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TMNT - Es liegt in deiner Hand

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Bleib bei mir

Aus Raphaels Sicht:
 

Besorgt sitze ich ein weiteres Mal neben ihrem Bett und sehe meinen Engel an. Wie blass sie nun ist. Ihre Haut ist viel heller, als bei meinem letzten Besuch. Scheinbar schon kreidebleich, als wenn allmählich das Leben aus ihrem Körper gezogen werden würde. Von rosigen Wangen kann kaum mehr die Rede sein. Sie gleicht schon mehr einer Leiche und trotzdem schlägt ihr Herz noch. Die Maschine sorgt dafür, dass sie alles bekommt, was ihr Körper braucht. Doch warum wirkt sie nun so schwach? Ist ihr Wille etwa nicht stark genug, um sich aus diesem Koma durchzuboxen? Sie hat mir aber versprochen zu kämpfen. Sie wollte durchhalten, bis wir uns endlich wiedersehen. Ich bin nun hier und wache über sie, aber mein Engel wacht einfach nicht auf. Was hindert Bernadette daran, endlich die Augen aufzumachen? Ich weiß doch, dass sie stark ist. Sie hat schon so viel durchgemacht und immer wieder aufs Neue bewiesen, dass man sie nicht so leicht unterkriegen kann. Ich will daher nicht glauben, dass dies schon alles gewesen sein soll. In ihr steckt noch Kraft, davon bin ich überzeugt. Behutsam streiche ich über ihre rechte Hand und spreche sie mit einer möglichst ruhigen Stimme an: „Kämpfe Bernadette. Gib nicht auf.“ Wenn ich doch nur mehr für sie tun könnte. Nacht für Nacht verweile ich für viele Stunden an ihrem Bett, rede mit ihr und versuche alles, was in meiner Macht steht, um irgendetwas bei ihr zu bewirken. Doch viel mehr hat es den Anschein, als ob sie keine Kraft mehr in sich hätte. Hat sie vielleicht aufgegeben? Ist ihr Körper seit jener Nacht so stark verletzt worden, sodass der Kampf ums Überleben doch viel größer ist, als zunächst gedacht? Ich würde ihr so gerne helfen, nur weiß ich nicht wie.

Wie kann ich nur zu ihr hindurchdringen? Wie kann ich ihr noch zeigen, dass sie nicht allein ist und dass ich auf sie warte? Hört sie mich überhaupt? Bringt es überhaupt etwas, wenn ich an ihrem Bett hocke und mit ihr spreche? Manchmal habe ich den Eindruck, ich hätte nicht meine Freundin vor mir liegen, sondern eine leblose Puppe, die einfach auf diese Matratze gelegt worden ist. Als hätte man sie ausgetauscht. Bernadette hat doch voller Leben gesteckt. Selbst wenn ich ihr beim Schlafen zugesehen habe, habe ich stets an ihrem Gesicht beobachten können, wie viel Tatendrang in ihr schlummert. Stets ist sie wissbegierig durch das Leben gegangen und hat sich sogar mit jemanden wie mich eingelassen. Nun liegt sie hier und steht auf der schmalen Kante zwischen Leben und Tod. Ich hasse es, sie so zu sehen und wenn ich könnte, würde ich sie sofort aufwecken. Stattdessen sehe sie ich sie wieder stumm an, während ich meine Finger über ihre zarte Haut gleiten lasse. „Wie geht es ihr? Hat sich irgendetwas verändert?“, fragt mich auf einmal eine Stimme, die ich sofort Donnie zuordnen kann. Seit wann ist er schon hier? Auf seine Frage hin drehe ich mich aber nicht zu ihm um, sondern starre weiterhin auf das blasse Gesicht meiner Liebsten, während ich kurz mit den Schultern zucke. Mein Bruder tritt nun von der anderen Seite an Bernadette heran und tippt sogleich an sein Handgelenk herum, an dem er eines seiner kleinen Apparate befestigt hat. Wobei er eigentlich schon fast am ganzen Körper davon überseht ist und beinahe schon einem Cyborg gleicht.

