentlich finde ich sie auch dort und wenn es soweit ist, kann sie sich schon mal warm anziehen.

Zunächst widme ich mich jenen Standpunkten, die sich eher in meiner Nähe befinden. Dazu zählen teure Kosmetikshops und Läden für überteuerte Markenkleidung oder Schuhe. Hat die auch noch andere Interessen außer Shopping, oder gehört sie doch zu diesen typischen Weibern, die man normalerweise eher aus billigen Filmen kennt: zickig, oberflächig, und so weiter. Warum frage ich mich das eigentlich überhaupt? Die Antwort liegt doch wohl klar auf der Hand! Kopfschüttelnd verstecke ich mich schließlich hinter der nächsten Reklametafel und beobachte von meinem Versteck aus das menschliche Treiben. Trotz dass immer noch regnet, hält es die New Yorker nicht auf, ihren Tagesablauf weiterhin zu verfolgen. Mit Schirmen und Regenjacken ausgestattet bahnen sie sich ihren Weg und bei diesen vermummten Gesichtern ist es gar nicht mal so einfach, diese Tussi aus der Menge ausfindig zu machen. Von meiner Perspektive aus kann ich meist nur die Köpfe, oder die bunten, aufgespannten Regenschirme erkennen. Das wird wohl schwieriger werden, als was ich zunächst geglaubt habe. Lucinda wird mir aber nicht entkommen und wenn ich sie bis zum nächsten Morgengrauen suchen muss, ich werde sie finden. Wie es aber aussieht, bleibt mir wohl keine andere Wahl, als näher heranzugehen. So verlasse ich mein Versteck und klettere die nächste Mauer hinunter, bis ich mich schließlich in der nächsten Gasse befinde.

Verborgen im Schatten nehme ich jedes einzelne Gesicht unter die Lupe und achte stets darauf nicht entdeckt zu werden. Ich riskiere auch den einen oder anderen Blick ins Innere eines Gebäudes. Doch bis jetzt konnte ich dieses Miststück noch nicht ausfindig machen. Wo steckt Lucinda nur? Sie wird wohl kaum untergetaucht sein. Nein, das glaube ich nicht. Dafür ist sie viel zu hochnäsig und zu eingebildet, als dass sie sich verstecken würde. Vermutlich bin ich einfach nur an der falschen Adresse. Ich muss woanders mein Glück versuchen. Seufzend und verärgert mache ich mich schließlich wieder auf dem Weg. Ich werde mit Sicherheit nicht aufgeben, darauf kann sie Gift nehmen! Nachdem ich wieder einige Straßen und Wohnblöcke hinter mir gelassen habe, bleibe ich schließlich auf dem gegenüberliegenden Dach von einem Restaurant stehen. Etwas hat mich im Augenwinkel stutzig gemacht und das war ihr Gesicht. Nie und nimmer werde ich das je vergessen können, als sie mich und meine Brüder so angsterfüllt angestarrt hatte und nun kann ich sie von weitem sehen. Ganz nah am Fenster sitzt dieses Miststück an einem runden Tisch und scheint unbekümmert ihre Mahlzeit zu genießen. Ihr gegenüber sitzen ein paar Mädchen und reden gerade mit ihr über etwas. Zumindest vermute ich das. Schließlich kann ich nur sehen, wie sich ihre Münder bewegen. Wie Schnattergänse amüsieren sie sich und das Oberhaupt ist Lucinda höchst persönlich. Für mich aber heißt es jetzt abwarten. Wer weiß, wie lange dieses Geschnatter noch weitergehen wird, bis die „Madame“ endlich ihren Arsch aus dem Laden schwingt. Wie ich es hasse zu warten, aber ich habe wohl keine andere Wahl. Zumindest habe ich Lucinda gefunden und so leicht kommt sie mir nicht davon.

Es vergeht ca. eine Stunde, bis sich schließlich etwas tut. Zunächst sind es die Begleiterinnen, von denen sich eine nach der anderen erhebt und sich von Lucinda verabschiedet. Wie bei einer Audienz bei der Königin selbst, machen sie kleine „unscheinbare“ Gesten, die klar und deutlich zeigen, was für Schoßhündchen sie alle miteinander sind und ich spüre schon, wie mir das Essen wieder hochkommt. Reiß dich zusammen Raphi, es geht gleich los! Mit dieser strengen Ermahnung an mich selbst gehe ich nun in Stellung. In der Nähe des Restaurants verstecke ich mich im Schatten. Von der Ecke aus, habe ich einen guten Blick und kann von der Dunkelheit aus gut beobachten, wann dieses Miststück sich endlich mal in Bewegung setzt. Noch muss ich mich etwas gedulden, bis ich schließlich einen lila Regenschirm entdecke, unter dem sich Lucinda vor dem Regen schützt. Im richtigen Augenblick packe ich sie und ziehe sie mit einem schnellen Ruck zu mir in die Gasse. So schnell hat die Schnepfe nicht reagieren können, schon liegt sie auf dem nassen Boden. Den Regenschirm wegen der schnellen und ruppigen Aktion verloren, schnappt die Blondine zunächst nach Luft, ehe sie schließlich ihren Kopf ängstlich hin und her reißt, damit sie sehen kann, was hier eigentlich vor sich geht. Die Gasse, in der wir uns befinden ist nur spärlich beleuchtet, weswegen ich mich gut im Schatten verstecken kann, während sie ängstlich auf dem Boden kauert.

Jeder andere hätte vermutlich jetzt Mitleid mit ihr, aber nur wer sie nicht kennt, würde dies auch tun. Ich aber weiß genau, was sie für eine Art Mensch ist, weswegen mich ihre Angst völlig kalt lässt. Stattdessen schreite ich nun mit erhobenem Haupt auf sie zu und lasse aus meiner Kehle ein bedrohliches Knurren ertönen. Von mir aus soll sie sich ruhig fürchten, denn diesen Tag wird sie mit Sicherheit nicht mehr vergessen. Ihre Augen weiten sich, als Lucinda mich aus der schützenden Dunkelheit schreiten sieht, und ich merke sogar, dass sie mich in diesem Augenblick wiedererkennt. Sie erinnert sich an mich, als meine Brüder und ich an jener Nacht Bernadette zu Hilfe geeilt waren und das ist für mich nur ein Vorteil. „Ddddu! …“, stottert sie, kann aber vor Angst nichts weiter herausbringen. Stattdessen rutscht sie von mir weg und versucht dabei aufzustehen. Als könnte sie vor mir fliehen, wie lächerlich. „Kkkomm mir nnnicht zu nahe! Iiiich warne ddich, du Monster, ich schreie uuund dann wwwirst du es bitterlich bereuen!“, droht sie mir, aber diese „Drohung“ geht bei mir völlig ins Leere. Dafür gehe ich noch weiter langsam auf sie zu und entgegne ihr in einem knurrenden Unterton: „Wag es und ich werde in den nächsten Sekunden meinen Sai durch deine Kehle bohren, wodurch du nie wieder ein Ton von dir geben werden wirst!“ Ihr stockt der Atem. Der Satz hat gesessen und nach der ganzen Sorge um Bernadette habe ich mich schon lange nicht mehr so mächtig gefühlt, wie in diesem Augenblick.

Wimmernd und bibbernd hält Lucinda nun ihre Arme schützend vor ihr Gesicht und fleht mich schließlich an: „Bbbitte, lllass mich gehen!“ Wo sie doch vorhin so große Töne gespuckt hat, ist sie nun kleinlaut geworden. Doch ich kenne keine Gnade. Ich bäume ich vor ihr auf, sodass ich noch bedrohlicher wirke, als was ich eh schon tue. „Warum sollte ich das tun?! Deinetwegen liegt Bernadette im Koma und niemand weiß, ob sie das je überleben wird! … Es ist deine schuld! Du hast sie die ganze Zeit schikaniert, bedroht, verletzt und am Ende sogar die Purple Dragons auf sie angesetzt! Dafür wirst du büßen!“, schreie ich die Ängstliche an. Meine ganze Wut auf Lucinda kommt mit einem Male raus und zu meinem Glück ist der Regen stärker geworden. Somit ist das laute Prasseln neben den sonstigen Geräuschen auf den Straßen ein Segen für mich und überdeckt meine Drohung, wodurch kein Außenstehender etwas mitbekommt. Meine Worte sind auch nur für sie allein bestimmt und während Lucinda wie ein Häufchen Elend zusammengekauert dahockt und um ihr Leben bangt, stehe ich noch immer vor ihr da. Am liebsten würde ich sie packen, sie schütteln und ihr schließlich eine Tracht Prügel verpassen. Doch so sehr ich auch diesen Wunsch verspüre, etwas hält mich davon ab. Vielleicht liegt es einfach an der Tatsache, dass sie trotz ihres verabscheuungswürdigen Wesens ein wehrloses Mädchen ist. Ohne jegliche Erfahrung, sich körperlich zu wehren, zeigt sie mir nur, wie schwach sie in Wirklichkeit ist. Das ist sie sowohl vom Körper, als auch vom Charakter her. Das Einzige, was sie gut kann, ist andere zu manipulieren. Doch bei mir beißt sie auf Granit und diesem Augenblick bin ich sogar froh und stolz darauf, ein Mutant zu sein. Denn bei mir traut sie sich nun nicht und das gibt mir den entscheidenden Vorteil.

Niemand ist hier, der sie nun aus dieser Sache herausboxt, oder der ihr irgendwie Stärke verleiht. Lucinda ist ganz allein und ich hoffe für sie, dass ihr ihre Angst nun eine Lehre ist. Denn beim nächsten Mal werde ich mit Sicherheit nicht so gnädig sein. So beuge ich mich schließlich zu ihr runter und packe sie am Saum ihrer Jacke. Ganz nah ziehe ich sie zu mir, während sie mich angsterfüllt anstarrt und es kaum wagt, zu atmen. „Du hast Glück, dass ich es mir für heute noch anders überlege, aber nimm das ja nicht auf die leichte Schulter! Und ich warne dich: Solltest du noch einmal gegen Bernadette eine Intrige spinnen, so werde ich dir auflauern und dir dann das Leben zur Hölle machen! Ich werde dir keine Gnade mehr gewähren, hast du das verstanden?!“ Anstatt eine direkte Antwort zu bekommen, ernte ich nur ein zitterndes Nicken, aber das sollte auch genügen. Wenn nicht, werde ich ernst machen und mich nicht mehr zurückhalten. Soviel steht fest. Mit diesen Worten schleudere ich sie mit einem Ruck wieder von mir weg, sodass sie ein weiteres Mal unsanft auf dem nassen Asphalt landet. Zitternd bleibt sie so und wagt es auch nicht, mich anzusehen. Ich jedoch drehe mich schließlich von dieser erbärmlichen Gestalt weg und klettere die nächste Wand hoch. Dieses Mal hatte sie noch ein verdammtes Glück gehabt. Ich hätte sonst noch was mit ihr anstellen können. So sehr sie es aber auch verdient hätte, sie ist nichts weiter als ein erbärmliches Häufchen Elend. Nur wenn sie andere fertigmachen kann, ist sie stark, aber das glaubt sie nur. Ich hoffe nur, dass ich mich richtig entschieden habe und dass ich das nicht bereuen werde.

In meinem Himmel

Aus Bernadettes Sicht
 

Angst, genau dieses Gefühl trage ich die ganze Zeit mit mir herum. Ich finde kaum die Ruhe, die ich wirklich brauche. Stattdessen bin ich von einer Welt umgeben, in der ich den Eindruck habe, dass alles hier nicht richtig ist. Egal wie oft ich meine Augen öffne und egal wohin ich auch blicke, dieses erdrückende Gefühl verfolgt mich überall hin. Tag für Tag plagen mich Fragen, auf die ich einfach keine Antwort finde. Jede noch so winzige Kleinigkeit, die in diese Welt nicht passt, fällt mir auf und dadurch entstehen nur noch mehr Fragen. Ich weiß, hier stimmt etwas nicht. Nein, alles hier stimmt nicht! Das kann unmöglich real sein! Das kann einfach nicht mein Leben sein! Viel zu viel passt nicht zusammen. Als hätte man Puzzleteile entfernt und versucht, diese durch Neue zu ersetzen. Dabei passen sie nicht einmal an den entsprechenden Stellen. Es gibt Lücken und diese kann man nicht einfach ignorieren! Genauso wenig kann ich diese fehlenden Tage und Wochen so simpel unter den Teppich kehren, die angeblich nicht passiert sind. Hier stimmt einfach etwas nicht, das weiß ich ganz genau. Dennoch bekomme ich immer wieder den Eindruck, dass ich ständig hingehalten werde. Nicht nur, dass ich dieses seltsame Gefühl ständig mit mir herumtrage, allein schon wie sich alle hier aufführen, ist doch wirklich nicht mehr normal und mit jedem Tag, in der ich hier aufwache, bin ich mehr davon überzeugt. Dennoch schaffen sie es jedes Mal, mich davon abzulenken. Als wollten sie mich vergessen lassen, dass dies nicht mein Leben, geschweige das wahre Leben ist.

Ich kann es mir nicht erklären. Ich weiß nicht einmal, wie sie das machen. An manchen Tagen habe ich sogar damit spekuliert, ob es vielleicht an meiner Angst liegen könnte, die ich ständig spüre. Am liebsten würde ich mich irgendwo verkriechen, die Augen schließen und vergessen. Diese Welt macht mir einfach Angst, auch wenn es sogar Momente gibt, an denen ich mich sogar treiben lassen kann. Ohne, dass ich mich mit meiner Umgebung genau auseinandersetze. Als könnte ich allmählich ein Teil davon werden, bis mich wieder etwas zurückholt. Wie ein Stich, reißt es mich aus dieser Trance und ich werde ein weiteres Mal mit der Furcht konfrontiert, die ich lieber von mir geschoben hätte. Es gibt kein Vor und kein Zurück. Auch mit den Fragen „Warum“ und „Wer“ komme ich nicht wirklich weiter. Ich weiß ja nicht einmal, welches Ziel hier genau verfolgt wird. Warum bin ich hier? Das kann einfach nicht mein Leben, die Realität, oder wie man das sonst noch nennen kann, sein! Ich weigere mich einfach, an das zu glauben und eines ist für mich gewiss: Ich bin in ein „Leben“ gepfercht worden bin, in der ich hier nicht hingehöre und ich will hier raus! Wo bin ich hier überhaupt? Tagein, tagaus wache ich in dieser „Welt“ auf und obwohl mir alles um mich herum bekannt vorkommt, ist es doch anders. Es ist wie eine Parallelwelt, in der bestimmte Momente gar nicht passiert sind, oder so verändert wurden, sodass sie nicht mehr so schlimm wirken. Zum Beispiel die Mobbingsache aus meiner alten Schule ist heruntergespielt worden, sodass es keinen Prozess wegen Lucinda geben wird. In dieser „Welt“ ist sie sogar von der Schule geflogen und wurde in ein strenges Internat gesteckt. Dabei war es früher für mich immer mein größter Wunsch, dass diese Tussi verschwindet und mich nie mehr wieder belästigt. Hier scheint dies sogar möglich zu sein und dabei bin ich mir sicher, dass es nicht der Realität entspricht. Zumindest nicht jene, von der ich überzeugt bin.

Sooft es mir möglich war, habe ich Nachforschungen aufgestellt. Trotz der öfters vorkommenden Momente, an denen ich daran gehindert wurde, oder an denen ich mit etwas Anderem abgelenkt wurde, habe ich dennoch weitergemacht. Jedoch habe ich immer noch keine Ahnung, was hier gespielt wird. Wo ist hier des Pudels Kern, nach dem ich die ganze Zeit suche? Warum bin ich hier und was das alles überhaupt? Ständig werde ich mit seltsamen Situationen konfrontiert, wobei mir quasi „vorgeworfen“ wird, dass ich einem Hirngespinst hinterherjage. Besonders die Zeitspanne, bei der ich von Raphael getrennt war und bei der wir erst bei dieser Entführung wieder zueinandergefunden haben, ist in diesem „Leben“ scheinbar überhaupt nicht existent. Als wenn es nur aus meiner blühenden Fantasie entspringen würde, wenn ich mal die Worte meiner Mutter zitiere. Dennoch kann mich keiner von ihnen davon abhalten, nach der Wahrheit zu suchen. Nicht einmal Raphael selbst, den ich in den letzten Wochen kaum gesehen habe. Wenn ich eigentlich so darüber nachdenke, ist diese Welt gar nicht mal so „ideal“, wie mir sonst irgendwie weißgemacht wird. Abgesehen davon, dass scheinbar jedes schreckliche Erlebnis gelöscht, oder zumindest gemildert wurde, sind die Leute um mich herum kalt und unnahbar. Es liegt aber nicht daran, dass sie den Blick oder den Körperkontakt zu mir meiden. Vielmehr ist es das, was sie ausstrahlen.

Das mag vielleicht wieder an meiner zu großen Fantasie liegen, aber ich habe einfach das Gefühl, als ob ich ständig mit Geistern in Kontakt bin. Sie alle, ob fremd oder nicht, wirken auf mich wie seelenlose Gestalten. Allein schon, wenn ich direkt in ihre Augen sehe, überkommt mich ein kalter Schauer, bis ich dann wieder mit irgendetwas abgelenkt werde, bevor ich überhaupt direkt Fragen stellen kann. Als hätte ich beinahe den nächsten Schritt gemacht und eine Geisterhand hätte mich im selben Moment wieder zurück zum Ursprung gezogen. Es ist nicht, als würde ich dies wortwörtlich wahrnehmen. Vielmehr ist es ein Gefühl, welches mir besonders dann bewusstwird, wenn es wieder vorbei ist. Ich kann nicht einmal was dagegen tun. Es geht einfach so schnell, sodass ich kaum reagieren kann. Allerdings frage ich mich auch, ob es wirklich so ist, so wie ich es mir vorstelle. Vielleicht will ich sogar das nicht, was ich zunächst geglaubt habe. Was ist, wenn etwas dahintersteckt, wovor ich mich noch mehr fürchten könnte, als was ich um mich herum sehe? Liegt es etwa an mir selbst, dass ich Tag für Tag durch diese Show gezerrt werde? Nur, wenn das wirklich so ist, was bringt sich das? Was habe ich davon und wie wird es mit mir weitergehen? Was wird passieren, wenn ich aufhöre, mir Gedanken darüber zu machen? Was geschieht mit mir, wenn ich mich einfach treiben lasse, ohne der Wahrheit auf dem Grund zu gehen? Ich weiß es einfach nicht und mir macht es Angst. Welche Richtung ist die Richtige? Ich will einfach keinen Fehler machen, aber welche Entscheidung werde ich letztendlich treffen?

Es ist nicht einmal nur die Welt selbst, vor der ich mich fürchte, es gibt so viele Fragen ohne Antworten und jene die mir eigentlich am Nächsten stehen sollten, sind mir so fern. Als würde ich am Rand einer Klippe stehen, während sie alle sich auf einem Schiff befinden würden und sich immer mehr von mir entfernen. Ich fühle mich so einsam. Es kalt und selbst wenn mein Liebster selbst bei mir ist, ändert sich nichts daran. Als wäre er eine leblose Hülle, die von Geisterhand gesteuert wird. Sein Temperament ist anders, nicht so impulsiv, oder gar natürlich. Viel mehr wirkt auf mich, wie eine künstliche Version von ihm selbst. Wie ein Hologramm, welches imstande ist zumindest berührt zu werden, ohne dabei irgendwelche Wärme ausstrahlen zu können. Er spricht mit mir und zeigt auf seine Weise „Gefühle“, aber dies wirkt genauso gekünstelt, wie der Rest von dieser Welt. Ich weiß einfach nicht, was ich davon halten soll. Es fühlt sich so falsch an und ich spüre immer wieder den Drang, mich dagegen zu wehren. Mir reicht es einfach nicht, mit diesem Trugbild zu leben. Ich will mehr, ich will die Menschen um mich herum wahrhaftig spüren und ich will Raphael ganz nah sein. Jedoch erfüllt sich mein sehnlichster Wunsch nicht. Ich bin in dieser kalten Welt gefangen und je mehr Zeit verstrich, desto mehr ist mir das bewusst geworden. Wenn ich daran denke, wir groß mein erster Schock, als ich am Anfang noch nicht so sehr daran zweifelte. Allein wie er mich ansah, war so kalt, leer und sogar irgendwie falsch. Anders kann ich das nicht beschreiben. Ich habe einfach das Gefühl gehabt, nicht meinem Liebsten an meiner Seite zu haben, sondern eine seelenlose Reflexion von ihm und auch jetzt ist er nicht mehr, als ein Spiegelbild von sich selbst.

Von Anfang an habe ich nicht nur nach der Wahrheit gesucht, sondern mich auch nach Normalität gesehnt. Dies ist bis heute das Einzige gewesen, was mir mehr oder weniger gewährt wurde. In dem ich in Situationen verwickelt wurde, in der ich ein Stück meine Angst hinter mir lassen konnte. Als könnte ich alles andere um mich herum vergessen. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, jemand würde tief in mir drin immer wieder zuflüstern, dass ich schlicht und einfach loslassen soll. Dass es richtig wäre, wenn ich mich einfach treiben und meine Sorgen hinter mir lasse. Ich kann das aber nicht. Viel zu viel geht mir durch den Kopf und auch etwas Anderes lässt mich aus dieser „Trance“ immer wieder erwachen. Es ist das seltene Gefühl der Geborgenheit, welches sich zusätzlich durch kurze und zarte Berührungen auf meiner Haut zeigt. Als würde es mich stets daran erinnern, dass es noch mehr gibt, als diese trostlose, kalte Welt. Wäre es mir doch möglich, dieses Gefühl noch öfters und sogar stärker zu spüren. Es einfach so angenehm und es fühlt sich sogar so warm an. Selbst wenn es sich um einen Bruchteil einer Sekunde handelt, bewirkt es etwas an mir, was mich sogar hoffen lässt. Eine Zeit lang habe ich dies sogar stärker und öfters gespürt. Meistens nachts konnte ich es intensiver wahrnehmen. Wie ein Zeichen, dass ich mit meiner Vermutung richtigliege, erinnert mich dieses Gefühl daran, mich von meiner Umgebung nicht verschlingen zu lassen, auch wenn es immer wieder Momente gegeben hat, bei denen es schon fast passiert wäre. Doch dies hat in den letzten Wochen wieder abgenommen. Ich fühle mich irgendwie ausgelaugt. Ich habe versucht standhaft zu bleiben, aber irgendetwas zerrt an meinen Kräften. Von Tag zu Tag fühle ich mich schwächer und manchmal glaube ich sogar, dass ich diese kurzen Momente der Geborgenheit nicht mehr so gut spüren kann, wie am Anfang. Als wenn mich etwas in einer anderen Richtung ziehen würde, während ich meinen Weg vergebens suche.

Gerade bin ich wieder in meinem Zimmer und starre gedankenverloren aus dem Fenster. Ein weiterer solch merkwürdiger Tag ist gerade dabei, sich dem Ende zuzuneigen, als ich schließlich ein vertrautes Geräusch höre. Aufgeschreckt sehe ich plötzlich Raphael vor mir, den ich einfach in einer schnellen Reaktion an der Hand packe und wild in mein Zimmer zerre. Aufgebracht schimpfe ich mit ihm: „Sag mal, ist dir noch zu helfen?! Dich sieht doch sofort jemand!“ Doch anstatt irgendetwas darauf zu erwidern, zuckt der Kerl nur mit den Schultern, was mich wiederum etwas in Rage bringt: „Ich glaube, du tickst nicht mehr ganz sauber! Du hättest entdeckt werden können! Ist dir das überhaupt bewusst?!“ „Glaube mir, mich hätte niemand entdeckt.“, meint er ganz seelenruhig, während er seine Hände auf meine Schultern legt. Noch höre ich mein Herz, wie es aufgeregt schlägt. Nicht nur, dass ich gerade wütend auf ihn bin, ich habe solche Angst gehabt, dass jemand meinen Freund entdecken könnte. Als Mutant ist er nicht gerade unauffällig, aber als ich ihm wieder in die Augen blicke, verändert sich meine Stimmung schlagartig. Nicht, dass Raphael eine ruhige Aura ausstrahlen würde, die mich nun erreicht hätte. Etwas ganz Anderes steckt dahinter und ich selbst fühle mich auch nicht entspannt. Viel eher herrscht in mir eine große Unruhe und genau das lässt meine vorherigen Fragen und Gedanken in meinen Kopf ein weiteres Mal aufkeimen. Das Gefühl, dass weder er noch das alles hier wirklich real ist, wird wieder stärker. Nur warum habe ich vorhin so reagiert? Liegt es einfach daran, dass ich zunächst sein Gesicht gesehen habe und im ersten Augenblick geglaubt habe, meinen wahren Schattenkrieger vor mir zu haben?

Im Grunde will ich einfach nicht, dass ihm etwas passiert. Schließlich ist Raphael mein bester Freund und auch die Liebe meines Lebens. Wie hätte ich da anders reagieren können, als ihn noch rechtzeitig in mein Zimmer zu zerren? Das ist doch logisch, oder nicht? Meine plausible Erklärung passt allerdings kein bisschen in diese Welt. Als würden hier vollkommen andere Regeln herrschen und dies betrifft nicht nur meine Umwelt, sondern auch diesen Raphael. Allein schon seine Art ist ungewohnt. Als hätte er per Knopfdruck seinen Charakter verändert, nur damit er in dieses Schema hineinpasst. Auch jetzt wirkt er wieder auf mich so, was mich weit mehr abschreckt, als anzieht. „Komm, wir waren schon lange nicht mehr über den Dächern unterwegs.“, sagt er schließlich. Nicht nur, dass das wieder einmal ganz gar nicht nach meinem Raphael klingt, er ist überhaupt nicht auf mich eingegangen. Als hätte er die Tatsache, dass er um diese Tageszeit tatsächlich hätte entdeckt werden können, vollkommen ignoriert und als würde diese Gefahr überhaupt nicht existieren, geschweige überhaupt für ihn relevant sein. Der hat sie doch nicht mehr alle und wenn er glaubt, dass ich jetzt so einfach mitkomme, dann hat er sich geirrt! Doch ehe ich einen Schritt zurückmachen kann, hat er mich bereits wortlos und ohne meine Zustimmung hochgehoben und ist mit mir aus dem Fenster geklettert. Jetzt liege ich in seinen Armen, während er mit mir durch die Stadt saust, obgleich die Sonne noch nicht untergegangen ist. Lass dich nicht verrückt machen Bernadette. Das alles hier ist nicht echt! Das kann einfach nicht echt sein! Finde endlich die Wahrheit und lasse dich nicht wieder ablenken!

Grübelnd verharre ich in meiner Position, bis ich schließlich wieder abgesetzt werde. Ich habe nicht einmal mitbekommen, wo er mich hingebracht hat. Viel zu sehr bin ich in meine Gedanken vertieft gewesen. Raphael lächelt mich nun an, aber das bewirkt nur, dass ich mich von ihm abwende und ein paar Schritte zur Seite gehe. Ich fühle mich einfach nicht wohl und ich weigere mich auch, dieses Gefühl zu vertuschen. „Was ist mit dir los? Du bist so seltsam und das schon eine ganze Weile.“, behauptet er armeverschränkend, doch ich sehe ihn zunächst nur fassungslos an. War ja auch irgendwie klar, dass das jetzt kommen muss. Wobei ich so und so keine Anstalten machen würde, um meine wahren Gefühle zu vertuschen. Ich will nicht mehr und allein schon wegen der wenigen Kraft in mir, kann ich auch nicht mehr länger still sein. Ich will endlich die Wahrheit wissen und das jetzt hier auf der Stelle! Mein Blick verfinstert sich, als ich ihm schließlich entgegne: „Da redet gerade der Richtige. … Seltsam ist das alles hier. Nichts ist hier real und sag mir ja nicht, dass ich mir das einbilde. Ich habe genug von dieser Scharade! Ich will jetzt endlich die Wahrheit wissen! Was wird hier gespielt?!“ Nun bin ich es, die die Arme verschränkt, während Raphael eine andere Körperhaltung annimmt. Von meiner Reaktion ist er zunächst verblüfft, grinst aber dann, als hätte ich gerade einen Witz erzählt. „Du redest wirres Zeug Bernadette. … “, meint er und will noch weiter etwas erwidern, aber diesmal lasse ich ihn nicht ausreden: „Nie und nimmer und ich lasse mir das auch nicht mehr länger einreden! Jetzt rück endlich mit der Sprache heraus! Ich habe es einfach satt, mir das noch länger gefallen zu lassen! Also rede jetzt endlich!“

Mein wahrer Raphael hätte in solch einer Situation wütend und aufbrausend reagiert. Er hätte mich sogar angeschrien, oder irgendetwas Ähnliches getan. Auch wenn er seine Wut hätte zügeln müssen, ich hätte irgendetwas Ähnliches bei ihm bemerkt. Dieser jedoch macht nichts dergleichen. Vielmehr ist er ein Eisklotz, ohne jegliche Gefühle. Zunächst blickt er kurz in die Ferne und antwortet erst nach einigen gefühlten Minuten: „Du willst die Wahrheit? … Als könntest du damit umgehen, wenn ich dir das sage.“ „Das lass mal meine Sorge sein.“, erwidere ich selbstsicher und mit erhobenen Haupt, während ich in meiner momentanen Position verbleibe. Ich will es wissen und das hier und jetzt. Nichts hält mich mehr davon ab. Doch von meinem Gegenüber kommt nur eine eiskalte Reaktion, als wenn er sich darüber lustig machen würde, wie sehr ich unter diesem Unwissen leide. So schielt er zu mir rüber und geht schließlich auf meine Aufforderung ein, wobei er dabei so tut, als ob ich mit meinem Handeln all seine Bemühungen, mich vor irgendetwas zu schützen, zunichtemachen würde: „Wie du willst. Ich habe versucht, es dir einfach zu machen, aber wenn du es nicht anders willst, dann erfährst du es nun mal so: Ja, das hier ist nicht dein reales Leben. Du könntest aber auch nicht mehr dorthin zurück. Denn es ist bereits vorbei. Dein Leben ist gelebt.“ „Was?“, kann ich nur darauf nur perplex sagen, während es mich wie ein Schlag trifft und mir quasi den Boden unter den Füßen wegzieht. Aus Reaktion auf diesem Schock hin, lasse ich mich auf meine Knie fallen. Wie meint er das? Ich kann seine Worte gar nicht begreifen. Ich versuche es zu verstehen, aber es will mir nicht in den Kopf.

Mein Gegenüber dagegen hat seine Mimik nicht eine Sekunde verändert. Wie versteinert sieht er mich immer noch genauso an und fügt hinzu: „Mit anderen Worten Bernadette: Dein Leben ist vorbei, du bist gestorben.“ „Nein, das … das kann nicht sein! … Das ist unmöglich!“, schreie ich. Angst und Panik haben mich ergriffen. Ich kann einfach nicht glauben, was er da gerade gesagt hat. Ich soll gestorben sein?! Das kann einfach nicht stimmen und was soll dann das hier alles sein?! Als wenn „Raphael“ meine Gedanken deutlich vernommen hätte, dreht er sich ganz zu mir um, geht ein paar Schritte auf mich zu und sagt in einer monotonen Stimme: „Und doch ist es so. Erinnere dich an das, was du das letzte Mal gesehen hast, bevor du in dieser Welt „aufgewacht“ bist.“ Verzweifelt fahre ich mit beiden Händen durch die Haare. Ich versuche mich zu erinnern. Was war das Letzte, was ich gesehen habe? Ganz verschwommen kommt es mir wieder in den Sinn. Als Letztes habe ich Mikeys Gesicht gesehen. Er hat mich neben einem Fahrzeug auf dem Boden abgelegt. Irgendetwas hat er besorgt zu mir gesagt und dann verschwand er. Zwei Männer waren dann aufgetaucht und haben mich dann auf eine Trage gehievt. Ich wurde irgendwo hineingetragen und bis auf ein paar weitere verschwommene Gesichter und fremde Stimmen, kann ich mich an nichts mehr weiter erinnern. Denn dann war alles nur schwarz.

War ab da etwa mein Ende? War dieses schwarze Nichts, was dann kam, etwa das, was mich nach dem Tod erwartet hatte, aber was ist nun mit dieser Welt? Warum bin ich hier? Ist das etwa das Leben nach dem Tod, oder doch etwa etwas ganz Anderes? Ich bin ganz verwirrt. Verzweifelt krümme ich mich zusammen, umschlinge mit meinen Armen meinen Körper und starre in die Leere. „Wer bist du und wo bin ich?“, frage ich nach einigen Atemzügen, wobei man an meiner Stimme ganz klar erkennen kann, wie verzweifelt und kraftlos sie klingt. Der Angesprochene geht in die Hocke, hebt mit seiner rechten Hand mein Kinn etwas an und antwortet: „Ich bin eine Spiegelung deiner Erinnerung, so wie dies alles hier. Alles, was du hier siehst, ist ein Teil von dir. Vermischt mit deinen Wünschen, Träumen und Ängsten hast du dies mit deinem letzten Atemzug erschaffen. Man könnte sagen, dass dies dein ganz persönlicher Himmel ist. Was hier geschieht, ist in Wahrheit dein eigener Verdienst.“ Ich kann kaum glauben, was er da sagt. Nicht nur, dass ich gestorben sein soll, diese Welt, die sozusagen „mein Himmel“ sein soll, ist nur durch mich entstanden. Nur, wenn das alles wirklich wahr ist, warum dann diese Scharade? Warum soll ich mir selbst etwas vorgegaukelt haben, dass alles in Ordnung ist und „mein Leben“ weitergeht? Als ich das nun zögerlich in den Raum werfe, klingt „Raphaels“ Stimme ganz anders. Sie ist freundlicher und wärmer, als er antwortet: „Es ist, weil du versprochen hattest durchzuhalten. Du hast so sehr dagegen gekämpft und doch verloren. Du wolltest dann einfach nicht wahrhaben, dass alles vorbei ist. Besonders die letzten schrecklichen Erinnerungen wolltest du vergessen und darum hast du dir eine alternative Wendung für dein „Weiterleben“ erschaffen, in der es einiges nicht mehr gibt. Hier lebt keine Lucinda, die dir bei der nächsten Gelegenheit das Leben schwermachen könnte. Jeder ist hier freundlich und du wirst alles bekommen, was du dir nur wünscht.“

Still höre ich ihm zu und versuche es zu verstehen. Die ganze Zeit habe ich nach einer Antwort für all meine Fragen gesucht. Immer wieder wurde ich daran gehindert, wurde abgelenkt und nun scheine ich sie gefunden zu haben. Es gab für alles einen Grund. Nur gefällt mir die Erkenntnis ganz und gar nicht. Ich bin tot, habe alles verloren, was mir stets wichtig war und kann nie mehr wieder mit meiner Liebe des Lebens zusammen sein. So sehr sich aber alles in mir dagegen wehrt und ich noch nicht ganz daran glauben mag, so macht es doch einen Sinn. Diese seelenlose Blicke meiner Mitmenschen, ihr seltsames Verhalten, dieses ständige Gefühl, allein zu sein, all das lässt sich nun erklären, aber eines gibt es immer noch, was ich nicht ganz begreife: Warum habe ich trotz alldem immer noch Momente der Geborgenheit erlebt und diese zärtlichen Berührungen auf meiner Haut gespürt? Als ich das zögerlich frage, kommt sogleich auch die Antwort: „Das sind ebenfalls Erinnerungen und zwar jene, an den du stark festhältst. Die ganze Zeit wolltest du die Wahrheit nicht wahrhaben und wenn du dich nicht wohl gefühlt hattest, so hast du diese Vertrautheit und Zärtlichkeit noch einmal direkt gespürt. Du hast es einfach gebraucht.“ Ist das wirklich so? Waren all jegliche Berührungen und dieses kurze Gefühl der Geborgenheit nur eine weitere Erinnerung, an der ich mich einfach nur klammere? Raphael, oder wohl die Replikation von ihm, hilft mir schließlich hoch. Traurig sehe ich ihn an und kann mein Schicksal einfach nicht akzeptieren.

„Und was jetzt?“, frage ich ihn nun. Er wiederum lächelt, berührt mich an beiden Schultern und meint: „Das ist ganz dir überlassen. Hier in deiner Welt kannst du machen, was auch immer du willst.“ Ich sehe nun zur Seite. In der Ferne bekomme ich gerade mit, wie der Sonnenuntergang gerade an seinem Höhepunkt ist und „meine Welt“ in ein tiefes Rot eintaucht. Wie schön das doch ist und doch kann ich es nicht wirklich genießen, geschweige mich irgendwie daran erfreuen. Es ist einfach nur traurig, aber wie soll ich nun damit umgehen? Was mache ich nun? Weigere ich mich, diese schreckliche Erkenntnis zu akzeptieren, oder lasse ich mich nun ganz darauf ein? Was ist nun richtig? Ich entferne mich von meiner momentanen Stelle und gehe auf dem Rand des Daches zu. Langsam nähere ich mich dem Abgrund und sehe schließlich hinunter. Wo die Leute unbekümmert ihrem Alltag nachgehen, stehe ich hier oben und blicke auf sie hinab. Doch sie alle sind nicht echt. Sie sind einfach ein Werk aus meiner Erinnerung, ein Konstrukt aus meiner letzten Kraft, so wie alles hier. Es ist nun meine Welt. Ob ich sie nun will oder nicht, sie ist es nun mal. Ich weiß es jetzt, aber die Wahrheit macht mich nicht glücklich. Nur lässt sich nun nichts mehr daran ändern. Mein Leben, vorbei, gelebt, wie man es auch nennen mag, ich bin nun hier. Obgleich ich noch so vieles vorhatte. Mit Leuten, die ich liebe und mit denen ich auch meine Zeit teilen wollte, es ist nicht mehr möglich. Raphael, es tut mir Leid. Ich habe dich enttäuscht, ich habe dir versprochen zu kämpfen, damit wir bald endlich wieder zusammen sein können, aber ich habe es nicht geschafft. Meine Familie, meine Freunde, sie alle werden mir schrecklich fehlen. Ich werde sie auch nie vergessen.

Bewusst atme ich nun tief durch, schließe die Augen und tue es. Ich lasse mich fallen. Die Arme von mir gestreckt und den Kopf Richtung Boden geneigt, stürze ich in einem rasanten Tempo hinab in die Tiefe. Der Wind rauscht mir durch die Ohren und meine Haare wirbeln bei meinem Fall zurück. „Ich möchte fliegen, ich möchte meine Welt sehen.“, flüstere ich, mein jetziges Sein nun schwerlich akzeptierend, und öffne schließlich meine Augen. Tatsächlich, ich fliege. Wie ein Vogel gleite ich federleicht durch die Luft. Was in meiner wahren Welt unmöglich gewesen wäre und was ohne Hilfe in letzter Sekunde mein Leben gekostet hätte, hat hier keine Bedeutung. Ich trotze den physikalischen Gesetzen und jeglicher Logik. Hier herrschen andere Regeln, hier ist alles möglich und nur ich allein bestimme es. Nach meinem Sturzflug konnte ich mit hohen Bogen dem näherkommenden Boden entfliehen und nun hält mich nichts mehr zurück. Ich bin in der Luft und fliege über die Stadt, die ich hier und jetzt als mein Eigen nennen kann. Es ist meine Welt, mein Reich und es wird so sein, wie ich es mir wünsche.

Bleib bei mir

Aus Raphaels Sicht:
 

Besorgt sitze ich ein weiteres Mal neben ihrem Bett und sehe meinen Engel an. Wie blass sie nun ist. Ihre Haut ist viel heller, als bei meinem letzten Besuch. Scheinbar schon kreidebleich, als wenn allmählich das Leben aus ihrem Körper gezogen werden würde. Von rosigen Wangen kann kaum mehr die Rede sein. Sie gleicht schon mehr einer Leiche und trotzdem schlägt ihr Herz noch. Die Maschine sorgt dafür, dass sie alles bekommt, was ihr Körper braucht. Doch warum wirkt sie nun so schwach? Ist ihr Wille etwa nicht stark genug, um sich aus diesem Koma durchzuboxen? Sie hat mir aber versprochen zu kämpfen. Sie wollte durchhalten, bis wir uns endlich wiedersehen. Ich bin nun hier und wache über sie, aber mein Engel wacht einfach nicht auf. Was hindert Bernadette daran, endlich die Augen aufzumachen? Ich weiß doch, dass sie stark ist. Sie hat schon so viel durchgemacht und immer wieder aufs Neue bewiesen, dass man sie nicht so leicht unterkriegen kann. Ich will daher nicht glauben, dass dies schon alles gewesen sein soll. In ihr steckt noch Kraft, davon bin ich überzeugt. Behutsam streiche ich über ihre rechte Hand und spreche sie mit einer möglichst ruhigen Stimme an: „Kämpfe Bernadette. Gib nicht auf.“ Wenn ich doch nur mehr für sie tun könnte. Nacht für Nacht verweile ich für viele Stunden an ihrem Bett, rede mit ihr und versuche alles, was in meiner Macht steht, um irgendetwas bei ihr zu bewirken. Doch viel mehr hat es den Anschein, als ob sie keine Kraft mehr in sich hätte. Hat sie vielleicht aufgegeben? Ist ihr Körper seit jener Nacht so stark verletzt worden, sodass der Kampf ums Überleben doch viel größer ist, als zunächst gedacht? Ich würde ihr so gerne helfen, nur weiß ich nicht wie.

