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Gleipnir

von

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Kapitel 11: Du siehst das vollkommen falsch


 

Die Zellen waren kleine Räume, gerade mal groß genug, dass man drei Schritte in jede Richtung gehen konnte. Dazu eine unbequeme Pritsche und eine einfache Stahltoilette. Die Tür war gesichert und verfügte über eine geschlossene Durchreiche für Essenstabletts, noch dazu ein vergittertes Fenster. Der Gang, auf dem sich die Zellen befanden, war dunkel und verlassen, lediglich Sicherheitslichter, angebracht auf Knöchelhöhe an den Wänden, glühten in regelmäßigen Abständen. Sie trugen nicht wirklich dazu bei irgendetwas zu erhellen, aber zumindest halfen sie mir, ein paar Dinge zu erkennen.

Ich setzte mich auf die Pritsche und lehnte mich gegen die Wand, zog die Beine an meinen Körper und schlang die Arme darum. Innerlich verfluchte ich mich selbst. Nur wegen mir war Soma in diese Situation geraten. Nur wegen mir saßen wir hier fest. Nur wegen mir …

Und es gab nichts, was ich tun konnte. Sie hatten uns unsere God Arcs und unsere Ausrüstung genommen, konnten anscheinend Aragami kontrollieren und abgesehen von diesem Gang war jeder andere bewacht. Selbst wenn wir also hier ausbrächen und unsere God Arcs fänden, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass wir ins Freie kämen geradewegs null. Aber selbst wenn, wären wir dort schnell Opfer von befehligten Aragami – oder mir würde der fehlende Selektionsfaktor das Bein brechen. Egal, wie ich darüber nachdachte, jede einzelne Situation endete nur damit, dass wir wieder geschnappt wurden oder ich mich in ein Aragami verwandelte.

Seit ich ein God Eater war hatte ich mich nicht mehr so hilflos gefühlt. Selbst bei der Rettung von Lindow oder dem Kampf gegen Arius Nova war ich immer davon überzeugt gewesen, dass alles gut ausgehen würde, dass ich es schaffen könnte. Aber nun war davon nichts übrig.

Die Verzweiflung, die sich in mir aufbaute, war zu viel für mich. Ich schluchzte, bevor ich mich selbst davon abhalten konnte. Zuletzt hatte ich geweint, als wir uns zum zweiten und letzten Mal von Shio verabschieden mussten. Aber da waren wir alle zusammen traurig gewesen, nun war ich allein, in einer dunklen Zelle, in die ich mich selbst befördert hatte.

Ich schluchzte noch einmal – und hörte plötzlich Somas Stimme: »Frea?«

Sie kam durch die Wand und war auf diese Weise sogar gut hörbar. Wahrscheinlich hatte man sich beim Bau der Zellen nicht viele Gedanken darum gemacht, sie möglichst schalldicht zu machen.

Obwohl er mich nicht sehen konnte, wischte ich mir rasch die Tränen aus dem Gesicht. »Ja?«

»Warum …« Er zögerte. »Weinst du etwa?«

Ich hatte seinen Vorwurf von vorhin noch nicht vergessen, deswegen wollte ich ihm nicht erzählen, was mit mir los war. »Selbst wenn, was würde dich das interessieren? Du glaubst doch bestimmt immer noch, dass ich dich extra hierher gebracht habe, oder?«

Passiv-Aggressivität war kein guter Charakterzug, schon gar nicht für einen Captain. Aber im Moment war ich nur eine ganz normale Gefangene in irgendeinem Bunker voller verrückter Kultisten, die angeblich meine Familie waren.

Er schwieg. Ich befürchtete, ihn endgültig verschreckt zu haben, wollte mich schon bei ihm entschuldigen und ihn anflehen, mir wieder zu vertrauen, selbst wenn ich vollkommen planlos war, aber da sagte er endlich wieder etwas: »Was ich vorhin gesagt habe, tut mir leid.«

Hatte ich gerade richtig gehört? Soma Schicksal entschuldigte sich bei mir? Das war mir im ganzen letzten Jahr noch nicht untergekommen. Wäre er bei mir gewesen, hätte ich ihn nun direkt umarmt. Aber mit der Mauer zwischen uns war das nicht möglich.