„Ihre Atmung … irgendwie scheint sie sich gegen die Maschine zu wehren. Sie ist flacher als sonst.“, stellt er schließlich fest. Er zuckt aber sofort im nächsten Moment zusammen. Ich brauche nicht einmal richtig hinzusehen, um daraus zu schließen, dass er sich das am liebsten verkniffen hätte. Vor mir hätte er wahrscheinlich lieber etwas anderes gesagt. Vielleicht sogar etwas, was mich aufmuntern könnte, um nicht alles schwarz zu sehen. Doch ich brauche keine Aufmunterung und ich brauche keine Ahnung von dem ganzen Schnickschnack zu haben. Ich sehe auch ohne meinen Bruder, dass es Bernadette alles andere als gut geht. Sie leidet, vermutlich noch mehr, als was ich auch so erkennen kann. Wieso kann ich ihr nicht helfen? Was übersehe ich, verdammt noch mal?! Ein schwerer Seufzer weicht aus meiner Kehle und wende meinen Blick schließlich zu meinem Bruder, der immer noch wie angewurzelt dasteht. „Hast du noch irgendetwas Brauchbares für mich? Mir gehen schön langsam die Ideen aus.“, frage ich ihn, da mir ja sonst nichts Sinnvolleres einfällt. Jedoch scheint es nicht nur mir so zu ergehen. Denn er schüttelt enttäuschend den Kopf und antwortet mir: „Da gibt es leider nicht sehr viel Raphi und das weißt du auch. Ich kann dich aber verstehen. Nur sind auch mir die Hände gebunden und mit meinem Latein bin ich auch schon am Ende. … Jetzt können wir nur warten.“

Diese ganze Warterei macht mich noch ganz meschugge und mir geht es auch gehörig gegen den Strich, nichts tun zu können! Es muss doch noch etwas geben, damit ich irgendwie zu ihr durchdringen kann! Irgendetwas, egal was, ich würde tun! Ich weiß sehr wohl, dass Donnie an ihrem Zustand nichts dafürkann. Allerdings bin ich gerade zu aufgewühlt, als dass ich mich kontrollieren könnte, weswegen nun das Hirn dieser Familie meine derzeitige Laune zu spüren bekommt: „Ich habe es satt zu warten! Ich muss doch irgendetwas tun können, also sag mir was! Sofort!“ Mir ist sehr wohl bewusst, dass mein Bruder kein Allwissender ist. Doch an wen soll ich mich wenden? Er kennt sich von uns allen noch am besten aus und egal was es auch ist, ich mache es. Unnötig herumzusitzen ist nicht meine Art. Ich muss und will auch etwas tun können. Ich kann sie ja nicht einfach so sterben lassen. Ich werde das nicht zulassen, egal was es auch kosten mag! Ungeduldig warte ich auf Donnies Reaktion. Theoretisch könnte er mich nun anschnauzen. Nicht nur, dass ich ihn gerade dazu gedrängt habe, mir irgendwelche hilfreichen Infos zu liefern, der Ton macht die Musik. Zu meinem Erstaunen bleibt mein Bruder mit der Brille im Gesicht ruhig. Er versucht mich sogar zu ermutigen, meine bisherigen Anstrengungen, Bernadette irgendwie zu erreichen, weiter fortzuführen: „Mehr, als irgendwie Kontakt zu einem Komapatienten aufzunehmen, gibt es aber nicht. … Du musst es weiter versuchen, bis sie endlich darauf reagiert.“ Was glaubt er, mache ich hier die ganze Zeit?! Glaubt er etwa, ich sitze nur zum Spaß hier?! Ach verdammt, ich sollte mich nicht über ihn so aufregen. Er ist der Letzte, dem ich etwas vorwerfen sollte und mehr kann er nun mal auch nicht tun. Sonst hätte er es bereits getan. Somit nicke ich nur grummelnd und denke einfach nach. Was habe ich nur übersehen? Was dringt nur zu ihr durch?
 