Wie kann ich nur zu ihr hindurchdringen? Wie kann ich ihr noch zeigen, dass sie nicht allein ist und dass ich auf sie warte? Hört sie mich überhaupt? Bringt es überhaupt etwas, wenn ich an ihrem Bett hocke und mit ihr spreche? Manchmal habe ich den Eindruck, ich hätte nicht meine Freundin vor mir liegen, sondern eine leblose Puppe, die einfach auf diese Matratze gelegt worden ist. Als hätte man sie ausgetauscht. Bernadette hat doch voller Leben gesteckt. Selbst wenn ich ihr beim Schlafen zugesehen habe, habe ich stets an ihrem Gesicht beobachten können, wie viel Tatendrang in ihr schlummert. Stets ist sie wissbegierig durch das Leben gegangen und hat sich sogar mit jemanden wie mich eingelassen. Nun liegt sie hier und steht auf der schmalen Kante zwischen Leben und Tod. Ich hasse es, sie so zu sehen und wenn ich könnte, würde ich sie sofort aufwecken. Stattdessen sehe sie ich sie wieder stumm an, während ich meine Finger über ihre zarte Haut gleiten lasse. „Wie geht es ihr? Hat sich irgendetwas verändert?“, fragt mich auf einmal eine Stimme, die ich sofort Donnie zuordnen kann. Seit wann ist er schon hier? Auf seine Frage hin drehe ich mich aber nicht zu ihm um, sondern starre weiterhin auf das blasse Gesicht meiner Liebsten, während ich kurz mit den Schultern zucke. Mein Bruder tritt nun von der anderen Seite an Bernadette heran und tippt sogleich an sein Handgelenk herum, an dem er eines seiner kleinen Apparate befestigt hat. Wobei er eigentlich schon fast am ganzen Körper davon überseht ist und beinahe schon einem Cyborg gleicht.

„Ihre Atmung … irgendwie scheint sie sich gegen die Maschine zu wehren. Sie ist flacher als sonst.“, stellt er schließlich fest. Er zuckt aber sofort im nächsten Moment zusammen. Ich brauche nicht einmal richtig hinzusehen, um daraus zu schließen, dass er sich das am liebsten verkniffen hätte. Vor mir hätte er wahrscheinlich lieber etwas anderes gesagt. Vielleicht sogar etwas, was mich aufmuntern könnte, um nicht alles schwarz zu sehen. Doch ich brauche keine Aufmunterung und ich brauche keine Ahnung von dem ganzen Schnickschnack zu haben. Ich sehe auch ohne meinen Bruder, dass es Bernadette alles andere als gut geht. Sie leidet, vermutlich noch mehr, als was ich auch so erkennen kann. Wieso kann ich ihr nicht helfen? Was übersehe ich, verdammt noch mal?! Ein schwerer Seufzer weicht aus meiner Kehle und wende meinen Blick schließlich zu meinem Bruder, der immer noch wie angewurzelt dasteht. „Hast du noch irgendetwas Brauchbares für mich? Mir gehen schön langsam die Ideen aus.“, frage ich ihn, da mir ja sonst nichts Sinnvolleres einfällt. Jedoch scheint es nicht nur mir so zu ergehen. Denn er schüttelt enttäuschend den Kopf und antwortet mir: „Da gibt es leider nicht sehr viel Raphi und das weißt du auch. Ich kann dich aber verstehen. Nur sind auch mir die Hände gebunden und mit meinem Latein bin ich auch schon am Ende. … Jetzt können wir nur warten.“

Diese ganze Warterei macht mich noch ganz meschugge und mir geht es auch gehörig gegen den Strich, nichts tun zu können! Es muss doch noch etwas geben, damit ich irgendwie zu ihr durchdringen kann! Irgendetwas, egal was, ich würde tun! Ich weiß sehr wohl, dass Donnie an ihrem Zustand nichts dafürkann. Allerdings bin ich gerade zu aufgewühlt, als dass ich mich kontrollieren könnte, weswegen nun das Hirn dieser Familie meine derzeitige Laune zu spüren bekommt: „Ich habe es satt zu warten! Ich muss doch irgendetwas tun können, also sag mir was! Sofort!“ Mir ist sehr wohl bewusst, dass mein Bruder kein Allwissender ist. Doch an wen soll ich mich wenden? Er kennt sich von uns allen noch am besten aus und egal was es auch ist, ich mache es. Unnötig herumzusitzen ist nicht meine Art. Ich muss und will auch etwas tun können. Ich kann sie ja nicht einfach so sterben lassen. Ich werde das nicht zulassen, egal was es auch kosten mag! Ungeduldig warte ich auf Donnies Reaktion. Theoretisch könnte er mich nun anschnauzen. Nicht nur, dass ich ihn gerade dazu gedrängt habe, mir irgendwelche hilfreichen Infos zu liefern, der Ton macht die Musik. Zu meinem Erstaunen bleibt mein Bruder mit der Brille im Gesicht ruhig. Er versucht mich sogar zu ermutigen, meine bisherigen Anstrengungen, Bernadette irgendwie zu erreichen, weiter fortzuführen: „Mehr, als irgendwie Kontakt zu einem Komapatienten aufzunehmen, gibt es aber nicht. … Du musst es weiter versuchen, bis sie endlich darauf reagiert.“ Was glaubt er, mache ich hier die ganze Zeit?! Glaubt er etwa, ich sitze nur zum Spaß hier?! Ach verdammt, ich sollte mich nicht über ihn so aufregen. Er ist der Letzte, dem ich etwas vorwerfen sollte und mehr kann er nun mal auch nicht tun. Sonst hätte er es bereits getan. Somit nicke ich nur grummelnd und denke einfach nach. Was habe ich nur übersehen? Was dringt nur zu ihr durch?
 

Aus Bernadettes Sicht:
 

Irgendwie ist es doch seltsam. Ich kann nicht sagen, ob ich mich daran gewöhnt habe, aber scheinbar sehe ich mein jetziges „Dasein“ aus einem völlig anderen Blickwinkel. Im Grunde bin ich frei, ich bin frei von allem, was mich je zurückgehalten und unterdrückt hat. Ich muss mir keine Sorgen mehr machen, was aus mir wird und wohin ich gehen werde. Das Einzige, was mich schwer getroffen hat, war zu akzeptieren, dass ich nicht mehr am Leben bin. Es ist solch ein großer Schock für mich gewesen, als ich diese Worte gehört habe. Zu erfahren, dass man gestorben ist und nun in seinem eigenen Himmel verweilt, musste erst einmal verdaut werden. Ich habe bereits die ganze Zeit gewusst, dass hier etwas nicht stimmt. Dass mir ständig irgendetwas eingeredet wurde, ist ja kaum zu übersehen gewesen und hätte ich nicht so sehr darauf gedrängt, endlich die Wahrheit zu erfahren, so wüsste ich bis jetzt noch nicht, dass es mit meinem Leben aus und vorbei ist. Ich würde noch immer im Dunkeln sitzen und herumspekulieren. Die bittere Wahrheit ist allerdings eine schwere Kost. Diese Worte zu hören, haben mich einfach noch weiter hinuntergezogen. Doch nach meinem Flug über die Stadt, bei der ich einfach loslassen konnte, spürte ich in mir solch ein erleichtertes Gefühl. Als hätte ich so manche Last von mir geworfen, während ich der Logik und den physikalischen Gesetzen trotzte. Ich muss nun nicht mehr länger über mein Leben nachgrübeln, es ist ja vorbei und es besteht nun keinen Grund, vor irgendetwas Angst zu haben.

Dennoch gibt es noch eine Sache, welche ich nicht so einfach abstreifen kann. Der größte Schmerz für mich ist immer noch, dass ich alle, die ich liebe, ungewollt zurücklassen musste. Meine Familie, meine Freunde, mein Schattenkrieger, sie alle können nicht mehr bei mir sein und das tut weh. Am liebsten würde ich Raphael noch einmal sehen und mich von ihm verabschieden. Ich möchte mir gar nicht ausdenken, wie es ihm geht und wie sehr er darunter leidet. Ich habe ihm ja sogar versprochen, dass ich durchhalten werde und dass wir uns bald wiedersehen. Doch dieses Versprechen konnte ich leider nicht einhalten. Ich wollte es und ich hoffe so sehr, dass er das auch weiß. Ich habe gekämpft, aber leider hat es nicht gereicht. Vermutlich habe ich schon zu viel Blut verloren, sodass ich im Krankenhaus den letzten Atemzug gemacht habe, ohne dies wirklich zu merken. Ich verlor ja das Bewusstsein und tauchte zunächst in eine völlige Finsternis auf, ehe ich in meinen „Himmel“ „erwachte“. Es tut mir so leid Raphael. Wenn ich die Kraft gehabt hätte, so hätte ich weiterkämpft. Ob er mein Grab ab und zu besucht? Wie viel Zeit ist überhaupt bereits vergangen? Hier in meiner Welt ist alles zeitlos. Hier gibt weder eine Zukunft, noch wirklich eine Gegenwart. Höchstens die Vergangenheit beehrt mich mit meinen Erinnerungen, die ich einfach nicht von mir abstreifen will. Wenn ich schon tot bin, so will ich doch dies in Ehren halten und wenn doch die eine oder andere stärkere Erinnerung erscheint und dieses Gefühl der Geborgenheit kommt, so will ich diese wahrnehmen und in meinen Herzen verinnerlichen.

So habe ich auch jetzt wieder das Gefühl, dass ich meinen Liebsten ganz nah an meiner Seite habe. Zumindest bin ich davon überzeugt, dass diese Erinnerung mit ihm zu tun hat. Ein warmes Gefühl umgibt mich und ich habe auch kurz ein leichtes Kribbeln auf meiner Haut gespürt. Könnte ich dies doch nur länger fühlen, aber es ist immer wieder so schnell weg. Ich will aber daran festhalten. Mehr habe ich nicht, aber vielleicht muss ich mich einfach mehr darauf konzentrieren. Wenn ich schon bei meinen letzten Atemzug es geschafft habe, meine eigene Welt zu kreieren, so muss es auch möglich sein, dieses wunderbare Gefühl stärker zu empfinden. Ja, ich bin davon überzeugt, dass es möglich ist. In dieser Welt kann alles passieren. Warum sollte ich also nicht dieses Gefühl wiedererwachen lassen können? Was sollte schon dagegensprechen? In diesem Augenblick wandere ich auf der Kante eines Daches umher. Wie eine Katze mache ich einen Schritt nach dem Anderen und schlendere einfach darauf los, während ich meinen Blick weiterhin geradeaus und meine Arme hinter meinem Rücken verschränkt halte. Angst habe ich keine. Warum sollte ich das auch? Mir kann schließlich nichts passieren. Jeder andere hätte Wohl die Panik, dass ich im nächsten Augenblick einen falschen Schritt machen könnte, aber dafür besteht kein Grund. In meiner Welt brauche ich mir keine Sorgen zu machen, dass ich in die Tiefe stürzen und somit sterben könnte. Letzteres habe ich bereits hinter mir und selbst wenn ich falle, kann ich immer noch meine Arme ausbreiten und einen weiteren Flug starten.

Jedoch muss ich mir selbst eingestehen, dass ich diese „Flugstunde“ nicht ständig brauche. Es hat etwas Reizvolles an sich, wenn man durch die Lüfte schwebt. Das will ich gar nicht abstreiten, allerdings bin ich nun mal jemand, der viel lieber festen Boden unter den Füßen spürt. Außerdem bin ich es nicht gewohnt, solch etwas Unmögliches dauerhaft durchzuführen. Ich könnte es mir aber vorstellen, Dass Cori dies tun würde, wäre sie an meiner Stelle. Sie hätte wohl sogar etliche Stunden im Himmel, ohne dass ihr wirklich langweilig werden würde. Ach ja Cori, ein Wirbelwind durch und durch. Schade, dass ich sie und Mia nicht so lange kenne. Wir hätten noch so vieles anstellen können, wäre da … nicht die Tatsache, dass ich gestorben bin. Die beiden werden mir sehr fehlen. Ich kann sie mir zwar ihre „Spiegelbilder“ hervorrufen, aber es ist trotzdem nicht dasselbe. Keiner von ihnen und es ist egal, wen ich dabei meine, kann man mit diesen Kopien ersetzen. So sehr ich mich auch anstrengen würde, sie mir leibhaftig vorzustellen, es wäre einfach nicht dasselbe, leider. Zumindest kann ich mich an kleinen Dingen, wie dieser Flug, erfreuen. Selbst wenn diese Freude nur kurz andauert, es ist zumindest etwas. Daher werde ich mich in die nächste Zeit in die Lüfte erheben, sollte ich wieder die Lust dazu bekommen. Momentan stehe ich lieber auf meinen eigenen Füßen.

Es fällt mir auch noch leider schwer, komplett loszulassen. Ich mag zwar mein jetziges Dasein mehr oder weniger akzeptiert haben, aber noch geht es nicht und warum sollte ich mich auch stressen? Zeit spielt hier immerhin keine Rolle. So gehe ich einfach weiter, während ich den Nachthimmel betrachte, bis ich dann mitten auf dem Dach stehenbleibe. Eine Erinnerung an meinem Schattenkrieger, genau das brauche ich jetzt. Denn irgendwie ist diese momentane Geborgenheit so stark, sodass ich ihn direkt an meiner Seite spüren könnte. Wenn er nur wirklich da wäre und nicht einfach eine Replikation von ihm. Diese geisterhaften Erscheinungen sind für mich nichts weiter, als irgendwelche Hologramme. Leer und einfach unnahbar. Da ist mir mein Raphael tausendmal lieber und ich habe einfach keine Lust, eine weitere Version von ihnen heraufzubeschwören. Ich will lieber seine Stimme hören und mich an etwas Schönes erinnern. So setze mich schließlich hin und lasse die Beine von der Dachkannte baumeln. Bewusst atme ich tief durch und schließe die Augen, während ich bemüht bin, diese kurze Berührung noch einmal bewusst wahrzunehmen. „Raphael.“, flüstere ich sehnsüchtig seinen Namen und stelle mir vor, dass er gerade direkt an meiner Seite wäre. „Gib nicht auf Bernadette.“, höre ich plötzlich seine Stimme zu mir sprechen, wodurch ich schlagartig die Augen öffne. Was, hat es tatsächlich funktioniert? Nur warum sagt er genau das zu mir und warum klingt seine Stimme so seltsam?

Sie wirkt so traurig und auch so besorgt. Es ist, als habe ich mich verletzt, oder irgendetwas Anderes wäre passiert, was diese Aufforderung rechtfertigen würde. Warum kommt ausgerechnet diese Erinnerung und womit hängt sie zusammen? Ich hatte viel mehr gehofft, ich würde etwas Anderes und viel Fröhlicheres hören, an das ich mich gerne erinnere. Doch stattdessen ist das hier gekommen. Es ist einfach seltsam und es scheint auch noch nicht vorbei zu sein. Denn im nächsten Augenblick höre ich ein weiteres Mal seine Stimme: „Hörst du? Wir kriegen das schon hin, das verspreche ich dir.“ Was sollen wir hinbekommen? Ich verstehe das nicht. Was ist das für eine Erinnerung? Wann hat Raphael das jemals zu mir gesagt? War das vielleicht an jenen Tag, als er mich wegen der Mobbingsache von der Schule abholen musste? Liegt es womöglich daran? Ich versuche noch weiter hinzuhören. Irgendetwas fehlt da noch. Doch ehe ich mich weiter darauf konzentrieren kann, werde ich schon von einem plötzlichen Besucher beehrt: „Welch‘ eine schöne Aussicht hier, meinst du nicht auch?“ Ungewollt schrecke ich kurz zusammen. Damit habe ich jetzt überhaupt nicht gerechnet. Derjenige, der mich gerade angesprochen hat, ist die Replikation von Cori. Grinsend sieht sie mich an und hat dabei ihre Arme hinter ihrem Rücken verschränkt. Musste das jetzt sein? Ich wollte doch wissen, was meine Erinnerung mir noch sagen wollte. Doch durch diese plötzliche Erscheinung höre ich nun nichts mehr. Meine Konzentration ist dahin. Was macht sie überhaupt hier? Ich habe sie schließlich nicht hierher bestellt und diese Scharade ist auch schon Schnee von gestern. Jetzt weiß ich ja von meinem Tod Bescheid, da brauchen wir dieses „Spiel“ nicht weiterzuspielen.

„Tut mir leid, habe ich dich bei etwas gestört?“, fragt sie mich nun scheinheilig, was mich nur dazu bewegt, sie böse anzufunkeln. „Um ehrlich zu sein, ja. Ich wollte mir gerade eine Erinnerung anhören.“, grummle ich, doch sie grinst nur weiter und meint: „Ach, das kannst du dir doch jederzeit anhören. Schließlich spielt hier Zeit keine Rolle.“ Eigentlich hat sie sogar damit Recht. Dennoch ist sie im falschen Moment aufgetaucht und ich weiß nicht, ob ich diese Erinnerung so schnell wie möglich wieder hervorlocken kann. Schließlich ist das alles hier noch neu für mich. Inständig hoffe ich, dass „Cori“ nun wieder geht, doch stattdessen bleibt sie. Sie zieht mich hoch und hakt sich sogar bei mir ein. Immer noch grinsend meint sie schließlich, ich solle mal aufhören, so nachdenklich zu sein. Denn ich könne endlich das tun, was ich schon immer wollte. Repräsentiert sie etwa meine sehnlichsten Wünsche, welche sich im wahren Leben niemals, oder so gut wie gar nicht erfüllen lassen? Warum besteht sie so sehr darauf, oder zeigt sie einfach nur den Teil von mir, den man sozusagen als „inneres Kind“ bezeichnen kann? Die wahre Cori ist, oder wohl eher war ein Wildfang, soweit ich sie kennenlernen durfte, weswegen mich dieses Erscheinungsbild nicht wirklich wundert. Vielleicht sehe ich sie des Öfteren, weil sie mich daran erinnern will, endlich einmal Spaß zu haben, ohne an jegliche Sorgen zu denken. Vielleicht ist das so, aber vielleicht auch nicht. Irgendwie ist das alles so kompliziert.

„Komm schon, worauf hast du wirklich Lust und lass mal diese „Trübe-Tasse-Nummer“. Das passt ja gar nicht zu dir.“, versucht sie mich zu motivieren und auf andere Gedanken zu bringen. Jedoch habe ich nicht die leiseste Ahnung, was sie nun wirklich mit mir vorhat und so wirklich Lust verspüre ich auch nicht. „Cori“ dagegen sieht dies wiederum ganz anders und besteht sogar darauf, mich auf mein jetziges „Dasein“ einzulassen: „Dann hör in dich hinein. Du weißt, was du willst.“ Na wenn sie meint. Wünsche hätte ich ja viele. Mehr, als was so einer von mir denken mag. Nur spreche ich sie nicht immer aus. Denn manches ließ sich einfach nicht erfüllen. So sehr man auch an seinem Wunsch festhält, aber vielleicht es hier tatsächlich anders. Vielleicht muss ich es hier nur genug wollen und mir vorstellen, damit sich dieser Traum erfüllt. Seit meiner Kindheit hat es sogar einen speziellen Wunsch gegeben, von dem ich bereits damals wusste, dass er mir niemals erfüllt werden könnte. Ich wollte meinen Vater wiedersehen, ihn umarmen und nie mehr wieder gehen lassen. So sehr vermisse ich ihn. Seinen Tod konnte ich als Kind kaum ertragen, oder gar verstehen. Es dauerte zwei Jahre, bis ich es voll und ganz akzeptieren konnte. Noch dazu veränderte sich mein Leben seit diesem Tag. Nach der Beerdigung zog ich mit Dorian zu Tante Tina, wobei dieser nur ein paar Jahre blieb, bis er dann wieder auszog und seinen eigenen Weg ging. Paul kam damals nicht mit uns mit. Er brauchte damals Abstand zur Familie und gründete daher eine WG, bis auch er sich ein neues Leben aufbaute und beide suchten ihren Weg im Ausland, was sie auch fanden.

Wie es ihnen nun geht? Was machen Mom und Tante Tina? Vermutlich wird meine Beerdigung bereits stattgefunden haben und wie ich sie alle kenne, wird jeder von ihnen auf seine Weise trauern. Sich entweder in die Arbeit stürzen, oder sich mit etwas Anderem ablenken, das wird wohl passieren. Ich hoffe nur, dass sie es schaffen werden und ich wünsche ihnen alles Liebe und viel Glück, damit sie noch ein schönes Leben haben. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie meinetwegen leiden würden. „Hey du Trauerkloß! Was habe ich vorhin gesagt? Bloß nicht zu sehr nachgrübeln. Jetzt erleb mal was Schönes. Es geht nun mal um dich!“, schnippt „Cori“ ein paarmal vor meinen Augen, während sie mich streng ansieht und mich dementsprechend tadelt. Würde mich wirklich nicht wundern, wenn sie immer der Teil von meinem Selbst war, welche mir stetig in den Hintern getreten hat, sollte ich mal etwas in die Länge gezogen, oder zu sehr über etwas nachgedacht haben. Als „Gewissen“, so wie man es aus dem Disneyfilm „Pinocchio“ kennt, würde ich sie garantiert nicht beschreiben. Abgesehen davon, dass ist dafür viel zu quirlig ist, würde ich ihr eher eine andere Rolle zuschreiben. Jetzt zerrt sie mich erst einmal von diesem Ort weg, was mich aber etwas stutzig macht. Denn je mehr ich mich von den Dächern entferne, desto mehr verschwindet das Gefühl der Geborgenheit, oder bilde ich mir das einfach nur ein? Wo bringt mich „Cori“ überhaupt hin? Obwohl sie nicht danach aussieht, ist sie stark und ich kann mich auch nicht von ihrem Griff befreien. Sie zerrt mich einfach weiter und ohne darauf zu achten, wohin es uns verschlägt, bleibt sie erst nach einiger Zeit endlich stehen.

„Wo hast du mich hingebracht?“, frage ich sie und sie löst endlich ihren Griff. „Cori“ wendet schließlich ihr Gesicht zu mir, grinst mich an und meint: „Was glaubst du wohl? Natürlich dorthin, wohin du schon nach langer Zeit wieder hinwolltest. Schau nur!“ Sie deutet auf das hohe Gebäude hin, welches ich sofort wiedererkenne. Es ist das Büro, in dem mein Vater früher gearbeitet hatte. Was genau er dort damals gemacht hatte, weiß ich bis heute nicht. Ich glaube aber, dass er als Angestellter irgendwelche wichtigen Bereiche organisiert und auch überprüft hatte. Erzählen konnte er es weder mir, noch wem anderen. Nicht einmal Mom wusste etwas Genaueres über seine Arbeit. Als ich noch ein Kind war, erzählte sie mir, dass es sich um ein Betriebsgeheimnis handeln würde. Zur dieser Zeit verstand ich nicht, was sie damit meinte. So erklärte sie mir, dass die Firma wichtige Geheimnisse hüten würde und Dad dürfte es einfach nicht weitererzählen. Ich erinnere mich, dass er mich manchmal mitnahm, wenn es bei uns Zuhause ziemlich stressig vor sich ging und keiner auf mich aufpassen konnte. Schon damals war Mom öfters nicht da und auch meine Brüder hatten bereits ihren eigenen Alltag zu bewältigen. Auch Tante Tina konnte sich nicht immer um mich kümmern. Somit konnte ich stärker mit meinem Vater etwas unternehmen und ich war gern bei ihm. Auch wenn er mich zwischendurch mit irgendwelchen Spielsachen beschäftigt hatte, oder ein Kollege von ihm kurz auf mich aufpassen musste. Wenn ich mich jetzt richtig erinnere, war ich dort immer gern gesehen. Bis auf ein paar wenigen Ausnahmen, die einfach keine Kinder in diesem Gebäude haben wollten, aber man kann ja nicht jeden mögen.

Nur stehe ich wieder davor. Wohlwissend, dass dies nicht echt ist, weiß ich zunächst nicht, ob es richtig ist, hinzugehen. Ich will mir einfach die Erinnerung an meinen Dad nicht durch irgendwelchen Fantastereien vermiesen und doch werde ich einfach durch die offene Tür hineingeschubst, ehe ich auch nur irgendwie auf die momentane Situation reagieren kann. So stolpere ich einfach in Richtung Eingangshalle, wo sich bereits vor mir der Lift, der sich einige Meter vor mir befindet, für mich geöffnet hat. Noch einmal blicke ich zurück und will mich schon umdrehen, aber andererseits: Was soll mir schon Großartiges passieren? Hier bestimme immer noch ich, was hier gespielt wird und wenn ich es wirklich nicht will, dann kann ich ja immer noch gehen. Mein inneres Verlangen meinen Dad zu sehen und mag es nur die Erscheinung aus meiner Erinnerung sein, ist einfach größer, weswegen ich schließlich den Lift betrete. Ich muss nicht einmal etwas tun, schon schließt sich die Tür hinter mir und die Fahrt nach oben geht los. Blinkend leuchten die Zahlen an der Wand kurz auf, bis ich endlich das richtige Stockwerk erreicht habe und den Lift wieder verlassen kann. Durch einen langen Flur schreite ich voran. Den Blick möglichst nach vorne gerichtet, suche ich Dad´s Büro. Doch kaum habe ich es geöffnet, so sehe ich ihn. Den Rücken noch zu mir gerichtet, blickt er aus dem Fenster. Doch er muss mich gehört haben, denn nun wendet er langsam seinen Kopf, bis er sich schließlich ganz umdreht.

Er sieht genauso aus wie damals, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Dunkle Haare mit grauen Strähnen, einen Schnauzbart, graugrüne Augen und einen dunklen Anzug, den er gerade mit einer weinroten Krawatte und einem weißen Hemd trägt. Er lächelt und breitet seine Arme aus. Ich kann einfach nicht anders, als dass sich ebenfalls meine Mundwinkel nach oben ziehen und ich mit großen Schritten auf ihn zueile. „Dad!“, rufe ich einfach vor Freude und lasse mich von ihm umarmen. Ganz dicht drückt er mich an sich, sodass ich auch sein Gesicht auf meinen Kopf fühlen kann, während er zärtlich über meinen Rücken streicht. Tränen bilden sich in meinen Augen und ich kann das auch gar nicht mehr zurückhalten. So schluchze ich: „Ich habe dich so vermisst!“ „Sch ... mein Schatz. Es ist alles in Ordnung. Ich bin ja hier.“, versucht er mich zu beruhigen, da ich mich jetzt einfach nicht mehr unter Kontrolle habe. Ich weine weiterhin und das vor Freude. Seit so vielen Jahren habe ich ihn vermisst und ihn nur durch alte Fotos gesehen und nun habe ich ihn bei mir. Mir ist es auch jetzt einfach egal, ob er echt ist, oder nicht. Die Tatsache, dass ich ihn wieder fühlen kann, lässt mich die Wahrheit für diesen einen Moment vergessen. So kralle ich mich an ihn fest. Nie mehr wieder will ich ihn loslassen müssen. Er soll bei mir bleiben.

Der innere Kampf

Aus Bernadettes Sicht:
 

Sanft streichelt mir „Dad“ über den Rücken und drückt mich noch etwas fester an sich. Irgendwie ist es fast so wie früher. Zumindest rufe ich mir gerade aus meiner Erinnerung diese Geborgenheit wieder hervor, welche ich damals als Kind genießen durfte. Seit ich ihn damals verloren hatte, hatte sich so viel verändert und nun habe ich ihn endlich wieder. Auch wenn er nicht echt ist, das Gefühl, meinen Vater auf diese Weise wiederzuhaben, reicht mir vollkommen aus und vielleicht, ja vielleicht steckt noch mehr dahinter, als eine bloße Erinnerung. Schließlich sind wir nun beide tot und vielleicht gibt es nun in der Welt der Toten eine Brücke, die so manche Gestalten miteinander verbindet. Für mich würde einfach ein Traum in Erfüllung gehen, wäre dies wirklich der Fall. Nur allzu gern würde ich meinen wahren Vater in meiner Welt begrüßen, ohne dabei wieder die Angst zu haben, ihn demnächst wieder verlieren zu können. Er soll und darf mich ja nicht mehr wieder verlassen. Ich will das einfach nicht. „Dad, ich habe dich so vermisst.“, wiederhole ich ein weiteres Mal schluchzend meine Worte, wobei es diesmal viel leiser und auch etwas ruhiger klingt. Ein wenig konnte ich mich wieder beruhigen, auch wenn ich mich noch immer etwas aufgewühlt fühle. „Sch… keine Angst, ich bin ja da und ich werde dich auch nie mehr wieder verlassen.“, entgegnet er mir mit einer sanften Stimme und drückt mir auch einen zärtlichen Kuss auf mein Haupt. Könnte ich dies nur irgendwie festhalten, aber Moment, das kann ich doch! Hier in meiner Welt ist doch alles möglich. Ich muss es nur wollen.

So lächle ich, während ich mein Gesicht immer noch an seiner Brust schmiege und versuche diesen Augenblick zu genießen. Ich will einfach an nichts weiterdenken. Jede noch so kleine Sorge, die ich zuvor gehabt habe, ist nun wie weggeblasen. Ich bin einfach nur glücklich und wenn ich könnte, würde ich dies noch weiter genießen, wäre da nicht etwas, was mich gerade stutzig macht. Warum nur fällt es mir allmählich schwer, in dieser Haltung Luft zu bekommen? Es ist, als würde mir irgendetwas die Luft nach und nach abschneiden. Dabei stehe ich doch, umarmt von meinem Vater, den ich bereits seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen habe. Was also geht hier vor? Ich verstehe das nicht. Das Gefühl der Geborgenheit verschwindet mehr in den Hintergrund und stattdessen überkommt mich langsam die Angst. Nach Luft zu ringen und schwer zu atmen hat nicht nur diese Stimmung verdorben, ich bekomme langsam Panik und schuld daran ist „Dad“, der mich so fest an sich drückt, sodass man glauben könnte, er wolle mich zusammenpressen. Was geht hier nur vor sich?! „Dad …“, versuche ich zu ihm sagen, während ich bemüht bin, mich etwas von ihm zu lösen, aber sein Griff bleibt standhaft. „Dad“, welcher seine Arme zuvor so liebevoll um mich gelegt hatte, drückt mich nun so fest an sich, sodass ich das Gefühl habe, immer mehr eingeschnürt zu werden. Als hätte er nicht seine Arme um mich geschlungen, sondern ich wäre gerade in den Fängen einer Würgeschlange, die im Begriff ist, immer weiter zuzudrücken, bis es endlich sein Ziel erreicht hat.

Eine intensive Umarmung in allen Ehren, aber das wird mir nun langsam zu viel. Ich habe einfach Angst. Auch wenn ich nicht mehr unter den Lebenden weile, so heißt das noch lange nicht, dass ich mich wie in einem Albtraum zerquetschen lasse. Ich will das nicht und das hier hat auf gar keinen Fall mehr mit einer unangenehmen Umarmung zu tun. Das ist nicht nur unangenehm, ich werde im wahrsten Sinne des Wortes erdrückt! Ich muss sofort von hier loskommen, aber wie stelle ich das an?! Mühevoll bewege ich mich und schnappe nach Luft. Als ich aber erneut versuche, mich ein Stück wegzudrücken, bewegt sich „Dad“ wiederum keinen Millimeter. Wie versteinert verharrt er vollkommen in seiner momentanen Stellung, was in mir Stück für Stück noch mehr die Panik hochkommen lässt. „Dad, bitte, du zerquetscht mich fast!“, fordere ich ihn schließlich auf, damit er endlich seine Arme etwas lockert. Viel mehr hat es sich aus meinem Mund wie ein Flehen angehört, aber mir ist das egal. Er soll mich einfach loslassen, ich bekomme kaum noch Luft! Jedoch rührt er sich immer noch nicht. Es scheint überhaupt keinen Sinn zu machen, egal was ich auch sage! Hört er mich etwa nicht, oder was ist auf einmal mit ihm?! Wieso will er mir Angst machen?! Was hat das hier überhaupt zu bedeuten?! Ich will hier raus, aber „Dad“ macht keine Anstalten, sich irgendwie zu bewegen. Stattdessen wird der Druck immer stärker.

Nein, ich will das nicht! Ich lasse das nicht zu! Wild rüttle und reiße ich weiterhin um mich. Jede noch so kleine Möglichkeit, mich irgendwie zu bewegen nutze ich, bis ich sogar endlich meine Arme zwischen uns schieben kann. Das ist meine einzige Chance, die mir bleibt, um mich endlich zu befreien. Eine andere habe ich nicht, aber es ist schwerer als gedacht. Er lässt mich einfach nicht los und ich habe das Gefühl, als würde ich im nächsten Augenblick ersticken! So schreie ich ihn nach meinem erneuten erfolglosen Versuch an: „Dad, lass mich los! Ich bekomme hier kaum noch Luft! … Dad!“ Was soll das?! Warum hört er nicht auf mich?! Das ist doch meine Welt! Ich bestimme hier, was hier passiert! Nur warum lässt er mich nicht endlich los?! Ein weiteres Mal schreie ich den Mann an, hämmere wie wild mit meinen Fäusten auf ihn ein, sobald ich sie irgendwie freibekommen habe und versuche mich mit meinem gesamten Körper gegen ihn zu stemmen, aber seine Arme geben einfach nicht nach. Er hat mich fest im Griff und denkt scheinbar nicht daran, diesen zu lockern. Doch was hat er verdammt noch mal vor?! Ich habe Angst, ich glaube sogar, in einem Albtraum festzustecken. Denn das ist doch nicht normal! Ich verstehe einfach nicht, was hier gerade geschieht! Was sich aber nun stattdessen vor meinen Augen abspielt, lässt meinen Verstand noch weiter verrücktspielen.

„Dads“ Gesicht verändert sich. Es verzerrt sich zu einer bestialischen Fratze, wird länger und kantiger. Mit riesigen, hervorstechenden und rotglühenden Augen starrt er mich nun an und schnalzt mit seiner veränderten Zunge, die einer Riesenschlange gehören könnte. Sein Körper wächst zu einer großen und unförmigen Statur heran und mit seinen immer länger werdenden Armen hält er mich weiterhin fest. Was in Dreiteufelsnamen geht hier vor?! Vor mir sehe ich nicht meinen Dad oder eine einfache Replikation von ihm, vor mir steht eine wilde Bestie, die drauf und dran ist, mich zu verschlingen! „Ganz ruhig Bernadette. Es ist als gleich vorbei. Halt einfach still und du wirst sehen, dass es bald endlich ein Ende hat.“, sagt er schließlich zu mir mit einer heißeren und dämonischen Stimme, welcher nur bewirkt, dass es mir kalt über den Rücken läuft. Ich kann nicht anders, als diese Bestie verängstigt anzustarren. Mein Körper ist wie versteinert. Vor Angst kann ich mich kaum bewegen. Würde ich nicht vor Furcht zittern, so wäre ich sogar komplett starr, so wie ein Brett. Immer mehr beugt sich nun dieses Ding zu mir herunter, wobei es dabei genüsslich die Zunge über die schmalen Lippen leckt und auch noch bösartig grinst, als wolle es sich wie ein räudiges Tier über seine Beute hermachen. Doch kein normales Vieh würde so sehr mit seinem Fang „spielen“, so wie es diese grässliche Gestalt mit mir tut!

Nein! Das ist Albtraum! Das muss aufhören, sofort! Am liebsten würde ich mich zusammenkrümmen und mich verstecken, aber ich bin hier gefangen und kann mich kaum vom Fleck bewegen, oder sonst irgendetwas dergleichen tun! Instinktiv schließe ich sogar meine Augen und presse sie fest zusammen, damit ich dieser Kreatur nicht noch weiter in die dämonischen Augen sehen muss. Wäre doch alles schon vorbei, dann müsste ich nicht solch einen Horror durchstehen. Ich habe solche Angst, ich habe Angst um mein Leben, welches eigentlich vorbei sein müsste, aber ich weiß nun nicht mehr, was ich glauben soll! Denn das kann doch nicht sein, dass ich nun mit solch einem Grauen konfrontiert werde, obwohl ich in meinen „Himmel“ sein soll. Was wird hier nur gespielt, was soll das?! „Bernadette, ich bitte dich, kämpfe weiter, ich bin bei dir.“, durchdringt plötzlich Raphaels Stimme diesen Wall aus Furcht. Was war das auf einmal? Warum höre ich ihn? Ich habe mich doch gar nicht auf seine Stimme konzentriert, geschweige nach einer hoffnungsvollen Erinnerung mit ihm gesucht. Ich verstehe das alles nicht, ich bin so verwirrt! Was ist nun wahr und was nicht?! Was wird hier gespielt?! Irgendwie kann ich es mir nicht vorstellen, dass diese Worte irgendeine Erinnerung, oder gar eine Einbildung gewesen sein sollen. Daran will ich einfach nicht glauben, dafür ist hier alles viel zu sehr verrückt und viel mehr noch, ich habe nie wirklich daran glauben wollen, wenn ich ihn mal gehört habe! Seine Stimme war das Einzige, was mir hier irgendwie Halt gegeben hat. Es gab mir Kraft, obwohl ich mit einem Problem nach dem Anderem bombardiert wurde und nun hat er wieder zu mir gesprochen. Wie aus der Ferne dringt seine Stimme zu mir durch und scheint am Ende doch so nah zu sein, als würde er leibhaftig hier sein. Als würde er direkt hinter mir stehen und mir Kraft geben. Bitte, egal woher das auch kommt, sprich weiter zu mir! Bitte Raphael, ich brauche dich!

Ich öffne nun wieder meine Augen. Das Monster ist mir nun so nahe, dass nicht mehr viel fehlt und es würde mir den Kopf abreißen. Doch nicht mit mir! Egal was das auch ist, ich werde nicht so einfach aufgeben! Ich bin zwar am Boden angelangt, aber tiefer kann und werde ich auch nicht mehr sinken! So sammle ich all meinen Mut zusammen und schreie aus Leibeskräften, als könnte im nächsten Augenblick mein ganzer Körper explodieren. Dabei stoße ich dieses Ding von mir weg und spüre auf einmal eine Kraft in mir, als könnte ich mehrere hundert Kilos auf einmal stemmen. Von meiner plötzlichen Handlung überrascht, zuckt die Bestie zusammen, wodurch es mir gelingt, mich nun endgültig zu befreien. Es kostet mich so viel Energie und noch immer fällt es mir schwer zu atmen, als würde noch immer jemand meine Kehle zudrücken. „Du … kriegst mich … nicht!“, schnaube ich und balle meine Hände zu Fäusten, als könnte ich dieses Monster mit nur einem Schlag umbringen. So viel Wut hat sich nun in mir aufgestaut. Jenes verruchte Ding sieht mich nun mit einem erstaunten Blick an, während es seinen Kopf etwas schief hält und abwartet. Doch es vergeht nicht wirklich viel Zeit, schon verändert sich seine Mimik. Sein Grinsen kehrt zurück und nun schallt ein boshaftes Lachen aus seinem breiten Maul, welches Glas zerspringen lassen könnte: „Oh, hat die Dame doch noch Mumm in den Knochen. … Wie putzig, dann wird es vielleicht doch noch interessant, bevor es endlich ein Ende nimmt.“

Endlich ein Ende nehmen, was soll das nun wieder heißen?! Als wenn dieses Monster auf der anderen Seite meine Gedanken lesen könnte, belächelt es mich und kichert: „Wohl wieder verwirrt, wie? Als könnte ich von dir etwas anderes erwarten.“ „Wovon sprichst du?! Rede gefälligst, bevor ich dir noch die Zunge eigenhändig rausreiße!“, schnauze ich diese Kreatur an, doch dies scheint diese kein bisschen zu beeindrucken. Vielmehr findet sie es zum Lachen. Als hätte ich gerade einen Witz erzählt, der mehr bescheiden als lustig gewesen ist. „Obwohl du stets ein Mensch gewesen bist, der viel nachdenkt und so manches hinterfragt, bist du trotz allem begriffsstutzig. … Denk mal scharf nach, bevor du wieder mit unnötigen Fragen um dich wirfst.“, entgegnet das Monster mir, aber ich habe keine Lust, darauf einzugehen. Ich will wissen, was hier gespielt wird und was diese Kreatur von mir will! Ich schweige und warte kampfbereit nur ab, was als Nächstes passiert, während ich meine Hände zu Fäuste geballt halte. Mein Gegenüber dagegen seufzt nun und meint schließlich empört: „Lächerlich, als könntest du wirklich etwas dagegen machen. Es ist zu spät Bernadette, sieh es endlich ein! … Diesen Kampf wirst du nicht gewinnen. Egal wie stark du dich auch dagegen wehren wirst. … Ich werde es endgültig beenden und dann hat dieser Spuk ein für alle Mal ein Ende.“ „Wer bist du?“, frage ich ihn, ohne auch nur für eine Sekunde auf sein Geschwafel einzugehen. Nicht nur, dass ich dieses Szenario nicht verstehe, ich begreife nicht, was diese Kreatur von mir will und was sie mit „Ich werde es endgültig beenden und dann hat dieser Spuk ein für alle Mal ein Ende.“ meint. Das ergibt doch gar keinen Sinn!

„Kannst du dir das nicht denken? Ich habe dir doch gesagt, dass du mal dein kleines Köpfchen anstrengen sollst, aber scheinbar bist du damit zu überfordert, anstatt 1 und 1 zusammenzuzählen. … Aber gut, wenn es nun wirklich sein soll, dann helfe ich halt etwas nach. Auch wenn es schon lächerlich ist, wenn man bedenkt, dass wir beide im Grunde ein und dieselbe Person sind. … Es ist einfach so absurd!“, antwortet mir nun diese grausige Gestalt. Ich verstehe aber gar nichts mehr, weswegen ich nur wütend und perplex zugleich darauf erwidern kann: „Was? … Was redest du da, du Monster?!“ Ich kann einfach nicht begreifen, was hier gerade geschieht. Was hat das alles zu bedeuten und wieso behauptet dieses Monster, wir beide seien eine Person?! Wie soll das überhaupt möglich sein und was bezweckt es damit?! Will es mich etwa endgültig um den Verstand bringen?! Was geht hier nur vor?! Doch ehe ich dies alles nur im Entferntesten begreifen kann, verändert sich diese Bestie vor meinen Augen ein weiteres Mal. Mit einem höhnischen Lachen umgibt es sich in einem dunklen Rauch. Woher das auch immer gekommen war, es scheint davon verschluckt zu werden, bis sich dieser Nebel schließlich wieder verzieht und eine völlig andere Gestalt vor mir steht. Mit großen Augen starre ich auf die andere Seite des Raumes, denn vor mir sehe ich mich selbst. Wie aus dem Gesicht geschnitten, gleicht diese Bernadette mir. Wir könnten beinahe schon Zwillinge sein. Nur bestehen die einzigen Unterschiede zwischen uns beiden darin, dass ihre Haut eine blasse und beinahe schon gräuliche Farbe hat und alles andere an ihr ist ebenfalls dunkel und düster. Nur ihre Augen leuchten bedrohlich feuerrot.