»Ich glaube nicht, dass du mich hierher gelockt hast«, fuhr er fort. »Vorhin war ich nur aufgewühlt wegen dem, was geschehen ist und ich glaube, ich wollte das einfach nur an jemandem auslassen.«

Was nur zu verständlich war. Dennoch hatte mich das verletzt. Das teilte ich ihm auch mit, worauf er sich noch einmal entschuldigte: »Das alles muss dich noch mehr belasten als mich. Du hast gedacht, hier deine Familie zu finden – und dann sind es …«

Er suchte nach Worten, die ich ihm gern lieferte: »Verrückte Kultisten? Ja, das ist Mist.«

Wobei ich meine Mutter noch nicht gesehen hatte. Zumindest in meinen Träumen hatte es ausgesehen als wäre sie nicht von diesen Plänen überzeugt. Vielleicht war sie also anders.

»Hast du deswegen geweint?«

Fragte er das, weil er mich testen wollte? Oder machte er sich wirklich Sorgen? Ich wünschte, ich könnte ihn sehen. Sein Gesicht verriet mir meist mehr als seine Stimme. Da das nicht möglich war, antwortete ich ihm einfach: »Eigentlich nicht. Ich hab eher geweint, weil ich mich so hilflos fühle. Wegen mir sind wir in dieser Situation gelandet. Ohne God Arcs. Wenn es nur ich wäre, dann wäre das nicht so schlimm, aber du …«

»Mach dich nicht lächerlich.« Zumindest an dieser Stelle hörte ich seiner Stimme an, dass er lächelte. »Wenn ich schon hier feststecke, dann mit niemandem lieber als mit dir.«

Zum Glück konnte er nicht sehen, wie rot ich gerade geworden war. »Womit hab ich das Kompliment denn verdient?«

»Du warst die erste Person, die in meiner Nähe nicht gestorben ist, oder sich von meiner schlechten Laune abschrecken ließ.«

Sein Verhalten von damals nannte er schlechte Laune? Ich bezeichnete das eher als selbstmordgefährdet und abweisend. Eine Schale, deren Aufbrechen nur Shio möglich gewesen war, und deren Risse ich dann ausgenutzt hatte, um ihn besser kennenzulernen.

»Am Anfang war ich ziemlich genervt von dir«, erwiderte ich. »Da war gerade vor meinen Augen jemand gefressen worden und du hast nichts Besseres zu tun, als dein God Arc auf mich zu richten und mir zu sagen, dass ich wahrscheinlich auch bald sterben werde. Du hast dir nicht mal meinen Namen angehört.«

Heute verstand ich sein Verhalten. Aber damals hatte ich mich wie vor den Kopf gestoßen gefühlt.

»Du hast mich ja schnell eines Besseren belehrt«, erwiderte er. »Aber vor allem hast du mir immer wieder gezeigt, was in dir steckt und dass man sich auf dich verlassen kann. Deswegen bin ich selbst jetzt überzeugt, dass du einen Weg hier raus finden wirst.«

Ich legte eine Hand auf mein Herz, das sich plötzlich viel wärmer anfühlte als normal. »Ach Soma, ich würde dich küssen, wenn wir nicht gerade eingesperrt wären.«

Das darauf sicher folgende Stirnrunzeln konnte ich mir gut vorstellen. Und dann kam eine Frage, mit der ich schon viel früher gerechnet hätte: »Warum machst du diese Scherze eigentlich immer?«

»Wieso Scherz?«, erwiderte ich unschuldig.

Er seufzte. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass du das alles ernst meinst. Also, wenn du einfach nur zu viel Zeit mit Lindow verbracht hast, dann wäre es mir recht, wenn du damit aufhören könntest.«

Glaubte er wirklich, dass ich mich über ihn lustig machte? Dass das nur daher rührte, weil ich manchmal mit Lindow und Sakuya zusammensaß?

»Du siehst das vollkommen falsch, Soma.«

»Wie ist es dann richtig?« In seiner Stimme herrschte ein Unterton, den ich noch nie gehört hatte, aber ich wusste dennoch, was er wollte: Er sah die Zeichen und verstand sie auch, glaubte aber nicht, dass ich es ernst meinte – oder vielleicht war er der Meinung, er deutete sie falsch – und wollte es nun in aller Deutlichkeit von mir hören.

So hatte ich mir eigentlich nicht vorgestellt, ihm meine Liebe zu gestehen. In meiner Fantasie war das immer auf einer Mission geschehen, nachdem wir gemeinsam einen starken Feind geplättet hatten und ich ihm vor Erleichterung in den Armen lag. Oder wenn wir danach auf der Krankenstation lagen und uns von den Strapazen erholten. Aber das Leben richtete sich nun einmal nicht nach den Vorstellungen von uns Menschen.