Aus Bernadettes Sicht:
 

Irgendwie ist es doch seltsam. Ich kann nicht sagen, ob ich mich daran gewöhnt habe, aber scheinbar sehe ich mein jetziges „Dasein“ aus einem völlig anderen Blickwinkel. Im Grunde bin ich frei, ich bin frei von allem, was mich je zurückgehalten und unterdrückt hat. Ich muss mir keine Sorgen mehr machen, was aus mir wird und wohin ich gehen werde. Das Einzige, was mich schwer getroffen hat, war zu akzeptieren, dass ich nicht mehr am Leben bin. Es ist solch ein großer Schock für mich gewesen, als ich diese Worte gehört habe. Zu erfahren, dass man gestorben ist und nun in seinem eigenen Himmel verweilt, musste erst einmal verdaut werden. Ich habe bereits die ganze Zeit gewusst, dass hier etwas nicht stimmt. Dass mir ständig irgendetwas eingeredet wurde, ist ja kaum zu übersehen gewesen und hätte ich nicht so sehr darauf gedrängt, endlich die Wahrheit zu erfahren, so wüsste ich bis jetzt noch nicht, dass es mit meinem Leben aus und vorbei ist. Ich würde noch immer im Dunkeln sitzen und herumspekulieren. Die bittere Wahrheit ist allerdings eine schwere Kost. Diese Worte zu hören, haben mich einfach noch weiter hinuntergezogen. Doch nach meinem Flug über die Stadt, bei der ich einfach loslassen konnte, spürte ich in mir solch ein erleichtertes Gefühl. Als hätte ich so manche Last von mir geworfen, während ich der Logik und den physikalischen Gesetzen trotzte. Ich muss nun nicht mehr länger über mein Leben nachgrübeln, es ist ja vorbei und es besteht nun keinen Grund, vor irgendetwas Angst zu haben.

Dennoch gibt es noch eine Sache, welche ich nicht so einfach abstreifen kann. Der größte Schmerz für mich ist immer noch, dass ich alle, die ich liebe, ungewollt zurücklassen musste. Meine Familie, meine Freunde, mein Schattenkrieger, sie alle können nicht mehr bei mir sein und das tut weh. Am liebsten würde ich Raphael noch einmal sehen und mich von ihm verabschieden. Ich möchte mir gar nicht ausdenken, wie es ihm geht und wie sehr er darunter leidet. Ich habe ihm ja sogar versprochen, dass ich durchhalten werde und dass wir uns bald wiedersehen. Doch dieses Versprechen konnte ich leider nicht einhalten. Ich wollte es und ich hoffe so sehr, dass er das auch weiß. Ich habe gekämpft, aber leider hat es nicht gereicht. Vermutlich habe ich schon zu viel Blut verloren, sodass ich im Krankenhaus den letzten Atemzug gemacht habe, ohne dies wirklich zu merken. Ich verlor ja das Bewusstsein und tauchte zunächst in eine völlige Finsternis auf, ehe ich in meinen „Himmel“ „erwachte“. Es tut mir so leid Raphael. Wenn ich die Kraft gehabt hätte, so hätte ich weiterkämpft. Ob er mein Grab ab und zu besucht? Wie viel Zeit ist überhaupt bereits vergangen? Hier in meiner Welt ist alles zeitlos. Hier gibt weder eine Zukunft, noch wirklich eine Gegenwart. Höchstens die Vergangenheit beehrt mich mit meinen Erinnerungen, die ich einfach nicht von mir abstreifen will. Wenn ich schon tot bin, so will ich doch dies in Ehren halten und wenn doch die eine oder andere stärkere Erinnerung erscheint und dieses Gefühl der Geborgenheit kommt, so will ich diese wahrnehmen und in meinen Herzen verinnerlichen.

