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Die Legende vom Avatar

von

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Der Morgen graute. Es war ein Morgen wie jeder andere auch. Ein gräulicher Nebel legte sich sanft über das noch ruhende Dorf, schien die noch schlafenden Bewohner in eine feste Umarmung hüllen zu wollen, um sie vor dem angrauenden Tag zu schützen, der den schwarzen Himmel langsam in ein immer heller werdendes blau zu tauchen begann und der gleichsam bedeutete sie aus ihren friedlichen Träumen zu reißen, die sie vor dem harten Alltagsleben behüten wollten. Doch wie an jedem Morgen verlor der Morgennebel auch heute. Die ersten Menschen erwachten in ihren Häusern, reckten sich, krochen mehr oder minder munter unter ihrem Polarbärenfell hervor und streckten sich ausgiebig, bevor sie in den Trott ihres Lebens zurückkehrten, an den sie sich schon seit ihrer Kindheit gewöhnt hatten und den sie, seit einem grausamen Ereignis vor einigen Jahren, mehr zu schätzen wussten als jemals zuvor in der Gesichte ihres Stammes.

Es war ein vollkommen normaler Morgen, einer von jenen, an die man sich unter normalen Umständen nicht erinnert hätte, wenn man auf sein Leben zurückblickte. So gewöhnlich war er, doch wie immer, wenn man glaubte, dass etwas gewöhnlich war, neigte das Schicksal dazu hin und wieder einen Streich zu spielen. Manchmal war er klein, vollkommen unbedeutend, nicht mehr als ein Sandkorn im Ozean, nur vom Opfer dieses Streiches bemerkt; Wie von einem Bauern, der ungläubig mit ansehen muss, wie der Flügelschlag eines kleinen Schmetterlings einen Baum entwurzelt, der einen Karren von Kohlköpfen unter sich begräbt. Manchmal jedoch war er der Anstoß für die größten Ereignisse in der Gesichte, und manchmal war er der Katalysator für etwas, was die Welt in ihren Grundmauern erschüttern sollte. Doch jedem, der an diesem unscheinbaren Morgen seine Augen öffnete, würde er sich auf ewig ins Gedächtnis brennen.
 

Im Schutze des Nebels hatte sich eine Gestalt genähert. Sie glitt fast völlig lautlos über das eiskalte Wasser hinweg, obwohl sie sich nicht einmal die Mühe machte sich zu verbergen, vorbei an den eisigen Klippen, die drohend in die Höhe ragten. Es war die Erfahrung, die die Gestalt sicher durch das Labyrinth aus Eis und Schnee brachte, denn obwohl sich der Nebel langsam lichtete, war es kaum möglich etwas zu erkennen. Zielsicher glitt das kleine Boot durchs Wasser. Das Ziel war klar, es würde ein leichtes sein es zu finden, beinahe unmöglich es zu verfehlen, selbst wenn man nicht wusste, wo es sich befand. Ein kleines Lämpchen leuchtete am Bug. Nicht, dass es die Sicht großartig erweitert hätte, doch als plötzlich eine Stimme aus dem Nebel drang, wusste die Gestalt, dass das Lämpchen die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Genauso wie beabsichtigt.

„Wer ist da?“ Die Stimme klang gedämpft, doch sie war klar zu verstehen.

Einen Augenblick antwortete die Gestalt nicht, darauf hoffend, dass sich der Nebel verziehen würde und den Blick auf sich freigeben würde, doch da es nicht geschah, hielt sie es für besser, doch eine Antwort zu geben. Obwohl es bei dieser schlechten Sicht unnötig war, erhob sich die Gestalt. „Ich will zu eurem Anführer.“
 

Kenai schlief, als ein plötzlicher Eindringling ihn aus seinen Träumen riss.

„Harun!“

Einen Moment überlegte Kenai, ob er sich einfach zur Seite drehen und weiterschlafen sollte, doch etwas in der Stimme des Mannes –in der er einen der Wachmänner erkannte- erregte seine Aufmerksamkeit. Er konnte hören, wie sich sein Vater neben ihm gähnend aufrichtete, verwundert über diese frühe Störung, aber auch ein wenig besorgt.