»Eigentlich wollte ich es dir schon lange sagen«, begann ich, mit wachsender Verlegenheit. Selbst ohne in seine wunderschönen, blauen, aber misstrauischen Augen zu sehen, war es doch ziemlich schwer, es zu sagen. »Soma, ich …«

Schritte näherten sich dem Gang. Ich verstummte augenblicklich, innerlich bereits genervt. Wachsam beobachtete ich das Fenster, während ich lauschte. Es waren nicht die schweren, entschlossenen Schritte eines Soldaten oder von Erling oder Baldur, vielmehr klangen sie unsicher, sanft, als wollte jemand nicht viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Mit den Schritten näherte sich auch eine Lichtquelle, die mich neugierig machte – aber ich blieb auf der Pritsche sitzen. Wer wusste schon, was die Person von uns wollte.

Vor meiner Zelle hielt jemand an, eine elektrische Laterne wurde vor das Fenster gehalten. Geblendet kniff ich die Augen zusammen und hob gleichzeitig eine Hand vor mein Gesicht. Ich machte einen undeutlichen Schatten aus, der mich von der anderen Seite aus musterte.

»Was ist los?«, fragte ich. »Wurde das Festmahl vorgezogen?«

Ich wusste nicht einmal, wann es stattfinden sollte oder ob es wörtlich oder symbolisch gemeint war. Aber ich war auch nicht in der Gemütslage, mich mit einer der Wachen zu unterhalten.

»Du bist es also wirklich«, sagte die Person – und ihre Stimme rief eine weitere Erinnerung in mir wach. Eine angenehme, von Zweisamkeit, die wir gemeinsam in versteckten Ecken dieser Einrichtung verbrachten. Er und ich, wie wir planten, was wir nach der Apokalypse tun wollten, wie wir uns aneinanderschmiegten und … Hastig schüttelte ich diesen Gedanken ab. Dennoch war ich ratlos, wie ich das bislang nur hatte vergessen können. Was auch immer damals bei der Explosion geschehen war, musste wirklich weitreichend gewesen sein.

»Kei?« Ich stand auf und ging zur Tür.

Ein junger Mann stand im Gang. Schwarze Haare, rot-braune Augen, immer ein leichtes Schmunzeln im schmalen Gesicht, ja, ich erinnerte mich, er war Kei Seki, das Mitglied von Gleipnir, mit dem ich die meiste Zeit verbracht hatte.

Er lächelte erleichtert. »Mann, Kara, ich freue mich voll, dass du wieder da bist. Die anderen dachten schon, du hättest uns verraten, weil du jetzt ein God Eater bist. Aber ich hab immer gewusst, dass du das nicht tun würdest.«

Wenn Gleipnir die Apokalypse der Verschlingung herbeiführen wollte, waren God Eater ihre Feinde – und ich damit auch. Das war auch nichts, was ich ändern wollte. Shio hatte ihre Existenz hier aufgegeben, um uns vor einer Apokalypse zu retten, dieses Opfer würde ich für immer ehren, schon allein für Soma.

»Ich bin ein God Eater«, sagte ich mit stolzgeschwellter Brust. »Deswegen werde ich euch nicht helfen, sondern alles daran setzen, euch aufzuhalten.«

Keis Mundwinkel sanken nach unten. Schweigend sahen wir uns an, dann lachte er plötzlich. Das war ein Laut, den ich mal geliebt hatte (sagte meine Erinnerung), aber in diesem Moment verärgerte er mich.

»Was ist so lustig?«

Er beruhigte sich wieder, um mir zu antworten: »Na, letztes Jahr warst du noch sehr erpicht darauf, dass diese Apokalypse eintritt. Deswegen hast du dich freiwillig gemeldet, als es darum ging, einen Kern zu besorgen. Hast du das etwa vergessen?«

Er musterte mich prüfend. Ich erwiderte das mit gefestigtem Blick. »Ja, das habe ich. Hat man dir nicht gesagt, dass ich mein Gedächtnis verloren habe?«

Anscheinend nicht, denn diese Enthüllung ließ ihn die Augen aufreißen. »Was? Nicht im Ernst!«

Langsam fragte ich mich, ob ich im letzten Jahr einfach nur mehr gereift war als er oder ob meine Erinnerung mich bezüglich unserer Beziehung trog. Zutrauen würde ich es meinem Gedächtnis.