So habe ich auch jetzt wieder das Gefühl, dass ich meinen Liebsten ganz nah an meiner Seite habe. Zumindest bin ich davon überzeugt, dass diese Erinnerung mit ihm zu tun hat. Ein warmes Gefühl umgibt mich und ich habe auch kurz ein leichtes Kribbeln auf meiner Haut gespürt. Könnte ich dies doch nur länger fühlen, aber es ist immer wieder so schnell weg. Ich will aber daran festhalten. Mehr habe ich nicht, aber vielleicht muss ich mich einfach mehr darauf konzentrieren. Wenn ich schon bei meinen letzten Atemzug es geschafft habe, meine eigene Welt zu kreieren, so muss es auch möglich sein, dieses wunderbare Gefühl stärker zu empfinden. Ja, ich bin davon überzeugt, dass es möglich ist. In dieser Welt kann alles passieren. Warum sollte ich also nicht dieses Gefühl wiedererwachen lassen können? Was sollte schon dagegensprechen? In diesem Augenblick wandere ich auf der Kante eines Daches umher. Wie eine Katze mache ich einen Schritt nach dem Anderen und schlendere einfach darauf los, während ich meinen Blick weiterhin geradeaus und meine Arme hinter meinem Rücken verschränkt halte. Angst habe ich keine. Warum sollte ich das auch? Mir kann schließlich nichts passieren. Jeder andere hätte Wohl die Panik, dass ich im nächsten Augenblick einen falschen Schritt machen könnte, aber dafür besteht kein Grund. In meiner Welt brauche ich mir keine Sorgen zu machen, dass ich in die Tiefe stürzen und somit sterben könnte. Letzteres habe ich bereits hinter mir und selbst wenn ich falle, kann ich immer noch meine Arme ausbreiten und einen weiteren Flug starten.

Jedoch muss ich mir selbst eingestehen, dass ich diese „Flugstunde“ nicht ständig brauche. Es hat etwas Reizvolles an sich, wenn man durch die Lüfte schwebt. Das will ich gar nicht abstreiten, allerdings bin ich nun mal jemand, der viel lieber festen Boden unter den Füßen spürt. Außerdem bin ich es nicht gewohnt, solch etwas Unmögliches dauerhaft durchzuführen. Ich könnte es mir aber vorstellen, Dass Cori dies tun würde, wäre sie an meiner Stelle. Sie hätte wohl sogar etliche Stunden im Himmel, ohne dass ihr wirklich langweilig werden würde. Ach ja Cori, ein Wirbelwind durch und durch. Schade, dass ich sie und Mia nicht so lange kenne. Wir hätten noch so vieles anstellen können, wäre da … nicht die Tatsache, dass ich gestorben bin. Die beiden werden mir sehr fehlen. Ich kann sie mir zwar ihre „Spiegelbilder“ hervorrufen, aber es ist trotzdem nicht dasselbe. Keiner von ihnen und es ist egal, wen ich dabei meine, kann man mit diesen Kopien ersetzen. So sehr ich mich auch anstrengen würde, sie mir leibhaftig vorzustellen, es wäre einfach nicht dasselbe, leider. Zumindest kann ich mich an kleinen Dingen, wie dieser Flug, erfreuen. Selbst wenn diese Freude nur kurz andauert, es ist zumindest etwas. Daher werde ich mich in die nächste Zeit in die Lüfte erheben, sollte ich wieder die Lust dazu bekommen. Momentan stehe ich lieber auf meinen eigenen Füßen.