„Überraschung!“, lacht sie und hebt dabei ihre Arme etwas in die Höhe, als würde sie für mich eine Überraschungsparty veranstalten und mir diese gerade präsentieren. Augenblicklich weiche ich ihr einige Schritte zurück, was bei ihr nur ein weiteres Gelächter auslöst: „Oh, hat dich der Mut wohl doch wieder verlassen? Das ging ja schnell. Dabei dachte ich, dass das nun interessanter wird. Da habe ich mich wohl zu früh gefreut.“ „Wer verdammt noch mal bist du!“, keife ich mein Ebenbild an, aber sie schnalzt nur unbekümmert ein paarmal mit der Zunge und meint höhnisch: „Bernadette, Bernadette, Bernadette, das habe ich dir doch schon gesagt. Ich bin du, wir sind Eins. Wobei, man könnte sagen, wir sind zwei Hälften einer Medaille. Das heißt du bist du „gute“ Seite, die alles möglichst „positiv“ sieht, an das „Gute“, das „Schöne“ und an die „Liebe“ glaubt und was weiß der Geier noch was. Ich hingegen bin dein Schatten, der die wahre Realität kennt, sowie auch das Dunkle auf der Welt sieht und wenn ich mal möchte, auch mal so richtig draufhaut. … Außerdem bin ich nicht so dumm und so schwach wie du!“ Bei ihren letzten Worten grummle ich beleidigt, aber ich verstehe immer noch nicht, was hier wirklich gespielt wird. Ich dachte eigentlich, dass ich tot bin und dass das hier mein Himmel ist. Schließlich ist mir das bis jetzt ständig eingeredet worden. Doch so wie ich es vorhin die ganze Zeit gespürt habe, ist hier alles falsch und verlogen! Nur egal wie sehr mich das Alles hier aufregt, es macht mich auch zugleich stutzig.

„Nur wenn das heißt, dass ich noch lebe, dann heißt das ja, dass das hier sowas wie eine Art Traum ist.“, murmle ich schließlich vor mich hin, aber mein dunkles Ebenbild feixt mich, während es langsam und provokant in die Hände klatscht: „Bravo! Scharf kombiniert Sherlock Holmes. Du bist anscheinend doch nicht ganz auf dem Kopf gefallen. Naja, auch ein blindes Huhn findet auch mal ein Körnchen.“ Dabei lacht diese Bernadette und ich kenne dieses Lachen. Es ist kein normales Lachen, sondern ein hämisches und boshaftes Auslachen, was ich mir in meinem Leben immer wieder antun musste und nun bekomme ich das scheinbar auch noch von mir selbst auf dem Silbertablett serviert. Wie mich diese Art anwidert und das erinnert mich sogar an Lucinda höchst persönlich. Moment, was rede ich da?! Wie verrückt ist das denn?! Ich spreche gerade mit mir selbst und das in wahrsten Sinne des Wortes! Nur das meine dunkle Seite so abartig ist, hätte ich niemals für möglich gehalten. Wie schwarz muss meine Seele sein, sodass dieser Teil von mir entstanden ist? In manchen Geschichten, die ich gelesen habe, steht, dass in jedem Menschen zwei Seiten innewohnen, das Gute und das Böse. Was von den beiden Teilen dominiert, zeigt sich, wie sich die betroffene Person verhält und dass ich kein Unschuldslamm bin, weiß ich selbst. Auch wenn Raphael mich hin und wieder liebevoll Engel genannt hat, bin ich noch lange keines. Ich bin einfach nur ein Mensch und mache, wie jeder andere auch, Fehler. Somit bin ich weder perfekt, noch sonst irgendetwas in dieser Richtung.

Trotzdem schockiert mich mein dunkles Spiegelbild. Dessen Art entspricht einfach jenen, die ich von anderen immer gehasst und sogar gefürchtet habe. Doch wenn mein dunkler Gegenpart glaubt, dass ich mich von dessen Worten unterkriegen lasse, dann ist dieses Mädchen, oder was auch immer es ist, nicht ganz dicht! So versuche ich standhaft zu bleiben und entgegne dieser Bernadette schließlich auf kraftvoller Weise: „Kaum zu glauben, dass du ich sein sollst. Ich konnte zwar schon immer schimpfen wie ein Rohrspatz, aber so gehässig und so heimtückisch wie du, war ich noch nie.“ Mit einem finsteren Blick starre ich sie an, aber ich ernte hier wiederum nur ein herabwürdigendes Gelächter, was sich aber nach kurzer Zeit in Zorn umwandelt: „Na kein Wunder, du hast mich ja all die Jahre zurückgedrängt und sogar bei der kurzen Leine gehalten! Dabei gab es immer wieder so viele Momente, bei denen ich mich hätte so richtig austoben können. Allein schon dieses Gefühl zu bekommen, jemandem mal die Visage zu polieren, war immer so nah. … Nur musstest du immer dazwischenfunken, mich kontrollieren und die „Vernünftige“ spielen! Nur die „Brotkrümel“ bekam ich zugeworfen! Dabei hätte ich noch so viel mehr tun können, anstatt diese Trauer wie eine bittere Medizin zu schlucken, während du gute Miene zum bösen Spiel gemacht hast. Ich bin wieder in die Dunkelheit zurückgestoßen worden und doch hat es oft genug Gründe gegeben, einzuschreiten und Rache zu üben. Nur du hast ständig dafür gesorgt, dass allmöglichen negativen Gefühle mehr oder minder runtergeschluckt und in den finstersten Winkel geschoben werden! … Aber jetzt ist Schluss! … Nun spielen wir nach meinen Regeln!“

Mit einem tobenden und schnaufenden Schrei, rennt meine dunkle Seite auf mich zu. Gewillt mich umzubringen, greift sie mich an. Noch rechtzeitig kann ich mit beiden Händen ihre Attacken abwehren. Ich habe sie sogar fest im Griff. Mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehend, schleudere ich sie zurück. Meine Wut auf sie scheint grenzenlos zu sein und ich verstehe immer noch nicht ganz, was hier eigentlich gespielt wird. Ich habe mich in meinem ganzen Leben immer als eine einheitliche Person gesehen. Selbst wenn es Tage gegeben hat, an dem ich mich so verloren und sogar gebrochen gefühlt habe, ist es mir kein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass in mir tatsächlich zwei Teile eines Ganzen herrschen und scheinbar um die Macht kämpfen. Wenn ich aber wirklich die gute Seite bin, warum fühle ich dann diesen Zorn und diesen Schmerz, welche man eigentlich meiner dunklen Seite zuschreiben müsste? Ich verstehe das nicht! Ein weiteres Mal versucht die dunkle Bernadette mich zu rammen. Sie schafft es sogar, mich ein Stück in die Knie zu zwingen, während sie versucht, mit ihren Händen an meinen Hals zu gelangen. Sie will mich erwürgen, aber das lasse ich nicht zu! Wieder stoße ich sie von mir weg, während ich mühsam nach Luft ringe. Mein dunkles Ebenbild stattdessen stellt sich nun aufrecht hin und meint mit erhobenen Haupt: „Du wirst mir nicht ewig entkommen können. Schon viel zu lange habe ich auf diesen Moment gewartet und ich werde die Chance auf keinen Fall verstreichen lassen! Schließlich gibt es genug Möglichkeiten, um dich endlich aus dem Weg zu räumen.“

Wie aufs Stichwort braucht mein dunkles Ebenbild nur eine leichte Bewegung mit der rechten Hand zu machen und schon qualmt in dieser für einen kurzen Augenblick schwarzer Rauch auf, bis sich daraus ein Dolch materialisiert hat. Nicht gerade, sondern wellenförmig ist dessen lange Klinge, was die Waffe neben dem knochenähnlichen Heft und dessen Handschutz noch bedrohlicher wirken lässt. Teuflisch und siegessicher zugleich grinst mich diese andere Bernadette an, während sie langsam auf mich zusteuert. Ich hingegen schlucke meine Angst, welche mir im Moment wie ein fetter Kloß im Hals steckt, mühsam hinunter und gehe im selben Tempo zurück. Soweit es mir möglich ist, weiche ich von ihr, jedoch traue ich es mir nicht zu, ihr den Rücken zu kehren, da es sonst zu spät sein könnte. So wandern meine Augen stets umher. Ohne die Bedrohung außer Sicht zu lassen, versuche ich einen Ausweg zu finden. Wie hat sie das mit dem Dolch überhaupt geschafft? Ohne starke Konzentration schaffe ich es nicht einmal, irgendetwas heraufzubeschwören, sei es auch nur Raphaels Stimme. Wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass sie, was das angeht, die ganze Zeit ihre Finger im Spiel hatte. Wie sonst wäre das zu erklären? Andererseits ist es in dieser Welt überhaupt schwer irgendetwas zu begreifen. Hier steht ja alles auf dem Kopf! Mal ist es so und im nächsten Moment ist es wieder anders. Hinzu kommt, dass ein eigener Teil von mir mich umbringen will und gerade das will mir nicht in den Schädel! Warum zum Henker, will ich mich selbst umbringen?! Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn! Warum auch diese Scharade, der aufgezwungene Glaube daran, dass ich bereits gestorben wäre und was noch alles bis jetzt in diesem Albtraum passiert ist?! Wie verrückt wird es denn hier noch?!

Kichernd folgt die dunkle Bernadette meinen Bewegungen, während sie mit dem Dolch herumspielt. Wie mit einem simplen Spielzeug lässt sie die Waffe zwischen ihren Fingern gleiten. Als habe sie ihr ganzes Leben noch nichts Anderes gemacht, macht sie dabei weiter und sieht nicht einmal dabei hin. Wenn man dabei bedenkt, dass ich mich von solchen Dingen eher fernhalte, fällt mir hier wieder der Widerspruch deutlich auf. Abgesehen von manchen Äußerlichkeiten scheint sie mir in so vielen Dingen mein Gegenteil widerzuspiegeln. In meinem Leben ist es mir stets wichtig gewesen, dass ich möglichst ehrlich zu anderen bin, dass ich niemandem hintergehe, oder gar etwas Übles mit jemandem vorhabe. Selbst bei meiner Erzfeindin habe ich mich, wenn auch aus anderen Gründen, stets zurückgehalten. Jedoch hätte ich auch wie sie eine Intrige spinnen können. Stattdessen ist es anders gekommen. „Allmählich wird mir das langweilig. Stelle dich mir endlich und stirb!“, keift sie mich an und im nächsten Augenblick schleudert sie den Dolch von sich weg. Genau in meine Richtung schießt die messerartige Waffe auf mich zu und würde in diesem Augenblick jemand mit der Zeit herumspielen, so könnte man in Zeitlupe genau verfolgen, wie sich dieses Ding tief in die Mauer hinter mir hineinbohrt. Gerade noch bin ich dem Wurf entkommen. Viel hätte da aber nicht gefehlt und es wäre genau durch meine Stirn gegangen, wäre ich nicht noch rechtzeitig zur Seite gesprungen.

Mir bleibt aber keine Zeit, um zu jubeln, oder gar wirklich Luft zu holen, schon stürmt diese Wahnsinnige in einem Affenzahn auf mich zu. Ich kann nichts weiter tun, als meine Beine in die Hand zu nehmen und keuchend einen Ausweg aus dem Schlamassel zu suchen. Doch wo soll ich hin?! Ich bin gefangen in meinem eigenen Albtraum und werde von meinem dunklen Ich gejagt! So renne ich einfach. Kaum dass ich die eine Tür aufgerissen habe und hinausgehetzt bin, haste ich durch den Flur, der auf einmal länger zu werden scheint und eine Tür nach der Anderen für mich bereithält. Dennoch lande ich immer wieder in demselben Zimmer. Als wenn dieser Raum wie bei einem Kaleidoskop in die Unendlichkeit gespiegelt worden wäre, renne ich weiter und sehe einfach keinen Ausgang. Mein Herz hämmert so sehr gegen meinen Brustkorb, als würde es im nächsten Moment aus mir herausbrechen, während meine Lunge um jedes Bisschen an Sauerstoff kämpft. Ich muss durchhalten, ich darf nicht aufgeben! So renne ich weiter und kämpfe mich durch jede einzelne Tür. Jedes Mal muss ich aufpassen, nicht doch von einem Dolch durchbohrt zu werden, mit dem ich zwischendurch beschossen werde. Ich muss nicht nur schnell sein, sondern auch dieser Verrückten immer wieder ausweichen, bis ich endlich diesem endlosen Gang entkommen kann und schließlich im Treppenhaus lande.

Keuchend stolpere ich gegen das Geländer, halte mich daran fest und blicke sowohl nach unten, als auch nach oben. Jedoch höre ich sie bereits kommen. Ohne lange nachzudenken, hetze ich schließlich die Stufen empor. Verdammt, das war keine gute Idee! Ich habe aber keine Möglichkeit umzukehren, denn meine Verfolgerin ist mir bereits dicht auf den Fersen. Hinter mir höre ich schon, wie die dunkle Bernadette nach mir brüllt: „Du kannst mir nicht ewig entkommen! Gib endlich auf!“ Im nächsten Augenblick saust ein weiterer Dolch an mir vorbei und hätte beinahe meine linke Schulter gestreift, hätte ich meinen Arm nicht noch rechtzeitig weggezogen. Das kann nicht ewig so weitergehen! Mein momentanes „Glück“ wird nicht ewig halten! Nichts wie weg von hier! Am Ende des Treppenhauses angekommen, lande ich schließlich auf dem Dach des Gebäudes, renne aber einfach weiter, bis ich an der Dachkante ruckartig stehenbleibe. Verzweifelt blick ich um mich. Kein anderes Haus wäre nah genug, um einfach hinüberzuspringen und fürs Fliegen bin ich zu aufgeregt. Ich wüsste momentan sogar nicht, ob ich es wirklich schaffen würde. Noch dazu wird hier alles von meinem dunklen Ich kontrolliert. Was ist, wenn sie hierbei auch ihre Finger im Spiel hatte und dies weniger mit mir zu tun hatte? Was soll ich nur tun?! Lange darüber nachdenken kann ich jedoch nicht, denn schon höre ich ihre Stimme, welche mich erschrocken zurückblicken lässt: „Hier ist Endstation für dich!“

Behalte die Oberhand

Aus Raphaels Sicht:
 

Ein seltsames Geräusch hat mich und meinen Bruder aufgeschreckt. Ein Geräusch, welches aus einem der Maschinen gekommen ist und sich nun bedrohlich in mein Hirn hämmert. „Was ist das?“, frage ich Donnie, während ich ihn verwirrt anstarre. Sein Blick wiederum verharrt vollkommen auf die seltsamen Geräte, welche dieses scheinbar unaufhörliche Piepen von sich gegeben hat. Wohl wissend, dass dies auf gar keinen Fall etwas Gutes zu bedeuten hat, beuge ich mich nun wieder über meinen Engel. Als würde Bernadette von all dem nichts mitbekommen, bleibt sie weiterhin regungslos liegen. Doch innerlich scheint sie bereits am Ende ihrer Kräfte zu sein. Wie sonst könnte ich mir dieses ohrenbetäubende Geräusch erklären, aber ich lasse das nicht zu! Ohne lange nachzudenken, drehe ich ihren Kopf vorsichtig zu mir. Als könnte ich sie dazu bewegen, mich anzusehen, während ihre Lider weiterhin geschlossen bleiben. Mir ist das aber egal. Ich lege einfach vorsichtig meine Stirn an ihre und spreche sie an: „Ich will nicht, dass du gehst. Hörst du?“ Keine Reaktion kommt von ihr. Stattdessen hört dieses unerträgliche Piepen nicht für eine Sekunde auf. „Bernadette, ich bitte dich, kämpfe weiter, ich bin bei dir.“, flehe ich sie an. Ich drücke ihr sogar einen Kuss auf ihre Stirn. Ein Weiterer folgt auf ihre rechte Wange, bis ich ihr schließlich einen Kuss auf ihre rechte Hand schenke, die ich am Ende sogar weiterhin vorsichtig halte. Sie soll mich spüren, sie soll wissen, dass ich hier bin. Ich will einfach nicht, dass sie aufgibt.

„Raphi, wir müssen sofort gehen!“, fordert mich Donnie plötzlich auf, aber ich denke nicht daran, Bernadette jetzt zu verlassen. Er kann meinetwegen abhauen, aber ich werde hierblieben. Ohne direkt etwas zu erwidern, schüttle ich einfach den Kopf, jedoch drängt mich mein Bruder weiterhin, die Fliege zu machen und sagt mir sogar den Grund dafür: „Raphi, wenn wir jetzt nicht sofort abhauen, werden wir noch entdeckt! Es wird nicht lange dauern, bis die Ärzte informiert werden, oder glaubst du etwa, die lassen das einfach so weiterlaufen und kriegen das nicht mit?! Beweg dich jetzt endlich!“ „Argh, verdammt!“, knurre ich, denn ich weiß, dass er leider recht hat und ihr ist nicht geholfen, wenn wir nun erwischt werden. Nicht, dass ich Bernadette nun gar nicht mehr besuchen kann. Das ist das Letzte, was ich jetzt will und so erhebe ich mich schnaufend, während ich ihre Hand nun wieder sachte auf der Matratze ablege. Schnurstraks klettern Donnie und ich wieder aus dem Fenster, allerdings klammere ich mich an der Mauer fest und spähe hinein. Ich will wissen, was nun vor sich geht. Wie von meinem Bruder mit der lila Maske zunächst befürchtet, hastet eine Krankenschwester wenig später in das Zimmer. Sie muss von dem lauten Geräusch alarmiert worden sein. Sofort wirft sie einen kurzen Blick auf die Anzeigetafel, ehe sie eine Spritze aus einer mitgebrachten Schachtel zückt. Donnie, der sich auf der anderen Seite des Fensters festhält, flüstert mir zu: „Scheinbar haben sie sich bereits für solche Notfälle vorbereitet. Keine Sorge Raphi, sie weiß, was sie tut.“

Ich antworte ihm nicht. Stattdessen beobachte ich weiterhin stur die Krankenschwester, wie sie den Inhalt der Spritze in eines dieser durchsichtigen Schläuche spritzt, die direkt mit meinem Engel verbunden sind. Ich hoffe nur, dass mein Bruder rechtbehält. Die Spannung macht es mir gerade alles andere als leicht. Ich habe einfach Angst um sie und ich will sie nicht verlieren. Weswegen ich weiterhin stumm das Geschehen beobachte. Bereit einzuschreiten, lasse ich keinen der beiden aus den Augen. Die Krankenschwester steht nun da. Den Pieper in der rechten Hand haltend, drückt sie auf den Knopf, während sie die Anzeige weiterhin im Auge behält. Was hat sie nun vor und wen hat sie da gerade kontaktiert? Die momentane Lage bleibt weiterhin angespannt, bis sich aber die Maschine beruhigt. Das Piepen hat aufgehört und ich bekomme mit, wie die Krankenschwester erleichtert aufatmet. Ist Bernadette etwa über den Berg? Wenig später betritt nun ein Kerl mit einem weißen Kittel den Raum. Das muss wohl der Arzt sein, der für meine Freundin zuständig ist. Sympathisch sieht er mir nicht gerade aus, aber wichtiger ist es, dass er ihr hilft. Alles andere ist mir egal. Wie die Krankenschwester zuvor, betrachtet nun auch er die Anzeigen und unterhält sich mit jener. Allerdings kann ich kaum etwas verstehen, denn dieses Fachsimpeln liegt nicht gerade auf meine Wellenlänge und mich interessiert das auch nicht. Ich will nur wissen, wie es um Bernadette steht.

„Soweit ich es mitbekommen habe, geht es ihr gut.“, klärt Donnie mich flüsternd auf, allerdings frage ich mich, wie er das aus diesem Kauderwelsch herausgefiltert hat, weswegen ich ihn in derselben Lautstärke frage: „Und woher willst du das wissen?“ „Die Werte liegen laut der Krankenschwester momentan wieder auf dem Normalbereich und der Arzt hat das gerade noch einmal bestätigt. Er hat es nachgeprüft und schau …“ Er deutet mit seinem Gesicht wieder in Richtung Krankenzimmer. Dort drinnen entfernt sich die Frau wieder, während der Arzt noch eine Weile bei Bernadette bleibt. Scheinbar kontrolliert er noch einmal alles, ehe auch er sich wieder aus dem Staub macht. Keiner der beiden hat mitbekommen, dass das Fenster noch teilweise offensteht, weswegen ich nun wieder einsteige und mich meiner schlafenden Freundin nähere. Donnie folgt meinem Beispiel. Allerdings geht er zunächst zu Tür und horcht, ob die Lage wieder sicher ist. Mit einem bestätigen Nicken entschärft sich die Lage etwas und ich kann mich ohne Probleme zu Bernadette gesellen. Sanft streiche ich ihr übers Gesicht und flüstere ihr zu: „Das war ganz schön knapp. Jage mir bitte nicht noch einmal so ein Schrecken ein. … Mach einfach nur die Augen auf, mehr will ich nicht.“ Wohl wissend, dass ich keine Antwort darauf erhalten werde, seufze ich. Bernadette mag zwar jetzt über den Berg sein, aber das heißt noch lange nicht, dass sich das nicht wiederholen kann. Solange sie nicht ihre Augen aufschlägt, solange werde ich auch nicht beruhigt sein. Wie lange sie diesen Kampf wohl noch durchstehen muss, bis sie endlich die Oberhand gewonnen hat?
 

Aus Bernadettes Sicht:
 

Verloren stehe ich nun auf dem Dach. Hinter mir erstreckt sich der Abgrund, während auch vor mir das drohende Ende darauf wartet, endlich sein Ziel erreichen zu können. Was mache ich nur? Es gibt kein Vor und auch kein Zurück. „Hast du wirklich geglaubt, du könntest mir so einfach entkommen? Deine Naivität kennt wohl keine Grenzen, oder?“, fragt mich mein dunkles Ich mit einem spöttischen Ton und fuchtelt mit einem weiteren Dolch herum, als ich mich ganz zu ihr umdrehe. Den Rücken zum Abgrund gerichtet, verharre ich nun auf meiner momentanen Position. Meine Hände sind zwar zu Fäusten geballt, aber mein ganzer Körper zittert. Ich habe Angst, Angst vor mir selbst. Doch wer kann schon von sich selbst behaupten, im wörtlichen Sinne vor sich selbst weglaufen zu müssen? Wäre ich gerade nicht in dieser misslichen Lage, so würde ich vollkommen an meinem Verstand zweifeln. Ich bin einfach nur verwirrt und es ist meiner Meinung nach auch vollkommen krank, was ich gerade erlebe. Als würde ich inmitten eines Albtraumes feststecken, welches entscheidet, ob ich weiterleben darf, oder sterben muss und momentan sieht es einfach nur danach aus, als ob nun mein letztes Stündlein geschlagen hätte. Ich sehe kaum eine Möglichkeit zu entkommen. Zwar könnte ich versuchen, an ihr vorbeizukommen, aber genauso gut könnte sie diese Chance ergreifen und mich schneller umbringen, als was mir lieb ist. Selbst wenn ich versuchen würde, noch einmal zu fliegen, könnte ich genauso gut in die Tiefe stürzen. Was soll ich nur machen?!

Wütend und gleichzeitig verzweifelt sehe ich zu ihr hinüber. Abwechselnd die scheinbar aussichtslose Lage peilend, wandert mein Blick immer wieder auf diese messerartige Waffe. Zuerst wollte sie mich erdrosseln, doch nun will sie mir dieses Ding in mein Herz rammen. Ist sie sich eigentlich im Klaren, was sie da überhaupt tut?! Begreift sie nicht, dass, wenn es mit mir aus ist, sie das gleiche Schicksal zu tragen hat? Wir beide sind doch jeweils das Gegenstück des Anderen, zwei Teile eines Ganzen und daher auch zusammen eine Person, oder nicht? Wenn sie das wirklich durchzieht, dann wird sie sich selbst auch noch umbringen! Dann verliert sie doch genauso wie ich! Ich versehe nicht, wieso sie das will? Wenn sie wirklich was ändern möchte, was ich ihrer Meinung nach falsch gemacht habe, warum will sie unser Leben beenden?! Das ergibt doch gar keinen Sinn! „Warum?“, frage ich sie nun und das ist auch das Erste, was mir nach dieser Verfolgungsjagd endlich über die Lippen kommt. Die Angesprochene jedoch, zunächst noch kurz überrascht, lacht kurz auf: „Hast du was gesagt? Ich hoffe für dich, dass das dein Abschiedsgebet war, denn nun wird dies alles hier endlich ein Ende haben! Das wird schon lächerlich und ich bin es leid, dir noch länger hinterherzujagen!“ Schon hebt sie den Dolch etwas höher und macht sich bereit, aber ich hingegen bleibe weiterhin so angespannt wie ein Zinnsoldat stehen und starre sie an, bis nach ein paar wenigen Atemzügen weitere Worte meinen Mund verlassen: „Warum willst du sterben? Du bist doch ein Teil von mir? Wenn du mich umbringst, dann gilt dasselbe auch für dich! Ist dir das überhaupt klar?!“

Mein dunkles Selbst kichert nach meinen Worten. Als wäre das alles nur ein Scherz, aber mir ist das vollkommen ernst und ich habe nicht vor, mich einfach so umbringen zu lassen. Genauso will ich den Grund wissen, wieso diese Bernadette solch einen Hass gegen mich und das Leben hegt. Es ist in letzter Zeit viel Schlimmes zu ertragen gewesen, das ist mir bewusst, aber das einfach so in die Tonne zu werfen, kommt für mich einfach nicht in Frage. Das Mädchen mit dem Dolch schüttelt nun ein wenig den Kopf, während es die roten Augen verdreht und sich mir dann wieder widmet: „Ja, das bin ich und genau hier liegt ja das Problem. Ich bin nämlich an dich gebunden und so sehr ich mich auch dagegen gewehrt habe, hast du es doch immer wieder geschafft, weiterhin die Oberhand zu behalten. …“ Kurz schließt die dunkle Bernadette ihren Mund. Jedoch erhebt sie kurz darauf den linken Zeigerfinger, zeigt auf mich und setzt ihre Schuldzuweisung fort: „Ich bin nämlich der Teil, den du immer zurückgehalten hast! Kein Schreien, wenn Tante Tina wieder einmal ihre Launen hatte. Kein Zurückschlagen, wenn wir angegriffen wurden und kein sofortiges Handeln, ohne, dass nicht wieder viel zu viel darüber nachgedacht wurde. Gerade mit dem hast du mich oft genug auf die Palme gebracht! Kaum einmal hast du es zugelassen, ohne nachzudenken zurückzuschlagen. Stattdessen hast du ständig alles auf die Waagschale gelegt, alles so gut wie möglich überdacht und dich ständig vor die möglichen Konsequenzen gefürchtet, ohne mal darauf zu scheißen! Ich verrate dir mal was, nicht jeder denkt zuerst an andere, check das endlich einmal!“

„Natürlich weiß ich das, aber wenn man einfach so darauf losschlägt, ist man nicht besser wie die anderen, die das einem antun. Ist dir das überhaupt bewusst?! Mir schon und es kann sein, dass ich oft genug über die möglichen Konsequenzen gedacht habe, aber das war nicht ohne Grund!“, werfe ich ihr zurück, doch das scheint ihr egal zu sein. Sie will es einfach nicht sehen, obgleich sie mein Gegenstück ist und es besser wissen müsste. Sie schreit mich einfach an: „Pah, wozu immer einen Grund haben, um zu handeln?! Hat Lucinda überhaupt einmal nachgedacht, oder nach einem Grund gesucht, um uns zu schikanieren?! Wohl kaum, ihr macht das einfach Spaß. Genauso wie all die anderen ihre Freude daran hatten, bei diesem „Spiel“ mitzumachen, aber mir reicht es! Ich will nicht mehr! Es wurde schon viel zu viel Frust, Zorn und Bitterkeit heruntergeschluckt, wodurch bereits ein Meer entstanden ist, in dem man ertrinken könnte und schuld daran bist allein nur du! Du musstest ja weiterkämpfen, indem du das „Gute“ auf der Welt suchtest und das Schlechte, so weit wie es eben ging, verdrängt hattest, aber guten Morgen! Das wahre Leben sieht vollkommen anders aus und das wusste ich schon von jenem Moment an, an dem Dad starb!“ Moment mal was?! Wie kommt mein dunkles Ich nun auf ihn? Was hat auf einmal er damit zu tun? Er ist tot und das schon seit vielen Jahren. Wie hängt das also bitte damit zusammen?

„Was hat das mit Dad zu tun? Lass ihn gefälligst aus dem Spiel!“, keife ich sie an, denn das geht einfach zu weit. Ich habe Dad geliebt und ich werde ihn auf gar keinen Fall jetzt in den Dreck ziehen lassen. Sie hingegen bleibt dabei und keift zurück: „Das werde ich sicher nicht! Denn genau dieser Tag war es, welcher mich die Realität erkennen ließ. Die Welt ist düster, grausam und die Menschen sind alle egoistisch! Niemand schert sich über den anderen, es gibt keine Treue, geschweige Vertrauen und immer wieder haben wir das aufs Neue erleben und herunterschlucken müssen! Besonders ich habe nichts machen können, weil du zu dumm und zu naiv bist, nur damit du dir eine weitere Illusion aufbauen konntest, in dem alles besser zu ertragen war! Aber meine Liebe, so ist es nicht! Erinnere dich, was war nun mit unseren „Freunden“, die uns am Ende doch allesamt im Stich gelassen hatten?! Sie waren ebenfalls nichts weiter als ein weiterer unnützer Hoffnungsschimmer, der schon bald im Keim erstickt wurde! All diese schönen Tage, an den wir diese gemeinsam mit ihnen verbracht hatten, wurden in den Staub getreten und sie hatten dann nichts weiter für uns übrig, als Spott und Hohn. Als wären wir nichts weiter als Abfall, mit dem sie sich nur aus Mitleid eine Zeit lang beschäftigt hatten, ehe „ihre Hoheit“ in unser Leben getreten war. In unserer Familie ist es ebenfalls nicht viel anders. Sie alle haben uns allein gelassen, sich nur um sich gekümmert und daher sage ich es dir zum letzten Mal: Das Leben ist wertlos, denn mit diesen Menschen hast du kein Leben! Check das endlich einmal!“

„Das, das ist einfach nicht wahr! Ja, es gab so vieles, was ich durchmachen musste. Was wir beide durchmachen mussten. Das Leben besteht aber nicht nur aus Dunkelheit! Sonst hätten Tante Tina und auch Mom nicht endlich erkannt, wie es wirklich war und Raphael wäre genauso wenig in uns Leben getreten. Wir hätten weder ihn noch seine Brüder kennengelernt, oder ist dir das auch egal? Meinetwegen kannst du mich sooft beleidigen, wie du willst, es wird sich aber nichts daran ändern! …“, widerspreche ich ihr. Mir wäre noch einiges eingefallen, was ich hätte sagen können, wäre da nicht plötzliches dieses seltsame Gefühl aufgetreten, welches mich zum Schweigen gebracht hat. Wie eine seltsame Druckwelle durchdringt mich etwas. Es hat zunächst etwas Pulsierendes an sich, ehe das wieder abnimmt und mich stattdessen eine seltsame Leere umgibt. Irgendwie fühle ich mich für einen Augenblick ruhiger, sogar entspannter. Was war das bloß? Ich schaue zur anderen Bernadette hinüber und auch sie scheint dies gespürt zu haben. Wie ich hat auch sie selbst dieselbe Haltung eingenommen, als wären wir beide uns zum ersten Mal wieder einig geworden. Sie hat sogar den Dolch fallen gelassen. Vermutlich hat diese seltsame Druckwelle sie jene Waffe aus den Händen rutschen lassen. Ist sie vielleicht dadurch sogar „wachgerüttelt“ worden? Leider nein, sie bückt sich und greift nach dem Dolch, ehe sie mich wieder ansieht. „Was war das?“, frage ich sie und zum ersten Mal, nach langem in diesem Albtraum redet sie vollkommen ruhig mit mir: „Ich habe keine Ahnung, aber das spielt auch keine Rolle.“

Es hat keinen Sinn, so wird mein anderes Ich sich niemals überzeugen lassen, dass das Wahnsinn ist, was sie vorhat. Auch wenn wir zunächst unterbrochen worden sind, bleibt sie bei ihrem Entschluss, dass mich umbringen will und sich gleich mit dazu. Seltsamerweise wirkt sie nun etwas anders auf mich, ruhiger könnte man fast schon behaupten, aber vielleicht täuscht das nur. Ich traue dem Ganzen nicht. Stattdessen löse ich mich langsam von meiner momentanen Position. Ohne aber meine Fäuste zu lockern, die ich wieder geballt habe, gehe ich nun Schritt für Schritt auf sie zu. Eigentlich müsste mich meine Angst daran hindern, mich sogar hemmen, aber dieses Gefühl schwankt ständig und kämpft mit meinem Überlebenswillen. Ich will einfach nicht aufgeben, ich will leben und ich will zu Raphael zurück. Allerdings beschäftigt mich noch etwas. Warum ist für mein Gegenstück Dad´s Tod so wichtig? Was hat es damit auf sich? Genau das will ich wissen, weswegen ich weiterhin nach Antworten suche: „Warum quälst du mich so und warum ist für dich gerade Dad’s Tod der Auslöser? Du hast ihn doch genauso geliebt, wie ich und obwohl du meine dunkle Seite bist. Ich kann es sehen.“ „Ich bin nicht nur von Hass geprägt, wenn du das ernsthaft glaubst. Diese strenge Gut-und-Böse-Grenze gibt es nicht. Das ist einfach nur eine Einbildung, welcher sich irgendwer irgendwann ausgedacht hat und ja, mir war Dad genauso wichtig wir dir. Schließlich sind wir beide ein Teil des jeweils anderen. Das kann man nicht einfach so ignorieren. …“, antwortet sie mir und schweigt schließlich.

Ich stehe nun wenige Schritte vor ihr und warte, bis sie weiterspricht. Ihre Augen sprechen Bände und das ist mit Sicherheit nicht alles, was sie zu sagen hat. Ihre freie Hand ballt sie nun ebenfalls zu einer Faust. Ihre Wut auf mich und auf das Leben erwacht langsam wieder aufs Neue. Als hätte sie sich wieder sammeln müssen, schnauft sie und spricht sogar weiter, was sich am Ende aber eher als Schreien entpuppt: „Du kannst es, oder willst es einfach nicht verstehen, oder? Das alles sind vielleicht nur einzelne Bruchstücke, was du gerade aufgezählt hast. Meinetwegen kannst du das auch gerne als vereinzelte Blütenblätter interpretieren, die auf dem Meer der Wut und Trostlosigkeit umhertreiben, aber das ist nicht genug. Es ist nur oberflächig und ich sehe nicht ein, warum ich mich allein damit zufriedengeben muss und scheinbar kann nur ich das sehen. Du willst es ja nicht einsehen, wie die Welt wirklich ist. Immer wieder hat sie bewiesen, wie grausam sie ist und erst seit Dad´s Tod ist mir dies klargeworden. Er war unsere Stütze, er war immer für uns da, bis zu jenen Tag und ab da waren wir immer allein. Ich will nicht mehr und ich kann auch nicht mehr! Nur du bist schuld, dass ich das immer noch ertragen muss! Wie viel Leid willst du noch zulassen, bist du es wirklich raffst?! Nein, du wirst es niemals verstehen. Egal wie viele dunkle Gedanken ich dir an passenden Momenten geschickt habe, du hast doch weiterhin nach einem Ausweg gesucht und gemeinsam mit Raphael war es für mich umso schwieriger, endlich etwas zu ändern. Du hast mich gekonnt ignoriert und mir selbst ist ebenfalls nichts Anderes übriggeblieben, als mein Leid irgendwie zu vergessen, bevor ich noch daran verrückt geworden wäre. Doch dieses mühselige Warten hat nun endlich ein Ende gefunden und ich werde diese Chance ergreifen. Solange wir in diesem Zustand festecken, werde ich nicht eher ruhen, bis es endlich vorbei ist!“

Die dunkle Bernadette umfasst ihren Dolch fester und als sie versucht, mit diesen zuzustechen, kann ich sie gerade noch am Handgelenk packen. Mit beiden Händen umschließe ich diesen, während sie weiterhin ihre Kraft gegen mich richtet. Ich stemme meine Beine kräftig gegen den Untergrund und versuche alles, was mir möglich ist, um diesem Angriff zu entgehen. Sie ist stark, aber als ich plötzlich meinen Oberkörper gegen ihren ramme, strauchelt sie zurück und ich lasse sie los. Überrascht sieht sie mich an. Vermutlich hat sie nicht damit gerechnet, dass ich dazu imstande bin und dieses Mal bin ich sogar selbst überrascht. Ich weiß nicht, woher diese Kraft hergekommen ist. Hat es etwa an meinem Willen gelegen? Unglaubwürdig starren wir uns beide zunächst an, bis ich schließlich lächle. Es ist auch meine Welt, nicht nur ihre und deswegen bin ich auch nicht so hilflos, wie ich zunächst geglaubt habe. Ich kann etwas bewirken. Mit neuem Mut ausgestattet, stelle ich mich nun aufrecht hin und spreche mein anderes Ich aufs Neue an: „So leicht mache ich es dir nicht. Auch wenn du zunächst die Oberhand gehabt hast, ich werde nicht aufgeben. Ich will leben und das solltest du auch.“ „Nein, ich will nicht, ich will diesen Albtraum nicht noch länger ertragen! Du magst zwar an deiner Illusion festhalten wollen, aber ich tue es nicht!“, widerspricht die dunkle Bernadette mir, aber bei dem Wort „Illusion“ kann ich nur lachen: „Und das hier, ist das etwa keine Illusion, mit dem du mich in die Irre geführt hast?! Im Leben mag zwar einiges schieflaufen, aber man hat immerhin noch mehr davon, als von hier. Außerdem, wenn du schon unser Leben beenden willst, warum hast du es bis jetzt nicht getan? Wenn du stirbst, dann müsste auch ich sterben, oder?!“

Dies habe ich mich schon die ganze Zeit gefragt. Wenn sie es wirklich will, dann hätte sie es doch schon längst durchziehen können und ich hätte mir genauso gut diese Scharade ersparen können. Nicht, dass ich es gewollt hätte, aber ich erkenne da einfach keine Logik, was das betrifft. Scheinbar steckt da aber noch mehr dahinter. Denn die andere Bernadette lacht und schüttelt dabei den Kopf, während sie mich nun eines Besseren belehrt: „Nein, so einfach ist das nicht. Ich kann mir selbst nichts tun, wie du hier siehst. …“ In dem Augenblick, als sie das sagt, versucht sich mein dunkles Selbst die Pulsadern am linken Arm aufzuschneiden, aber es passiert nichts. So sehr diese Bernadette auch dagegen drückt, es ist, als bestünde der Dolch nur aus Watte. Es gibt nach und auf der Haut selbst gibt es keine Spur davon, dass ein scharfe Gegenstand ihn durchbohren wollte. Nichts, rein gar nichts geschieht, außer dass mich die dunkle Bernadette wieder ansieht und mit ihren Schuldzuweisungen fortfährt: „ … Du warst immer die dominante Seite von uns beiden, da hatte ich in der Realität keine Chance und selbst hier war mir dein nerviges Durchhaltevermögen ständig im Weg, wodurch mir nichts Anderes übrigblieb, als mir diese Scharade einfallen zulassen. Nur so konnte ich dir hier nahe genug sein, ohne dass du wirklich Verdacht schöpfen würdest und ich musste warten, bis du schwach genug bist, um endlich zuschlagen zu können. Auch wenn es zweimal nicht so lange geklappt hatte, wie ich wollte, spielt das jetzt keine Rolle mehr. Denn es wird in wenigen Augenblicken endlich ein Ende haben!“

In diesem Augenblick rast sie auf mich zu. Den Dolch in ihrer Hand direkt auf mich gerichtet, stürzt sie sich auf mich. Ich habe aber nicht vor, auszuweichen oder gar zu fliehen. Dieser sinnlose Kampf soll ein für alle Mal aufhören und wenn es sein muss, werde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit ich das erreiche. Sie macht mir keine Angst mehr und ich lasse mich auch nicht mehr unterkriegen. Ich will leben und wenn es heißt, dass ich dafür kämpfen muss, so werde ich dies auch tun. Ohne lange zu überlegen, laufe ich auf sie zu. Mein Blick auf sie fixiert, stelle ich mir vor, dass ich in meiner linken Hand ein Schild halten würde. Ich versuche mich so darauf zu konzentrieren, denn dies hier ist auch meine Welt und das heißt, dass ich alles hier erschaffen kann, was ich nur will. Noch fühle ich nichts zwischen meinen Fingern, aber als die andere Bernadette dabei ist, zuzustechen, halte ich ihr meinen gesamten Arm zur Abwehr hin. Metall schrammt an Metall und als ich dieses klirrende Geräusch höre, öffne ich rasch meine Augen, die ich zunächst noch zusammengepresst gehalten habe. Ich blicke auf und sehe den Schild, den ich heraufbeschworen habe. Ähnlich wie ein Wappen ist es geformt und ist so groß wie die eineinhalbe Länge meines gesamten Armes. Ich grinse und stoße meine Angreiferin mit einem Schwung von mich. Leicht verdattert steht sie einige Schritte vor mir entfernt und kann scheinbar nicht glauben, dass ich nun auch in der Lage bin, diese Welt auf meine Weise zu beeinflussen.