»Sind Shiro und Kuro deswegen nicht bei dir?«

Waren das die Namen meiner Begleiter gewesen? Selbst hier, wo alles angefangen hatte, waren viele Dinge noch hinter einer dichten Nebelwand verborgen.

»Die beiden sind tot. Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber es gab anscheinend eine Explosion, dabei sind die beiden gestorben und ich habe mein Gedächtnis verloren.«

Kei gab ein verstehendes »Hmm« von sich. Aber dann zuckte er mit den Schultern. »Na ja, ich mochte die beiden ohnehin nicht. Und Opfer sind notwendig, sagt Erling immer. Ich bin nur froh, dass du wieder hier bist. Auch wenn du … jetzt im Gefängnis sitzt.«

Er schmunzelte wieder, obwohl ich seufzte. Wahrscheinlich ahnte er nicht einmal, in welcher Gefahr ich mich befand. Oder wie sehr mir dieser ganze Plan auf die Nerven ging. Das einzig Gute, was er hervorgebracht hatte, war meine Begegnung mit Soma, der auffällig still war.

»Kei, kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte ich.

»Klar, was denn?«

»In meinem Gepäck, das man mir weggenommen hat, ist eine Tasche mit Metallspritzen. Ich brauche eine davon.«

Ich wusste sofort, dass ich das vergessen konnte, als er die Stirn runzelte.

»Tut mir leid«, sagte er zerknirscht. »Aber das würde Erling nicht zulassen. Ist das denn wichtig?«

Ich überlegte noch, wie ich ihm die Wichtigkeit erklären sollte, da hörte ich, wie Soma in der Zelle nebenan aufstand. Er schlug mit der Faust gegen seine Tür.

Kei zuckte zusammen und leuchtete mit der elektrischen Laterne zur Seite. »W-wer …?«

»Hör zu!«, forderte Soma. »Mir ist egal, wie du das machst, aber besorg ihr besser diese Spritze, wenn du nicht willst, dass sie ein Aragami wird und dich auffrisst!«

Statt das abzuwehren oder dem sofort Folge zu leisten, ging Kei ein wenig näher zu Somas Zelle hinüber. Er musterte ihn konzentriert, bis ihm wohl endlich einfiel, wer noch im Kerker sitzen müsste. »Ah! Du musst Soma Schicksal sein!«

»Könnte man endlich aufhören, immer meinen ganzen Namen zu benutzen?«, fragte Soma genervt.

Kei wandte sich mir zu. »Was meint er damit, dass du ein Aragami wirst?«

Ich hob den rechten Arm, um den roten Reif an meinem Handgelenk zu präsentieren. »Wenn ich nicht regelmäßig mit Selektionsfaktoren versorgt werde, wird dieser Reif dafür sorgen, dass ich mich in ein Aragami verwandle.«

Das stimmte so zwar nicht wirklich, aber die ausführliche Erklärung hatte ihn nicht zu interessieren – und sie war mir auch zu kompliziert. Außerdem wollte ich gar nicht daran denken, dass ich verschlungen werden könnte. Ich zweifelte daran, so viel Glück zu haben wie Lindow, dass man mich noch würde retten können. Ob Soma es zumindest versuchen würde?

»Oh nein«, hauchte Kei. Doch nur einen Moment später klärte sich sein Gesicht wieder auf. »Aber bedeutet das nicht, dass du zu etwas Besserem werden wirst? Die Aragami sind immerhin von den Göttern gesandt!«

Aus Somas Zelle kam ein Geräusch, als hätte er gerade den Kopf gegen die Tür geschlagen. Das hätte ich am liebsten auch getan, aber ich wollte mir die Schmerzen sparen.