Es fällt mir auch noch leider schwer, komplett loszulassen. Ich mag zwar mein jetziges Dasein mehr oder weniger akzeptiert haben, aber noch geht es nicht und warum sollte ich mich auch stressen? Zeit spielt hier immerhin keine Rolle. So gehe ich einfach weiter, während ich den Nachthimmel betrachte, bis ich dann mitten auf dem Dach stehenbleibe. Eine Erinnerung an meinem Schattenkrieger, genau das brauche ich jetzt. Denn irgendwie ist diese momentane Geborgenheit so stark, sodass ich ihn direkt an meiner Seite spüren könnte. Wenn er nur wirklich da wäre und nicht einfach eine Replikation von ihm. Diese geisterhaften Erscheinungen sind für mich nichts weiter, als irgendwelche Hologramme. Leer und einfach unnahbar. Da ist mir mein Raphael tausendmal lieber und ich habe einfach keine Lust, eine weitere Version von ihnen heraufzubeschwören. Ich will lieber seine Stimme hören und mich an etwas Schönes erinnern. So setze mich schließlich hin und lasse die Beine von der Dachkannte baumeln. Bewusst atme ich tief durch und schließe die Augen, während ich bemüht bin, diese kurze Berührung noch einmal bewusst wahrzunehmen. „Raphael.“, flüstere ich sehnsüchtig seinen Namen und stelle mir vor, dass er gerade direkt an meiner Seite wäre. „Gib nicht auf Bernadette.“, höre ich plötzlich seine Stimme zu mir sprechen, wodurch ich schlagartig die Augen öffne. Was, hat es tatsächlich funktioniert? Nur warum sagt er genau das zu mir und warum klingt seine Stimme so seltsam?

Sie wirkt so traurig und auch so besorgt. Es ist, als habe ich mich verletzt, oder irgendetwas Anderes wäre passiert, was diese Aufforderung rechtfertigen würde. Warum kommt ausgerechnet diese Erinnerung und womit hängt sie zusammen? Ich hatte viel mehr gehofft, ich würde etwas Anderes und viel Fröhlicheres hören, an das ich mich gerne erinnere. Doch stattdessen ist das hier gekommen. Es ist einfach seltsam und es scheint auch noch nicht vorbei zu sein. Denn im nächsten Augenblick höre ich ein weiteres Mal seine Stimme: „Hörst du? Wir kriegen das schon hin, das verspreche ich dir.“ Was sollen wir hinbekommen? Ich verstehe das nicht. Was ist das für eine Erinnerung? Wann hat Raphael das jemals zu mir gesagt? War das vielleicht an jenen Tag, als er mich wegen der Mobbingsache von der Schule abholen musste? Liegt es womöglich daran? Ich versuche noch weiter hinzuhören. Irgendetwas fehlt da noch. Doch ehe ich mich weiter darauf konzentrieren kann, werde ich schon von einem plötzlichen Besucher beehrt: „Welch‘ eine schöne Aussicht hier, meinst du nicht auch?“ Ungewollt schrecke ich kurz zusammen. Damit habe ich jetzt überhaupt nicht gerechnet. Derjenige, der mich gerade angesprochen hat, ist die Replikation von Cori. Grinsend sieht sie mich an und hat dabei ihre Arme hinter ihrem Rücken verschränkt. Musste das jetzt sein? Ich wollte doch wissen, was meine Erinnerung mir noch sagen wollte. Doch durch diese plötzliche Erscheinung höre ich nun nichts mehr. Meine Konzentration ist dahin. Was macht sie überhaupt hier? Ich habe sie schließlich nicht hierher bestellt und diese Scharade ist auch schon Schnee von gestern. Jetzt weiß ich ja von meinem Tod Bescheid, da brauchen wir dieses „Spiel“ nicht weiterzuspielen.