Stolz auf meine Leistung stelle ich mich nun aufrecht hin und spreche sie an: „So leicht lasse ich mich von dir nicht unterkriegen. Ich werde leben und ich lasse es nicht zu, dass du mir wieder Angst machst!“ „Das werden wir ja noch sehen.“, knirscht die Angesprochene zwischen ihren Zähnen und macht sich bereit. Anstatt mich aber wieder einfach anzugreifen, geht auch sie nun in Position und lässt im selben Augenblick einen weiteren Dolch erscheinen. Wie der andere ist dieser wellenförmig geformt und vermutlich glaubt sie nun, damit einen Vorteil zu haben. Schließlich hält sie nun zwei Waffen in ihren Händen, während ich in die Verteidigung übergegangen bin. Ein bösartiges Grinsen umschmeichelt ihr Gesicht und ihre feuerroten Augen spiegeln eine Selbstsicherheit wider, als hätte sie den Sieg bereits in der Tasche. Ich habe nun die Wahl: Bleibe ich bei dem Schild, oder erschaffe ich ebenfalls eine Waffe für den Angriff? Wie es auch sein wird, eines ist auf jeden Fall klar: Verletze ich sie, so verletze ich mich automatisch selbst. Denn wir beide sind jeweils Teil des anderen.

Wenn die Welt in sich zusammenbricht

Aus Raphaels Sicht
 

Wie zuvor streiche ich mit meinen Fingern sanft über ihre Hand. Ihre Haut ist so blass. Sie ist zwar vom Hauttyp her schon immer heller gewesen, aber früher, bevor sie in diesem scheinbar endlosen Schlaf geraten ist, hat sie doch stets etwas Rosiges an sich gehabt. Wie eine zarte Blume, obgleich man diese nicht unterschätzen sollte, kann sie auch ihre Dornen zeigen. Ihre Wut und auch ihre Stärke setzt sie meist gezielt ein und ich hoffe so sehr, dass sie das auch jetzt tut. Ich will, dass sie kämpft, ich will, dass sie zu mir zurückkommt. Mein Blick schweift nun kurz zu den monströsen Maschinen, die meinen Engel umgehen. Diese erhalten Bernadette am Leben. So viele Dinge werden gebraucht, nur damit ihr Herz nicht sofort aufhört zu schlagen. Kurz zuvor hat mich dieses alarmierende Geräusch aufgeschreckt. Ich habe nicht gewusst, wie ich damit umgehen soll. Das Einzige, was mir klar gewesen ist, ist, dass Bernadette einen Rückstoß erlitten hat. Zwar ist sie jetzt wieder über den Berg, aber es kann wohl gut möglich sein, dass dies noch einmal vorkommen wird. In den letzten Wochen ist sie immer schwächer geworden. Ich verstehe diesen Firlefanz von medizinischen Begriffen wohl nicht, aber ich kann mich gut auf meine Augen und auf meine Intuition verlassen und genau diese sagen mir, dass mein Engel einiges an Kraft eingebüßt hat. Allein, was ich hier vor mir sehe, reicht schon, um mir ein ungefähres Bild davon zu machen.

Allerdings frage ich mich auch, was genau in ihr gerade vor sich gehen mag. Sie kämpft, davon bin ich überzeugt, aber was zum Teufel hindert sie daran, diesen Kampf ein für alle Mal zu beenden? Wie kann ich sie wieder zu mir zurückführen? Ich habe bereits alles Mögliche versucht und momentan ist mir sogar „der Gesprächsstoff“ ausgegangen, mit dem ich sie vielleicht erreichen könnte. Es hat Nächte gegeben, an denen ich sogar für einen kurzen Augenblick gezweifelt habe, ob sie jemals wieder ihre Augen öffnen wird. Ich weiß, sie ist nicht schwach. Sie ist stark, aber ich habe es sogar in Erwägung gezogen, dass ihre Verletzungen sie noch tiefer in die Finsternis gezogen haben, als was ich jemals angenommen hätte. Ausgesprochen habe ich diese Gedanken allerdings nie. Weder vor meinen Brüdern, noch vor April, noch an irgendeiner anderen Nacht, habe ich etwas davon preisgegeben. Nicht einmal, wenn ich mit ihr alleine gewesen bin, ist mir jemals direkt etwas davon über die Lippen gekommen. Liegt vielleicht daran, dass ich erstens nicht daran glauben will und zweitens lasse ich es nicht zu, dass diese Zweifel an Stärke gewinnen. Bernadette soll wissen, dass ich stets für sie da bin und dass auch an sie glaube. Es wäre aber manchmal leichter für mich, wenn es irgendwie bemerkbar wäre, dass meine Anwesenheit, meine Worte und auch meine Berührungen bei ihr ankommen. Es würde eine kurze Reaktion von ihr reichen und ich wüsste mit Sicherheit, dass sie mich mitbekommt.

Ein Geräusch vom Fenster lässt mich nun aufhorchen. Es sind Leo und Mikey, die nun das Krankenzimmer betreten. Scheinbar sind sie mit ihrer Tour durch, aber meine Aufmerksamkeit für sie reicht nur für ein paar Sekunden, ehe ich mich Bernadette wieder widme. „Und, schon irgendeine Reaktion?“, fragt Leo nun. Jedoch wirkt diese Frage, als wäre sie weniger an mich gerichtet, sondern mehr an Donnie. Als würde dieser den Überblick über das gesamte Geschehen behalten. Es kann aber genauso gut sein, dass Leo mir nicht zu sehr auf die Pelle rücken will und mich daher auch eher in Ruhe lässt. Klar ist nur, dass Donnie darauf eingeht, während ich, mehr oder weniger, ignoriert werde. „Es hat einen kurzen Alarm gegeben, aber ihre Werte sind nun wieder normal. Eine Krankenschwester hat noch rechtzeitig eingreifen können. … Wir müssen auf jeden Fall vorsichtig sein, wahrscheinlich kommt sie später wieder vorbei, um nach dem Rechten zu sehen.“, schildert mein Bruder mit der lila Maske den anderen beiden zusammengefasst, woraufhin Mikey kommentiert: „Klingt ja nicht gerade gut, Bro.“ „Mag sein, aber wichtiger ist es, dass sich ihr Zustand wieder normalisiert hat.“, wirft Leo ein und ich nicke dazu nur. Auch wenn ich nicht direkt darauf angesprochen worden bin, so teile ich die Meinung des Anführers. Mein Blick ist einfach weiterhin auf dem schlafenden Körper meiner Freundin gerichtet. Ihre rechte Hand habe ich vorsichtig mit meiner umschlossen. Sehnlichst warte ich darauf, dass ich irgendeine Reaktion von ihr spüre, aber vermutlich wird heute nichts mehr daraus. Das kann ich mir also getrost abschminken.

Wenigstens kann sich Bernadette nun wegen vorhin etwas erholen. Vermutlich wird es demnächst ohnehin heißen, dass wir uns langsam auf dem Heimweg machen sollen. Allein Donnies Vermutung, dass die Krankenschwester bald wiederauftauchen wird, verstärkt meinen Verdacht, dass meine Brüder dies als Anreiz verwenden werden. Wenn es nach mir gehen würde, würde ich 24 Stunden am Tag hier verweilen. Ich will immerhin hier sein, wenn Bernadette endlich ihre Augen öffnet. Falls das in der nächsten Zeit überhaupt wahrscheinlich ist. Nachdem, was ich vorhin gesehen, zweifle ich etwas daran. Es müsste schon etwas passieren, sodass mein Engel dies als Energiequelle nutzt und sich durch diese Dunkelheit hindurchkämpft. Am liebsten würde ich ihr all meine Kraft schenken, damit sie endlich ihre Augen aufmacht. Wenn ich wüsste, wie dies funktionieren könnte, so hätte ich dies bereits getan, darauf können alle Anwesenden Gift nehmen, meine Freundin miteingeschlossen. Seufzend lege ich Bernadettes Hand vorsichtig wieder auf die Matratze. Sanft streiche ich mit den Fingern ein weiteres Mal darüber, während ich ihr einen zarten Kuss auf ihre Stirn schenke. Ich wäre in diesem Moment sogar aufgestanden, hätte ich nicht diesmal etwas gespürt. Es war nicht viel, vielleicht ein kurzes Zucken eines ihrer Finger, aber es hat gereicht, dass ich es noch rechtzeitig gespürt habe, ehe ich meine Hand ganz von ihr weggenommen hätte. Erschrocken sehe ich sie an. Meine Augen sind weitaufgerissen und ich umfasse ihre Finger ein weiteres Mal.

„Was ist los Raphi?!, fragt mich Donnie überrascht und ohne meinen Blick von meiner Freundin zu wenden, antworte ich ihm: „Sie hat sich bewegt.“ „Wie?! … Dein Ernst?! … Bist du sicher?!“, fragen meine Brüder abwechselnd. Als hätte ich einen Geist gesehen, nicke ich nur, denn ich kann es selbst kaum glauben. Noch kurz zuvor hätte ich es für heute unmöglich gehalten, dass sie sich bewegt. Ich wäre schon damit „zufrieden“ gewesen, wenn dieser Alarm nicht sofort wieder losgegangen wäre. Das hier dagegen sprengt jeglicher Vorstellung. Ich bin mir aber sicher, ich habe dieses Zucken gespürt. Da gibt es keinen Zweifel! Meine Brüder stürmen nun allesamt zum Bett. Wie ich, warten sie auf eine weitere Reaktion und sei es auch nur ein kurzes Zucken. Doch es passiert nichts, egal wie lange wir alle gespannt auf den schlafenden Körper starren. Allmählich wird Mikey die Warterei zu bunt. Er glaubt sogar, ich hätte sowas wie eine „Fata Morgana“ erlebt, aber das ist Schwachsinn! Ich bin mir zu 100% sicher, dass ich dieses kurze Zucken bei ihrer Hand gespürt habe, das war keine Einbildung! „Vielleicht sollten wir für heute schlussmachen. Wir sind alle müde und …“, wirft Leo in die Runde, aber das kann er sich getrost abschminken! Bevor er auch nur seinen Satz beenden kann, schneide ich ihm mittendrin das Wort ab: „Ihr könnt meinetwegen abhauen, aber ich bleibe ihr!“ „Raphi, Leo hat recht. Es war eine lange Nacht und wer weiß, vielleicht hast du dir das tatsächlich nur eingebildet und vergiss nicht, dass so und so noch jemand kommen wird, um nach ihr zu sehen. Da dürfen wir nicht mehr hier sein.“, mischt sich nun auch Donnie ein, aber ich habe mir das nicht eingebildet! Auf gar keinen Fall, Bernadette hat sich bewegt und das heißt, dass sie versucht, einen Weg zurückzufinden. Sie ist nah dran und da kann ich jetzt nicht einfach abhauen, egal, was auch passieren wird!

Anstatt also dem Anführer Folge zu leisten, dränge ich mich nun dichter an meine Freundin. Mein Herz bebt vor Aufregung und ich könnte kaum jemandem beschreiben, wie mir gerade zumute ist. Ich fühle nur, dass mein gesamter Körper angespannt ist. Als könnte jede noch so kleine Reaktion von mir verhindern, dass ich ein weiteres Anzeichen von ihr wahrnehmen kann. Keine Sekunde will versäumen, an dem sie endlich aufwachen könnte. Hoffentlich ist dies nicht nur ein blasser Hoffnungsschimmer gewesen, welches wie eine Seifenblase zerplatzen könnte. Ich will, dass sie lebt und ich hoffe so sehr, dass der langersehnte Moment endlich gekommen ist, an dem mein Engel nun endlich ins Leben zurückfindet. „Bernadette, hörst du mich?! … Kämpfe, ich bin hier! Ich lass dich nicht los!“, rufe ich ihr nun zu. Meine Aufmerksamkeit vollkommen auf sie gerichtet, lasse ich Bernadette keine Sekunde aus den Augen. Unruhig und sogar leicht ungeduldig verharre ich in meine derzeitige Position. Jeder noch so lächerlicher Befehl von Leo hätte mich keinen Millimeter von hier wegbewegt. Doch anstatt mich wieder mit einem Vortrag zu nerven, lassen mich meine Brüder in Ruhe. Keiner von ihnen mischt sich wieder ein. Stattdessen habe ich sogar den Eindruck, dass sie gerade mit mir mitfiebern. Vielleicht wollen sie es selbst mit ihren eigenen Augen sehen. Ich selbst will es nicht nur spüren, diesmal will ich ihre Bewegung direkt vor mir erkennen. Komm schon Bernadette, ich weiß, dass ich mich nicht geirrt habe, ich weiß es einfach! Wie gebannt, starre ich Bernadette einfach nur, bis ich endlich etwas bei ihr tut. Wie zuvor zuckt einer ihrer Finger und diesmal haben es sogar meine Brüder gesehen, welche sich nun dichter an das Bett gedrängt haben. „Äh … Habt ihr das gesehen?!“, fragt Mikey beinahe hysterisch und selbst die anderen beiden müssen sprachlos zugeben, dass sie sich geirrt haben. Meine Augen weiten sich. Sie muss mich gehört haben! Endlich, nach all den Wochen reagiert sie endlich! „Bernadette, mach weiter! Komm zu mir zurück!“, spreche ich sie ein weiteres Mal an. Ich sehne mich einfach so sehr danach, dass mein Engel endlich wieder die Augen aufmacht.
 

Aus Bernadettes Sicht
 

Der Showdown hat nun begonnen. Ein Machtkampf, der das alles hier endlich abschließen und endgültig entscheiden wird, ob wir beide am Ende nun leben oder sterben werden. Es wird sich bald zeigen und ich habe nicht vor, kampflos aufzugeben. Ich werde an meine Grenzen gehen und alles in meine Macht stehende tun, damit ich endlich in die Arme meiner Familie und meines Liebsten zurückkehren kann. Mit neugewonnenen Mut und mit felsenfester Entschlossenheit mache ich mich bereit. Die andere Bernadette sieht mich siegessicher an. Ein keckes und auch von sich selbst überzeugtes Lächeln umschmeichelt ihr Gesicht, während sie mich ein weiteres Mal auffordert, endlich aufzugeben: „Du wirst das nicht ewig aufschieben können. Du bist bereits zu schwach, oder glaubst du etwa, diese Scharade hätte ich umsonst mit dir erduldet? Es hat keinen Sinn an etwas festzuhalten, was ohnehin bereits verloren ist.“ „Mag sein, dass du mich getäuscht und in die Knie gezwungen hast, aber ich bin nicht schwach und ich glaube weiterhin daran, dass das Leben mehr zu bieten hat, als was du glaubst und genau deswegen gebe ich nicht auf!“, entgegne ich ihr. Keiner kann mir nun mehr etwas vormachen und ich werde garantiert nicht tatenlos zusehen, damit der letzte Lebensfunke endgültig erloschen ist. Es gibt noch Hoffnung und das sowohl für mich, als auch für sie. Sie mag zwar von Schmerz, Verzweiflung und Wut geprägt sein, aber wir beide sind Teile eines Ganzen und keine Manipulation wird es jemals schaffen, dass wir uns gegenseitig vernichten. Egal, wer auch von uns beiden die Oberhand behält.

Mit einem tosenden Aufschrei stürmt mein dunkles Ich auf mich zu. Gewillt mich umzubringen, lodert das Feuer in ihren Augen. Genauso wie ich entschlossen bin, ums Überleben zu kämpfen, so will sie alles in ihre Macht Stehende tun, um mich davon abzuhalten. Sie attackiert mich und nutzt dabei ihre beiden Dolche, welche ich mit meinem Schild abwehre. Ich höre, wie die einzelnen Metallstücke aneinander reiben. Ein entsetzliches Geräusch ist das und doch versucht die dunkle Bernadette meine Verteidigung zu durchbrechen. Als könnte sie meinen Schild mit ihren Waffen durchbohren, stemmt sie ihre Kraft gegen mich. Jedoch stehe ich mit beiden Beinen fest auf dem Boden und kann daher nicht mein Gleichwicht verlieren. Wie ich es schon einmal getan habe, verlagere ich meinen Schwerpunkt und kann sie mit einem Schwung von mir wegdrücken. Voller Zorn starrt sie mich an. Nicht nur, dass ich „denselben Trick“ angewandt habe, um sie von mir fernzuhalten, sie will mich endgültig bluten sehen. „Das Ding wird dich nicht ewig beschützen können. Irgendwann erwische ich dich!“, faucht sie mich an und damit könnte sie sogar recht haben. Bereits die ganze Zeit habe ich mir überlegt, ob es nicht vielleicht doch besser wäre, wenn auch ich in den Angriff gehen würde. Jedoch traue ich mich nicht, ebenfalls einen Dolch oder etwas Ähnliches heraufzubeschwören. Viel zu groß ist meine Angst, ich könnte sie verletzten und dem nach auch mich. Was soll ich also tun? Kann ich mit dem Schild vielleicht sogar mehr ausrichten, als sie nur von mir zu stoßen? Sie wird es wieder versuchen und wenn sie sogar den richtigen Moment abwartet, dann kann sie sogar zustechen, ehe ich mich auch nur rechtzeitig verteidigen kann.

Plötzlich unterbricht uns eine Erschütterung. Erst ein kurzes, kaum wahrnehmbares Zittern nehme ich mit meinen Füßen war, bis es aber stärker wird und uns beide dazu bewegt, den Kampf für einen Moment zu unterbrechen. Als würde ein riesengroßes Erdbeben die gesamte Stadt in Schutt und Asche legen wollen, wackelt alles unter uns. Die andere Bernadette verliert sogar ihre Dolche, während mir der Schild aus den Fingern gleitet. Scheppernd fallen diese Dinge zu Boden, während ich mein anderes Ich entsetzt ansehe und sie verwirrt frage: „Was ist hier los?!“ „Was wird hier wohl los sein, das ist alles nur wegen dir! Weil du das Unvermeidliche solange rausgezögert hast, wird sich diese Welt auflösen und uns gleich mit dazu! Doch wenn du glaubst, dass ich diesen Scheiß hautnah mit dir miterlebe, dann hast du dich geschnitten! Ich werde dich umbringen und dann hat dieses Leid endlich ein Ende!“, keift sie zurück und es ist tatsächlich so, wie sie gesagt hat, die Welt löst sich auf. Als würde sich diese in eine Art Schneekugel befinden, erkenne ich am Himmel viele Risse. Selbst einige Stücke sind dabei, herauszubrechen und sie hinterlassen nichts weiter als Finsternis. Wäre ich jetzt in einem Asterix-Film, so müsste jemand in dieser Sekunde schreien: „Der Himmel fällt uns auf dem Kopf!“ Allerdings ist der Himmel nicht das Einzige, was „auseinanderfällt“. Nahegelenge Gebäude fallen in sich zusammen, die Straßen werden quer entzweigerissen und alles und jeder wird von der drohenden Finsternis verschluckt, welche sich an allen möglichen Stellen ausbreitet.

„Siehst du jetzt endlich, wohin uns deine Sturheit geführt hat?! Du hättest dies alles vermeiden können, indem du alles geschehen hättest lassen können, aber NEIN, du musstest ja weiterkämpfen, obwohl es eh schon aussichtslos war. Jetzt wird unser Tod nur noch umso qualvoller sein, aber wenigstens wird es bald endlich vorbei sein.“, wirft die dunkle Bernadette mir vor, aber am Ende lächelt sie sogar schief. Als wäre ihr langersehnter Moment endlich gekommen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Ich kann nicht glauben, dass das wahr sein soll. Sterben wir etwa endgültig, nur weil ich mich dazu entschlossen haben, weiterzukämpfen? Nein, ich will das nicht glauben! In dieser Welt ist mir bereits schon so vieles eingeredet worden und ich bin mir sicher, dass mein dunkleres Ich auch diesmal wieder ihre Finger im Spiel hat. Das ist doch wieder nur eine Lüge, eine billige Täuschung, mit der sie mir wieder Angst machen will. Nein, das lasse ich nicht zu! Ich lasse mich nicht wieder in etwas einwickeln, ich will leben und ich werde aus dieser Hölle entkommen! Während das Beben weiterhin im Gang ist, laufe ich auf mein Schild zu, welches ich sofort ergreife. Ich werde weiterkämpfen und ich werde sie besiegen! Sie hingegen, immer noch von bevorstehenden Sieg überzeugt, lässt einfach weitere Dolche in ihre Hände erscheinen und bemüht sich erst gar nicht, die Alten zu holen. Ein Kichern weicht aus ihrer Kehle, während sie belustigt meint: „Stur und naiv, ich hätte wissen müssen, dass du selbst das hier nicht akzeptieren würdest, obwohl es dir quasi auf dem Silbertablett serviert wird.“

„Ich weiß immerhin genau, dass du mit mir nur spielst.“, entgegne ich hier und ich halte mich bereit. Denn dieses Mal bin ich es, die den Angriff ausführt. Zwar bin ich noch immer unsicher, ob mein „Waffenarsenal“ wirklich ausreichend ist, allerdings habe ich nicht vor, kampflos aufzugeben. Ich werde sie aufhalten und ich werde mein Schild diesmal anders einsetzten. Daher brauche ich kein Dolch, kein Schwert, oder Sonstiges, um sie aufzuhalten. Das Beben hält weiterhin an und es ist nicht gerade leicht, das Gleichgewicht zu behalten, während alles ins sich zusammenfällt. Immer wieder muss ich stehenbleiben, um noch Halt zu finden, ehe ich mich wieder auf das brüchige Dach wiedergefunden hatte. Selbst die andere Bernadette weicht den herabfallenden Stellen aus, was mich sogar etwas stutzig macht. Denn ich dachte, dass sie doch sterben wollte. Warum lässt sie sich nicht also in das nächste Loch fallen? Wenn sie stirbt, so sterbe ich doch auch. Selbst wenn sie sich selbst nichts tun kann, so würde dies nicht auf direkter Weise geschehen. Mein Verdacht, dass auch dies hier nur Lug und Trug von ihr ist, verhärtet sich. Ich habe zwar keine Ahnung, was es mit diesem Beben, oder mit diesen „schwarzen Löchern“ auf sich habt, aber ich werde mit Sicherheit nicht einfach so dastehen und mich von meinem Gegenstück um die Ecke bringen lassen. Gerade kämpft sie eher damit, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und genau diesen Moment nutze ich. Mit einem Affenzahn und mit meinem Schild fest in der Hand stürme ich auf sie zu. Ich werde sie umwerfen und ich werde auch ihre Dolche aus ihren Händen schlagen. Dann kann sie nichts mehr ausrichten und ich werde es auch verhindern, dass sie weitere materialisiert.

Als ich schließlich glaube, ihr nahe genug zu sein, versuche ich mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Ich stelle es mir sogar genau vor, wie ich sie umrenne und festhalte, während dieses absurde Szenario endlich zum Stillstand kommt. Denn wenn sie sich nicht mehr darauf konzentrieren kann, dann wird sie es auch nicht mehr schaffen, mir Angst zu machen. Doch kaum, dass ich ihr nahe genug bin, schlägt sie zurück. Sie springt zur Seite und versucht, mich aus einem andere Winkel zu attackieren, bis wir am Ende wieder genau an jenem Punkt angelangt sind, an dem wir uns bereits zweimal befunden haben. Wieder schrammt Metall an Metall. Schweißperlen haben sich an meiner Stirn gebildet und auch die dunkle Bernadette sieht nicht viel besser aus. „Du wirst nicht gewinnen, dafür sorge ich!“, zischt sie zwischen ihren Zähnen, aber wenn wir beide so weitermachen, werden wir niemals zu einer Entscheidung kommen. Selbst, wenn sie mich weiter mit diesem Unsinn quält, dass alles in sich zusammenfällt, so wird sich dies nur weiterhinauszögern und genau das will ich nicht. Ich will leben und ich will endlich von hier weg! Keiner wird mich davon abbringen, dass ich ins Leben zurückkehre und ich werde meine dunkle Seite mit mir nehmen, ob sie nun will oder nicht! Allerdings komme ich so überhaupt nicht weiter. Ich befürchte, dass ich mit meinem Schild nichts ausrichten kann, egal welche Strategie ich mir auch ausdenken werde. Es wird nur genauso enden wie jetzt.

Was mache ich nur falsch?! Ich kann sie doch nicht mit ihren eigenen Waffen schlagen, sei es auch wortwörtlich oder symbolisch gemeint. Immer wieder geraten wir an denselben Punkt und ich muss mir unbedingt etwas anderes einfallen lassen, sonst wird das noch in die Unendlichkeit ausarten. Ich stecke in einer Zwickmühle! Wie kann ich sie aufhalten, ohne ihr dabei zu schaden? Schon allmählich verzweifelt blicke ich um mich. Mir muss etwas einfallen, ich muss eine Lösung finden! „Es ist zwecklos, siehst du das nicht? Allein schon von der Vorstellung, du wärst bereits gestorben, warst du zu sehr gefesselt, sodass du zu viel Kraft eingebüßt hast. Also wehr dich nicht länger und akzeptiere es endlich! Es ist vorbei!“, schnauzt sie mich an und nun ist sie es, die mich gekonnt zurückdrängt, wodurch ich zurückstolpere und sogar mein Schild verliere. Der Griff rutscht mir förmlich aus den Fingern und fällt sogar in eines dieser „schwarzen Löcher“, welche sich neben dem Abgrund gebildet haben. Erschrocken sehe ich meinem einzigen Schutz hinterher und starre dabei ins schwarze Nichts, welches sich immer weiter ausbreitet. Stück für Stück bricht diese Welt immer weiter auseinander. Sie löst sich auf und ich stecke mit meiner anderen Hälfte hier fest. Doch während ich hinabblicke, habe ich seltsamerweise ein eigenartiges Gefühl. Seit ich in diese Welt aufgewacht bin, habe ich stets den Eindruck gehabt, dass mich etwas einengt, oder sogar fesselt. Wenn ich aber in dieses Nichts starre, so überkommt mich ein vollkommen anderes Gefühl. Als wäre es eine Mischung aus Sehnsucht und Freiheit. Als würde mich sogar jemand rufen, obgleich mich dort die „ewige“ Finsternis erwarten könnte und normalerweise bedeutet dies nichts Gutes.

Wie gebannt starre ich hinab. Es zieht mich sogar völlig in dessen Richtung, hätte ich da nicht noch ein gewisses Problem im Nacken. „Es ist vorbei Bernadette. Hör endlich auf, dich zu wehren und akzeptiere endlich unser Schicksal.“, höre ich meine dunkle Seite mich ansprechen und ich wende mein Blick wieder zu ihr. Solange sie mich bekämpft und solange sie sich gegen das Leben wehrt, solange werde ich in diesem Albtraum feststecken. Das Gefühl, gefangen zu sein, wird nun wieder stärker und genau hier kommt mir gerade eine leuchtende Idee. Mein Gott bin ich dumm, ich hätte schon viel früher darauf kommen können, aber scheinbar haben mich die Angst und der sehnsüchtige Wunsch, endlich aus dieser Hölle entkommen zu können, vollkommen blind gemacht. Die Antwort darauf, wie ich mein Gegenstück endgültig aufhalten könnte, ist mir bereits schon so nahe gewesen und ich habe es erst jetzt sehen können. Selbst die dunkle Bernadette, die immer noch ihrem Wahn verfallen ist, unser scheinbar „sinnloses“ Leben einfach auszulöschen, hat mir den entscheidenden Hinweis dafür gegeben. Mit Sicherheit ist dies keineswegs beabsichtigt gewesen, aber ohne es zu wissen, hat sie mir geholfen. Wenn sie nur wüsste, was sie gerade getan hat, so würde sie mich noch so herablassend ansehen, aber vielleicht steckt in ihr doch ein winziger Funken Hoffnung. Denn wie sagte sie bereits? Diese strenge Grenze zwischen Gut und Böse gibt es nicht. Nie hat sie sich als jene Verkörperung betrachtet. Viel mehr stellte sie sich mir als meinen „Schatten“ vor, jemand der einfach von Angst und Leid geprägt ist. Daher muss in ihr auch etwas Gutes stecken, ich weiß es einfach.

Aufrecht und siegessicher geht sie auf mich zu und lässt ihre Dolche zwischen ihren Fingern gleiten. Auch wenn das unaufhörliche Beben weitermacht, hindert dies sie nicht daran, ihren unbändigen Wunsch zu erfüllen. Ein boshaftes und keckes Grinsen umschmeichelt ihr Gesicht und sie glaubt wahrscheinlich, dass ich nun so große Angst habe, sodass ich mich nun nicht mehr wehren kann und sie nun freie Hand hat. Ich lasse sie einfach auf mich zukommen. Sie muss mir ganz nah sein, erst dann kann ich meinen letzten Versuch wagen, sie aufzuhalten. „Das ist nicht „unser Schicksal“ und das weißt du auch.“, entgegne ich ihr schließlich, während ich ihr weiterhin in die Augen starre. Nur noch wenige Schritte und dann ist es soweit. „Und ob es das ist. Wir hätten nicht weiterleben dürfen, wir hätten schon viel früher alles hinter uns lassen müssen. Warum willst du das immer noch ignorieren? Sieh es endlich ein, dass es für uns keinen Platz im Leben gibt.“, widerspricht die andere Bernadette mir und greift mich schließlich an. Doch kaum, dass sie mit ihrer rechten Hand zum Schlag ausholen will, reagiere ich und ernte dabei einen geschockten Blick. Ihr Handgelenk ist vollkommen von meiner Peitsche umwickelt, die ich in letzter Sekunde heraufbeschworen habe. Wild reiße ich am anderen Ende daran, wodurch sie ihren Dolch verliert und sogar ein Stück in die Knie geht. Ohne lange zu zögern, laufe ich um sie herum und umwickle sie dabei mit dem Rest meiner Waffe, sodass ein Entkommen unmöglich ist. So schnell ich nur kann, ziehe ich fest daran und nun ist sie es, die gefangen ist. Eingeschnürt wie ein Paket habe ich sie nun fest im Griff und wäre ich nicht damit beschäftigt, sie festzuhalten, hätte ich einfach den Satz „Ironie des Schicksals, nicht wahr?“ herausposaunt.

„Was?! Was soll das?! Lass mich los!“, schnauzt mich die Überwältigte an. Die ganze Zeit war sie es, die die Oberhand in dieser Horroranstalt gehabt hat. Doch genauso wie sich diese absurde Welt auflöst, so hat auch mein anderes Ich verloren. Obgleich die dunkle Bernadette sich immer noch wehrt, ich habe es geschafft, ich habe sie besiegt und genau das reibe ihr unter die Nase: „Es ist vorbei, ich habe gewonnen und gemeinsam werden wir ins Leben zurückkehren.“ Kurz hält die Angesprochene inne, bis sie aber dann zu lachen anfängt und mich schelmisch fragt: „Und wie stellst du dir das vor? Es gibt keine Möglichkeit ...“ „Und ob es die gibt.“, widerspreche ich ihr, nachdem ich sie kurzerhand unterbrochen habe. Es wird Zeit, dass wir diesen Albtraum ein für alle Mal hinter uns lassen und ich lasse mir auch nichts einreden. Das ist vorbei! Allerdings weiß ich auch, dass es mir hier unmöglich ist, sie vom Gegenteil zu überzeugen, aber das ist nicht mehr wichtig. Wir werden zurückkehren und das gemeinsam, ob sie nun will oder nicht. Um zu verhindern, dass die andere Bernadette die Möglichkeit bekommt, doch noch entkommen zu können, zögere ich daher nicht länger und dränge sie in Richtung Abgrund. Ihre Augen weiten sich, vermutlich ahnt sie bereits, was ich vorhabe. Doch bevor ich dies wirklich in die Tat umsetzte, droht sie mir ein letztes Mal: „Wenn du das tust, schwöre ich dir, dass du das noch bitter bereuen wirst. Nichts wird mehr so sein wie früher.“ „Das ist mir egal.“, entgegne ich ihr kurz und knapp, ehe ich tief Luft hole und mich mit ihr hinabstürze, wo die Finsternis auf uns wartet.

Das Licht in der Dunkelheit

Aus Bernadettes Sicht:
 

Schwarz, alles ist schwarz. Was ist das nur für ein seltsamer Ort, wo bin ich? Kaum, dass ich meine Augen geöffnet habe, schon erwartet mich diese Dunkelheit. Als hätte man mich in einem dunklen Raum eingesperrt, aber seltsamerweise fühle ich mich nicht so. Nein, das Gefühl ist ganz anders. Es ist, als würde eine schwere Last sich quälend an mich klammern wollen und doch findet diese kaum einen Halt. Ich spüre, wie etwas Stück für Stück von mir gleitet. Wie ein Tautropfen, welches auf einer Lotusblüte abperlt, aber anders wie bei jener Blume, die in ihrer kelchförmigen Blüte das wertvolle Wasser speichert, verlässt mich dieser seltsame Druck nach und nach. Langsam bewege ich meinen Kopf. Es merkwürdig, ich fühle mich so schwer und doch wieder so leicht und während ich meinen Blick umherwandern lasse, so entdecke ich nichts weiter, als diese Finsternis. Bis ich aber schließlich bei meiner rechten Hand stutzig werde. Als wäre ich selbst die einzige Lichtquelle in dieser Dunkelheit, kann ich sie ganz genau erkennen. Trotz, dass etwas Dunkles diese umgibt. Langsam bewege ich die Finger, erst einzeln und dann mehrere zugleich. Es ist ein seltsames Gefühl, so nah und bekannt und dann wieder so fern und befremdlich. Was ist das nur, was ich fühle? Ich bin verwirrt, allerdings betrachte ich weiterhin neugierig das Geschehen. Wie in einem Schleier aus Schatten scheint meine Hand eingehüllt zu sein. Jedoch verschwindet dieser nach und nach ins Nichts, wodurch ich nun meine Haut Stück für Stück klarer erkennen kann. Ich wende meinen Kopf auf die andere Seite und auch hier bekomme ich dasselbe Schauspiel geboten. Was ist das alles hier? Ich verstehe das nicht.

Es ist alles so seltsam hier. Anders könnte ich es nicht beschreiben. Ich fühle so vieles und kann es doch kaum zuordnen. Zum einen ist diese „Last“, dieser Druck, der sich bemerkbar macht und dann wieder in die Dunkelheit verschwindet, bis wieder ein neuer Impuls erwacht und wieder von dannen zieht. Schließlich ist da noch dieses andere Gefühl. Es ist so leicht, so angenehm und wie der andere Eindruck mal stärker und mal weniger so stark spürbar. Doch anders, als jener Druck, der einem wie ein Anker in die Tiefe hinunterziehen könnte und pulsierend auftaucht, so ist dieses Gefühl mehr fließend. Ja, es fließt durch mich hindurch, umspült mich wie kühles Wasser und hinterlässt doch eine Wärme, in der ich mich einfach nur hineinkuscheln möchte. Ich fühle es an meinem ganzen Körper, bis ich wieder von dieser pochenden Kälte eingeholt werde. Als wolle dieses Gefühl mich an irgendetwas erinnern. Ja, erinnern, woran sollte ich mich denn erinnern? Ich weiß es nicht. Eigentlich, weiß ich rein gar nichts. Warum weiß ich denn nichts und wer bin ich? Was tue ich hier und was ist das für ein Ort? Ich erkenne hier nichts, ich fühle nur diese Schwerelosigkeit, welche sich scheinbar mit anderen Emotionen „streitet“. Als würde in diesem Moment ein Machtkampf in mir herrschen, den ich mir einfach nicht erklären kann. Stattdessen schwebe ich in diesem Nichts. Nur Dunkelheit umgibt mich, aber nicht das ist es, was mir allmählich Angst macht. Es sind die Fragen, die in meinem Kopf umherschwirren und mich erkennen lassen, dass ich nicht weiß, wer und wo ich bin.

Dieses schwere Gefühl, dieser Druck, er wird wieder deutlicher. Wie Ranken, welche sich an einer Mauer emporringen, scheint er mich umschlingen zu wollen und ich kann nichts dagegen tun. Ich fühle mich so machtlos und doch will ich mich nicht davon erdrücken lassen. Ich will das nicht, ich will diese Geborgenheit wieder spüren, welches ich noch kurz zuvor erfahren habe. Mein ganzer Körper verkrampft sich und ich presse meine Augen sogar fest zusammen, hätte ich mich aber nicht dieses plötzliche Funkeln dazu bewegt, diese wieder zu öffnen. Ein kleines Licht, kaum größer als ein Glühwürmchen, tanzt vor meinem Gesicht. Wie gebannt sehe ich es an und folge dessen Bewegungen. Was ist das nur? Sein Licht ist so angenehm, wie die eines Sternes am Nachthimmel. Wie es tanzt, so lustig und unbeschwert. Als gäbe es keine Sorgen. Ich lächle und sehe zu, wie dieses Funkeln zu meiner rechten Hand schwebt und diesen schleierartigen Schatten vertreibt, der gerade wieder dabei war, mich aufs Neue zu verschlucken. Er zieht sich zurück und stattdessen berührt mich dieses Licht. Ganz zart fühlt es sich an. Es ist nur ein Hauch von einer Berührung und doch bewirkt es bei mir, dass sich mein gesamter Körper entspannt. Die Angst weicht allmählich von mir und obwohl mich eigentlich diese Fragen so sehr gequält haben, so hat dieses kleine Funkeln etwas Angenehmes an sich, sodass ich alles andere nicht mehr stark beachte. Zu meinem Erstaunen bleibt es nicht bei dem Einen. Ein Weitere erscheint vor meinen Augen und dieses hier schwebt direkt zu meiner Stirn. Als es mich dort berührt, habe ich für einen Moment das Gefühl, als würde mir jemand einen sanften Kuss auf jene Stelle schenken.

Mein Herz, erfüllt vor Freude, sehnt sich nach mehr. Könnte ich mich besser bewegen, so würde ich meine Hände direkt nach diesen wundersamen „Glühwürmchen“ ausstrecken. Doch obwohl ich mich nun so wohl fühle, so wirkt mein gesamter Körper so schwer. Umso sehnlicher wird mein Wunsch nach weiteren zärtlichen Berührungen und er erfüllt sich. Vor meinen Augen erscheinen noch weitere von diesen Lichtgestalten. Es sind nicht nur ein paar, nein, es werden immer mehr und je mehr es werden, desto größer wird das Licht, die sie ausstrahlen. Als wäre mein Körper umgeben von einer lebenden Lichterkette, die stets ihre Form verändert und doch nicht an Energie verliert. Keine Sekunde lang werde ich von ihnen getrennt. Als hätten diese schon sehnlichst darauf gewartet und ich genieße es. Lächelnd sehe ich ihnen zu, wie sie tanzen und mir anschließend diese zarten und liebvollen Berührungen schenken. Sei es nun mein Gesicht, oder meine Arme, die von diesem angenehmen und sogar berauschenden Gefühl erfüllt werden. Es ist so wundervoll, anders könnte ich es nicht beschreiben und während sie meine Ängste nach und nach von mir tragen, erhellt sich auch meine Umgebung. Einige der kleinen, leuchtenden Gestalten schweben empor. In spiralförmigen Bewegungen führen sie ihre Tänze auf und es wirkt auf mich, als würden sie mir damit etwas zeigen wollen. Wie gebannt sehe ich ihnen hinterher. Unfähig mich zu bewegen, kann ich ihnen nur mit meinen Augen folgen und während ich das tue, bemerke ich, dass diese Lichter nun auf eine Ebene bleiben und dort ihre Kreise ziehen.

Staunend betrachte ich dieses Schauspiel, während ich von den anderen „Glühwürmchen“ umgeben bin. Unbeirrt tanzen jene weiter, berühren mich und über mir habe ich den Eindruck, als würde sich dort eine kleine Öffnung auftun. Das Licht dort oben ist so hell, sodass dessen Strahlen bis zu mir nach unten wandern. Ich bin zwar noch in der Dunkelheit, aber anders als zuvor wirkt es nun nicht mehr so, als würde ich im Nirgendwo herumirren. Jetzt scheint es mehr so, als befände ich mich in eine Art Zelt. Es mag das Licht sein, welches mir diese Vorstellung bietet, aber meine Umgebung gleicht nun mehr schwarzer Seide, welche einen Teil des Lichts zu reflektieren scheint. Als wäre dieser schwarze Stoff in vielen Schichten und Falten gelegt worden, der auch noch bei einer sanften Luftbewegung seine Form immer wieder etwas verändert. Am hellsten ist es jedoch dort oben und ich frage mich, was es mit diesem Licht auf sich haben könnte. Für einen Zufall halte ich es nicht. Viel mehr glaube ich, dass mir sämtliche Lichter den Weg weisen wollen. Seien es nun die kleinen „Glühwürmchen“, oder dieser helle Schein, der über mir thront. Sie alle strahlen etwas Angenehmes aus, aber was wird mich dort erwarten? Selbst, wenn ich mich ohne Schwierigkeiten bewegen könnte, ich wüsste nicht, was ich tun sollte. Im Grunde weiß ich eigentlich gar nichts. Betrübt senke ich meinen Blick. So stark auch der Drang ist, dem Licht zu folgen, was soll ich dort? Wer würde schon auf der anderen Seite auf mich warten? Ein weiteres Mal streicht ein kleines Funkeln an meiner rechten Wange entlang. Als wollte es mir Trost spenden, oder wollte es mir gar Mut machen?