»Hab ich den Mist wirklich mal geglaubt?« Ich war zu frustriert, um die Frage für mich zu behalten, auch wenn Kei davon regelrecht beleidigt aussah. »Kannst du dann wenigstens mit meiner Mutter reden? Vielleicht sieht sie das alles ein bisschen anders.«

Er nickte motiviert. »Das geht, kein Problem. Ich erzähl Honoka, dass du hier bist. Und diese Aragami-Sache auch. Aber bist du dir deswegen sicher? Du wärst bestimmt ein ganz außergewöhnliches Aragami~.« Seine Stimme wurde geradezu schwärmerisch, als er das sagte. »Ich bin sicher, wir würden dann alle dich anbeten, statt Vidar. Und ich wäre natürlich dein glühendster Anhänger.«

Als Glaubensobjekt wollte ich mich eigentlich nicht betrachten lassen, egal von wem. Leise seufzend griff ich mir an die Stirn. »Bitte, Kei, rede einfach mit meiner Mutter, okay?«

Er lächelte mich an und strich mir über die Wange. Eine Geste, die ich laut meiner Erinnerung vor einem Jahr noch schön gefunden hatte, mich nun aber dazu brachte, dass ich wirklich an mich halten musste, seine Hand nicht einfach wegzuschlagen.

Vielleicht bemerkte er, wie ich mich versteifte, denn als er die Hand senkte, sah er enttäuscht aus. Dennoch versprach er mir, mit meiner Mutter zu reden. Sein Blick ging noch einmal zu Soma hinüber, ehe er mich lächelnd ansah. »Ich weiß, die Pritschen sind nicht gerade gemütlich, aber versuch heute Nacht einfach zu schlafen. Erling ist morgen mit Sicherheit schon etwas gnädiger.«

Das konnte ich mir zwar nicht vorstellen, aber ich versicherte ihm, dass ich schlafen würde. Der Tag war lang gewesen und wir hatten nichts zu essen bekommen, die Erschöpfung griff deswegen schon mit gierigen Fingern nach mir.

»Gut, dann sehen wir uns morgen~.«

Er tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn, dann ging er eilig davon, ohne sich von Soma zu verabschieden. Mich hatte er wenigstens noch angelächelt – angeblich hatte ich davon vor einem Jahr noch Herzklopfen bekommen. Nun war es seltsam bedeutungslos.

Die Person, die ich jetzt war, Frea, verband einfach nichts mit den Erinnerungen meines alten Ichs, mit Kara. Alles, was ich im letzten Jahr erlebt hatte, war so real, so greifbar, dass mir allein der Gedanke an Shio manchmal Tränen in die Augen trieb, während ich alles davor aus Distanz und mit Gleichgültigkeit betrachtete. Es war ein vollkommen anderes Leben, eine gänzlich andere Person, mit der ich nichts mehr gemein hatte, außer das Aussehen vielleicht.

Kaum war Kei weg, standen wir wieder im Halbdunkel, aber ich war froh darüber. Bei Soma war ich mir nicht so sicher.

»Wer war das?«, fragte er, in einem Ton, den ich nicht von ihm kannte.

»Kei Seki, ein alter Freund von mir. Oder so was in der Art.«

»So was in der Art?« Ein lauernder Unterton.

Ich lehnte mich gegen die Tür, um die Erschöpfung ein wenig abzuwehren. »Ich glaube, er und ich waren so etwas wie ein Paar. Aber sicher bin ich mir nicht. Ich vertraue meinem Gedächtnis immerhin noch nicht wirklich.«

Aber selbst wenn, ich hegte kein Interesse daran, eine solche Beziehung weiterzuführen. Der einzige, der für mich in Frage kam, war in der Zelle nebenan und gab einen verstehenden Laut von sich, ehe er etwas sagte: »Wie auch immer, du solltest jetzt wirklich schlafen. Falls morgen nämlich nichts passiert, müssen wir uns überlegen, wie wir an deinen Selektionsfaktor kommen.«

Er sagte noch wir, aber es klang nicht mehr so einnehmend wie zuvor. Etwas hatte sich geändert – und ich verfluchte Kei im Stillen dafür, dass er im entscheidenden Moment stören musste. Vielleicht war das aber auch besser gewesen. Wer weiß, wie Soma reagiert hätte. Gerade an diesem Ort hätte ich eine Zurückweisung schwerer ertragen als in der Fernost-Abteilung.

»Ich denke, das mache ich wirklich.«

Ich löste mich von der Tür und legte mich auf die Pritsche. Sie erschien mir jetzt noch härter als vorhin, aber zumindest war mir eine Decke gegönnt worden, unter der ich mich notdürftig zusammenrollte. Wenn nur Soma direkt hier bei mir gewesen wäre, hätte ich mich zumindest einigermaßen wohlfühlen können, er wäre ein Stück Heimat gewesen.

Aber so war er meilenweit entfernt, obwohl er direkt in der Zelle nebenan noch immer an der Tür stand. Und er verließ diesen Ort auch nicht, bis ich einschlief.
 



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