„Tut mir leid, habe ich dich bei etwas gestört?“, fragt sie mich nun scheinheilig, was mich nur dazu bewegt, sie böse anzufunkeln. „Um ehrlich zu sein, ja. Ich wollte mir gerade eine Erinnerung anhören.“, grummle ich, doch sie grinst nur weiter und meint: „Ach, das kannst du dir doch jederzeit anhören. Schließlich spielt hier Zeit keine Rolle.“ Eigentlich hat sie sogar damit Recht. Dennoch ist sie im falschen Moment aufgetaucht und ich weiß nicht, ob ich diese Erinnerung so schnell wie möglich wieder hervorlocken kann. Schließlich ist das alles hier noch neu für mich. Inständig hoffe ich, dass „Cori“ nun wieder geht, doch stattdessen bleibt sie. Sie zieht mich hoch und hakt sich sogar bei mir ein. Immer noch grinsend meint sie schließlich, ich solle mal aufhören, so nachdenklich zu sein. Denn ich könne endlich das tun, was ich schon immer wollte. Repräsentiert sie etwa meine sehnlichsten Wünsche, welche sich im wahren Leben niemals, oder so gut wie gar nicht erfüllen lassen? Warum besteht sie so sehr darauf, oder zeigt sie einfach nur den Teil von mir, den man sozusagen als „inneres Kind“ bezeichnen kann? Die wahre Cori ist, oder wohl eher war ein Wildfang, soweit ich sie kennenlernen durfte, weswegen mich dieses Erscheinungsbild nicht wirklich wundert. Vielleicht sehe ich sie des Öfteren, weil sie mich daran erinnern will, endlich einmal Spaß zu haben, ohne an jegliche Sorgen zu denken. Vielleicht ist das so, aber vielleicht auch nicht. Irgendwie ist das alles so kompliziert.

„Komm schon, worauf hast du wirklich Lust und lass mal diese „Trübe-Tasse-Nummer“. Das passt ja gar nicht zu dir.“, versucht sie mich zu motivieren und auf andere Gedanken zu bringen. Jedoch habe ich nicht die leiseste Ahnung, was sie nun wirklich mit mir vorhat und so wirklich Lust verspüre ich auch nicht. „Cori“ dagegen sieht dies wiederum ganz anders und besteht sogar darauf, mich auf mein jetziges „Dasein“ einzulassen: „Dann hör in dich hinein. Du weißt, was du willst.“ Na wenn sie meint. Wünsche hätte ich ja viele. Mehr, als was so einer von mir denken mag. Nur spreche ich sie nicht immer aus. Denn manches ließ sich einfach nicht erfüllen. So sehr man auch an seinem Wunsch festhält, aber vielleicht es hier tatsächlich anders. Vielleicht muss ich es hier nur genug wollen und mir vorstellen, damit sich dieser Traum erfüllt. Seit meiner Kindheit hat es sogar einen speziellen Wunsch gegeben, von dem ich bereits damals wusste, dass er mir niemals erfüllt werden könnte. Ich wollte meinen Vater wiedersehen, ihn umarmen und nie mehr wieder gehen lassen. So sehr vermisse ich ihn. Seinen Tod konnte ich als Kind kaum ertragen, oder gar verstehen. Es dauerte zwei Jahre, bis ich es voll und ganz akzeptieren konnte. Noch dazu veränderte sich mein Leben seit diesem Tag. Nach der Beerdigung zog ich mit Dorian zu Tante Tina, wobei dieser nur ein paar Jahre blieb, bis er dann wieder auszog und seinen eigenen Weg ging. Paul kam damals nicht mit uns mit. Er brauchte damals Abstand zur Familie und gründete daher eine WG, bis auch er sich ein neues Leben aufbaute und beide suchten ihren Weg im Ausland, was sie auch fanden.