Denn im nächsten Augenblick höre ich eine Stimme. Sanft, aber doch mit einem auffordernden und zugleich besorgten Nachdruck spricht mich diese an. Es klingt nach einem Mann. So vertraut und doch will es mir nicht in den Kopf, wer es sein könnte. Am Anfang kann ich nicht verstehen, was er zu mir sagen will. Es klingt zunächst dumpf, als hätte ich mir Watte in die Ohren gestopft. Doch je länger ich ihm zuhöre, desto deutlicher werden seine Worte und ich habe sogar den Eindruck, als wären diese genau an mich gerichtet: …, mach die Augen auf! Komm schon, ich weiß, dass du mich hören kannst. … Ich weiß, dass du da bist.“ Die Augen aufmachen, träume ich etwa? Scheinbar ja, aber wer ruft da nach mir? Wer ist das, der will, dass ich meine Augen aufmache und aus diesem seltsamen Traum erwache? Ich kenne ihn nicht, obwohl seine Stimme so vertraut wirkt. Als müsste ich es wissen, ihn kennen und doch weiß ich es nicht, ich weiß rein gar nichts. Nun höre ich nichts mehr von ihm. Wartet er etwa auf eine Reaktion? Eine weitere Stimme meldet sich. Diese klingt diesmal ganz anders, allerdings stammt sie ebenfalls von einem Mann. Wie der Erste zuvor, bittet auch jener mich, endlich zu erwachen: „Gib nicht auf und mach weiter. Wir warten alle auf dich!“ Wer wartet auf mich, so sag es mir! Am liebsten hätte ich diese Worte laut aus mir herausposaunt, aber mein Mund bleibt geschlossen, als wäre ich noch nicht bereit dafür. So dumm das Ganze auch klingen mag. Schließlich folgen zwei weitere Stimmen darauf. Sie klingen teilweise ungeduldig und sogar etwas aufgeregt. Ich verstehe nicht alles, was sie sagen, jeder der vier Personen wirkt auf mich so vertraut und gleichzeitig so fremd.

Wer bin ich?! Sagt es mir, ich will es wissen! Wer ihr auch seid, ich muss es erfahren! Ich will es verstehen! Mein Blick dem warmen Licht gerichtet, versuche ich mich erneut zu bewegen. Mein ganzer Körper fühlt sich bei diesem Versuch so schwer an, aber ich will es wissen. Wer sind diese Leute, die mich zu kennen scheinen und wer bin ich? Ich irre in einem Traum, gefüllt sowohl mit Licht, als auch mit Dunkelheit, während ich scheinbar alles vergessen habe, was mich ausmacht. Ich will Antworten, ich habe so viele Fragen und werde daher nicht weiter an diesem seltsamen Ort bleiben. So bewege ich wieder meine Finger, ehe ich allmählich die Kontrolle über meine Hände gewinne. Meine Kraft scheint schwach zu sein, oder ist es, weil sich sonst alles so schwer anfühlt? Mag sein, aber mein Wille ist dagegen stark genug, sodass ich mich nach und nach immer mehr durchsetzen kann. Länger will ich nicht in diesem Zustand bleiben, oder gar in diesem Traum verweilen. Schließlich kann ich auch meine Arme bewegen. Meine Beine, selbst der Rest meines Körpers scheint mir langsam gehorchen zu wollen. Als hätte ich scheinbar ewig wie eine Statue dagelegen und nun ist der Augenblick gekommen, an dem ich endlich aus all dem hier erwachen kann. Ich will diesen Stimmen folgen und mich von diesem erdrückenden Gefühl befreien. Es fehlt nicht mehr viel, ich bin ganz nah dran, ich spüre es. Scheinbar im Schneckentempo bewege ich mich in Richtung des Lichts. Belgeitet von den kleinen Lichtgestalten, die mich keine Sekunde aus den Augen lassen, komme ich meinem Ziel immer näher. Ich strecke meine rechte Hand danach aus, bis ich es endlich mit den Fingerspitzen erhaschen kann.

Ein seltsames Gefühl umgibt mich. Anders als vorhin, wo ich noch in diesem Traum umherirrte und bis auf diese „Glühwürmchen“ nichts Weiteres ertasten konnte, spüre ich nun unter mir einen weichen Untergrund. Ich liege in einem Bett und obwohl ich noch meine Lider geschlossen halte, so fühle ich den Stoff, von dem ich beinahe vollkommen umgeben bin. Nur meine Arme und ein Teil meines Oberkörpers scheinen nicht zugedeckt zu sein. Stattdessen nehme ich zu meiner Rechten eine Hand wahr. Ganz vorsichtig hat jene meine Finger umschlossen, als wäre ich zerbrechlich. Ich versuche mich zu bewegen. Dabei spüre ich, wie steif ich bin. Anders als im Traum, in der ich noch kurz zuvor die Kontrolle über meinen Körper zurückerobern konnte, scheine ich jetzt wieder am Anfang zu stehen. So flach wie ein Brett liege ich hier. Wie lange bin ich schon in diesem Zustand? Es ist beinahe schon beängstigend, dass es mir schwerfällt irgendetwas zu bewegen, ohne dabei sofort auf Widerstand stoßen zu müssen. Selbst einige Schmerzen machen sich bei mir nun stärker bemerkbar. Sowohl am Kopf, wie auch an ein paar anderen Stellen spüre ich ein schwaches Stechen, oder Ziehen. Warum habe ich auf einmal diese Schmerzen? Schirmte mich etwa mein Traum von meinem wahren Empfinden ab, sodass ich es nun umso deutlicher wahrnehme? Was ist überhaupt passiert? Allerdings ist das nicht das Einzige, was ich wahrnehme. Irgendetwas steckt in meinem Hals. Es ist unangenehm, aber ich bin noch zu schwach, um dagegen quasi „rebellieren“ zu können. Wenn ich könnte und die notwendige Kraft dafür hätte, so würde ich es auf der Stelle herausziehen, doch zuvor müsste ich erst einmal meine Augen aufmachen. Ich muss wissen, was da los ist!

Mühsam bewege ich meine Lider, während um mich herum helle Aufregung herrscht. „Seht nur! Sie kommt endlich zu sich!“, höre ich jemand begeistert rufen. Was jedoch so gequetscht geklungen hat, als wollte derjenige nicht zu laut sein. „Wir sehen´s ja Mikey.“, höre ich jemand weiteres. Der scheint den Vorherigen wohl etwas beruhigen zu wollen, dessen Aufregung scheinbar unbegrenzt ist. Allerdings ist selbst in dessen Stimme die Freude deutlich erkennbar. Kaum, dass ich endlich in die Realität zurückgefunden habe, ist noch alles stark verschwommen. Es muss mitten in der Nacht sein. Das ist das Einzige, wovon ich momentan überzeugt bin. Nicht so wie in meinem Traum, in der zunächst alles rabenschwarz war, ehe diese kleinen Lichter erschienen waren, sieht es hier aus. Nein, draußen muss eine Straßenlaterne stehen, welche das dunkle Zimmer, in dem ich mich nun befinde, etwas erhellt. Ich erkenne nicht viel. Nicht nur, dass mich eine große Müdigkeit überkommt, ich fühle mich steif, schwer und stark geschwächt. Allein das mehrmalige Blinzeln ermöglicht es mir, meine Augenlieder nicht gleich wieder zu schließen und zu schlafen. Dafür ist der Drang zu wissen, was hier eigentlich los ist, viel zu groß. „Willkommen zurück.“, begrüßt mich nun derjenige, der meine rechte Hand immer noch zärtlich hält. Genau diese Stimme war es, die ich in meinem Traum zu allererst gehört habe, weswegen ich meine Augen schlagartig zu ihm lenke. Doch abgesehen davon, dass es in diesem Raum ziemlich dunkel ist, sehe ich noch alles zu stark verschwommen. Ich kann kaum erkennen, wer da an meinem Bett sitzt und mich gerade anlächelt. Zumindest glaube ich, dass er das tut, ich bin einfach so müde, aber selbst, wenn es anders wäre, so würde ich wohl keinen von ihnen wiedererkennen. Auch wenn diese vier mich zu kennen scheinen. Seltsam ist allerdings, dass sowohl er, als auch seine Begleiter so groß wirken. Auch deren Statur wirkt irgendwie seltsam, als ich meine Augen wieder umherwandern lasse.

Ich habe keine Ahnung, was ich davon halten soll. Nicht einmal meinem Gefühl kann ich momentan trauen, da in mir ein vollkommendes Chaos herrscht. Ich weiß nicht, wen ich da vor mir habe, geschweige, was als Nächstes auf mich zukommen wird. Vermutlich bemerkt keiner von ihnen, dass ich keinen von ihnen wiedererkenne, weil ich gerade nicht wirklich imstande bin, irgendetwas zu äußern. Ich kann mich ja kaum bewegen und mit dem Ding in meinem Hals ist es ohnehin nicht möglich zu sprechen. Stattdessen versuche ich mich irgendwie wachzuhalten, obgleich diese Müdigkeit es mir alles andere als einfach macht. Etwas anderes kann ich aber gerade nicht tun und blinzle daher mehrere Male. Genau das scheint den Anwesenden aufzufallen. Der Vierte im Bunde meint schließlich: „Wir sollten sie jetzt besser alleine lassen. Sie scheint nun über den Berg zu sein. Was sie jetzt braucht, ist Ruhe.“ Als hätte er Medizin studiert, klingt seine Stimme überzeugt und die anderen scheinen selbst diese Meinung zu teilen. Zumindest zwei von ihnen stimmen ihm zu, während jener, der direkt an meinem Bett sitzt, nun vorsichtig, wie auch wortlos über mein Gesicht streift. Es fühlt sich so angenehm an, so vertraut und diese Berührung erinnert mich sogar an meinem seltsamen Traum. Könnte ich sie alle nur besser erkennen, aber alles wirkt noch immer so verschwommen und egal wie sehr ich mich auch anstrenge, diese Müdigkeit lässt sich einfach nicht abschütteln. Wie eine Klette hängt sie an mir, während diese Typen scheinbar mit sich selbst beschäftigt sind.

Schließlich wendet derjenige, der direkt an meinem Bett sitzt, seinen Kopf zu den anderen dreien und meint: „Ihr könnt meinetwegen gehen. Ich werde noch etwas hierbleiben.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, sieht er mich nun wieder an, doch das scheint den anderen Anwesenden nicht zu passen. Einer von ihnen meint sogar: „Ich versteh dich ja Raphi, aber du musst ihr trotzdem Ruhe gönnen. Schau sie doch an, sie kann ihre Augen kaum offenhalten.“ Stimmt, es fällt mir wirklich schwer wachzubleiben, aber dadurch, dass ich nichts von all dem hier verstehe, zwinge ich mich selbst umso mehr, diesen Fremden zuzuhören. Allerdings ist dies schwerer, als gedacht. Ich bin so müde und ich habe sogar den Eindruck, dass ich immer weniger von dem mitbekomme, was meine Besucher da reden. So höre ich nur teilweise, was der Nächste im Bunde etwas schelmisch von sich gibt: „… Vermutlich wird unsere Chika demnächst gleich wieder wegpennen. Wäre es nicht vielleicht besser, wenn mal langsam die Ärzte auf sie aufmerksam werden? Schließlich ist sie endlich …“ Der Rest des Satzes verschwimmt in meinen Ohren. Ein weiters Mal hat mich die Müdigkeit kurz übermannt, aber ich muss noch mehr erfahren. Ich will verstehen, was da nur vor sich geht. Wenn ich mich doch nur verständigen könnte. Stattdessen bekomme ich nur noch mit, dass die Restlichen diesem Vorschlag zustimmen. Selbst jener, welcher sich zunächst dagegen gesträubt hat, geht seufzend darauf ein.

„Ruh dich aus. Ich komme morgen wieder.“, spricht er mich nun direkt an und verabschiedet sich bei mir, indem er mir einen sanften Kuss auf die Stirn drückt. Am liebsten hätte ich ihn sofort gefragt, wer er ist. Er strahlt solch eine Vertrautheit aus, sodass man meinen könnte, dass ich gerade zu ihm eine starke Bindung haben müsste, wie auch immer diese aussehen möge. Doch warum kann ich mich nicht erinnern?! Ich kann ihn in meinem momentanen Zustand nicht einmal richtig erkennen, geschweige mich auf irgendeine Art äußern. Als wäre ich in meinem eigenen Körper gefangen, kann ich nur daliegen und muss verblüfft, wie auch fragend zusehen, wie mein Gegenüber nun aufsteht und sich von mir entfernt. Er gesellt sich zu den anderen, von denen zwei am Fenster stehen und zu mir rübersehen. Was haben die nur vor? Wollen sie etwa aus dem Fenster springen? Als wäre dies eine direkte Aufforderung gewesen, klettert einer nach dem anderen hinaus. Mit einer freundlichen Geste haben sie sich von mir verabschiedet, ehe sie nach draußen verschwunden sind. Derjenige, der mich auf der Stirn geküsst hat, bleibt sogar kurz noch am Fenster stehen, bis auch er sich in Bewegung setzt. Als wäre das eine Art Spiel, angeln sie sich seelenruhig an der Hausmauer entlang, bis ich sie nicht mehr sehen kann. Der Letzte von den vieren hat sich stattdessen der Zimmertür genähert. Ich muss ein weiteres Mal blinzeln, um noch irgendwie mitzubekommen, was jener dort vorhat. Er öffnet leise die Tür und verschwindet in den Gang. Was er dort treibt, kann ich mir gar nicht vorstellen. Ich merke nur, dass er nicht lange wegbleibt, bis er zurückkommt und wie die anderen drei zuvor durch das offene Fenster ins Freie gelangt. Was zum Henker sollte das? Wer waren diese Typen und wie stehe ich mit ihnen in Verbindung? Ich bin einfach nur noch verwirrt.
 

Aus Raphaels Sicht:
 

Ohne, dass ich es meinen Brüdern direkt zeige, strömt eine Flutwelle aus Erleichterung und Freude durch meinen gesamten Körper. Sie ist aufgewacht, mein Engel ist endlich erwacht! Am liebsten wäre ich in ihr Krankenzimmer zurückgekehrt und hätte sie von oben bis unten liebkost. So lange habe ich darauf gewartet, ihr endlich wieder in die Augen sehen zu können. Bis zum Schluss hat sie sich durchgekämpft. Obwohl ich sogar für einen kurzen Moment den Schreck meines Lebens erhalten habe, so hat sie trotzdem nicht aufgegeben und es hat sich gelohnt. Sie ist wieder da und dieser Spuk hat endlich ein Ende. Allerdings haben die anderen nicht ganz Unrecht. Bernadette ist noch viel zu erschöpft, als dass man ihre zurückgewonnene Energie allzu lange beanspruchen sollte. Das sehe sogar ich ein. Auch wenn es mir quasi unter den Fingernägeln brennt, meine Brüder nach Hause zu schicken, während ich noch einen Moment bei ihr sein kann. Sie hat ihre Augen kaum offenhalten können. Immer wieder hat sie geblinzelt und sich sonst auch nicht bewegt. Bei dem „Dornröschenschlaf“ könnte man zwar annehmen, dass man danach vor Energie strotzen müsste, aber das wäre entweder reines Wunschdenken, oder einfach aus einem Märchenbuch gegriffen. Da muss ich nichts mit Medizin am Hut haben, um das zu kapieren. Daher gönne ich ihr diese Ruhe, die sie bitternötig hat und komme morgen wieder. Bis dahin müsste es ihr schon bessergehen und dann sind wohl hoffentlich die meisten dieser Maschinen verschwunden. Sie braucht sie ja nicht mehr.

Gegenüber vom Krankenhaus warte ich gemeinsam mit Leo und Mikey auf unseren letzten Bruder. Donnie hat sich in den Gang geschlichen, um entweder eine Krankenschwester, oder einen dieser Ärzte auf Bernadette aufmerksam zu machen. Ich frage mich nur, wie er das anstellen will. Schließlich kann er nicht einfach so herumspazieren und denen zurufen: „He, da ist eine Patientin aufgewacht, bewegt eure Ärsche dahin und seht nach ihr!“. Abgesehen von der Wortwahl müsste sich das Genie etwas anderes einfallen lassen. Ich habe aber das Vertrauen zu ihm, dass er schon weiß, was er tut. Auch wenn ich meinen Blick nicht von Bernadettes Fenster lassen kann, aber das liegt einfach daran, dass ich mich so sehr freue, dass ich meinen Engel wiederhabe. Sie lebt und wenn sie endlich aus diesem Krankenhaus draußen ist, werden wir wieder gemeinsam die Nächte verbringen, indem wir die Stadt unsicher machen. Ich werde sie überall hinbringen, egal wo sie auch hinmöchte. Wahrscheinlich sehnt sie sich bereits selbst danach, das Zimmer endlich verlassen zu können, in dem sie so lange festgesteckt hat, oder hat sie von all dem gar nichts mitbekommen? Irgendwie kann ich mir das nur schwer vorstellen. Was kriegen Komapatienten überhaupt mit? Donnie meinte, dass das von Fall zu Fall vollkommen anders ist und ich selbst habe im Internet nichts anderes herausgefunden. Um so mehr frage ich mich, wie es in ihrem Fall gewesen ist. Hat sie überhaupt gespürt, dass ich bei ihr war und sie sogar berührt hatte? Hat sie mich gehört und wenn ja, was genau hat sie davon mitbekommen?

Nein, es ist unnötig. Selbst, wenn sie mir davon erzählt, ändert es nicht an der Tatsache, dass sie im Koma war und erst nach langem wieder aufgewacht ist. Das Wie und Warum kann ich mir also sparen. Wichtiger ist, dass sie lebt und dass sie endlich erwacht ist. Alles andere ist zweitranging. „Na, alles klar bei dir Bro?“, fragt mich nun Mikey und zieht mich so wieder aus meiner Gedankenwelt. Er legt sogar seinen linken Arm auf meine Schulter, während ich einfach nur stumm nicke. Mikey dagegen plappert einfach weiter, als wäre das eine Aufforderung meinerseits gewesen: „Ganz schön hartnäckig die Kleine, hm? Ich bin aber froh, dass sie sich da irgendwie durchgewuselt hat. Ich mag sie und es wäre wirklich schade um sie.“ „Dämlicher hättest du das wohl nicht formulieren können, oder?“, mischt sich nun Leo ein und meint vermutlich den letzteren Teil, was mein anderer Bruder wieder rechtfertigen muss: „Hey, ich sag´s nur, wie´s nun mal ist! Ich hätte sie auf jeden Fall vermisst, wäre es nicht doch gut ausgegangen und ihr könnt mir nicht sagen, dass euch nicht genauso ergeht. Bei Raphi braucht man nicht einmal groß nachdenken.“ Leo rollt mit den Augen und geht nicht weiter darauf ein. Auch ich sage nichts dazu, weil es mich ohnehin nicht interessiert. Viel eher beobachte ich, was sich bei ihrem Fenster tut. Wenig später bequemt sich auch einmal der Vierte aus unserer Runde dazu, mal hier anzutanzen. Er hat ja lange genug gebraucht, um irgendjemand von denen auf meine Freundin aufmerksam zu machen.

Kaum, dass er zu uns gestoßen ist, quetsche ich ihn erst einmal aus: „Und, wie sieht´s aus?“ „Alles läuft wie geschmiert. Sie wissen jetzt, dass Bernadette endlich erwacht ist. … Ich schätze mal, dass unsere Freundin nun durchgecheckt wird, ehe ihre Familie benachrichtigt wird.“, entgegnet er mir und fügt sogar gleich darauf hinzu, wie er das angestellt hat: „War übrigens nicht schwer, eine der Krankenschwestern zu überzeugen, mal nachzusehen. Die hatte sich zunächst mit einer Kollegin unterhalten und mit meinem kleinen Trick, im richtigen Moment die Stimme von jener nachzuahmen, ist die doch gleich darauf nachsehen gegangen. Ich denke zwar, dass sie aufgrund der letzten Ereignisse so und so ihre Runde gemacht hätten, aber wer weiß, wann die das in die Tat umgesetzt hätten. - Besser jetzt als später.“ „Hast wohl wieder eines deiner neuen Erfindungen ausprobiert, nicht?“, hakt Leo nach, woraufhin Donnie stolz nickt und sich mit dieser „neue“ Gerätschaft brüstet. Dabei gibt es sowas Ähnliches bereits und er tut ja so, als hätte er etwas komplett Neues erschaffen. Andererseits hat er bis ins kleinste Detail hingearbeitet, dass er mit Hilfe des Geräts, welches sich an seinem linken Arm befindet, bekannte Stimmen aufnehmen und naturgetreu wiedergeben kann. Er kann dabei sagen, was er will. Es klingt immer nach jener Person, von der er sich die Stimme „ausgeborgt“ hat. Auch wenn diese sogar einen Akzent besitzt, behauptet er zumindest und solange es klappt, können wir das zu unserem Vorteil nutzen. Eines muss man dem Hirni ja lassen, er beachtet jede noch so „unbedeutende“ Kleinigkeit.

„Na dann ist sie ja gut versorgt und wir können aufbrechen, oder willst du immer noch die Stellung halten Raphi?“, beendet Leo somit das Thema und richtet seine letzten Worte an mich. Er kennt mich einfach zu gut, als dass ich dabei nun widersprechen könnte. Ich will noch etwas hierbleiben und das Geschehen aus der Ferne beobachten, was ich meinen Brüdern auch deutlich mache: „Ist das eine Fangfrage? Ihr könnte meinetwegen abzischen, ich will noch wissen, was sich bei ihr tut.“ Entschlossen von meinem Vorhaben wende ich meinen Kopf wieder in Richtung Bernadettes Fenster. Das Licht ist bereits dort eingeschaltet worden und wahrscheinlich herrscht dort nun helle Aufregung. „Also schön, mach ruhig, aber komm dann nach. Die Sonne wird in wenigen Stunden aufgehen.“, befiehlt Leo mir und setzt sich schließlich in Bewegung. Donnie tut es ihm gleich, doch ehe auch Mikey die Biege macht, ruft er mir noch zu: „Grüß sie schön von mir, wenn du mit ihr quatschen solltest! Bis später!“ Als ob ich jetzt noch zu ihr könnte, wenn doch die Ärzte nun bei ihr sind. Vermutlich wird es nicht so lange dauern, bis auch Bernadettes Familie in Kenntnis gesetzt worden sind. Die werden Himmel und Hölle in Bewegung setzen, nur um sie im wachen Zustand zu sehen. Da werde ich wohl kaum noch das Glück haben, um mit ihr allein zu sein, aber das werde ich morgen nachholen. So viel ist schon mal sicher.
 

(mögliche Musik: Lucas King – Aura; Spieluhr: https://www.youtube.com/watch?v=Eda3OKr4e0c oder Klavier: https://www.youtube.com/watch?v=IYGGqxhx8lg)

Alles vergessen

Aus Bernadettes Sicht:
 

Kaum, dass die Ärzte bei mir waren, wurde ich von oben bis unten untersucht. Doch ich verstand kaum ein Wort. Nicht nur, dass sie mich mit unzähligen Fragen belästigten, die ich so gut wie gar nicht beantworten konnte, meine Kraft reichte gerade mal so viel aus, sodass scheinbar das „Notwendigste“ bei mir durchgeführt werden konnte. Ich war zunächst erleichtert, als mir dieses dämliche Ding aus dem Hals gezogen worden war. Das Erste, was ich gleich darauf tat, war, so richtig tief Luft zu holen. Doch dann kam schon die eigentliche Untersuchung, gefolgt von jenen Fragen, welche ich zunächst mit Kopfschütteln und Nicken beantwortete. Ich fühlte mich die ganze Zeit so schwach und konnte meine Augen mehr schlecht wie recht offenbehalten, weswegen sie mich schlussendlich in Ruhe ließen. Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut und das tue ich auch jetzt nicht. Den Rest der Nacht habe ich traumlos verbracht und bin schließlich wieder in diesem kalten und trostlosen Zimmer aufgewacht. Allein und ohne, dass jemand neben mir sitzt, liege ich im Krankenbett. Zunächst lasse ich meinen Blick stumm auf der Decke verharren, bis ich schließlich diesen umherwandern lasse. Ich bin ganz allein hier. Es gäbe zwar ein weiteres Krankenbett, aber darin liegt niemand und auch der weiße Vorhang, mit dem man den „eigenen“ Bereich hätte abtrennen können, ist ebenfalls nicht zugezogen. Egal wohin ich auch meine Augen richte, es wirkt so leer und steril, was in mir sogar eine gewisse Unruhe aufkommen lässt. Allerdings glaube ich nicht, dass allein das nur mit meiner Umgebung zusammenhängt. Ich habe vergessen, wer ich bin. Dass ich mich in einem Krankenhaus befinde, braucht mir niemand erklären, aber wie bin ich hierhergekommen und was ist überhaupt passiert?!

Ich denke an letzte Nacht, an dem ich aus diesem seltsamen Traum erwacht war und dann von diesen vier, seltsamen Gestalten begrüßt worden war. Leider konnte ich sie nicht klar erkennen, egal ob ich mich an sie erinnert hätte, oder nicht. Sie alle strahlten eine eigenartige Vertrautheit aus und besonders jener, welcher direkt an meiner Seite war, hatte etwas an sich, was ich bis jetzt nicht begreife. Ich habe es sogar kurz in Erwägung gezogen, dass ich das Ganze doch nur geträumt haben könnte. Nicht nur, dass sie einfach aus dem Fenster gestiegen waren, was kein normaler Mensch jemals tun würde, ich war so müde, sodass ich alles nur verschwommen sah. Allerdings kann es kein Traum gewesen sein, da einer von ihnen kurz hinter der Tür verschwand, ehe nach seinem Abgang durchs Fenster eine Krankenschwester und schließlich auch zwei Ärzte hier auftauchten. Als hätte er diese schnell zugerufen, dass sie mal nach mir sehen sollten und noch etwas spricht dagegen, dass dies ein Traum gewesen sein könnte. Jener Kerl, der direkt an meinem Bett saß, hielt für einen Moment meine rechte Hand, strich mir sanft über das Gesicht und küsste mich sogar auf die Stirn. Auch wenn ich mich letzte Nacht kaum bewegen konnte und auf dem Grad zwischen wachen Zustand und Schlafmodus mehr zum Zweiteren neigte, so spürte ich doch diese zarten Berührungen. Leider bin ich mir nicht sicher. Es könnte immerhin genauso gut „Nachwirkungen“ von diesem seltsamen Traum gewesen sein. Eine bloße Einbildung, weil ich mich sonst an gar nichts erinnern kann. Mein Schädel brummt. Nichts scheint einen Sinn zu ergeben, ich verstehe das nicht.

Seufzend kehre ich in meine Ursprungsform zurück und starre wieder zur Decke hinauf. Doch dann öffnet sich die Tür. Ein Mann mit Brille und in einem weißen Kittel kommt mit strammen Schritten auf mich zu und bleibt direkt neben meinem Bett stehen. „Guten Morgen, wie fühlst du dich heute?“, fragt er mich und hat sogar ein leichtes Lächeln im Gesicht. Ohne auf eine Antwort zu warten, holt er aus seinem Kittel ein kleines Lämpchen hervor. Damit leuchtet er mir in die Augen und stellt murmelnd fest, dass meine Reaktion scheinbar normal sei. „Nun?“, hakt er nach, aber ich sehe ihn nur stumm an, woraufhin sein Lächeln verschwindet und er mich nun ernster ansieht. Anstatt mir die Frage ein weiters Mal zu stellen, will er nun von mir wissen, ob ich mich doch an irgendetwas erinnern kann: „Ich kann mir vorstellen, dass du verwirrt bist und viele Fragen hast, aber versuche es zumindest: Was ist das Letze, woran du dich erinnern kannst? – Vielleicht ein Ort, ein Geräusch, oder vielleicht sogar ein Gesicht? … Erinnerst du dich zumindest an deinem Namen?“ Betrübt senke ich etwas meine Lider und schüttle schließlich den Kopf, ehe ich ein leises „Nein“ zu allen gestellten Fragen flüstern kann. Ich höre ein Seufzen seitens des Arztes, aber was soll ich machen?! Ich kann mich nun mal an nichts erinnern. Bis auf diesem seltsamen Traum und diese nächtliche Begegnung, von der ich nicht einmal weiß, was ich wirklich davon halten soll, ist mein Kopf wie leergefegt. Es ist nichts übrig, rein gar nichts.

„Ich weiß es nicht, ich kann mich einfach an nichts erinnern.“, murmle ich, um dies noch einmal zu verdeutlichen. Ich habe Angst und ich weiß nicht, wie es mit mir nun weitergeht. Geschweige, was ich nun tun soll. Werde ich mich überhaupt wieder erinnern können und warum habe ich überhaupt mein Gedächtnis verloren? Flehend sehe ich den Mann im Kittel nun an, denn ich hoffe so sehr, dass er mich irgendwie aufklären kann und sei aus auch nur ein winziger Bruchteil von dem, was bereits verloren gegangen ist. „Bitte sagen Sie mir, was Sie wissen. … Wieso kann ich mich nicht erinnern?“, bitte ich ihn, allerdings zögert er. Als würde er sich genau überlegen wollen, was er mir darauf antworten soll. Schließlich entgegnet er mir: „Ich glaube, es ist das Beste, wenn dir deine Familie bezüglich der Erinnerungslücken weiterhilft. Ich bin da die falsche Person dafür.“ „Meine … Familie?“, frage ich perplex. Ich habe also eine Familie. Wenn das wahr ist, dann bin ich zumindest nicht allein, glaube ich zumindest. Schließlich räuspert sich der Arzt und zieht mich so wieder aus meiner Gedankenwelt. Kaum, dass er meine Aufmerksamkeit hat, meint er: „Nun … ich kann dir dafür aber etwas Anderes zu deinem Fall sagen. Allerdings befürchte ich, dass dir dies nicht weiterhelfen wird, wenn du dich nicht einmal an deinem Namen erinnerst. … Dennoch, vielleicht erwachen in dir der eine oder andere Erinnerungsfragment. … Laut deiner Patientenakte wurdest du vorm Eingang dieses Krankenhauses gefunden. Zwei Sanitäter haben dich dort entdeckt und dich sofort hereingebracht. Ehe du dein Bewusstsein verloren hast, hast du noch deinen Namen nennen können.“

Wie der Mann bereits vermutet hat, erwacht in mir gar nichts und es erklärt nicht einmal, wie ich überhaupt vors Krankenhaus gekommen bin. Scheinbar lag ich einfach dort, ehe ich entdeckt wurde. Doch wer hat mich dort abgelegt, oder habe ich mich vielleicht sogar selbst noch dorthin geschleppt? Irgendwie will mir nichts Plausibles einfallen, aber noch mehr interessiert mich mein eigener Name, was ich, wenn auch sehr zögerlich, hinterfrage: „Und … wie heiße ich?“ „Dein Name ist Bernadette Shepherd und du bist schon seit vielen Wochen als Patientin hier. Sagt dir der Name vielleicht etwas?“, antwortet der Arzt mir, aber ich schüttle auf seine Frage nur wieder den Kopf. Es klingelt einfach nichts bei mir, weder die Tatsache, wo ich gefunden worden bin, noch der Name selbst. Allerdings behauptet der Arzt, dass mir vermutlich nur die wesentlichen „Ankerpunkte“ fehlen würden, mit denen ich mein Gedächtnis rekonstruieren könnte. Er versichert mir sogar, dass ich mich einfach nur darauf einlassen und mir selbst Zeit gegeben soll. Egal ob ich meine Erinnerungen vollständig zurückbekommen würde oder nicht. Das ist nicht gerade sehr aufbauend, aber um ihn zu zeigen, dass ich ihn verstanden habe, nicke ich am Ende einfach. Mir bleibt momentan auch nichts Anderes übrig. Stattdessen lasse ich die nächsten Untersuchungen über mich ergehen, die schon bald darauffolgen. Wenn ich allerdings versuche, mich aufzusetzen, durchfährt mich ein höllischer Stich in der Magengegend. Genau dort liegt die schwerste meiner Verletzungen, während alle anderen zu ca. 90% abgeheilt sind und ich daher nur um meinem Bauch den Verband brauche. Immer wieder deuten die Kollegen des Arztes mich darauf hin, dass ich noch sehr viel Glück gehabt hätte. Ich hätte genauso gut sterben können, hätte mich ein „Schutzengel“ nicht noch rechtzeitig hierhergebracht, aber was zum Teufel ist nur vorgefallen?!

Seufzend liege ich wieder allein in meinem Zimmer. Eine Krankenschwester hat mir etwas zu essen gebracht, aber momentan habe ich keinen Appetit. So lasse ich das Tablett einfach so stehen, wie es ist und starre einfach zur Decke empor, bis sich plötzlich die Tür öffnet. „Du bist wirklich wach … endlich!“, höre ich die Frau schluchzen, die gerade bemüht ist, ihre Tränen zurückzuhalten. Sie schreitet auf mich zu und umarmt mich sofort, kaum, dass sie mir einen Kuss auf die Stirn gedrückt hat. „Mein Bernadettchen, ich habe dich endlich wieder.“, murmelt sie, ohne dass sie aufhören kann, Tränen zu vergießen. Weitere Personen kommen nun herein. Ich sehe zwei junge Männer, wie auch eine weitere Frau in einem rosafarbenen Kostüm. Sie umkreisen mein Bett, während die erste Besucherin, mich kaum mehr loslassen will. Sie alle haben erleichterte, so wie auch leicht betrübte Gesichter. Als würden sie sich um mich sorgen. Sind diese Menschen etwa meine Familie? Ich kenne keinen von ihnen, egal in welches Gesicht ich auch blicke. „Du hast uns ganz schön Sorgen bereitet, Schwesterherz.“, meint nun der Jüngere von den beiden Männern und setzt sich auf der anderen Seite zu mir ans Bett. Der andere hingegen bleibt wie eine Salzsäule stehen. Seine Mimik wirkt allmählich ernster und bei ihm habe ich sogar den Eindruck, als würde zusätzlich ein gewisses Maß an Vorwurf mitdrinstecken. Was zum Henker ist denn bitteschön vorgefallen? Ich fühle mich einfach nur überfordert und es ändert nichts daran, dass ich neben diesem „Überfall“ eine gewisse Vertrautheit zu diesen Menschen empfinde. Sie sehen mich an und trotzdem bleibt es bei diesem Gefühl.

Jene Frau mit dem rosa Kostüm nähert sich mir und fragt mich ernst: „Ist es wahr? Kannst du dich wirklich an nichts erinnern?“ Geschockt über diese Worte, lässt mich die andere, die mich zunächst so fest umarmt hat, los und starrt mich fragend an. Ihre Hände zittern leicht, die immer noch auf meinen Schultern ruhen. Verwirrt und sogar beschämt schaue ich weg und nicke nur stumm. Stille herrscht nun in diesem Raum. Man könnte dabei eine Nadel fallen hören, hätte jener, welche mich zunächst mit diesem seltsamen Blick gestraft hat, in diesem Augenblick nicht zu schimpfen begonnen: „Was hast du dir dabei gedacht?! Willst du Mom und uns alle ins Grab bringen?! Dann bist du auf dem besten Weg dorthin!“ „Paul, lasse es gut sein. Das ist jetzt nicht der richtige Moment.“, versucht die Frau, die direkt bei mir sitzt, diesen wieder zu besänftigen, aber dieser Kerl denkt gar nicht daran und schimpft weiter: „Nichts da Mom! Wegen Bernadette sind unsere Nerven auf einer Achterbahnfahrt und unsere Schwester erinnert sich nicht mehr einmal an uns! Wer weiß, ob sie nicht doch irgendetwas eingeworfen hat, bei dem Scheiß, was sie da aufgeführt hat! … Was in Dreiteufelsnamen stimmt nicht mit dir?!“ „Paul, das reicht! Dorian, nimm deinen Bruder und geht an die frische Luft, sofort!“, befiehlt jene, die scheinbar meine Mutter ist, die beiden. Dorian schweigt, während er aufsteht, Paul an der Schulter packt und diesen murmelnd aus dem Raum zerrt. Ich dagegen schaue den beiden nur stumm und geschockt hinterher. Was sollte das? Nun sehe ich „meine Familie“ zum ersten Mal und während ich versuche, mich irgendwie zu orientieren, so werde ich schon mit diesen Worten gestraft. Als hätte ich etwas Schlimmes getan, was dies rechtfertigen würde. Allerdings kann ich nichts darauf erwidern. Ich kann mich weder verteidigen, noch sonst irgendetwas dergleichen tun, weil ich mich einfach nicht erinnere. Das ist einfach nur scheiße!

„Schon gut Liebes, mach dir keinen Kopf darum. Paul war schon immer leicht aufbrausend und er macht sich einfach nur Sorgen um dich. Momentan weiß er einfach nicht, wohin damit. Nimm es deinem Bruder also nicht übel, ja?“, meint nun die andere Frau, die sich nun als meine Tante entpuppt, denn meine Mom fügt noch hinzu: „Deine Tante hat recht. Manchmal weiß er einfach nicht, wie er auf die Situation reagieren soll. … Wichtig ist nun, dass es dir gut geht und was dein Gedächtnis angeht, wird sich sicherlich bald eine Lösung zeigen.“ Sanft streicht sie mir nun über die Haare und sieht mich dabei liebevoll an. Das ändert aber nicht, dass ich mich einfach nur schlecht fühle. Dieser Kerl, der mein Bruder sein soll, soll sich um mich sorgen? Das hat überhaupt nicht danach geklungen, so sehr das gerade auch abgemildert worden ist. Mit einem hat dieser Paul aber recht, irgendetwas stimmt nicht mit mir und diese Tatsache tut einfach nur weh. Weswegen ich es nun auch nicht verhindern kann, dass mir einige Tränen still an den Wangen herunterkullern. Sanft werde ich in den Armen meiner Mom gewiegt, die zudem darauf achtet, dass mir meine Verletzung am Bauch keinen weiteren starken Stich verpasst. Stattdessen erzählen mir die beiden etwas über sich und die Familie. Selbst Dorian gesellt sich später noch zu uns, aber von Paul fehlt jede Spur. Scheinbar erträgt er es nicht, mich zu sehen und vielleicht ist es momentan sogar besser so. Ich hätte ihm ohnehin nichts zu sagen, wenn er mich wieder mit seinen vorwurfsvollen Augen straft. Andererseits hätte es an der Situation auch nicht viel geändert. Egal, was sie mir alle auch erzählt haben, bis auf das Gefühl, dass sie mir alle auf irgendeiner Art bekannt und sogar vertraut vorkommen, hat sich bei mir rein gar nichts getan. Ich habe keinerlei Erinnerungen an sie, keinen von ihnen. Nur dieses Gefühl, dass ich mit ihnen auf irgendeiner Art in Verbindung stehe, ist da und derweil ist dies das Einzige, was mich dazu verleitet, mich fürs Erste auf diese verwirrende Situation einzulassen. Etwas Anderes könnte ich ohnehin nicht tun.

Am Ende des Krankenbesuchs küsst mich Mom noch einmal auf der Stirn, ehe sie wieder aufsteht und mit meiner Tante und meinem Bruder wieder hinausgeht. Um weiteren Stress zu vermeiden, will man mir Ruhe gönnen, doch die habe ich nicht. Viel zu viele Fragen schwirren durch meinen Kopf. Ich möchte sogar nicht wieder einschlafen. Meine Angst ist viel zu groß, ich könnte beim nächsten Erwachen wieder alles vergessen haben. So wenig das Bisherige auch sein mag, ich will es einfach nicht wieder verlieren. Trotzdem kann ich es nicht verhindern, dass mich die Erschöpfung irgendwann doch einholt und ich gezwungen bin, meine Augen zu schließen. Als ich erwache, ist es bereits stockfinster. Wie erschöpft muss ich gewesen sein, sodass ich so viele Stunden durchgehend geschlafen habe? Wie spät mag es wohl sein? Müde reibe ich meine Finger gegen meine Augen und stelle dabei fest, dass sich meine Befürchtung zum Glück nicht bewahrheitet hat. Ich erinnere mich an den Besuch, aber genauso kommt mir wieder der Moment mit Paul in den Sinn. Der Gedanke an diesen Blick lässt mich wieder erschaudern und am liebsten würde ich diesen auf der Stelle wieder verdrängen. Sofort schüttle ich heftig mit dem Kopf, als könnte ich diese Bilder so aus meinem Kopf befreien und genau das bleibt nicht unbemerkt. Denn in diesem Augenblick bekomme ich eine bekannte Stimme mit, die ich schon mal gehört habe: „So wirst du Kopfschmerzen sicherlich nicht los.“ Überrascht halte ich inne und schaue in Richtung Fenster, von wo aus der Fremder gesprochen hat. Im Zimmer ist es stockfinster, aber das wenige Licht, was die Straßenlaternen spenden, lassen mich eine große Gestalt erkennen, die nun langsam auf mich zuschreitet. Wer ist dieser Kerl?! Schnell greife ich mit der rechten Hand zu der Lampe neben meinem Bett und schalte das Licht ein. Doch was ich da sehe, verschlägt mir glatt die Sprache. Ich habe es nicht mit einem Menschen zu tun. Viel mehr gleicht dieses Wesen einer riesigen Schildkröte, welcher wie ein Mann geht und spricht.

Von dem plötzlichen Licht schützt sich mein ungewöhnlicher Besucher kurz mit der linken Hand, ehe er sich daran gewöhnt hat und mich schließlich angrinst. Als wäre dieser Besuch etwas vollkommen Normales und sogar Selbstverständliches. „Überrascht? Ich habe dir doch letztens gesagt, dass ich heute wiederkomme.“, meint er und schreitet seelenruhig auf mich zu. Doch ich drücke mich automatisch von ihm weg. Ich bin irritiert und habe Angst. Es kann doch nicht sein, was ich da gerade sehe, oder träume ich immer noch?! Ich muss träumen, es macht sonst keinen Sinn, aber warum erwache ich dann nicht und was will er vor mir?! Während mir mein Herz bis zum Hals schlägt, drücke ich mich immer mehr in Richtung Wand und kralle dabei meine Finger fest in die Matratze. Ich habe keinerlei Ahnung, was ich jetzt tun soll. Ans Schreien brauche ich gerade gar nicht zu denken. Nicht nur, dass ich viel zu verkrampft bin, selbst meine Kehle fühlt sich so trocken an, sodass wahrscheinlich kaum ein Ton herauskommen würde. Viel eher würde sich dabei nur ein schwaches Krächzen entlocken lassen. Am liebsten würde ich sofort aufspringen und mich in die nächste Ecke des Raumes verziehen, wenn ich nicht schon aus der Tür eilen könnte. Doch mein gesamter Körper bleibt steif und ich kann auch nicht anders, als diesen „Kerl“ die ganze Zeit anzustarren. Ich beobachte jeder seiner Bewegungen, bis er abrupt stehen bleibt. Sein Lächeln verschwindet. Stattdessen hat er diesen verwirrten Blick. Als hätte er nun endlich begriffen, dass ich mich gerade alles Andere als wohl in meiner Haut fühle.