Wie es ihnen nun geht? Was machen Mom und Tante Tina? Vermutlich wird meine Beerdigung bereits stattgefunden haben und wie ich sie alle kenne, wird jeder von ihnen auf seine Weise trauern. Sich entweder in die Arbeit stürzen, oder sich mit etwas Anderem ablenken, das wird wohl passieren. Ich hoffe nur, dass sie es schaffen werden und ich wünsche ihnen alles Liebe und viel Glück, damit sie noch ein schönes Leben haben. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie meinetwegen leiden würden. „Hey du Trauerkloß! Was habe ich vorhin gesagt? Bloß nicht zu sehr nachgrübeln. Jetzt erleb mal was Schönes. Es geht nun mal um dich!“, schnippt „Cori“ ein paarmal vor meinen Augen, während sie mich streng ansieht und mich dementsprechend tadelt. Würde mich wirklich nicht wundern, wenn sie immer der Teil von meinem Selbst war, welche mir stetig in den Hintern getreten hat, sollte ich mal etwas in die Länge gezogen, oder zu sehr über etwas nachgedacht haben. Als „Gewissen“, so wie man es aus dem Disneyfilm „Pinocchio“ kennt, würde ich sie garantiert nicht beschreiben. Abgesehen davon, dass ist dafür viel zu quirlig ist, würde ich ihr eher eine andere Rolle zuschreiben. Jetzt zerrt sie mich erst einmal von diesem Ort weg, was mich aber etwas stutzig macht. Denn je mehr ich mich von den Dächern entferne, desto mehr verschwindet das Gefühl der Geborgenheit, oder bilde ich mir das einfach nur ein? Wo bringt mich „Cori“ überhaupt hin? Obwohl sie nicht danach aussieht, ist sie stark und ich kann mich auch nicht von ihrem Griff befreien. Sie zerrt mich einfach weiter und ohne darauf zu achten, wohin es uns verschlägt, bleibt sie erst nach einiger Zeit endlich stehen.

„Wo hast du mich hingebracht?“, frage ich sie und sie löst endlich ihren Griff. „Cori“ wendet schließlich ihr Gesicht zu mir, grinst mich an und meint: „Was glaubst du wohl? Natürlich dorthin, wohin du schon nach langer Zeit wieder hinwolltest. Schau nur!“ Sie deutet auf das hohe Gebäude hin, welches ich sofort wiedererkenne. Es ist das Büro, in dem mein Vater früher gearbeitet hatte. Was genau er dort damals gemacht hatte, weiß ich bis heute nicht. Ich glaube aber, dass er als Angestellter irgendwelche wichtigen Bereiche organisiert und auch überprüft hatte. Erzählen konnte er es weder mir, noch wem anderen. Nicht einmal Mom wusste etwas Genaueres über seine Arbeit. Als ich noch ein Kind war, erzählte sie mir, dass es sich um ein Betriebsgeheimnis handeln würde. Zur dieser Zeit verstand ich nicht, was sie damit meinte. So erklärte sie mir, dass die Firma wichtige Geheimnisse hüten würde und Dad dürfte es einfach nicht weitererzählen. Ich erinnere mich, dass er mich manchmal mitnahm, wenn es bei uns Zuhause ziemlich stressig vor sich ging und keiner auf mich aufpassen konnte. Schon damals war Mom öfters nicht da und auch meine Brüder hatten bereits ihren eigenen Alltag zu bewältigen. Auch Tante Tina konnte sich nicht immer um mich kümmern. Somit konnte ich stärker mit meinem Vater etwas unternehmen und ich war gern bei ihm. Auch wenn er mich zwischendurch mit irgendwelchen Spielsachen beschäftigt hatte, oder ein Kollege von ihm kurz auf mich aufpassen musste. Wenn ich mich jetzt richtig erinnere, war ich dort immer gern gesehen. Bis auf ein paar wenigen Ausnahmen, die einfach keine Kinder in diesem Gebäude haben wollten, aber man kann ja nicht jeden mögen.