Doch warum ist er selbst verwirrt? Ich verstehe das nicht. Müsste es denn nicht logisch sein, dass ich mich vor ihm fürchte? Ich habe noch nie in meinem Leben etwas wie ihn gesehen, oder doch? Ich weiß es nicht, ich weiß es einfach nicht! Meine Vergangenheit, jede Erinnerung, alles ist ausgelöscht! Mein Kopf ist wie leergefegt! Diese Tatsache ändert aber nichts daran, dass dieser Schildkröten-Typ nun so verdutzt dasteht und mich ansieht. Als hätte er meine Reaktion nicht erwartet, aber was hätte ich seiner Meinung nach machen sollen?! Hätte ich ihm etwa um den Hals fallen sollen?! Wer oder was ist er überhaupt?! Ich verstehe das nicht! Mein nächtlicher Besucher setzt sich nun wieder in Bewegung und bleibt direkt neben meinem Bett stehen. Ohne zu zögern kniet er sich davor und starrt mich weiterhin fragend an. Als keine weitere Reaktion von mir kommt, fragt er mich plötzlich: „Was ist los? Du siehst ja aus, als ob du ein Gespenst sehen würdest. … Ich bin´s doch, Raphael.“ Ich antworte ihm nicht. Zwar kann ich mich an letzte Nacht erinnern, an dem der Name Raphi erwähnt worden ist. Dass es sich aber scheinbar dabei um ihn handeln soll, verschlägt mir gerade die Sprache. Doch wie aus der Pistole geschossen, grinst und lacht er wieder und ich verstehe nun gar nichts mehr, bis er schließlich behauptet: „Ach so ist das, aber nicht mit mir Bernadette! Wenn du mir ernsthaft vorgaukeln willst, dass du mich nicht kennst, dann musst du schon viel früher aufstehen. Diesen Witz kaufe ich dir nicht ab.“ Er hält es tatsächlich für eine Art schlechten „Scherz“, aber wie könnte ich bei sowas Witze reißen?! Meine Angst ist echt und auf keinen Fall geschauspielert! Ich meine es sogar todernst!

Weiterhin grinsend will er mich nun mit seiner rechten Hand berühren, aber ich zucke dabei sofort zurück und genau in diesem Augenblick vergeht ihm das Grinsen nun endgültig. Seine Augen weiten sich schlagartig und er starrt mich für wenige Sekunden geschockt an, bis er mich plötzlich an den Schultern packt und mich anfleht: „Sag mir bitte, dass das ein Scherz war! Du weißt doch, wer ich bin! Du weißt es doch!“ Leicht ungeduldig hält er mich so fest, während ich zitternd meinen Blick von ihm abwende. Noch immer bin ich so steif, sodass ich mich bis auf das Zittern kaum rühren kann. Stattdessen kullert mir wieder eine Träne an der rechten Wange herunter. Augenblicklich lässt er mich los, springt auf und weicht sogar einige Schritte von mir, während er sich von mir wegdreht. Ich beobachte ihn, wie er vor meinem Bett auf und ab geht. Dabei greift er sich ständig an den Kopf, schüttelt diesen und murmelt etwas vor sich, was ich kaum verstehen kann. Nur etwas wie „Dann hatte Donnie doch recht!“ habe ich aus seinem panischen Gemurmel herausfiltern können. Auch wenn ich keine Ahnung habe, was er damit meint, macht es mich nervös und sogar ängstlicher, als was ich ohnehin schon bin. Ich bin einfach nur noch überfordert. Dabei hat mir schon dieser Tag gereicht. Ohne jeglicher Erinnerung bin ich erwacht und mir wurde eine Familie vorgestellt, die ich mehr oder weniger als die meine akzeptieren musste. Mit Fragen und Erzählungen haben sie mich bombardiert, während ich meist nur stumm daliegen konnte und versucht habe, daraus irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Ich suchte nach einer Verbindung und habe mich bis jetzt an nichts erinnern können und nun kommt er!

Innerlich spüre ich, wie sich aus meiner Angst auch noch Wut herauskristallisiert. Ich habe es so satt! Dieses Nichtwissen, was los ist und diese Achterbahn von Gefühlen, Fragen und Vermutungen macht mich einfach krank! Doch wohin damit?! Ich weiß nicht, was ich tun soll, geschweige, was sonst noch auf mich zukommt! Zurzeit bin ich unfähig, irgendetwas an dieser Situation zu steuern, von meinen Gefühlen ganz zu schweigen. So kann ich von meinem Bett aus nur stumm zu sehen, wie mein nächtlicher Besucher unruhig seine Runden zieht. Er ballt sogar eine Hand zu einer Faust, als wolle er nun etwas kaputtschlagen. So wütend ist er gerade und zu allem Übel scheine ich der Grund dafür zu sein. Wieder einmal wird mir diese Tatsache ins Gesicht gepfeffert und mir könnte in diesem Moment keiner etwas Anderes einreden. Es ist beinahe genauso wie bei Paul. Doch anstatt mich direkt mit diesem Blick zu strafen, den ich am Tag schon ertragen musste, so geschieht dieses nun indirekt. Es tut so weh, sodass ich nur noch schreien möchte, aber ich kann nicht! Ich fühle mich einfach nur verloren und bin wütend. Wütend auf mich, weil ich mich erstens an nichts erinnere, egal wie sehr ich mich auch anstrenge und zweitens, weil ich nicht fähig bin, mit meiner Situation irgendwie umzugehen. Ob ich will oder nicht, weitere Tränen bahnen sich einen Weg ins Freie. Ich kann es nicht kontrollieren und drehe mich daher zur Seite.

Soweit es mir möglich ist und soweit es mir die Verletzung am Bauch erlaubt, krümme ich mich im Bett zusammen und vergrabe mein Gesicht in meine Hände. Es ist schon schlimm genug, dass ich mich an nichts erinnern kann, aber das alles hier ist einfach nur beschissen! Eine Weile bleibe ich noch so und schluchze, bis ich aber plötzlich etwas auf meinem Kopf spüre. Ruckartig ziehe ich meine Hände weg und beobachte zu meinem Erstaunen, wie Raphael wieder vor mir kniet und mir sanft durch die Haare fährt. Sein Blick ist nun vollkommen anders. Anders als vorhin, in der der Zorn aus ihm gesprochen hat, hat er nun etwas Trauriges an sich und noch etwas Anderes ist in seinen Augen. Ich weiß nicht wirklich, wie ich das genau beschreiben könnte, aber als Erstes würde mir der Begriff „suchen“ einfallen. Als würde er bis in meine Seele hineinschauen wollen. Doch was glaubt er dort zu finden? Dort ist nichts, zumindest weiß ich nicht, was er von mir nun erwartet. Was tue ich da überhaupt?! Vor mir befindet sich dieses seltsame Wesen, vor dem zu großer Wahrscheinlichkeit jeder Angst hätte und ich „philosophiere“ gerade! Trotzdem kann ich es nicht lassen, in seine goldgelben Augen zu schauen. Wie die Sonne an einem schönen, warmen Sommertag ziehen sie mich in ihren Bann. Mein Herz hämmert vor Aufregung und sein Poltern übertönt beinahe meine Gedanken. Doch je mehr ich mich auf diese Augen einlasse, desto leiser wird es in meinem Kopf. Es passiert nicht schnell. Viel mehr habe ich den Eindruck, als wolle man mich allmählich beruhigen. Als wäre alles in Ordnung, ich müsste es nur zulassen. Doch kann ich das so einfach?
 

Aus Raphaels Sicht:
 

Fixiert auf ihr Gesicht und auf ihre Augen, hoffe ich inständig, dass sich doch etwas bei ihr tut. Sie muss sich an mich erinnern, sie muss einfach! Schließlich sind wir jetzt endlich wieder zusammen. Bernadette hat überlebt und noch bevor sie an jenen Tag ins Krankenhaus musste, konnten wir unseren sinnlosen Streit endlich hinter uns lassen. Wir beide wollten einen Neuanfang und ich wollte ihr zeigen, wie ernst es mir war und dass dies auch heute noch so ist. Auf dem Weg hierher hatte ich mir sogar vorgestellt, wie ich sie in den Arm nehmen würde. Ich wollte sie dabei liebkosen und nicht mehr so schnell wieder von ihrer Seite weichen. In meiner Fantasie hatte ich mir alles bereits genau vorgestellt. Jedoch hat mir die Realität einen Strich durch die Rechnung gemacht und hinterlässt sogar einen bitteren Beigeschmack. Mein Engel ist zwar wiedererwacht, aber die Erinnerung an unsere Zweisamkeit und selbst unsere Zankereien sind bei ihr wie weggeblasen. Es scheint, als wäre nichts mehr davon übrig. Stattdessen habe ich nun ein verletztes Mädchen vor mir. Verwirrt und sogar verängstigt habe ich sie vorgefunden. Dabei hätte ich es besser wissen müssen. Donnie hatte mir nicht nur einmal eingebläut, dass sowas auftreten könnte und ich selbst habe es sogar nachgelesen. Nicht alles habe ich aus diesem Firlefanz verstanden, aber das Wenige reichte mir. Ich wollte es nur nicht wahrhaben und habe jetzt die Quittung dafür eingesackt. Als würde Bernadette mir einen Fausthieb direkt ins Gesicht verpassen. Genauso fühlt es sich an. Das Einzige, wovon ich noch von „Glück“ reden könnte, ist, dass sie nun nicht solch eine Panik schiebt und dabei schreit. Sie starrt mich einfach an, während ich sie weiterhin sanft am Kopf berühre.

Fragt sich nur, was ich jetzt machen soll. Ich weiß ja nicht einmal, ob mein Engel überhaupt noch etwas weiß. Denn, hat Bernadette nur mich und unsere gemeinsame Zeit vergessen, oder sind ihre Lücken vielleicht sogar noch größer, sodass sie sogar ihren eigenen Namen nicht mehr kennt? Weder will ich sie „aushorchen“, noch sonst irgendwie stressen oder gar noch mehr Angst machen, aber es juckt mir förmlich in den Fingern, endlich Antworten zu bekommen. Ich seufze schwer, bis mir schließlich etwas einfällt, womit ich zumindest ein Gespräch beginnen könnte, ohne ihr dabei völlig auf die Pelle zu rücken. Hoffentlich klappt das auch, aber andererseits glaube ich, dass ich momentan nicht viel zu verlieren habe. Etwas zögerlich öffne ich meinem Mund und frage sie, während ich bemüht bin, zu lächeln: „Ähm … hast du … noch starke Schmerzen?“ Ein überraschtes Blinzeln ist das Erste, was ich zunächst als Antwort erhalte. Ich erwarte nicht viel. Wenn sie nichts sagt, ist es mehr oder weniger ok, aber schließlich meint sie: „Es geht.“ Beinahe wie „ferngesteuert“ hat das geklungen. Als hätte sie selbst nicht groß nachgedacht, sondern spontan reagiert und einfach nur den Mund aufgemacht. Für mich reicht es aber, weswegen mein Lächeln noch breiter wird. Dass sie mit mir, ohne groß Angst zu haben, „redet“, ist fürs Erste ok und so erwidere ich darauf: „Wenigstens etwas.“ Man kann dies zwar nicht wirklich als „Gespräch“ ansehen, aber es ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Zumal mir auch mein Gefühl sagt, dass das mit Sicherheit einige Zeit braucht, wenn nicht sogar mehr.

Soll ich das aber nun für heute gut sein lassen, oder soll ich nicht vielleicht noch mehr darauf eingehen? Vermutlich wird Bernadette schon von ihrer Familie beehrt worden sein und so wie ich zumindest ihre Tante kenne, wird mein Mädchen wohl ziemlich „in die Mangel“ genommen worden sein. Wer weiß, wie oft sie schon Fragen wie „Woran kannst du dich erinnern?“ oder „Weißt du noch, …?“ zu hören bekommen hat. Ich sollte vielleicht wirklich gehen, aber irgendwie will ich das nicht. Zu sehr habe ich mich darauf gefreut, sie zu sehen und sie wieder in meine Arme schließen zu können. Da kann ich doch nicht einfach so abhauen, oder? Was will sie eigentlich? Möchte Bernadette überhaupt, dass ich hier bin, oder traut sie sich nicht, mir zu sagen, dass ich verschwinden soll? Momentan halte ich alles für möglich. Noch dazu, weil ich eben nicht in ihren Kopf schauen kann. Mein Lächeln ihr gegenüber wird nun etwas schwächer. Ich reiße mich aber zusammen und frage sie schließlich: „Ist es ok für dich, wenn ich noch etwas bleibe?“ Zunächst wird sie stutzig und sagt nichts. Ich scheine sie mit dieser Frage überrascht zu haben, aber ist solch eine Frage nicht selbstverständlich? Ich bin immerhin ihr Freund, auch wenn sie es offensichtlich nicht mehr weiß. Schon leicht ungeduldig verharre ich an derselben Stelle und warte. Ob Ja oder Nein ist mir egal, ich will einfach nur eine klare Antwort, aber scheinbar weiß sie es selbst nicht. Wo sie mich zunächst noch blinzelnd angesehen hat, schaut sie nun nachdenklich zur Seite. Das ist kein gutes Zeichen, aber es würde mich nicht wundern, wenn sich mein erster Verdacht bestätigen würde. Dann werde ich ihr wohl die Entscheidung abnehmen müssen.

Etwas enttäuscht erhebe ich mich und entgegne ihr schließlich: „Schon gut, lass ruhig. … Ich geh dann mal. Es ist ohnehin schon spät.“ Für mich ist der Abend gelaufen und ich habe mich auch schon von ihr abgewandt, ohne weiters auf eine Antwort von ihr zu erwarten. Vielleicht schaue ich mal wieder bei ihr vorbei, wenn es ihr etwas besser geht. Wenn der Stress nicht so groß ist, ist sie vielleicht etwas gesprächiger. Vielleicht fällt es ihr dann sogar leichter, mir zu vertrauen, oder mir einfach nur zuzuhören. Vorher wird wohl daraus nichts, das ist mir klar und bis dahin hoffe ich, dass mir einer dieser Idioten begegnet, damit ich mich mal wieder so richtig abreagieren kann! Bis jetzt haben sich diese feigen Hunde noch geschickt verkrochen, aber ich werde sie eines Tages finden und dann zu Kleinholz verarbeiten! Was sie Bernadette und mir angetan haben, wird nicht ungestraft bleiben, so viel ist sicher! Ich habe mich seufzend noch nicht einmal richtig in Bewegung gesetzt, als mich mein Engel plötzlich bei der Hand packt. Verwundert, wie auch leicht verwirrt schaue ich zu ihr hinunter. Ihr Gesicht wirkt flehend, als wolle sie nicht, dass ich gehe. Dabei dachte, ich, dass sie überfordert wäre und dass ich ihr vielleicht sogar unheimlich bin. Jedoch überrascht sie mich, als sie zu mir sagt: „Bleib, … bitte.“

Phase 1

Aus Raphaels Sicht:
 

Noch immer sprachlos sehe ich sie an. Ihr Blick, mit dem hätte ich im Moment überhaupt nicht gerechnet hätte, wirkt beinahe so, als hätte sie sich an etwas erinnert. Zumindest bilde ich mir das ein. Nein, wohl eher wünsche ich mir das, aber sie will, dass ich bleibe, weswegen ich mich einfach an diesem Wunsch festhalten will. Ganz sachte setze ich mich zu ihr ans Bett. Sie hält mich immer noch ganz fest bei der Hand, als müsste sie befürchten, dass ich im nächsten Augenblick verschwinden könnte. Als hätte sie Angst und die hat sie vermutlich auch. Da will ich mir nichts vormachen. Allein schon, dass sie nach den zwei Worten wieder schweigt, zeigt mir, wie unsicher sie momentan sein muss. Wenn ich ihr dies nur abnehmen könnte. Viel wichtiger ist mir aber, dass sie mir sagt, was sie braucht und was sie will. Alles andere würde sich wahrscheinlich nichts bringen. „Wenn du das möchtest, bleibe ich.“, sage ich mit einem ruhigen Ton zu ihr und ich glaube sogar für eine Sekunde ein kleines Lächeln im Gesicht meines Engels entdeckt zu haben. Doch dann blickt sie wieder ernst in die Leere. Selbst ihr Finger liegen nun nur noch locker in meiner Hand. Woran sie wohl denkt? „Was hast du?“, frage ich Bernadette einfach, ohne groß nachzudenken. Sie sieht mich dabei wieder an und antwortet mir geknickt: „Ich … ich weiß auch nicht. … Es ist einfach … alles so kompliziert. Ich verstehe so vieles nicht.“ „Das wird schon.“, versuche ich Bernadette Mut zuzusprechen, aber das Gegenteil davon ist der Fall. Sie steigert sich sogar immer mehr hinein: „Woher willst du das wissen?! Ich mein, ich kann mich doch an nichts erinnern. Wieso nur?! Ich weiß, dass was da sein muss! Ich spüre es, aber mein Kopf ist leer! Ich weiß rein gar nichts! Ich …“

Bevor sie weiterreden kann und sich dabei selbst immer mehr runterzieht, lege ich meinen Arm um sie und drücke mein Mädchen vorsichtig an mich. Es bringt sich nichts, wenn Bernadette sich so sehr einen Kopf darum macht. Ich kann ja leicht reden, aber sie darf sich trotzdem nicht so fertig machen. Daran ändert sich nichts. Viel eher verschlimmert sich das nur, was ich ihr schließlich auch versuche, irgendwie begreiflich zu machen: „Hey komm, ich bin doch für dich da. Ok? Du wirst dich wieder erinnern. Ich helfe dir und ich bin mir sicher, dass deine Familie auch alles in die Wege leiten wird. Also lass jetzt den Kopf nicht hängen.“ Ich erwarte nicht, dass sie das sofort akzeptiert und umsetzt. Ihr geht es einfach beschissen und ich bin nur „heilfroh“, dass sie mich trotz allen an sich heranlässt, damit ich ihr irgendwie helfen kann. Auch wenn ich selbst nicht genau weiß, wie ich das anstellen soll, aber ich bin für sie da, was auch immer passiert. „Warum?“, fragt sie auf einmal, aber mit dieser Frage kann ich überhaupt nichts anfangen, weswegen ich sogar nachhake: „Warum was?“ „Warum willst du das tun? Ich mein, ich fühle zwar, dass ich dich kennen müsste. Da muss es eine Verbindung geben, aber …“ Sie bricht ab und hat nun wieder Tränen in den Augen, ehe sie mir erklärt: „Aber ich erkenne weder dich noch meine Familie wieder. … Ich weiß ja nicht mal was über mich selbst. … Gar nichts.“ Wieder verstummt sie, nachdem sie immer leiser geworden war. Für mich klingt das beinahe so, als würde sie sich selbst strafen wollen, weil sie ihr Gedächtnis verloren hat und das ist absurd! Jedoch muss ihr das auch mal klargelegt werden.

Mir wird schlecht, wenn ich sie so sehe. Es ist so ähnlich wie damals mit der Mobbingsache, als ich sie überstürzt von der Schule abholen musste. Genauso kommt sie mir gerade vor. Auch an jenen Tag hatte sie meist nur stur in die Leere gestarrt und war in sich gefangen und dies war das erste Mal, als ich sie so krass erlebt hatte. Diesmal aber wird nicht meine Wut im Vordergrund stehen, sondern sie und ich werde es garantiert nicht zulassen, dass sie sich selbst verliert. Vorsichtig hebe ich ihr Kinn an, damit sie mich ansehen muss. Bernadette soll nicht ständig ins Nichts starren und an sich selbst zweifeln und um zu verhindern, dass sie das sofort wieder tut, frage ich sie mit einer entschlossenen Stimme: „Und du glaubst, wenn du dich jetzt selbst fertigmachst, dass dir das hilft?“ Mit großen Augen sieht sie mich an, bis sie dann ihre Lider etwas senkt und mit einem Kopfschütteln meine Frage verneint. Wenigstens stimmt sie mir in diesem Punkt zu. Jetzt muss sie es nur noch umsetzen und dabei werde ich ihr auch helfen. Mit etwas Nachdruck verspreche ich ihr: „Dann lass dir helfen. Es wird vermutlich dauern, aber ich werde den Teufel tun und dich im Stich lassen! Ganz sicher nicht, darauf kannst du dich verlassen.“ Ihre Augen weiten sich wieder. Als würde sie sich darüber wundern, aber dann lächelt sie, wenn auch schwach, und schmiegt sich wieder an mich. Wenigstens fühlt sie sich bei mir wohl. Trotz, dass sie ihr Gedächtnis verloren hat, ist das Gefühl, dass wir beide zueinander gehören, nicht ganz verschwunden. Auch wenn ihr vermutlich nicht bewusst ist, wie nah wir zwei eigentlich zueinanderstehen.

Noch lange sitze ich so bei ihr und halte sie in meinem Arm. Wir haben danach nicht mehr viel geredet. Ich habe nicht das Gefühl, dass das notwendig gewesen wäre. Zumal sie mich nach einer Weile gebeten hat, sie nicht alleinzulassen. Bernadette fühlt sich verloren und gerade weil sie deutlich ausgesprochen hat, was sie für den Augenblick braucht, will ich für sie umso mehr ein Fels in der Brandung sein und sie nicht unnötig mit Geschichten überhäufen. So allerdings wird es ziemlich ruhig im Zimmer und ich werde schließlich erst aufmerksam, als ich bemerke, dass mein Engel bereits eingeschlafen ist. Ganz ruhig hebt und senkt sich ihr Brustkorb, während ihr Kopf immer noch auf meiner Brust ruht. Für einen Moment bleibe ich noch so, ehe ich Bernadette vorsichtig von mir streife und sie nun wieder allein im Krankenbett liegt. Ich decke sie zu und lösche das Licht, während ich dabei seufze. Dass sie lebt und sogar von ihrem Koma wiedererwacht ist, hat mir zum einen Glück beschert. Doch ich kann es nicht leugnen, dass mich ihr Gedächtnisverlust schmerzt. Bernadette hat alles vergessen: Wie wir uns kennengelernt haben und was wir gemeinsam erlebt haben, alles ist weg. Allein bei dem Gedanken hätte ich meine Wut am liebsten wieder freien Lauf gelassen. Lucinda und die Purple Dragons haben alles zerstört, wofür ich ihnen sofort die Quittung gegeben hätte. Ich hätte sie auf der Stelle aufgesucht. Jeden Einzelnen von ihnen hätte ich zu Brei verarbeitet, aber ein Blick zu ihr hat gereicht, sodass mir wieder bewusst geworden ist, dass Bernadette die größere Leidtragende von uns beiden ist. Vollkommen aufgelöst lag sie nach meinem „Wutausbruch“ in ihrem Bett und genau in diesem Moment fragte ich mich, ob sie überhaupt eine Erinnerung an irgendetwas hätte. Noch viel mehr aber wollte ich einfach für sie da sein und sie nicht mit ihrem Kummer alleine lassen.

Weswegen ich auch den Rest der Nacht im Krankenzimmer verweile. Ich setze mich einfach zu ihr ans Bett und beobachte sie beim Schlafen. Ihr Gesicht macht keinerlei den Anschein, als hätte sie Schmerzen, oder als ob sie etwas bedrücken würde. Wie lange vor diesem Tag, an dem sie verschwand, wirkt sie auf mich und zwar genau zu jener Zeit, an dem wir beide noch glücklich waren. Doch ich weiß nur allzu gut, dass dies nur eine Einbildung von mir ist. Ein Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, um genau wieder diesen Moment aufs Neue erleben zu dürfen. Nicht nur einmal habe ich daran gedacht. Was wäre, wenn dies tatsächlich möglich wäre und ich alles verändern könnte? Allein schon diesen lächerlichen Streit und dieses unnötige Misstrauen zu ihr hätte ich verhindert. Zwar hatte ich jenen Gedanken für eine ganze Weile zur Seite geschoben, aber nachdem ich feststellen musste, dass Bernadette alles, sogar sich selbst, vergessen hat, so ist dieser Wunsch aufs Neue stärker spürbar geworden. Es ist aber nicht möglich und bevor ich mich wie eine Heulsuse an der Vergangenheit festklammere, so will ich ihr helfen, sich zu erinnern. Vermutlich war ihr das nicht bewusst, aber sie selbst hat mir den nötigen Hoffnungsschimmer dafür gegeben. Ähnlich wie an jenen Abend, an dem wir uns beide kennenlernten und ich sie nach Hause bringen wollte, reagierte sie. Zunächst hatte sie Angst, aber dann beruhigte sie sich ziemlich schnell wieder und sah mich mit genau jenen Augen an, die mir so vertraut sind. Die Krönung war für mich, als sie mich nicht wegschickte, sondern sogar wollte, dass ich bei ihr blieb. - Ganz nah, beinahe genauso wie früher.

Sie ahnt ja gar nicht, was sie bei mir ausgelöst hat. Nichts wird mich daran hindern, ihr zu helfen und egal was sie auch braucht, ich bin für sie da. Nur mit schweren Herzen stehe ich bei Sonnenaufgang auf, um nach Hause zurückzukehren. Doch bevor ich aus dem Fenster steige, mache ich noch einmal eine Kehrtwende und bleibe direkt bei ihr stehen. Sie mag zwar sich nicht mehr an mich erinnern, aber es gibt für mich trotzdem noch etwas Wichtiges, was ich schon so lange aufschieben musste. So beuge ich mich über sie drüber und nähere mich ihren Lippen. Langsam, wie auch vorsichtig berühre ich diese. Schon so lange wollte ich sie wieder küssen und ich wollte nicht eher gehen, ehe ich dies auch getan habe. Umso mehr überkommt mich dieses berauschende Gefühl, nicht sofort wieder aufhören zu müssen. Am liebsten hätte ich sie sogar aus dem Bett gezerrt und wäre mit ihr über die Dächer gesprungen. Selbst dieses Verlangen brennt in mir wie ein loderndes Feuer. Auch wenn ich sie dabei aufgeweckt hätte, etwas in mir schreit förmlich danach, dies einfach zu tun und trotzdem bleibt es am Ende bei einem zarten Kuss. Leicht nervös, ich hätte vielleicht überreagiert, schaue ich sie nun an, aber Bernadette schläft weiter. Sie muss ganz schön fertig sein, dass sie dadurch nicht erwacht ist, aber trotzdem hat sie mich mitbekommen. Denn im selben Augenblick bemerke ich, wie ihre Mundwinkeln leicht nach oben gezogen werden. Sie lächelt, was auch mich wiederum ruhiger stimmen lässt. Viel mehr noch, mich überkommt eine besondere Art von Ruhe, die ich schon lange nicht mehr gefühlt habe.

Doch dies hört auf, als ich daheim ankomme. Ich bin es ja schon gewohnt, dass meine Brüder mich bezüglich meiner Freundin ausquetschen wollen. Genauso wie ich, machen sie sich Sorgen um sie und da sie mir immer wieder die Möglichkeit geboten haben, mit ihr allein zu sein, habe ich nicht wirklich das Problem damit, denen „Bericht zu erstatten“. Kurz und knapp habe ich ihnen erzählt, was ich weiß. Die Tatsache, dass Bernadette tatsächlich ihr Gedächtnis verloren hat, ist bei meinen Brüdern, ähnlich wie mir, nur schwer zu verdauen. Während Leo nur stumm dasteht, sprudelt es aus Mikey heraus, dass es nicht sein kann. Nur Donnie meint, dass er diese Möglichkeit bereits in Betracht gezogen hätte. Bei dieser Explosion musste sie einiges am Kopf abgekriegt haben. Allerdings glaube ich nicht, dass dies das „Einzige“ gewesen ist. Ich habe in den letzten Wochen viel herumgestöbert, nachdem das Genie und ich diese Unterhaltung bezüglich des Gedächtnisverlustes gehabt haben. Von dem ganzen Wirrwarr, was da geschrieben wurde, konnte ich zwar nur Weniges verstehen. Was ich aber trotz allem kapiert habe, ist, dass das Ganze viel mit Stress und Angst zusammenhängt. Davon hatte Bernadette reichlich, wenn nicht sogar schon viel zu viel. Es dürfte mich daher nicht wundern und dennoch finde ich das einfach nur beschissen. Denn diese Tatsache hält uns beide wieder einmal Stück von einander entfernt. Theoretisch hätte ich ihr sofort erzählen können, wer genau ich bin und was uns beide verbindet, aber hätte sie mir das auch wirklich geglaubt? Eine eindeutige Antwort hätte ich dabei nicht. Vieles spräche dafür, aber auch gleichzeitig wieder dagegen. Zumal sie am Anfang Angst hatte und ich zu diesem Zeitpunkt kaum damit gerechnet hätte, dass sie mich trotzdem bei sich haben wollte. Es musste daher in ihr etwas passiert sein. Ansonsten hätte sie mich ja panisch fortgeschickt.

Ich kann gar nicht beschreiben, wie wütend ich wieder bin. Wo ich nun wieder alleine, kann ich nicht anders, als meine Hände wieder zu Fäusten zu ballen. Der Gedanke, dass dieses Miststück und ihre Lackaffen schuld an diese Scheiße sind, lässt mich beinahe überkochen. Hätte ich mich bei Bernadette nicht wieder zusammengerissen, so wäre ich wahrscheinlich schon längst geplatzt. Die bekommen noch ihre Quittung und wenn ich sie durch die ganze Stadt jagen müsste, ich werde es tun! Seufzend lasse ich mich in meinem Zimmer auf mein Bett fallen. Mein Blick ist noch oben gerichtet. Vermutlich werde ich fürs Erste keinen Schlaf finden, aber irgendwie will ich das auch gar nicht. Stattdessen fasse ich durch die Lederriemen meines rechten Handgelenks und ziehe Bernadettes Amulett heraus. Seitdem ich es dürftig repariert habe, habe ich es wie einen Glücksbringer ständig bei mir. Wahrscheinlich ist das zu sentimental und die anderen wissen nicht einmal, dass ich den kleinen, kaputten, roten Stein mit dem zerrissenen Lederband ständig mit mir herumschleppe, aber das ist meine Sache und ich habe einfach gerne etwas bei mir, was von ihr ist. Ein bisschen erleichtert mir das auch, so bescheuert das vermutlich sein dürfte. Ein leichtes Lächeln schleicht sich bei mir ein, als ich mit dem Finger vorsichtig über die kleine Schildkröte streiche. Mit etwas Fantasie kann ich Bernadette förmlich vor mir sehen, wie sie diesen Stein um ihren schönen Hals trägt. Ich schließe die Augen und stelle sie mir damit ganz genau vor. Ihr Lächeln tut gut und ich wünsche mir nicht Sehnlicheres, als auch in der kommenden Nacht wieder bei ihr zu sein. Gedächtnisverlust hin oder her, morgen gehe ich wieder zu ihr.
 

Aus Erzählersicht:
 

Weit vom Zuhause in der Kanalisation und dem Krankenhaus entfernt, steht Lucinda in ihrem Zimmer und starrt aus dem Fenster. Nur mit ihrem seidenen Nachthemd und dem dazu passenden Schlafrock bekleidet, hat sie sich seitlich an die große Scheibe angelehnt und beobachtet armeverschränkend den Sonnenaufgang. Ihr Blick ist finster und müde zugleich. Eine weitere Nacht hat sie schlecht schlafen können. Immer wieder hat sie sich in ihrem weichen Bett hin und her gewälzt und dabei kaum Ruhe gefunden. Nicht nur einmal ist sie dabei sowas schweißgebadet erwacht, nachdem sie von IHM geträumt hatte. Eine Kreatur, welche die Blondine noch nie zuvor gesehen hatte und doch hatte sie zweimal eine Begegnung mit diesem Ungetüm. Beim ersten Mal tauchte es mit drei Weiteren in der Lagerhalle auf, bis es Lucinda auf der Straße auflauerte und sie sogar angriff. Ein kalter Schauer läuft ihr über den Rücken, als sie daran denkt. Denn nun sucht es sie beinahe jede Nacht in ihrem Schlaf heim. Wenn sie nicht gerade in der damaligen Lagerhalle von ihm wegläuft, so passt jene Version von Raphael sie in jene Gasse ab, wo es ihr schließlich an den Kragen geht. Die Angst, durch seine Hand zu sterben, ist groß. Allerdings ist es nicht nur dieses Gefühl, was ihr Herz beherrscht. Der Zorn und die Gier nach Rache scheinen sie beinahe zu verschlingen. Lucinda sehnt sich nur nach einem und zwar, dass ihre Widersacher endgültig ausgeschaltet werden. Wie, ist ihr egal, aber es soll so schmerzhaft sein, sodass sie sich alle nach Erlösung sehnen.

„Aktion folgt auf Reaktion und Reaktion folgt auf Aktion. … Das wirst du mir büßen! Das werdet ihr mir alle büßen!“, zischt Lucinda zwischen ihren Zähnen und rümpft mit erhobenen Haupt die Nase. Vor ihrem geistigen Auge, sieht sie sowohl Bernadette, wie auch ihren Freund vor sich. Sie wird nie den Moment vergessen, wie sich dieses Mädchen an ihn angelehnt und diesen dann auch noch als Raphael vorgestellt hatte. Wo die Blondine zuvor noch geglaubt hatte, unter diesem „Freund“ einen bedauernswerten Versager zu verstehen, wurde ihr eine riesengroße Kreatur präsentiert, die man sonst in einer fiktiven Geschichte widerfinden könnte. Doch sie weiß, dass diese weder eine Fiktion noch eine Einbildung von ihr war. Allein schon, wie dieses monströse Wesen sie damals gepackt und wieder zu Boden geschleudert hatte, war Realität genug. Doch Raphael soll dafür bluten, genauso wie Bernadette. Wutentbrannt wendet sich Lucinda von der morgentlichen Aussicht ab, zieht sich um und stürmt sogleich aus ihrem Zimmer. Nicht weit von der Zimmertür entfernt, wartet außerhalb ein großgewachsener, glatzköpfiger Mann auf sie. Mit breiten Schultern und einen muskulösen Körper ausgestattet, hat er sich armeverschränkend gegen die Mauer angelehnt. Sein breites Gesicht ist zu einer ernsten Mimik verzogen, während er seine dunkelbraunen Augen hinter einer großen Sonnenbrille verbirgt. Allein dieser Anblick lässt einem von Weitem schon verstehen, dass mit diesem Kerl nicht zu spaßen ist. Ohne ein Wort zu sagen und mit etwas Abstand folgt er Lucinda.

Diese dagegen stapft voran. Als wäre der Teufel höchst persönlich hinter ihr her, hetzt sie durch die Flure, ehe sie sich mit ihrem stummen Begleiter draußen befindet. „Jethro, lassen Sie das Auto vorfahren!“, befiehlt sie diesem, was jener kommentarlos sofort ausführt. Mit seinem Headset nutzt er das zugehörige Mikrophon, um seinen Partner zu benachrichtigen: „Kannst losfahren.“ Mehr sagt er nicht, sondern wartet armverschränkend neben Lucinda. Nur kurz darauf fährt ein silberfarbenes Auto vor und hält direkt vor den beiden. Es ist eines der teuren Modelle, die ihrem Vater gehören. Während Jethro dem Mädchen die Tür aufhält, steigt jenes kommentarlos auf die Hinterbank und wartet, bis der Mann ebenfalls Platz genommen hat. „Wohin Miss?“, fragt der Fahrer, welcher einen kurzen Blick in den Rückspiegel riskiert. Im Gegensatz zu seinem Partner, handelt es sich bei diesem um einen eher schlanken Gesellen. Die brünetten Haare nach hinten gegelt, wirkt er nicht weniger streng als das Muskelpaket auf der Beifahrerseite und jener scheint noch dazu noch etwas gesprächsfreudiger zu sein, als was man von Jethro jemals vermuten könnte. Lucinda lehnt sich armeverschränkend zurück und entgegnet dem Fragenden mit einem arroganten Ton: „Nach Bronx André, wir werden ein paar „Herrschaften“ einen kleinen Besuch abstatten. … Also geben Sie Gas!“ Ohne etwas darauf zu erwidern, saust der Angesprochene darauf los. Die Fahrt selbst verläuft ruhig. Während der Fahrer sich auf den Verkehr konzentriert und Jethro nur daneben schweigt, ist Lucinda wieder einmal in ihren Gedanken. Sie malt sich bereits aus, wie sie vorgehen könnte und hat daher den einen oder anderen Trick parat. Schließlich will sie ihr Vorhaben so schnell wie möglich in die Wege leiten. Schon viel zu lange scheint sich dies herausgezögert zu haben und Schuld daran sind allein Bernadette und ihr „Freund“. Nach der Begegnung mit Raphael hatte sich die Blondine zunächst einfach nur verkriechen wollen. In allen möglichen dunklen Ecken und Winkeln hatte sie die schildkrötenartige Kreatur vermutet.

Die Angst, man würde ihr im nächsten Augenblick wieder etwas antun, ließ sie extrem vorsichtig werden, wodurch ihr weniges Vertrauen zu anderen noch mehr zusammengestückelt wurde. Das hat sich allerdings geändert, nachdem Jethro und André ihr zugeteilt worden waren. Zwei Männer, die schon seit vielen Jahren im Dienste ihres Vaters stehen und daher schon einige Erfahrungen in ihren Leben gemacht haben. Welche das sind, ist noch nie Gesprächsthema gewesen und besonders Jethro zählt nicht gerade zu jenen, der gerne darüber ein Wort verliert, oder überhaupt viel redet. Das stört Lucinda allerdings kein bisschen. Plaudertaschen kann sie nicht ausstehen und solange sie nicht selbst im Vordergrund steht, ist ihr alles andere egal. Der silberfarbene Wagen hat nun die großen Straßen verlassen und steuert nun direkt in den nächsten Stadtbezirk. Lucinda verzieht das Gesicht, als sie einen Blick nach draußen riskiert. Zu ihrer Rechten entdeckt sie einen Güterbahnhof. Die Gleise sind zum Teil überwuchert und selbst zu ihrer Linken sieht es nicht gerade besser aus. Alte Backsteinhäuser stehen aneinandergereiht dort und manche der Fassaden sind zum Teil mit rostigen Feuerleitern geschmückt. Dass es in Bronx sogar Luxuswohnungen geben soll, von denen einige erst gebaut werden müssen, ist momentan kaum etwas zu sehen. Selbst die wenigen Parks die das Mädchen während der Fahrt entdeckt hat, schauen mehr schäbig aus und müssten mal dringendst im Stand gebracht werden. Das Gras ist mehr braun als grün und viele Stellen sind so abgetreten worden, sodass diese nur noch aus Sand und Staub bestehen. Niemals würde Lucinda hier wohnen wollen. Selbst, wenn es hunderte von den neuen Wohnungen geben würde, sie würde nicht einmal im Traum daran denken.

Dafür ist dieser Ort für seine hohe Kriminalität bekannt. Es heißt zwar, dass dies bereits schon etwas zurückgegangen sei, trotzdem ist Bronx berüchtigt dafür, dass hier so manche seltsamen Gestalten umherstreifen. Von Räubern bis hin zu Mördern ist alles Mögliche dabei und jeder normaler Mensch hätte in diesen Moment einen Rückzug gemacht. Doch der Wagen in der sich Lucinda und ihre Begleiter befinden, fährt stur weiter. Erst als es in die Oak Point eingebogen ist, kommt das Fahrzeug allmählich zum Stillstand. Dicht gefolgt von André, ist Jethro der Erster, der das Auto verlässt. Er sieht sich genau um, ehe er zum hinteren Teil des Wagens schreitet und die Autotür öffnet. Mit erhobenen Haupt steigt Lucinda aus. Ihr angewiderter Blick bleibt bestehen und sie meint, während sie ihre Begleiter zu sich deutet: „Lassen Sie uns das schnell hinter uns bringen. Hier bekommt ja noch Flöhe.“ Die Angesprochene nicken nur und gehen voraus. Die drei marschieren in eine Seitengasse. Überall entdecken sie Mülltonnen, Dreck und Schrott. Selbst ein paar Hunde, die zu streiten scheinen, kann man von weitem hören. Lucinda rümpft die Nase, hält sich aber selbst zurück, um sich nicht all zu sehr an ihre Begleiter zu drängen. Es wäre ihr einfach peinlich gewesen und das will sie auf gar keinen Fall riskieren. Schließlich bleiben sie stehen. Vor sie tummeln sich einige Typen aus der Gang der Purple Dragons. Während zwei von ihnen dabei sind, einen kleinen „Disput“ zu entscheiden, stehen ein paar weitere einfach nur dumm rum und gaffen. Zumal sie es auch nicht lassen können, dumme Sprüche zu klopfen, oder sogar Wetten abzuschließen. Der Boss hingegen hat sich auf einer rostigen Tonne breitgemacht. Gleichzeitig qualmt er an einer selbstgedrehten Zigarette.

Lucinda ist verwundert, dass nicht noch mehr von diesen Typen hier sind. Schließlich ist es noch ziemlich früh am Morgen. Jedoch vermutet sie, dass deren Boss den Rest ausgesendet hat, um ein paar krumme Dinge zu drehen. Sie geht sogar davon aus, dass diese Männer in Gruppen unterwegs sind und daher zu unterschiedlichen Zeiten agieren. Wie sonst könnte jener so gechillt rauchen und sich dabei entspannen. Dass nun nur wenige hier sind, erleichtert sogar Lucindas Vorhaben, weswegen das Mädchen sogar leicht schelmisch die Mundwinkel nach oben zieht. „Boss! Ich glaube, wir haben Besuch.“, ruft einer der Gaffer, der die drei Besucher kurzerhand entdeckt hat. Selbst die anderen sind neugierig geworden und haben ihr Tun fürs Erste beendet. Der Boss hingegen grinst breit, während er sich erhebt und seine „Gäste“ begrüßt: „Ach, da schau her, wen haben wir den da? Wenn das nicht etwa „die Prinzessin“ ist und sie hat sogar zwei „Köter“ an der Leine. ... Wie niedlich.“ Ein Gelächter breitet sich in der Runde aus. Doch sowohl Lucinda, wie auch den anderen beiden lässt dies kalt. „Lang nicht gesehen, mein „Püppchen“. … Wenn du hergekommen bist, um dein Geld zurückzuholen, dann kannst du deinen süßen Arsch gleich wieder in die entgegengesetzte Richtung drehen. … Der „Job“ ist erledigt und nochmals tue ich mir das sicherlich nicht an. Also schieb ab!“ Damit scheint für ihn die Sache erledigt zu sein. Er saugt noch einmal an seiner Kippe, ehe er Lucinda zum Abschied eine graublaue Rauchwolke ins Gesicht pustet, den Rest auf dem Boden wirft und diese am Ende sogar zertritt. Dem Anführer der Gang ist es egal, was die Blondine jetzt daraus macht, aber seiner Meinung nach sollte sie sich besser verziehen, wenn sie weiß, was für sie gut ist. Mit den Purple Dragons ist nicht zu spaßen, davon ist er felsenfest überzeugt und demonstriert dies entsprechend.

Allerdings hat der Kerl mit dem rötlichen Ziegenbart nicht damit gerechnet, dass Lucinda keinesfalls einfach so verschwindet. Nachdem sie wegen dem stinkenden Qualm kurz gehustet hat, macht sie einen großen Schritt nach vorne und stemmt sogar ihre Hände gegen ihre Hüften, bis sie die Typen mit erhobenen Finger droht: „Der „Job“ ist noch lange nicht erledigt, du Drecksmade! Wir hatten einen Deal, also erledigt das gefälligst!“ Kurz stehen die Angesprochenen verdattert da, bis am Ende ein lautschallendes Gelächter ausbricht. Doch der Boss beendet dies mit einem kurzen Befehl. Er lässt sich von einem dahergelaufenen Modepüppchen nicht vorschreiben, was er zu tun hat. Besonders nicht, wenn „die Arbeit“ schon längst erledigt ist. Dass Lucinda aus gutem Grund Unterstützung geholt hat, interessiert ihm nicht. Er belächtet sogar ihre Begleiter und ist davon überzeugt, dass diese nur schlimmer aussehen, als was sie vorgeben zu sein. Noch dazu könnten diese es mit seinen Untergebenen niemals alleine aufnehmen. Seine Leute würden sich wie ein Rudel Wölfe auf sie stürzen und die beiden Männer mit den Sonnenbrillen im Handumdrehen verspeisen. Daher lacht er schließlich und droht seinen „Gästen“ am Ende sogar: „Pah, ich lasse mir doch nichts befehlen! Schon gar nicht von einer frechen Göre in Stöckelschuhen. Was willst du machen, uns etwa deine „Schoßhündchen“ auf den Hals hetzten? Falls du es nicht gecheckt haben solltest, ihr seid nur zu dritt. Also nimm deine „Chiwawa“ und schwirrt ab, bevor es für euch hässlich wird.“ Drohend bäumt er sich vor Lucinda, André und Jethro auf. Seine Leute tun es ihm gleich. Sie stellen sich dabei dicht an ihm und bilden dabei sogar einen Halbkreis, wodurch die Drohung verdeutlich werden soll. Einige von ihnen zücken sogar ein Messer aus der Gürtelhalterung.

Der Kerl mit dem rötlichen Ziegenbart wartet nun grinsend darauf, dass die Angesprochene nun endlich einknickt und sich mit ihren Begleitern davonmacht, aber jene steht nur desinteressiert da. Sie hat sich bereits weit mehr fürchten müssen und diese Lackaffen sind es für sie nicht wert, um überhaupt ein kleines Bisschen Gänsehaut zu bekommen. Schließlich hatte sie bereits das „Vergnügen“ mit einem schildkrötenartigen Ungetüm, welcher sie aus dem Hinterhalt überfallen hatte. Da würde sie sich auf keinen Fall von solchen Typen schikanieren lassen, die nicht einmal ihren Auftrag abgeschlossen haben. Daher verschränkt sie nun seelenruhig ihre Arme und äußert monoton ihren nächsten Befehl: „Wow, der Kerl kann also bis drei zählen, welch eine „Leistung“. Jethro, André …“ Mehr braucht sie nicht zu sagen. Diese wissen genau, was von ihnen nun erwartet wird, weswegen sie sich ohne Vorwarnung und mit einem lautstarken Gebrüll in die Menge stürzen. Lucinda hingegen geht entspannt ein paar Schritte zurück, um aus sicherer Entfernung das Geschehen zu beobachten. Was sie von dort aus sieht, ist, wie einer nach dem anderen umgenietet wird. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man sogar schwören, Verwandte von Bud Spencer und Terence Hill würde hier ihre Show abziehen. Sei es durch einen kräftigen Faustschlag in die Magengegend, oder durch einen simplen Wurf über die Schulter, keiner von den Purple Dragons bleibt verschont.

Auch wenn die Männer mit den Tattoos versuchen, sich mit ihren Waffen zu verteidigen. Es macht einfach keinen Unterschied, ob die Typen Messer, Pistolen, Ketten, oder Sonstiges gegen Jethro und André einsetzen. Diese beiden Kerle können sich ohne große Schwierigkeiten als hervorragende Kämpfer behaupten. Sie unterstützen sich sogar gegenseitig. Während der eine sich im nächsten Augenblick duckt, um dem bevorstehenden Schlag aus dem Weg zu gehen, kann der andere aus einer sicheren Perspektive die nächste Gelegenheit zu seinen Gunsten nutzen. Manchmal schaffen sie es sogar, dass die Männer aus der Gang sich gegenseitig eine passen und am Ende dumm aus der Wäsche schauen, ehe sie rückwärts zu Boden fallen. Wenn das nicht möglich ist, so nutzen sie sogar ihre Umgebung. Tonnen, Müll und alles, was sonst an diesem Ort herumliegt, wird sogleich genutzt und gekonnt eingesetzt. Da macht es beinahe keinen Unterschied, wer von den beiden gerade zuschlägt. Doch eines ist klar erkennbar. Während Jethro mehr seine Körperkraft zum Einsatz bringt, nutzt André mehr seine List und Geschicklichkeit. Der Mann mit den gegelten Haaren provoziert seine Gegner sogar, welche sich das natürlich nicht gefallen lassen und sofort zum Gegenangriff überschreiten. Allerdings hilft deren blinder Wut kein Stück. Stattdessen finden sich alle der Gang am Ende stöhnend und jammernd auf dem Boden wieder. Manche von ihnen haben einige Schnittwunden durch ihre eigenen Messer abbekommen, während es sogar so manche blutigen Nasen gibt. Einer klagt im nächsten Augenblick über mögliche gebrochenen Rippen und selbst ihr Boss sieht nicht gerade besser aus.

Zusammengekrümmt liegt er auf dem Boden. Sein Gesicht ist zum Teil blutverschmiert und es sieht aus, als wäre er absichtlich gegen die nächste Mauer gelaufen. Dabei ist er von einem einzigen Mann umgenietet worden, der noch dazu nicht gerade unterbeschäftigt war. Jethro höchst persönlich hat sich um diesem Ziegenbart gekümmert und dabei hätte jener diesem Muskelpaket weit weniger zugetraut. Viel eher hatte er Jethro zunächst für eine Art schlichten „Türsteher“ eingeschätzt, der nur mal bei Bedarf seine Kraft zur Schau stellt. Allein schon seine stumme und teilweise sogar starre Art würde sofort darauf schließen, hätte er zuvor nicht das Gegenteil davon bewiesen. Von seinem Kollegen, der sich nun wieder seine Haare richtet, möchte man gar nicht erst anfangen. Denn auch er hat seine Tricks auf Lager. Allerdings ist dies nicht das Einzige, was den Anführer der Purple Dragons beschäftigt. Schließlich ist jener auf Befehl eines Teenagers in die Mangel genommen und so vor seinen eigenen Leuten bloßgestellt worden. Dass er in der Zeit, in der Lucinda noch keinen Bodyguard hatte, mehr Macht demonstrieren konnte, ist nun wie weggeblasen. Allein schon, mit welcher Selbstüberzeugung sie vor ihm steht, macht ihm rasend. Er starrt sie wutentbrannt an, bis er diese nicht mehr unterdrücken kann und sich mit einem Schnauben aufrappelt. „Du hattest nur Glück! … Nur Glück, hörst du! Ohne deine „Wachhunde“ bist du nichts!“, schimpft er und spuckt sogar in ihrer Richtung. Doch da mischt sich Jethro wieder ein. Wortlos packt er jenen am Kragen, schleift ihn mit sich und wirft diesen wie einen Putzfetzen vor Lucindas Füße.

Äußerlich demonstriert sie Kälte und Verachtung. Doch innerlich spürt sie diese nährende Macht, die von dieser Erniedrigung ausgeht. Wie eine Königin, nein wie eine Siegerin kommt sie sich gerade vor und sie genießt es sogar. Am liebsten hätte sie noch viel mehr davon und es ist für sie beinahe so wie früher. Allerdings weiß die Blondine, dass es dafür noch einiges zu tun gibt. Ihr Ziel ist noch lange nicht erreicht. Mit einem boshaften Lächeln beugt sich Lucinda nun etwas zu dem Verletzten hinunter und meint verachtend: „Wer hier ein Nichts ist, bestimme allein ich und ihr alle hier seid nicht einmal den Dreck unter meinen Schuhen wert. Doch ihr habt noch eine Aufgabe für mich zu erledigen. Ihr Idioten sollt meine Augen und Ohren in dieser Stadt sein und wenn ihr versagt, dann wird es euch teuer zu stehen kommen! … Das hier war nur ein Vorgeschmack. Ich hoffe, wir verstehen uns.“ Lucinda macht eine Pause, während sie sich wiederaufrichtet und ihren Blick in die Runde wirft. Um ihre Macht noch deutlicher zu demonstrieren, hebt sie sogar ihr Kinn etwas an und setzt mit einer starken und kraftvollen Stimme fort: „Und ich warne euch: Solltet ihr auch nur versuchen, mir in die Quere zu kommen, oder auch nur daran denken, mich zu hintergehen, dann werdet ihr euch noch wünschen, ihr wäret niemals aus euren Rattenlöchern gekrochen! Ich kenne Mittel und Wege, um dies zu erreichen!“ Ein angespanntes Raunen, wie auch Stöhnen erfüllt nun die Runde.

Die Mitglieder der Purple Dragons sehen sich selbst in der Zwickmühle. Theoretisch könnten sie ihren Anführer dazu hin verleiten, den Rest der Gang auf dieses Mädchen und dessen Bodyguards anzusetzen. Doch bei der letzten Drohung kommen sie allmählich ins Grübeln. Ihnen ist bewusst, um wessen Tochter es sich hierbei handelt. Zumal sie über diesen Anwalt die verrücktesten Gerüchte gehört haben und auch jener seine Finger im Spiel haben könnte. Schließlich hat Lucinda erst jetzt diesen Jethro und diesen André an ihrer Seite und mit diesen Männern wollen sie sich keinesfalls ein weiteres Mal anlegen. Die Blondine hingegen ist fürs Erste zufrieden. Mit einer kurzen Armbewegung deutet sie ihre Begleiter zu sich und gemeinsam verlassen sie diesen schäbigen Ort. Kaum aber, dass die drei im Wagen Platz genommen haben, fragt der Fahrer: „Was werden Sie nun tun Miss?“ Seelenruhig antwortet ihm die Angesprochene, während sie es sich im Sitz bequem macht: „Phase 1 ist nun erledigt André. Nun wenden wir uns zu Phase 2.“

Die ersten Erinnerungsfragmente

Aus Bernadettes Sicht:
 

Wie ein Kind, welches neu in eine Stadt kommt, blicke ich aus dem Fenster. Es ist ein seltsames Gefühl, gespickt mit Neugier, Aufregung und Angst. Trotz, dass ich von liebenden Menschen umgeben bin, die alles in ihre Macht Stehende tun, um mir zu helfen, fühle ich mich dennoch irgendwie verloren. Allerdings ist das nicht das Einzige, was mich beschäftigt. Ich spüre tief in mir drin diese Unruhe. Als würde irgendetwas dort draußen auf der Lauer liegen und auf mich warten. Im Krankenhaus selbst war mir das noch nicht so bewusst, aber seitdem ich hier in diesem Wagen sitze, habe ich dieses seltsame Gefühl. Jeder einzelne Muskel ist angespannt und ich warte nur darauf, dass derjenige aus seinem Versteck auftaucht und mich überfällt. Ich habe Angst, will es aber vor Mom und Dorian nicht zeigen. Im Grunde macht sich meine Familie genug Sorgen um mich und da ich so vieles nicht verstehe und kein bisschen Zugriff auf meine Erinnerung habe, sehe ich keinen Sinn dahinter, auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Vermutlich können mir die beiden im vorderen Teil des Wagens ohnehin nicht helfen und dies dürfte wohl auch auf meine Tante und meinem zweiten Bruder zutreffen. Selbst wenn diese nicht einmal hier sind. Ich habe nicht einmal eine Ahnung, was ich wen überhaupt anvertrauen kann. Klar, sie sind meine Familie, aber könnte ich nicht genauso gut irgendwelche „Wahnvorstellungen“ haben? Die Ärzte meinten bezüglich meiner Lage nur, dass das „normal“ sei. Sie erklärten mir, dass mir für die nächste Zeit vieles seltsam vorkommen wird. Dadurch, dass ich mein Gedächtnis verloren habe, müsste ich erst einmal „Ordnung schaffen“ und das ist bei so vielen Reizen und Sinneseindrücken ziemlich schwierig, wenn nicht sogar verwirrend. Zusammengefasst, sind sowohl mein Körper, als auch mein Verstand einfach nur empfindlich.

Das sind ja „tolle“ Aussichten, aber Dorian versucht mir immer wieder Mut zu machen. Auch jetzt wieder, nachdem er und Mom mich nach einer letzten Untersuchung abgeholt haben, dreht er sich auf der Beifahrerseite zu mir nach hinten und meint: „Hey Sis, mach dir keinen Kopf. Je entspannter du bist, desto leichter wird es dir fallen und glaub mir, Paul und mir wird schon was einfallen, damit du dich zum Beispiel an unsere gemeinsame Kindheit erinnerst.“ Kurz lächle ich ihn an und murmle: „Kann sein.“ Danach starre ich einfach wieder aus dem Fenster aus. Ich beobachte meine Umgebung, bekomme davon aber nicht wirklich viel mit, weil mir einfach viel zu viel durch den Kopf geht. Ich kann mich einfach nicht entspannen, so wie sich Dorian das vorstellt. Genauso wenig kann ich mir ein Bild davon machen, dass mir Paul helfen wird. Seit unserer letzten Begegnung hat er sich nicht einmal mehr von sich hören, geschweige blicken lassen. Dies ist ein weiterer Grund, warum ich glaube, dass vor meinem „Blackout“ irgendetwas Schlimmes passiert sein musste. Sonst würde er mir gegenüber nicht so abweisend sein. Tante Tina, die wahrscheinlich jetzt noch auf der Arbeit ist, hat mir letztens zwar noch einmal klarmachen wollen, dass Paul schon immer eine „eigene“ Persönlichkeit hat, die manchmal etwas „kalt“ wirkt, aber trotzdem würde er sich um mich sorgen. Sie alle können sagen, was sie wollen, aber ich lasse mir einfach nicht nehmen, dass irgendetwas an der Sache faul ist und ich selbst habe irgendetwas damit zu tun. Wie ist mir nur nicht klar.

Wenn ich doch nur irgendwelche Erinnerungsfetzen hätte, an die ich mich orientieren könnte. Ich komme mir vor, als würde ich blind in einem Irrgarten herumlaufen. Ohne irgendeinen Anhaltspunkt komme ich einfach nicht weiter und meine Gefühle zu den anderen helfen mir auch nicht. Ich weiß ja nicht einmal, was es mit Raphael auf sich hat. Er scheint sehr nett zu sein und auf irgendeine Weise verbindet uns etwas. So wie er mich letztens unterstützt hat, habe ich diese Vertrautheit zu ihm gespürt. Mehr noch, ich konnte mich am Ende sogar fallen lassen, bis ich irgendwann mal einschlief. Wie auch immer das möglich war, doch was jetzt? Ich hätte am liebsten Mom oder Dorian darauf angesprochen, habe es aber am Ende doch nicht übers Herz gebracht. Nicht nur, dass mich die beiden für verrückt halten könnten, ich bin mir einfach nicht sicher, ob dies überhaupt richtig wäre. „Alles in Ordnung mein Schatz? Du wirkst so blass.“, werde ich auf einmal von Mom gefragt, die einen Blick in den Rückspiegel riskiert hat. Ich murmle nur ein schnelles „Ja, geht schon.“, ehe ich wieder aus dem Fenster starre. „Ich weiß, dass ich dir das schon im Krankenhaus bereits einige Male gesagt habe, aber mach dir keine Sorgen mein Schatz. Wir werden das schon irgendwie hinbekommen und wenn wir zuhause sind, wird dir bestimmt einiges klarer sein.“, fügt sie noch hinzu und Dorian stimmt ihr sogar zu. Sie beide scheinen so optimistisch zu sein und ich habe keine Ahnung, woher sie das nehmen, aber vielleicht glauben sie einfach, dass das so einfach ist. Schön wäre es zwar, aber ich habe einfach meine Zweifel.

Schließlich halten wir vor einem mehrstöckigen Gebäude. Das Haus selbst wirkt eher einfach, scheint aber gut gepflegt zu sein. Allerdings sieht die Regenrinne an der Seite danach aus, als ob sie einem eine andere Geschichte erzählen will. Als hätte jemand versucht, damit eine Kletteraktion zu starten, was vielleicht sogar mit gut Glück erfolgreich gewesen ist. Lange kann ich aber nicht darüber nachdenken, als ich schon von Dorian an der Hand gepackt und in Richtung Eingang gezogen werde. Wir betreten einen kleinen Eingangsbereich, von wo aus man schon das Wohnzimmer, die Küche und andere Räume erahnen kann. „Na Schwesterherz, trautes Heim Glück allein, oder nicht?“, fragt mich mein Bruder, aber ich zucke nur kurz mit den Achseln. Vermutlich hat er geglaubt, dass schon ein kurzer Blick auf die Inneneinrichtung reichen würde, um den einen oder anderen Gedankensprung heraufzubeschwören, aber Fehlanzeige. Da ist nichts. Das hindert ihm aber nicht daran, wie ein kleines Kind bei der Treppe herumzuspringen und mit Geschichten aus der Kindheit zu starten. Von Streichen bis hin zu anderen Spielen hat der Kerl einiges zu berichten und er fängt immer mit dem Satz: „Weißt du noch, als …“ an. Ich kann daraufhin immer nur den Kopf schütteln, oder eine andere Art für ein Nein äußern, was ihm zwischendurch immer wieder ins Grübeln bringt. Er bleibt aber stur und gemeinsam mit Mom versucht er alles, um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Es wird sogar beschlossen, eines meiner Lieblingsgerichte zu kochen, was auch immer das sein mag.

Was aber zuvor in Angriff genommen wird, ist mein Zimmer, welches sich eine Etage höher befindet. Vorbei an Treppe und Bad wird mir oben ein ziemlich gemütlicher Raum vorgestellt. Beinahe vollgestopft mit Büchern und allerlei Krimskrams eröffnet sich mir eine scheinbar eigene Welt. In den Regalen entdecke ich so einige interessante Werke. Von Gedichten über Romane finde ich sogar ein paar Sachbücher und auch einige Märchen stechen mir ins Auge. Scheinbar bin ich ziemlich stark an der Literatur interessiert und selbst auf dem Schreibtisch werden mir Ausdrucke über Kalligraphie präsentiert, an denen ich scheinbar zuletzt gearbeitet habe. Zumindest wird mir das erzählt. „Tante Tina meinte, du seist in deiner jetzigen Schule in der Literatur-AG.“, behauptet Dorian, aber was meint er mit „in deiner jetzigen Schule“? Ich komme gar nicht dazu ihn das direkt zu fragen, denn schon werde ich, wenn auch etwas unsanft, von jener Frau begrüßt, von der gerade die Rede ist. Hat sie sich etwa herbeigezaubert, oder wie kommt sie so schnell hier her? „Schön dich zu sehen Bernadettchen! …Ich dachte schon, die Ärzte würden dich noch ewig dortbehalten wollen, aber jetzt bist du endlich hier.“, plappert meine Tante vor sich hin, bis sie nach der starken Umarmung mein Gesicht mit beiden Händen fasst und mich angrinst. Doch dann schaut sie mich genauer an und wendet ihren Blick schließlich zu Mom, die sich beim Türrahmen positioniert hat. Mit einem leicht genervten Unterton fragt Tante Tina sie: „Hättest du sie nicht wenigstens in eines der neuen Kleider stecken können. Die meisten ihrer Sachen sind eh schon so abgetragen.“ „Du meinst doch nicht das, was hauptsächlich rosa ist?“, erwidert die Angesprochene und ohne groß nachzudenken, klinke ich mich einfach ein: „Rosa? Ernsthaft?!“ Mich schauderts bei dem Gedanken und ich muss sogar leicht angewidert den Kopf schütteln. Doch dann blicke ich in erstaunte Gesichter.

„Ähm, ist was?“, frage ich verwirrt, aber ich bekomme nicht sofort eine Antwort. Denn deren Erstaunen wandelt sich gleich in Begeisterung um, aber was zum Henker habe ich denn jetzt schon wieder gemacht?! „Du hast dich an etwas erinnert!“, jubelt meine Tante, aber ich begreife gar nichts. Wie und woran soll ich mich bitteschön erinnert haben, aber die drei machen mich darauf aufmerksam, was ich zuletzt gesagt habe. Scheinbar hasse ich die Farbe Rosa wie die Pest und ohne es selbst bemerkt zu haben, habe ich genauso reagiert, wie früher. Jetzt bin auch ich ganz schön baff, denn ich habe das nicht einmal mitgekriegt und trotzdem ist scheinbar etwas, wenn auch eine „Kleinigkeit“, ganz von allein gekommen. Stolz auf mich klopft mir Dorian auf die Schulter und meint: „Na bitte, wenn du so weitermachst Sis, dann wirst du dich ziemlich dein Gedächtnis wiederhaben.“ Mit einem breiten Grinsen drückt er mich plötzlich an sich, aber so gehypt wie er ist Tante Tina nicht: „Na, na, wir wollen mal nicht übertreiben. Es ist noch ein beschwerlicher Weg bis dahin, aber es ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.“ Damit wird sie wohl nicht ganz unrecht haben und ich selbst kann es noch gar nicht so richtig begreifen. Ich habe mich schließlich nicht wirklich angestrengt, sondern einfach reagiert. Vielleicht wird mir das noch öfters passieren und ich hoffe es sogar. Denn das Gefühl, keinerlei Vergangenheit zu haben, ist einfach nur beschissen. Jetzt allerdings ist meine Hoffnung ein kleines Bisschen stärker geworden.

Die Stunden schienen mir heute ziemlich schnell zu vergehen. Den ganzen Tag über habe ich allerlei Geschichten über Vergangenes gehört und habe sogar einige Fotoalben durchforstet. Leider kann ich mit vielem, was ich bisher erzählt bekommen habe, immer noch nicht wirklich etwas anfangen. Allerdings habe ich es geschafft, dass mir, wenn auch meist eher durch Zufall, wieder etwas eingefallen ist. Wie die Sache mit der Farbe, waren es auch diesmal Kleinigkeiten, welche überraschend bei mir etwas auslösten. Ein einzelnes, altes Foto, oder eine DVD, es waren viel mehr irgendwelche alltäglichen Dinge, die aber trotzdem eine ganz bestimmte Bedeutung in meiner Erinnerung haben. Ich sah entweder mich selbst, oder jemand aus dieser Familie. Es war eher kurz und doch bewies mir das, dass ich tatsächlich zu dieser Familie gehöre. Anfänglich habe ich daran gezweifelt, aber nun glaube ich es wirklich. Ich konnte mich allerdings nur an kurzen Szenen entsinnen. Wohl eher waren das „herausgerissene Stücke“, die leider nicht mehr viel hergaben, so sehr ich mich auch konzentrierte. Es blieb einfach bei den kurzen Momenten, die, bildlich gesprochen, mir das Gefühl gaben inmitten eines Daumenkinos zu stecken. Es ist frustrierend! Denn wenn es nur möglich wäre, dass ich mein Gedächtnis mit einem Schnipp vollständig wiederbekommen könnte, ich würde es sofort tun. Nicht nur, dass ich mir momentan wie ein Trottel vorkomme, ich werde zu allem auch noch wie ein rohes Ei behandelt. Um mich ja nicht zu überfordern, will man mich jeden Tag aufs Neue irgendetwas zeigen, Schritt für Schritt. Ich bin zwar wirklich dankbar dafür, keine Frage, aber wieso schaffe ich es einfach nicht sämtliche Fragmente zu ein Ganzes zusammenzufügen?! Das kann doch nicht so schwer sein, wenn ich doch selbst dabei war, oder nicht?!

K.o. vom Tag liege ich nun mit ausgestreckten Armen im Bett und starre zur Decke empor. Anders als im Krankenzimmer, in der alles so steril und kahl wirkte, bin ich nun inmitten von Gegenständen aus meiner Vergangenheit und trotzdem helfen die mir kaum weiter. Ein paar Sachen habe ich mir schon näher angesehen. Dabei ist mir auch ein Buch in die Hände gefallen, was bei einigen Seiten sogar mit kleinen Lesezeichen markiert worden ist. Ich habe es nur kurz aufgeschlagen gehabt und wieder zurückgelegt, da es sich dabei nur um Traumsymbolik gehandelt hat. Wie könnte mir dieses Buch auch helfen, meine Erinnerungen anzukurbeln? Zumindest dachte ich das am Anfang, aber nun geht es mir nicht aus dem Kopf. Als hätte ich da etwas übersehen, ignoriert, oder einfach nur mit der falschen Einstellung in meinen Händen gehalten. Denn ich weiß genau, dass ich, wenn auch nur kurz, markierte Seiten entdeckt habe. Daher muss es für mich irgendwie wichtig gewesen sein und wenn ich es vielleicht sogar nur für diese Literatur-AG verwendet habe, reizt es mich gerade wieder, einen genaueren Blick darauf zu werfen. Schaden kann es ja nicht und es wäre zumindest sinnvoller, als wie ein Klotz im Bett herumzuliegen und mit verschlafenen Augen auf die Decke zu starren. So setze ich mich schließlich wieder auf, schalte das Licht ein und steh auf. In meinem Pyjama schlürfe direkt zum Bücherregal, wo ich dieses Buch vermute. Ich muss nicht lange suchen. Der dicke Band lässt sich ziemlich leicht von den anderen Werken unterscheiden, weswegen ich diesen sofort aus dem Regal ziehe und an der ersten markierten Stelle aufschlage.

Das Bild einer Schildkröte ist das Erste, was ich darin entdecke und das kann doch kein Zufall sein. Immerhin hatte ich bereits eine Begegnung mit solch einer, wenn auch in einer eher anderen Form. Dennoch, als ich das Bild betrachte, muss ich automatisch lächeln. Denn ich denke sofort an Raphael. Ein wenig neugierig geworden, was ich vor meinem Krankenhausaufenthalt damit gemacht habe, mache ich es mir wieder in meinem Bett bequem und lege das aufgeschlagene Buch auf meinem Schoß. Von allmöglichen Ideen, Hintergründen und der Symbolik ist hier die Rede. Was aber noch interessanter ist, ist, dass manche Stellen sogar durch einen Leuchtstift stärker hervorgehoben wurden. So wie einige der positiven Eigenschaften der Schildkröte: « Wissen, Ausdauer, Stabilität, Güte, Geduld, Stärke » Doch auch ein weiteres Wort sticht mir förmlich ins Auge. Die Schildkröte kann, besonders innerhalb eines Traumes, als Beschützer symbolisiert werden, was mir Raphaels Bild noch stärker ins Hirn brennt. Mehr noch, ich erinnere mich sogar wieder an etwas. Doch im Gegensatz bei den letzten Malen, bei denen es einfach kurze Sequenzen waren, die jeweils nur einen bestimmten Moment offenbarten, handelt es sich dieses Mal um mehrere Puzzlestücke, die sich zu einem Gesamtpaket vereint haben. Weit intensiver, schneller und sogar so durcheinander, sodass ich nicht weiß, wie ich diese zusammensetzen soll, geschweige, wie mir geschieht.

Mein Puls rast mit einem rasanten Tempo, genauso wie es der Truck in meinem Kopf tut, welcher unerschütterlich auf mich steuert. Ich spüre förmlich den Asphalt, auf dem ich liege, genauso, dass ich unfähig bin, mich irgendwie zu bewegen. Am liebsten würde ich schreien, kann es aber nicht und ehe das Fahrzeug mich überfahren kann, werde ich ohne Vorwarnung in eine völlig andere Szene gerissen. Als wäre ich gepackt und in eine andere Richtung geschleudert worden, genauso hat sich das angefühlt, ehe ich mich in der nächsten Erinnerung in Raphaels Armen wiederfinde. Es ist vollkommen anders. Als wäre mein Gefühlsbarometer um 180° gewendet worden, erfasst mich eine vollkommen andere Emotion. Ich spüre einen inneren Frieden, Glück, vollkommene Zufriedenheit und ich glaube sogar noch mehr. Doch ich verstehe nicht ganz, was ich in dieser Szene erlebe. Sie ist ganz anders. In der liege ich einfach in Raphaels Armen und schmiege mich sogar an ihn. Als wäre das etwas vollkommen Normales für mich, liegt mein Kopf ruhig an seiner Brust, während er mich trägt und mich irgendwo hinbringt. Doch dieses Gefühl kann ich nicht lange genießen, den schon stolpere ich in die Nächste. In diesem Puzzleteil blicke ich, ohne es zu begreifen, panisch von einem hohen Steinpfosten einer Brücke, hinab in das tiefe Schwarz eines Gewässers. Ich fühle diese Angst, sie zerrt an mir, während ich überfordert die Gegend abchecke, ohne auch nur zu wissen, wonach ich suche. Mein ganzer Körper fühlt sich so angespannt und hart an, als könnte ich im nächsten Augenblick zerspringen. Doch auch diese Szene währt nicht lange. Denn mein letztes Erinnerungsfragment schleudert mich geradewegs auf eine Theaterbühne. Keinen blassen Schimmer, was ich dort soll, fühle ich eine ganz andere Art von Anspannung. Viel mehr Verwirrung erfüllt meinen Verstand, genauso wie ein weiteres Gefühl, welches ich in diesem rasenden Tempo kaum beschreiben kann. Doch was ich da erlebe, verstehe ich noch weniger, als das Vorherige. Ich sehe in der Entfernung Bäume und nur einige Schritte vor mir entfernt, entdecke ich wieder ihn. Mit einem auffordernden Blick schaut er mich an, als würde er auf irgendetwas warten, was mich betrifft. Doch ich weiß nicht, was er will. Ich sehe nur diese goldgelben Augen, seine Mimik und seine Gestik, die mich auffordert etwas zu tun, aber nur was?!

Hier endet es plötzlich und ich schnappe nach Luft. Ich habe das Gefühl, in einem reißenden Strom gezogen worden zu sein, nachdem ich von Bord gefallen war. Hin und her hat es mich in diesem Strudel gezogen, ehe ich quasi wie eine Schiffbrüchige an Land gespült worden bin. Verwirrt und erschöpft hocke ich da. Immer noch auf dem Bett in meinem Zimmer sitzend, während das Buch noch weiterhin auf meinem Schoß ruht. Mein Herz scheint gar nicht daran denken zu wollen, sich endlich zu beruhigen. Als würde ich einen Marathon laufen, rast es weiter. Schweißperlen haben sich an meiner Stirn gebildet und in meinem Kopf poltert eine Dampframme. Alles in mir dröhnt und zerrt, als wäre mein gesamter Körper eine Fabrik, die auf Hochtouren werkt. Nur langsam lässt dies nach und ich spüre mehr die Erschöpfung in meinen Gliedern. Ich muss sogar noch einige Male tief durchatmen, ehe ich auch nur irgendwie die Kontrolle zurückerlangen kann. „Was … was war das?“, stammle ich, wohl wissend, dass mir diese Frage gerade keiner beantworten kann. Es war so stark und im Grunde doch so kurz. Beinahe wie ein Schrei, welcher mich scheinbar wachrütteln wollte und es am Ende dann doch nicht so geklappt hat. Verwirrt versuche ich mir diese einzelnen Szenen noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Es muss einen Zusammenhang geben, aber nur welchen und was hat es mir Raphael auf sich?

Doch es bleibt nur bei diesen Fragmenten. Ziellos in mein Hirn geschmissen, kann ich einfach nicht mehr dahinter erkennen. Ich erkenne nicht einmal eine Logik dahinter, was es zum Bespiel mit diesem Truck auf sich hatte. Warum stand ich auf dieser Bühne und warum habe ich Raphael bis auf eine Szene direkt gesehen? Das macht doch keinen Sinn! Innerlich fühle ich, wie aufgewühlt ich immer noch bin. Ich wollte noch weitere Erinnerungsstücke, die habe ich jetzt, aber ich kann nicht wirklich etwas damit anstellen. Seufzend lasse ich das Buch von meinem Schoß gleiten und lasse meinen Kopf in den Nacken fallen. Doch diese innere Unruhe bleibt. Sie will nicht vergehen, weswegen ich genervt einfach wieder aufspringe, mir meinen Schreibtischsessel schnappe und mich ans offene Fenster setze. Ich brauche einfach frische Luft und die hole ich mir jetzt. Kaum, dass ich mich dort positioniert habe, stütze ich meinen Kopf auf meine Hände ab und starre einfach ziellos in die Nacht. Der Himmel ist finster. Kaum Sterne sind zu erkennen, weil es heute ziemlich bewölkt ist und so wie es dort oben aussieht, so fühle ich mich auch zum Teil. Es gibt so vieles, was noch verschleiert ist und ich will diese Blockade am liebsten niederreißen! Wenn sein muss, sogar mit bloßen Händen! Doch so einfach ist das wohl nicht. Weil ich aber keinen Bock habe, noch weiter darüber nachzugrübeln, versuche ich mich irgendwie zu entspannen. Momentan frustriert mich alles, bis ich mir aber wieder Raphaels Gesicht vorstelle. Der Gedanke kam ganz von allein und auf einer seltsamen Art und Weise bin ich sogar froh darüber.

Trotz seiner eher grobwirkenden Art, hat er doch gleichzeitig wieder etwas Sanftes an sich und dann ist da auch noch diese eigenartige und doch angenehme Vertrautheit zu ihm. Das Gefühl von letzter Nacht, in der ich mich am Ende einfach so fallen lassen konnte, ist wieder da und am liebsten wäre es mir, er wäre wieder da. Ich möchte ihn spüren, ihn bei mir haben und je mehr ich darüber nachdenke, desto größer wird diese Sehnsucht, die ich mir absolut nicht erklären kann. Wieso fühle ich das und dann auch noch diese Erinnerungsfetzen, die für mich überhaupt keinen Sinn ergeben! Ich werde noch wahnsinnig! Bestürzt vergrabe ich mein Gesicht in meine Hände, doch dieses seltsame und zugleich schöne Gefühl bleibt. Als wäre es richtig und ich müsste einfach nur zulassen. Seufzend schaue ich wieder zum Himmel empor. Wohin ich aber schaue, mir sind diese lästigen Wolken im Weg, bis ich aber für eine Sekunde glaube, irgendwo einen schnellen Schatten vorbeihuschen gesehen zu haben. Blinzelnd, als hätte ich mich vielleicht getäuscht, schaue ich noch einmal dorthin und nehme sogar andere Richtungen genauer unter die Lupe, aber da ist nichts. Beinahe hätte ich schon geglaubt, dass ich mir das tatsächlich nur eingebildet haben könnte, bis ich aber Raphael am gegenüberliegenden Haus entdecke. Er steht mitten auf dem Dach. Er winkt mir sogar zu und als wäre das etwas völlig Normales für ihn, schreitet er seelenruhig dort herum, bis er an einer geeigneten Stelle Anlauf nimmt und direkt zu mir rüber springt. Gekonnt landet er sicher auf dem Dach und klettert schließlich runter, wo er auch zu mir ins Zimmer steigt.

Mit einem einfachen, aber doch zärtlichen „Hey“ begrüßt er mich, was ich, wenn auch ohne groß nachzudenken, sofort erwidere. Das Gefühl von vorhin wird in mir immer stärker, wodurch ich sogar auf ihn zugehe und er mich schließlich zärtlich umarmt. „Wie ich sehe, scheint es dir etwas besser zu gehen.“, meint er, als er mich wieder loslässt, aber ich gehe darauf nicht näher ein. Viel mehr frage ich mich, woher er gewusst hat, dass ich hier bin. Als ich ihn darauf anspreche, erklärt er mir leicht amüsiert: „Als wenn ich nicht wüsste, dass du hier wohnst. ... Nachdem ich dich nicht im Krankenhaus gefunden habe, habe ich gehofft, dich hier zu finden. Und wie ich sehe, kannst du dich jetzt schon besser auf den Beinen halten, aber du hattest ja schon immer ziemlich viel Durchhaltevermögen.“ „Wenn ich mich daran erinnern könnte, wäre mir das lieber.“, gestehe ich ihm und am liebsten hätte ich sofort jegliche Erinnerung zurück, egal wie schlimm diese auch gewesen sein mag. Raphael scheint sich das sogar vorstellen zu können, denn er meint daraufhin: „Ich weiß … sag, hast du Lust ein bisschen frische Luft zu schnappen? Außer du willst noch eine Weile länger in irgendwelchen Räumen verbringen.“ Eigentlich habe ich nicht damit gerechnet, dass er sogleich das Thema wechselt, allerdings freue ich mich sogar darüber, da er mich nicht in Watte packt. Allerdings schaue unsicher in Richtung Tür und blicke schließlich auf meine verwundete Stelle, die ich sogar vorsichtig berühre. Ich weiß immerhin nicht, ob das so klug ist und ich weiß auch nicht, wohin er mich bringen würde. Dass ich keine Angst zu haben brauche, steht für mich fest, aber bei alles Anderem bin ich mir einfach unsicher.

Doch Raphael streckt mir seine Hand entgegen und will mir zeigen, dass meine Sorgen unbegründet sind: „Keine Sorge, deine Leute werden sicherlich noch pennen, wenn wir zurück sind. Das hat bis jetzt noch nie jemand mitgekriegt und ich bin auch vorsichtig, versprochen.“ Ich sehe in seine goldgelben Augen. Sie strahlen so viel Sicherheit und Ehrlichkeit aus, wodurch ich mich einfach darauf einlasse. Wie er es bereits gesagt hat, hebt er mich vorsichtig hoch und klettert mit mir hinaus aufs Dach, von wo aus er mit mir wegsprintet. Wie der Wind saust und springt er über alles hinweg, was uns entgegenkommt und wie er es vorhin versprochen hat, gibt er auf mich acht. Nicht einmal für einen kurzen Moment geht er ein Risiko ein, wodurch sich meine Narbe am Bauch hätte melden können und dennoch lässt er es sich nicht nehmen, dass er mit einem Affenzahn durch die Gegend sprintet. Der Wind fährt durch mein Haar und die kühle Brise tut sogar gut, während ich mich in seinen Armen kuschle. Es ist seltsam, denn mir kommt es vor, als wenn ich dies nicht zum ersten Mal gemacht hätte und auch er scheint es auf seine Weise zu genießen. Als er mich schließlich wieder hinunterlässt, finde ich mich auf einem Steinpfosten einer Brücke wieder und dieser kommt mir erschreckend bekannt vor. Denn er gleicht der aus meiner Erinnerung. Wie gebannt stehe ich da und fühle mich wie gelähmt. Ich schnappe sogar nach Luft, was Raphael in Panik versetzt: „Bernadette, was hast du?!“ Doch ich reagiere nicht, denn dieser Erinnerungsfetzen erwacht in mir aufs Neue zum Leben und diesmal ist dieser sogar deutlicher, intensiver und länger.