Nur stehe ich wieder davor. Wohlwissend, dass dies nicht echt ist, weiß ich zunächst nicht, ob es richtig ist, hinzugehen. Ich will mir einfach die Erinnerung an meinen Dad nicht durch irgendwelchen Fantastereien vermiesen und doch werde ich einfach durch die offene Tür hineingeschubst, ehe ich auch nur irgendwie auf die momentane Situation reagieren kann. So stolpere ich einfach in Richtung Eingangshalle, wo sich bereits vor mir der Lift, der sich einige Meter vor mir befindet, für mich geöffnet hat. Noch einmal blicke ich zurück und will mich schon umdrehen, aber andererseits: Was soll mir schon Großartiges passieren? Hier bestimme immer noch ich, was hier gespielt wird und wenn ich es wirklich nicht will, dann kann ich ja immer noch gehen. Mein inneres Verlangen meinen Dad zu sehen und mag es nur die Erscheinung aus meiner Erinnerung sein, ist einfach größer, weswegen ich schließlich den Lift betrete. Ich muss nicht einmal etwas tun, schon schließt sich die Tür hinter mir und die Fahrt nach oben geht los. Blinkend leuchten die Zahlen an der Wand kurz auf, bis ich endlich das richtige Stockwerk erreicht habe und den Lift wieder verlassen kann. Durch einen langen Flur schreite ich voran. Den Blick möglichst nach vorne gerichtet, suche ich Dad´s Büro. Doch kaum habe ich es geöffnet, so sehe ich ihn. Den Rücken noch zu mir gerichtet, blickt er aus dem Fenster. Doch er muss mich gehört haben, denn nun wendet er langsam seinen Kopf, bis er sich schließlich ganz umdreht.

Er sieht genauso aus wie damals, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Dunkle Haare mit grauen Strähnen, einen Schnauzbart, graugrüne Augen und einen dunklen Anzug, den er gerade mit einer weinroten Krawatte und einem weißen Hemd trägt. Er lächelt und breitet seine Arme aus. Ich kann einfach nicht anders, als dass sich ebenfalls meine Mundwinkel nach oben ziehen und ich mit großen Schritten auf ihn zueile. „Dad!“, rufe ich einfach vor Freude und lasse mich von ihm umarmen. Ganz dicht drückt er mich an sich, sodass ich auch sein Gesicht auf meinen Kopf fühlen kann, während er zärtlich über meinen Rücken streicht. Tränen bilden sich in meinen Augen und ich kann das auch gar nicht mehr zurückhalten. So schluchze ich: „Ich habe dich so vermisst!“ „Sch ... mein Schatz. Es ist alles in Ordnung. Ich bin ja hier.“, versucht er mich zu beruhigen, da ich mich jetzt einfach nicht mehr unter Kontrolle habe. Ich weine weiterhin und das vor Freude. Seit so vielen Jahren habe ich ihn vermisst und ihn nur durch alte Fotos gesehen und nun habe ich ihn bei mir. Mir ist es auch jetzt einfach egal, ob er echt ist, oder nicht. Die Tatsache, dass ich ihn wieder fühlen kann, lässt mich die Wahrheit für diesen einen Moment vergessen. So kralle ich mich an ihn fest. Nie mehr wieder will ich ihn loslassen müssen. Er soll bei mir bleiben.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Mad-Dental-Nurse
2018-02-25T14:07:28+00:00 25.02.2018 15:07
Huhu. Nach langer Zeit habe ich es mal geschafft, deine FF weiter zu lesen. Echt eoeder sehr schön und traurig das Kapitel. Armer Raph. Armer Bernadette...hoffentlich wird alles gut
Antwort von:  Pamuya_
25.02.2018 16:32
Hellotschi, schön wieder etwas von dir zu hören/lesen. ^^
Freut mich, dass du wieder in meine Geschichte hineinschaust und dass sie dir auch noch weiterhin gefällt.
Ich geb mein Bestes. ^^
Von:  Yashi2506
2016-11-07T21:31:22+00:00 07.11.2016 22:31
Das geht echt unter die Haut Wahnsinn
Antwort von:  Pamuya_
08.11.2016 08:57
^^ Dann warte einmal, was beim nächsten Mal kommt


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