Ich sehe vor meinem geistigen Auge Raphael vor mir, wie er sich mit den Rücken voraus in die Tiefe stürzt und ich daraufhin verängstigt hinterherrenne. Doch dann kommt die Szene mit dem schwarzen Wasser. In meinem Kopf schreie ich nach ihm, bis er im nächsten Augenblick grinsend hinter mir steht und wir nach einem kurzen „Sarkasmus-Gefecht“ am Ende sogar lachen. Diese Erinnerung schallt so schnell durch mein Hirn, sodass ich kaum dazu komme, irgendetwas davon zu verstehen. Viel mehr noch wirkt das Ganze auf mich, als hätte man versucht, mir mit viel Nachdruck die wichtigsten Ausschnitte einer Geschichte zu präsentieren. Kaum, dass das letzte Bild in meinem Kopf verschwunden ist, lässt die Anspannung in mir nach und ich kippe sogar nach vorn. Raphael fängt mich zum Glück noch rechtseitig auf und fragt mich ein weiteres Mal, was mit mir los ist. „Ich weiß nicht. … Ich glaube, ich habe mich an etwas erinnert.“, murmle ich erschöpft. Ich fühle mich, als hätte man mir eine ordentliche Portion Energie entzogen. Das Ganze war so intensiv, als hätte es schon zu lange darauf gewartet, wieder in mir zu erwachen. Nachdem ich mich wieder etwas gefangen habe, erzähle ich ihm, woran ich mich erinnert habe und je mehr ich ihm erzähle, desto mehr scheint er sich darüber zu freuen. Am Ende nimmt er mich sogar in den Arm und drückt mich vorsichtig an sich. Ich höre sogar, wie er erleichtert aufatmet, bis er mich schließlich wieder ansieht. „Ich habe zwar gehofft, du würdest dich erinnern, wenn ich dich an einem unserer Plätze bringen würde, aber ich hätte nicht damit gerechnet, dass es vielleicht schon beim ersten Mal klappen könnte.“

„Um ehrlich zu sein, hatte ich heute bereits einige Erinnerungsfragmente. Das mit der Brücke war sogar eines davon.“, erkläre ich ihm, nachdem ich ihm angesehen habe, dass er es immer noch nicht glauben kann. Dabei ist er nicht einmal der Einzige. „Wirklich? Wie?!“, fragt er noch genauer nach, aber so ganz verstehe ich es auch nicht, weswegen ich den Rest der „Story“ noch für mich behalte und daher nur kurz mit den Schultern zucke. Ich kann ihm ja schließlich nicht einfach so sagen, dass mehrere Erinnerungsstücke ins Hirn geschossen bekommen habe, nachdem ich das Bild einer Schildkröte gesehen und das Wort „Beschützer“ gelesen habe. Das scheint ihm zu meinem Glück sogar zu reichen und anstatt mich weiter auszufragen, erzählt er mir seine Version von jener Nacht, als wir das letzte Mal hier oben waren und diese ist weit ausführlicher als mein „Gedankenmarathon“. Allerdings werde ich dabei etwas stutzig, denn als er zum Ende ankommt, hält er kurz inne und bricht sogar ab. „Ist was?“, frage ich ihn, aber er verneint dies und meint sogar: „Nein, nein, alles gut.“ Raphael gibt mir nicht einmal die Möglichkeit, noch näher darauf einzugehen und ich selbst habe ohnehin keine Kraft mehr für weitere „Zeitsprünge in die Vergangenheit“. Darum hebt er mich vorsichtig wieder hoch und bringt mich zurück, wo er mich direkt in mein Bett ablegt. Ich fühle mich einfach nur k.o. und kuschle mich daher unter die Decke. Raphael hat sich dicht zu mir auf dem Boden gesetzt. Er scheint nicht enttäuscht bezüglich unseres viel zu kurzen Ausflugs zu sein, während er sanft meine Hand hält. Vielmehr scheint er auf seine Art froh zu sein, dass es, wenn auch eher langsam, mit meinem Gedächtnis bergaufgeht. Doch ich lasse es mir nicht nehmen, dass da noch mehr ist. Was verschweigt er mir?

Jeder auf seine Weise

Erzählersicht:
 

Verschwiegenheit und Vertrauen sind nicht gerade Bestandteile des Lebens, die immer harmonieren. Wer glaubt, das Eine bedingt das Andere, der irrt sich. Denn die Welt besteht mehr aus Misstrauen, Angst, Ignoranz, Neid und Habgier, wenn diese nicht auch noch von Größenwahn und Dummheit heimgesucht wird. Wer also jemand anderes vertrauen will, der muss es sich gut überlegen. Denn Leichtsinn wird hart bestraft und das hat Paul Shepherd bereits am eigenen Leib erfahren müssen. Nicht gerne erinnert er sich daran. Es ist eine schwere Last aus der Vergangenheit, weswegen er seine kleine Schwester im Geheimen sogar ein wenig darum beneidet, dass sie sich nicht mehr erinnern kann. Wäre da nicht diese brodelnde Wut in seinem Bauch. Stets erinnert sie ihm daran, wie töricht jeglicher Gedanke ist, seinen Kopf in den Sand stecken zu wollen, nur um der Wahrheit aus den Weg zu gehen. Es macht einem nur schwach und dumm! Diese Worte pflegt Paul stets zu predigen und er ertappt sich wieder einmal selbst, wie er um dieses Thema philosophiert, ohne dabei Klarheit zu bekommen. Dass er nun hier, in New York, in einem Hotelzimmer ist, macht es ihm nicht gerade leichter. Nicht umsonst hat er diesen Ort vor Jahren verlassen und wäre da nicht die Familie, hätte er dieser Stadt komplett den Rücken zugekehrt. Im Grunde weiß er, dass es ein Widerspruch an sich ist und doch hat ihn nichts hier gehalten. Bis zu dem Tag, an dem er diese Schreckensnachricht erhalten hatte.

Er weiß noch genau, was er geschockt, wie auch flüsternd von sich gegeben hatte. „Nicht schon wieder!“ – genau das waren seine Worte, nachdem ihm sein kleiner Bruder angerufen hatte. Er hatte dabei sein Handy sogar für einen Moment von seinem Gesicht genommen, damit Dorian ihn nicht hören konnte. Hätte dieser ihn in diesem Augenblick sogar sehen können, so hätte er sofort erkannt, was in Paul vor sich ging. Jegliche Farbe war von seiner Haut gewichen, kalte Schweißperlen hatten sich an seiner Stirn gebildet, während seine Augen weit aufgerissen waren und sein Herz ihm bis zu Hals polterte. Diese grausame Erinnerung war ihm wie ein Blitzschlag durchs Hirn gesaust. Doch er musste sich sammeln, kalt und unnahbar wirken, nur damit er sich niemandem die Blöße geben musste. Ein Zustand, in dem ihm bisher nur wenige Personen gesehen hatten und davon ist eine sogar bereits tot. Auch jetzt spürt er wieder diesen kalten Schauder an seinem Rücken herunterlaufen, den er bewusst versucht zu ignorieren. Sein gesamter Körper ist angespannt und da hilft es nichts, dass er sich in den weichen Ohrensessel zurückgezogen hat, welches dieses teure und eher altmodisch eingerichtete Hotelzimmer anbietet. Er kann sich nicht entspannen. Solange er nicht weiß, was hier vor sich geht, wird er den Teufel tun. Das hat er sich geschworen, noch bevor er wieder ein Fuß in diese Stadt gesetzt hat und nicht ehe wird er Ruhe geben, bis er die Antworten erhalten hat. Murrend lässt Paul seinen Kopf in den Nacken fallen. Es war ein langer Tag und noch weitere werden noch auf ihm warten, wenn nicht auch noch schlaflose Nächte ihren Teil dazu beitragen.

„Wo bist du nur hineingeraten?“, murmelte er, als wäre die Angesprochene, der diese Frage gegolten hat, in diesem Raum, doch jene ist zuhause und liegt vermutlich bereits im Bett. Zumindest kann Paul sich etwas anderes gerade nicht vorstellen. Ein schneller Blick auf die dekorative Wanduhr verrät ihm, dass es bereits nach Mitternacht ist. Ans Schlafen denkt er aber nicht. Schließlich gibt es genug für ihn zu tun und als Privatdetektiv stehen ihm so manche Türen offen, die einem normalen Beamten der Justiz eher verborgen bleiben. Besonders, wenn es sich dabei um Hilfe außerhalb seines normalen Arbeitsumfeldes handelt, kann er sich momentan keine Pause gönnen. Denn für die wird die Nacht zum Tag. Erst vor kurzem hat er durch ein kurzes Treffen mit einem Kontaktmann eine Akte erhalten, die er nun durchforsten will. Noch liegt sie verschlossen auf dem kleinen Tisch und wartet nur darauf, geöffnet und gelesen zu werden. Doch noch zögert der Privatdetektiv. Schließlich geht es um seine Schwester und vor seinen geistigen Augen hat er immer noch jene verletzte Jugendliche vor sich, die im Koma liegt und mit dem Leben kämpft. Beinahe hätte er sie verloren. Beinahe hätte er ein weiteres Familienmitglied verloren, ohne zu wissen, weshalb es dazu kommen konnte. „Diesmal darf ich es nicht auf sich beruhen lassen.“, knirscht er zwischen den Zähnen, als wolle er sich dadurch selbst zwingen, endlich mit der Arbeit beginnen.

Einiges hat er bereits selbst zusammengetragen und dies besteht unter anderem aus der Krankenakte seiner Schwester. An diese schweigepflichtigen Unterlagen ranzukommen und das ohne Einwilligung der Patientin musste allein schon gut organisiert werden. Doch nun hat er sie und blättert durch die Seiten, als würde er widerwillig eine langweilige Geschichte lesen müssen und das war sie auch – langweilig und nichtssagend. Es gibt keinerlei Hinweise, dass Bernadette in letzter Zeit vielleicht in eine Art Sucht oder etwas anderem geraten sein könnte. Bisher wirkt alles normal: Keine größeren Beschwerden im kurzen Zeitraum, keine häufigen „Unfälle“ und die dazu notwendigen Verletzungen, keine auffälligen Krankheiten und deren Symptome – einfach nichts. Paul zieht die Augenbrauen zusammen und verengt seine Augen, als könnte er so seine nichtvorhandene Superkraft einsetzen. Ein „Röntgenblick“, der zwischen den Zeilen die eigentlichen Informationen preisgibt. Allerdings existiert sowas nicht und er selbst sieht immer so drein, wenn er sich konzentriert und dabei nach Antworten sucht. Als er schließlich an jener Stelle gelangt, die über ihre letzten Verletzungen berichtet, wird er stutzig. Denn er liest nur etwas über Prellungen, die Platzwunde und über die klaffende Wunde an ihrem Bauch, in der ein überdimensionaler Spieß steckte. Allerdings fehlt ein wesentliches Detail, was mit dem Unfallort zusammenhängt. Schließlich ist bisher die Rede davon gewesen, dass am Pier eine Explosion stattgefunden hatte. Also warum hat seine Schwester keinerlei Verbrennungen? Gerade bei einer Explosion in diesem Ausmaß hätte sie welche davontragen müssen und handle es sich auch nur um die einfachste Form, aber davon steht nichts in der Krankenakte.

Aufgeregt, als hätte er den langersehnten ersten Hinweis dafür bekommen, dass hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht, holt Paul den Polizeibericht hervor und durchforstet deren Untersuchungen. Da steht es. Es handelt sich um eine Explosion, hervorgerufen durch die Entzündung leichtbrennbare Gase, die in Form von Spraydosen unter enormen Druck in den Lagerhallen des Piers gefunden worden waren. Vieles war bereits zerstört, als die Polizisten dort ankamen und die Untersuchung eingeleitet hatten, aber die Reste der Kisten, sowie auch eine beigelegte Liste des Hafenmeisters deuten auf die ungefähre Menge hin, die dort gelagert waren. Paul vermutet, dass es wahrscheinlich noch mehr waren, als was die Liste einem beweisen will. Schließlich ist er selbst schon mal dort gewesen und hat sich ein Bild davon machen können und dieser Ort sah so wüst aus, als hätte ein Flieger direkt eine Bombe fallen lassen. Vom Gebäude selbst ist kaum noch etwas übrig, wie hätte seine Schwester das noch überleben können. „Fragt sich nur ob beabsichtig oder nicht ... und ob es zu einer Kettenreaktion gekommen war … Doch wie ist Bernadette dem entgangen? Wo war sie und wie hat sie sich vor Verbrennungen schützen können? Wie konnte sie das überhaupt überleben, geschweige körperlich noch so intakt sein, wenn man vom Rest absieht? Das ergibt doch keinen Sinn …“, murmelt er, während er sich an seinem über Stoppel übersätes Kinn kratzt. Ihre Verletzungen sprechen für eine gewaltige Druckwelle, aber genauso gut hätten sie eigentlich auch die Flammen erwischen müssen. Da dies aber nicht der Fall ist, muss sie irgendetwas geschützt haben, wenn auch nur für kurze Zeit.

Ein weiteres Detail im Bericht sticht Paul direkt ins Auge. Denn nicht weit vom Haus seiner Tante wurde in einer Seitengasse Bernadettes Smartphone gefunden. Die Nummer der Polizei war bereits gewählt. Allerdings lag das Handy mitten auf dem Boden, als hätte man es dort liegen lassen. Paul vermutet auf einen Überfall. Doch wer sollte dies tun, seine Schwester zum Pier schleppen und dieses dann auch noch in die Luft jagen? Verständnislos und leicht verwirrt schüttelt der Privatdetektiv den Kopf, während er noch einmal diese Stelle liest, bis er schließlich zu den Aussagen übergeht. Er hofft, dort auf etwas zu stoßen, was seine Fragen zumindest spärlich beantworten kann. Doch diese werfen nur noch mehr Fragen auf. Laut der Aussagen befand sich außer der Jugendlichen nur die Mutter im Haus und die hat zum Zeitpunkt von Bernadettes Verschwinden fest in ihrem Bett geschlafen. Paul erinnert sich, als er seine Mom das erste Mal gefragt hat, was passiert war. Doch diese konnte zu jenem Zeitpunkt kaum reden, weil sie zu sehr unter Schock stand und kaum selbst wusste, wie es dazu gekommen war. Sowohl sie, wie auch alle anderen in der Familie konnten sich keinen Reim daraus machen, was Bernadette dazu bewegt hatte, ihr Schlafzimmer zu verlassen und mit gezückten Handy die gegenüberliegende Gasse aufzusuchen. Des Weiteren steht nur, dass das Fenster offenstand und dass seine Schwester irgendetwas gesehen haben musste, was sie zu ihrem nächtlichen Aufbruch getrieben hatte. Anders kann sich Paul das nicht erklären und trotzdem ist er nicht schlauer als vorhin.

Als guter Detektiv weiß er zwar, dass es auf dem ersten Blick sehr selten nach dem aussieht, als was es den Anschein hat. Manchmal werden sogar die Tatsachen so umgedreht, sodass sie zunächst eine ganz andere Story erzählen. Doch wie ist es diesem Fall? Hier ergibt kaum etwas einen Sinn. Als hätte man Puzzlestück von mindestens vier verschiedenen Puzzle vor sich, die einfach in einer Kiste geworfen worden sind. Die Fragen häufen sich und er kann seine Schwester nicht einmal dazu ausfragen, weil sie ihr Gedächtnis verloren hat und sich vermutlich auch nicht so bald an jenen Tag erinnern wird. Dennoch muss er die Zeit vor ihrem plötzlichen Verschwinden irgendwie rekonstruieren und als erstes wird ihm dafür seine Tante Rede und Antwort stehen müssen. Schließlich ist sie diejenige, die von der gesamten Familie noch am ehesten sagen kann, was im Kopf seiner Schwester so vor sich geht. Die Frau mag zwar für seinen Geschmack eine eher engstirnige Sichtweise zu manchen Themen haben, aber dennoch ist das Ganze in der Nähe ihres Hauses passiert und an diesem Punkt will er ansetzten. Allerdings ist dies nicht das Einzige, was er vorhat. Paul lehnt sich nun in den Ohrensessel zurück und verschließt die Augen. Er stellt sich gerade bildhaft vor, welche Schritte er als Nächstes machen wird und dabei gibt es noch so viel zu tun. Die Akte, die ihm der Kontaktmann gegeben hatte, will er ebenfalls nicht unter dem Tisch fallen lassen. Denn darin erhofft sich Paul vielleicht Hinweise zu finden, mit denen er weiterkommen könnte. Schließlich weiß er, dass eine Sache darinsteht, von dem er in seiner Familie nur die Spitze des Eisberges in Erfahrung gebracht hat.
 

Aus Bernadettes Sicht:
 

Trotz, dass ich mein Leben vergessen habe, brauchte ich ihn in dieser Nacht nur anzusehen und ich wusste, dass er mir nicht alles sagte. Ich konnte mir keinen Reim daraus machen. Genauso wenig, was meine Gefühle zu ihm anging. Ohne ihn wirklich zu kennen, spürte ich bereits nach kurzer Zeit, dass ich ihm vertrauen kann und dass ich ihn sogar als meinen Freund nennen kann. Allein schon seine Art mir gegenüber hat bisher für sich gesprochen und dann war da auch noch dieses Buch, welches diese Erinnerungsfetzen ausgelöst hatte. Dass dies kein Zufall sein konnte, schloss ich schnell aus. Doch das reichte mir gestern nicht und ich wollte es nun direkt von ihm wissen, weswegen ich ihn, während ich mich etwas aufsetzte und ihn darauf ansprach, wie wir uns zum ersten Mal kennengelernt hatten. Ich hegte große Hoffnung darauf, dass sich weitere Lücken in meinen Verstand schließen würden. Allerdings schien es für ihn nicht der richtige Moment zu sein. So was Bescheuertes, wozu braucht man für sowas den richtigen Moment?! Doch Raphael behauptete, ich wäre zu k.o. und alles, woran ich mich bisher erinnern konnte, hätte mir bereits genug die Energie entzogen. So ganz falsch lag er dabei nicht, aber es war immer noch meine Sache, wie viel ich zu diesem Zeitpunkt ertragen konnte und wie viel nicht. Es machte mich wütend, weil nun auch er mich plötzlich wie ein rohes Ei behandelte, obgleich ich vorhin ein anderes Gefühl bei ihm gehabt hatte. So bestand ich weiterhin darauf. Ich schrie Raphael nicht an, zeigte ihm aber doch, dass es mir nicht passte und ich es lächerlich fand, wie er es sah. Natürlich wurde auch er darauf hitzig. Es kam zwischen uns dabei sogar soweit, dass am Ende nur noch ein falsches Wort gefehlt hätte und es hätte endgültig zwischen uns gekracht.

Doch dann, wie aus dem Nichts, starrte er mich erstaunt an. Ich wusste nicht, was ihn dazu bewegt hatte, aber er war für eine kurze Zeit still, bis er im nächsten Augenblick einen Lachanfall bekam. Erst prustete los, wodurch er sich sofort die rechte Hand auf den Mund presste, damit nicht das ganze Haus was davon mitbekam. Dann biss er sich sogar selbst kurz in die Hand, weil er sich scheinbar nicht mehr selbst unter Kontrolle halten konnte. Verdattert und nicht wissend, was das zu bedeuten hatte, sah ich zu, wie sein ganzer Körper vor Lachen bebte, während er krampfhaft bemüht war, sich irgendwie zusammenzureißen. Was war nur in ihn gefahren?! Schon einige Lachtränen liefen ihm an der Wange herunter, die er ständig wegwischte und bemüht war, sich endlich wieder einzukriegen, aber erst nach weiteren gefühlten Minuten schaffte er es. Während ich ihn noch verwirrt und zugleich erbost anfunkelte, machte er endlich den Mund auf, um mich aufzuklären. Er meinte, dass er unsere Diskussionen und waren diese noch so hitzig, sodass sie zu einem Streit führten, vermisst hatte und dass er froh wäre, dass ich mein inneres Feuer nicht verloren hatte. Ich habe bis jetzt noch keine Ahnung, was er damit sagen wollte, aber wie zuvor ging er nicht näher darauf ein. Er grinste mich einfach an, sodass ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte. Raphael wiederholte nur noch, dass er mich einfach vermisst hatte, was mich, warum auch immer, etwas milder stimmte. Er nahm mich sogar zärtlich in den Arm und obwohl ich ihm am liebsten eine gescheuert hätte, ließ ich mich an seine Brust einfach fallen. Ich brauchte das einfach, denn ich spürte, wie diese Frustration wieder an mir emporkroch. Doch Raphael wollte mir nichts mehr erzählen, das wusste ich, weswegen ich schwieg und ich dieses widerliche Gefühl wie eine bittere Medizin einfach hinunterschluckte.

Es war schon spät und so machte sich nach dieser Anspannung nun wieder die Müdigkeit wieder bemerkbar. Meine Augen waren schwer und so kroch ich unter die Decke zurück, während Raphael noch an der Bettkannte saß. Ich erwartete nicht mehr viel und glaubte, er würde demnächst aufstehen und wieder in die Dunkelheit verschwinden. Allerdings hob er zärtlich meine linke Hand und legte mir eine schwarze Uhr an, die er aus seiner Gürteltasche herausgeholt hatte. Fragend, stumm und mit halboffenen Augen betrachtete ich sein Tun, bis er mich aufklärte. Doch was er mir dabei erzählte, ließ mich noch weniger verstehen als zuvor. Ich kam mir so blöd vor, aber Raphael strich mir einfach sanft über die Wange und meinte: „Du kriegst das schon hin und wie gesagt, du kannst dich auch tagsüber bei mir melden. Es hat sich einiges getan, seitdem du so lange geschlafen hast.“ Damit hatte er alles gesagt. Er lächelte mich nur noch an und hatte dabei etwas an sich, was in mir, trotz seines vorherigen Verhaltens, ein angenehmes Gefühl hinterließ. Vermutlich wollte er mir zeigen, dass er für mich da ist, auch wenn ich mit seiner Vorgehensweise nicht wirklich einverstanden war und das jetzt auch noch nicht bin. Schließlich stand Raphael wortlos auf und marschierte zum Fenster, wo er nach einem „Wir sehen uns.“ einfach nach draußen verschwand. Noch eine Weile starrte ich ihm hinterher. Es war dumm, denn er war schon weg und trotzdem blieb mein Blick darauf, bis mein Augen schließlich so schwer wurden, sodass ich irgendwann mal einnickte.

Jetzt, wo schon der Vormittag und beinahe schon die Mittagszeit vorüber sind, stehe ich am offenen Fenster und starre nachdenklich hinaus. Immer wieder schwappen meine Gedanken zu letzter Nacht hinüber und ich kann es auch nicht lassen, meinen Blick zwischendurch auf mein linkes Handgelenk schweifen zu lassen, an dem sich immer noch diese schwarze Uhr befindet. Auf dem ersten Blick ist sie nichts Besonderes und auch die digitale Anzeige, um die Zeit messen zu können, ist nichts Außergewöhnliches. Allerdings lässt sich damit auch telefonieren. Als ich es heute Morgen genauer unter die Lupe genommen habe, habe ich nach einigem Drücken und Schieben eine Telefonliste gefunden. Mehrere Namen, wie auch die von Raphael, habe ich dabei entdeckt und jedes von ihnen ist mit einem kleinen Profilbild gekennzeichnet. Vier schildkrötenartige Wesen und eine Frau grinsen mich an und sie alle scheinen so vertraut zu sein, sodass es beinahe schon schmerzt. Wieso wollte er mich nichts sagen? Sah ich wirklich schon so k.o. aus und was sollte das mit diesem Lachanfall?! Das ergibt doch keinen Sinn! Seufzend lasse ich meinen Kopf für einen Moment in den Nacken fallen, ehe ich mich schließlich von meiner Position abwende und das Zimmer verlasse. Dorian hat schließlich noch etwas mit mir vor, weswegen ich schnurstracks die Treppen heruntereile und mich draußen zu ihm geselle. Ich werde mit einem warmen Lächeln empfangen und er deutet mir ins Auto zu steigen, was ich auch sogleich tue.

Die Fahrt selbst verläuft ziemlich ruhig, obgleich mein Bruder stets vor sich hin grinst und sich sogar in die Musik vertieft, während er weiterhin die Straße im Auge behält. Allerdings ist es bei ihm nicht zu übersehen, wie sehr ihm Jazz gefällt. Indem er mit seinem Kopf im Takt mitschwingt und sogar mit ein paar seinen Finger mitklopft, scheint er seine Welt um sich herum vergessen zu haben, aber es scheint nur so. Denn nun spricht er mich direkt an, was mich zunächst zusammenzucken lässt: „Es ist schön, wieder mit dir was unternehmen, Sis. Wenn ich daran denken, dass wir das vor lauter Arbeit schon lange nicht mehr gemacht haben, kommt mir das ein bisschen armselig vor, meinst du nicht?“ Er grinst mich an. Es ist neckisch, aber auch warm, wodurch er es mir vorkommt, als würde er seine Worte ernstmeinen. Allerdings fällt es mir schwer, mich daran zu erinnern, dass wir überhaupt so viel gemeinsam gemacht hätten. Schließlich müsste es einem Kerl eher peinlich sein, wenn er die kleine Schwester irgendwo mitnehmen muss, aber bei ihm scheint dies nicht der Fall zu sein. „Bin ich dir keine Last?“, frage ich ihn ohne groß nachzudenken, was aber Dorian stutzig macht und er mir schließlich ernst entgegnet: „Glaubst du das wirklich? Wenn du was wegen Paul andeuten willst … er ist nun mal viel älter als du und … naja, er hat nun mal seine eigene Weltanschauung. Du darfst ihm das nicht übelnehmen.“ Ich neige meinen Blick zur Seite. Irgendwie ist es beschämend. Egal, was ich sage und tue, ich komme mir irgendwie blöd vor. Zunächst habe ich nicht direkt an Paul gedacht, aber nachdem Dorian ihn erwähnt hat, macht es ohnehin keinen Unterschied, an wen ich wirklich dachte. Denn diese Hilflosigkeit betrifft sowieso alles, was mir ins Hirn schießt.

Auf einmal merke ich, dass Dorian den Wagen seitlich einparkt. Er macht das so schnell, sodass ich erst durch diesem kurzen Hin und Her „wachgerüttelt“ worden bin und ihn schließlich fragend anschaue. Er hat kaum die Handbremse angezogen, schon widmet er sich mir: „Ich weiß zwar nicht, was mit dir passiert ist Bernadette, aber eines kann ich dir garantieren: Du bist für niemanden eine Last, weder für mich, noch für Paul, Mom oder Tante Tina. Wir mögen uns zwar einige Zeit lang auseinandergelebt haben, aber das heißt noch lange nicht, dass wir nicht als Familie zusammenhalten. Auch wenn es damals, als du noch in deiner alten Schule warst, noch anders ausgehen hat.“ „Alte Schule? Das hast du doch schon einmal erwähnt, dass ich nun in einer anderen Schule gehe. Bitte erklär mir das!“, bitte ich ihn, wobei er zunächst nur die Stirn runzelt. Kurz kommt er mir sogar wie Raphael vor und ich befürchte schon, dass auch Dorian nicht den Schnabel aufkriegen wird, aber dann erzählt er es mir doch. Seine Stimme wirkt dabei so trocken, je mehr er mir berichtet, was er weiß, aber selbst ein gewisses Maß an Scham steckt ebenfalls drin. Immer wieder betont er dazwischen, wie leid es ihm tue, dass er sich nicht die Zeit genommen hatte, mir zu helfen. Schließlich hätte ich oft genug versucht, ihn zu erreichen, während er bezüglich seiner Arbeit und auch seiner Beziehung kaum andere Gedanken zugelassen hatte.

„Ich weiß leider nur die Spitze des Eisberges, Sis … leider. Es tut mir leid.“, wiederholt er sich, aber ich habe ihn dabei nur wage zugehört. Denn die Tatsache, dass ich ein Mobbingopfer war und vielleicht sogar noch bin, hat mir einen ordentlichen Schlag verpasst, selbst wenn dies nur ein inneres Gefühl ist. Dass es mir aber bereits vor diesem „Vorfall“ so beschissen ging, hat mich nun tiefer in den Sitz sinken lassen. Ein abscheulicher Gedanke blitzt mir immer wieder durchs Hirn und ich fühle mich dabei schlecht. Schließlich war Pauls Vorwurf laut und deutlich und ich frage mich, ob er damit vielleicht sogar rechthaben könnte. Habe ich mir an jenen Abend was eingeworfen, weil ich gemobbt wurde? Riss ich sogar von Zuhause aus, um bei den Docks, wo man meine Blutspuren gefunden hatte, versucht es zu beenden? Ein schrecklicher Gedanke und leider ergibt das mehr Sinn, als alles andere, worüber ich nachgegrübelt habe! Eigentlich dürfte ich nichts davon wissen, aber hätte ich heute Morgen nicht zufällig diese Diskussion zwischen Mom und Tante Tina mitbekommen, während ich noch auf der Treppe stand, dann hätte ich diese Wortfetzen niemals mitbekommen. Allerdings konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts damit anfangen. Es fehlten so viele Details, sodass es für mich keinen Sinn ergab und ich dies daher verdrängt hatte. Ich tat sogar so, als hätte ich nichts davon mitgekriegt. Doch nun sind neue Puzzleteile aufgetaucht, die nun dieses schreckliche Bild abgeben. War ich wirklich so verzweifelt, sodass ich keinen anderen Ausweg mehr wusste? Kann ich mich vielleicht wegen den möglichen Nachwirkungen an nichts mehr erinnern?

Mein ganzer Körper bebt. Ich habe Angst und komme nach und nach mehr zum Schluss, dass meine andere Befürchtung, irgendjemand würde mir auflauern, nur noch stärker wird. Es muss etwas mit dem Mobbing zu tun haben, anders kann ich es mir einfach nicht vorstellen. Doch was soll ich tun? Was kann ich überhaupt tun und mit wem kann ich überhaupt darüber reden? Alles in mir staut sich langsam immer mehr auf, wodurch ich früher oder später explodieren könnte. Jedoch fühle ich mich so verloren und genau jetzt werde ich von meinem Bruder in den Arm genommen. Immer wieder entschuldigt er sich bei mir und beteuert, dass er mir helfen wird, egal was er auch dafür tun müsste. „Ich lass dich nicht allein, keiner von uns, versprochen.“, wispert er mir ins Ohr und drückt mich dabei noch fester an sich, als wolle er so sein Wort besiegeln. Ich sage dazu nichts, sondern lasse mich einfach umarmen, ehe er sich wieder von mir wegdrückt und mich auffordert, dass wir nun etwas Schönes und Positives in den Tag bringen. Ohne zu zögern steigt er aus und deutet mir, es ihm gleich zu tun. Wir schlendern einfach entlang der vielen Straßen, vorbei an verschiedenen Häusern und Läden. Die Menschen um uns herum, die meisten hektisch, andere einfach nur desinteressiert, ziehen ihren eigenen Tagesablauf durch, während Dorian mit mir seine Späße treibt, Grimassen schneidet, oder einfach nur dämliche Sprüche klopft. Erstaunlich ist, wie sehr mich das ansteckt und ich sogar lachen muss. Er hat wirklich nicht übertrieben, als er mal behauptet hat, dass wir, bevor er aus dem Haus unserer Tante auszog, uns immer wieder amüsiert haben.

Die Leichtigkeit in der Stimmung beflügelt uns, treibt uns an und zieht uns ans Orten, an denen ich zuvor nicht gedacht hätte. Wir bleiben sogar vor einem Straßenkünstler stehen, der mit seiner Gitarre ein Konzert gibt. Als hätte mein Bruder „Humorpillen“ eingeworfen, nimmt er mich bei der Hand und tanzt mit mir, als wären wir kleine Kinder. Es ist bescheuert, aber trotzdem lustig, weswegen ich die Leute um mich herum ignoriere, von denen manche unsere Darbietung gefällt und sogar mitklatschen. Zur Freude des Gitarristen bekommt er sogar noch mehr Geld in seinem Gitarrenkoffer hineingeworfen, welchen er direkt neben sich platziert hat. Die Stimmung ist super und nach etlichen Umdrehungen wird mir so schwindlig, sodass ich meinen Bruder außer Atem bitte, mir eine Pause zu gönnen. Doch er ist so sehr in Euphorie gefangen, sodass er mich kaum gehört hat und noch weiter seine verrückten Tanzschritte vollzieht. Ich spüre meine Narbe, welche sich wieder einmal mit leichten Stechen und Ziehen meldet, weswegen ich mich immer mehr zur Seite stelle und meine Hände behutsam auf die Stelle lege. Erst, als der Musiker zum Ende kommt und das Publikum laut applaudiert, kommt Dorian zum Stillstand und lässt sich bejubeln. Selbst der Gitarrist lobt ihn für die spontane Darbietung und klopft ihm wohlwollend auf die Schulter, während beide ausgiebig lachen, als wären sie alte Kumpels.

Einige Schritte von ihnen entfernt, beobachte ich meinen Bruder grinsend und will sogar auf ihn zugehen, als ich plötzlich an der Seite angerempelt und dabei heftig ein Stück zur Seite gestoßen werde. Erschrocken darüber halte ich inne und lasse meinen Kopf wild hin und her wirbeln. Denn mit einem Mal ist der Spaß vorbei und stattdessen breitet sich die Angst in mir wieder aus. Mein gesamter Körper bebt und ich habe das Gefühl, als würde ich in einem Albtraum feststecken, den ich schon einmal gehabt habe. Wie von selbst fasse ich an die schmerzende Stelle, an der ich getroffen wurde. Als müsste ich mich vor einem weiteren Angriff vorbereiten und dieser könnte von überall kommen! Doch von wo und wer?! Es war Absicht, das weiß ich. Wer auch immer mich da gerade eben angerempelt hat, hat dies nicht aus reinem Versehen getan. Es war weder ein Zufall, noch sonst irgendetwas! Panisch und wie von Sinnen verkrampfe ich immer mehr und kann mich kaum noch von der Stelle rühren. Diese Angst, sie fesselt mich und das obwohl ich denjenigen, der mir diesen heftigen Stoß verpasst hat, nicht einmal gesehen habe und doch schreit alles in mir, dass dies beabsichtig war. Ich will am liebsten fliehen. So weit weglaufen wie nur möglich, doch meine Beine sind wie gefesselt. Als hätte man mich irgendwo angebunden, kann ich mich kein Stück von der Stelle rühren.

Noch einige Male lasse ich leicht panisch meinen Blick umherschweifen und schrecke im nächsten Augenblick zusammen, als ich plötzlich an der Schulter berührt werde. Wie ein aufgescheuchtes Reh zucke ich zusammen und drehe mich rasch um. Es ist aber nur Dorian, der mich sowohl verwirrt, wie auch besorgt ansieht. „Schon gut Sis, ich bin´s! Was ist los, du bist auf einmal so kreidebleich?“, fragt er mich und legt zunächst seine Hände auf meine Schultern, um mich so etwas zu beruhigen. Doch ich stotterte nur als Antwort: „Keine Ahnung, ich … ich glaube, ich habe nur erschreckt. Es ist nichts.“ Das nichts ist, ist gelogen, aber ich habe ihm nicht sagen können, wieso ich mich überhaupt erschreckt habe. Denn nachdem ich mich einigermaßen wieder eingekriegt habe, habe ich erst dann gesehen, dass die Leute unbeirrt an uns vorbeigehen und nirgendwo eine Gefahr zu sehen ist. Manche von ihnen werfen mir sogar einen verständnislosen Blick zu, als hätte ich den Verstand verloren und vielleicht habe ich das sogar. Ich habe wegen einem Stoß eine Panikattacke bekommen und dabei weiß ich nicht einmal zu 100 Prozent, ob es nicht doch ein pures Versehen war und ich bin grundlos so ausgetickt bin. Doch diese Angst in mir ist real und keineswegs habe ich grundlos so reagiert. Doch ohne mein vollständiges Gedächtnis, weiß ich nicht, wie ich nun darauf reagieren soll. Soll ich es Dorian sagen, oder wird er mir den Vogel zeigen und mir beteuern, dass mir niemand etwas zu leide tun will? Skeptisch hebt mein Gegenüber eine Augenbraue hoch und behauptet, dass das sonst nicht meine Art sei. Ich zucke aber daraufhin nur mit den Schultern, was ihn wiederum zum Seufzen bringt. Doch dann kehrt wieder dieses leichte Lächeln bei seinen Lippen zurück. Schließlich sind wir hier, um mich auf andere Gedanken zu bringen und das will mein Bruder auf der Stelle in die Tat umsetzen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (25)
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Von:  Mad-Dental-Nurse
2018-06-14T20:22:00+00:00 14.06.2018 22:22
Armer raph und arme Bernadette. Da dind sie endlich wieder vereint und die weiss nichts mehr. Aber das sie ihn bittet zu bleiben, lässt ja ein wenig hoffen
Antwort von:  Pamuya_
16.06.2018 09:25
Das stimmt
Von:  Mad-Dental-Nurse
2018-06-14T19:52:02+00:00 14.06.2018 21:52
Endlich ist sie aufgewacht XD. Wie mich das freut. Die glühwürmchen vermute ich mal waren die Gedanken der turtles oder?
Antwort von:  Pamuya_
16.06.2018 09:25
Verschieden, ein Teil davon waren Gedanken, aber ....
Mehr verrate ich nicht. ^^
Von:  Mad-Dental-Nurse
2018-02-25T15:16:58+00:00 25.02.2018 16:16
Okay, auch wenn ich ahne, wie es im nächsten Kapitel weitergeht, fiebere ich mit. Du hast den Kampf zwischen dem Willen zu leben und der Angst vor dem was kommt, richtig gut beschrieben. Kann mir gut vorstellen, daas es echt Mut braucht, weiter leben zu wollen👍👌
Antwort von:  Pamuya_
25.02.2018 16:39
Dankeschön für dein Lob. Ich wollte den inneren Kampf nicht so einfach machen, egal in welche Richtung diese gehen würde. ^^
Frage mich nur, welchen Verdacht du für das kommende Kapitel hast. ^^ Schließlich gibt es genug Möglichkeiten dafür.
Antwort von:  Mad-Dental-Nurse
25.02.2018 19:19
Das der Tod von Bernadettes Vater, was mit dem Anwaltsekel zu tun hat...oder irgendwelche krummen Geschäfte. Eine Firma, über der Vater sich ausschweigt ist seeeeeeeehhhrrr verdächtig...
Antwort von:  Pamuya_
25.02.2018 21:47
... Wer weiß ^^
Antwort von:  Mad-Dental-Nurse
27.02.2018 11:30
Hihi* spann mich nicht zu sehr auf die Folter...^^
Antwort von:  Pamuya_
27.02.2018 11:32
Mal schaun ... ^^
Antwort von:  Mad-Dental-Nurse
28.02.2018 21:25
Hast du eigentlich das letzte Kapitel, was ich hochgeladen habe gelesen?
Antwort von:  Pamuya_
28.02.2018 22:23
Puh ... ehrlich gesagt, weiß ich das nicht. Hab schon ne Weile keine Kapitel von anderen gelesen. Normalerweise müsste ein Review von mir stehen. Was ich lese, kommentiere ich auch. ^^
Antwort von:  Mad-Dental-Nurse
01.03.2018 07:42
Leider keine review. Dacjte deswegen hast du es zear gelesen aber cergessen zu kommentieren
Antwort von:  Pamuya_
01.03.2018 09:21
Ganz bestimmt nicht ^^, ich schreib immer ein Review. Sowas ist mir wichtig. ^^
Antwort von:  Mad-Dental-Nurse
01.03.2018 19:54
Kannst es ja nachholen😁
Von:  Mad-Dental-Nurse
2018-02-25T14:52:20+00:00 25.02.2018 15:52
Ohhh man die Spannung hört micht mehr auf. Aber ich kann mich da gut hineinversetzen. Wie oft habe ich auch dunkle Gedanken gehabt und habe sie wueder weggedrängt, weil es nichts bringen eürde gesvhweige demn falsch war...
Schnell zum nächsten Kapitel flitz
Antwort von:  Pamuya_
25.02.2018 16:37
Der Mensch neigt nun mal "gerne" Tatsache, oder Schmerzen zu verdrängen, weil man sich einfach selbst schützen will. Umso schlimmer ist es aber, wenn diese irgendwann wieder hervorkommen. Denn dann sind sie umso schmerzvoller.
Antwort von:  Mad-Dental-Nurse
25.02.2018 19:20
Und machen jeden zu einem Monster...*seufz*
Antwort von:  Pamuya_
25.02.2018 21:46
Kommt ungefähr hin.
Von:  Mad-Dental-Nurse
2018-02-25T14:29:59+00:00 25.02.2018 15:29
Wow...richtig unheimlich sowas. Es stimmt schon was man sagt: wir selbst sind unser schlimmster Feind. Trotzdem spannend. Und ich drücke alle Daumen
Antwort von:  Pamuya_
25.02.2018 16:35
Ja, es ist wirklich unheimlich. Stell dir mal vor, du würdest in solch einem Albtraum feststecken.
Und die schlimmsten und tiefsten Schmerzen kann nur einer einem zufügen ... und zwar man selbst.
Von:  Mad-Dental-Nurse
2018-02-25T14:07:28+00:00 25.02.2018 15:07
Huhu. Nach langer Zeit habe ich es mal geschafft, deine FF weiter zu lesen. Echt eoeder sehr schön und traurig das Kapitel. Armer Raph. Armer Bernadette...hoffentlich wird alles gut
Antwort von:  Pamuya_
25.02.2018 16:32
Hellotschi, schön wieder etwas von dir zu hören/lesen. ^^
Freut mich, dass du wieder in meine Geschichte hineinschaust und dass sie dir auch noch weiterhin gefällt.
Ich geb mein Bestes. ^^
Von:  Mad-Dental-Nurse
2017-05-06T11:25:08+00:00 06.05.2017 13:25
Ohje. Heisst das jetzt, dass sie nie wieder zurückkommen wird?
Oh....bitte nicht!!!!
Antwort von:  Pamuya_
28.06.2017 20:28
Wer weiß ...
Von:  Mad-Dental-Nurse
2017-01-26T15:37:47+00:00 26.01.2017 16:37
Zum einen bin ich froh, dass sie ihr fett wegbekommwn hat. Aber ich habe das dumme gefühl, dass die kleine Bit*****zu daddy rennt oder sich weiss gott was einfallen lässt. Das mit den stöckelschuhen klingt zwar verführerisch, aber ich bleibe bei meiner kloaken- variante....
Von:  Mad-Dental-Nurse
2017-01-26T11:39:45+00:00 26.01.2017 12:39
Das sie was spürt und sich fragt was sas sein kann, ist schon mal ein gutes Zeichen. Hoffentlich kommt sie dahinter und wiedrr zu dich

Von:  Mad-Dental-Nurse
2017-01-26T11:19:55+00:00 26.01.2017 12:19
Also uch mzss mal zu erst eine Lanze brechen: so schlimm ist der zahnarzt net!!!! Ich muss es ja wissen. Arbeite bei einem😆und das ist nur blödes Vorurteil.
Aber jetzt zum Kapitel. Ich kann raph verstehen. Am Ende denkt man immer daran was man hätte besser machen können...aber man kann es wben auch nicht rückgängig machen. Dabei wäre so ein Reset-Knopf fürs Leben net schlecht.


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