„Was gibt es denn?“

„Da ist ein Mann eingetroffen, der dich sprechen will“, antwortete die Wache hastig. „Er will dich sehen.“

„Und wer ist er?“

„Er behauptet, sein Name wäre Nuka.“

Etwas stimmte nicht. Kenai konnte förmlich spüren, wie sich die Atmosphäre schlagartig veränderte. Etwas Drohendes lag plötzlich in der Luft. Mit gerunzelter Stirn öffnete Kenai die Augen. Im blassen Morgenlicht konnte er nur spärlich die Umrisse seines Vaters erkennen, doch selbst dieses fahle Licht reichte aus um zu erkennen, dass beim Klang dieses Namens jegliche Farbe aus seinem Gesicht gewichen war. Unruhe regte sich in Kenai und langsam stemmte er sich in die Höhe. „Was ist denn los?“, fragte er schläfrig und rieb sich die Augen. Zu seiner eigenen Verwunderung schien ihm niemand antworten zu wollen. Die Wache hatte seinen Blick abwartend auf Harun gerichtet, doch dieser schien in weite Ferne zu blicken. Verwundert hob Kenai eine Augenbraue und sah die beiden Männer abwechselnd an, doch plötzlich kehrte das Leben in seinen Vater zurück.

„Hast du Nuka gesagt?“ Die Wache nickte. „Sag ihm, das ich gleich bei ihm bin.“ Sofort zog sich die Wache zurück. Harun verlor keine Zeit. Im nu stand er auf den Beinen.

„Was ist denn los, Vater?“, fragte Kenai, der ein wenig skeptisch mit ansah, wie Harun nach seinem dicken Pelzmantel griff und ihn sich überwarf, ohne sich vorher umzuziehen. Aus irgendeinem Grund beschlich ihn der Gedanke, dass er irgendetwas nicht mitbekommen hatte, doch bevor er sich diesem Gedanken völlig im klaren war, musste er verblüfft mit ansehen, wie sein Vater nach einem Speer griff, der am hintersten Ende des Zimmers gegen die Wand lehnte. Kenai war bisher immer davon überzeugt gewesen, das dieser mittlerweile dort fest geeist war. Harun war das unangefochtene Oberhaupt des Wasserstammes, doch jeder im Dorf wusste, selbst die Allerkleinsten, dass er es hasste, eine Waffe in die Hand zu nehmen und es nur äußerst ungern tat. Selbst bei der Jagd verzichtete er darauf. Das der Name ‚Nuka’ ausreichte, um diese Reaktion bei ihm auszulösen, weckte Neugierde in Kenai, doch zugleich verspürte er auch eine Spur von Furcht, ein Gefühl, dass er sofort zu unterdrücken versuchte, als er es bemerkte. Immerhin war er mit seinen vierzehn Jahren beinahe ein Mann.

„Du bleibst hier“, sagte Harun schließlich und ohne eine Antwort abzuwarten verließ er das Haus. Kenais Blick folgte ihm, doch kaum war er aus der Türe verschwunden, sprang der Junge auch schon aus dem Bett und sammelte seine Kleidung vom Boden auf, die er Abends zuvor achtlos in eine Ecke geworfen hatte und zog sich hastig an. Eigentlich tat er immer, was sein Vater ihm sagte –bisher hatte es auch noch nie eine Veranlassung gegeben, ihm nicht zu gehorchen-, doch heute schien sich sein Körper beinahe ohne sein Willen zu bewegen. Ehe er sich versah, war er auch schon aus dem Haus gestürmt und folgte ihm in sicherer Entfernung.

Auch in den anderen Häusern kehrte bereits Leben ein. Kenai konnte hören, wie sich die ersten Familien unterhielten. Einige traten sogar vor die Türe oder schauten aus einem der Fenster um zu sehen, was es wohl für ein Tag werden würde. Jene, die dies taten, kamen nicht umhin zu bemerken, wie Harun mit einem Speer bewaffnet durch die Straße zog. Einige sprachen ihn an, doch er reagierte nicht auf sie. Und so galt ihre Neugierde Kenai, der ein wenig später als sein Vater an ihnen vorbei kam.

„Schönen guten Morgen, Kenai“, grüßte ihn eine alte Frau, die er immer Granni nannte, obwohl er sich nicht mehr erinnern konnte warum. „Du bist heute aber schon früh auf.“

„Ja“, antwortete er abwesend, all seine Sinne nur auf seinen Vater gerichtet, der seinem Blick zu entschwinden drohte. Er wollte weitergehen, doch Granni versperrte ihm den Weg.

„Das war doch eben Harun, der hier vorbeigekommen ist.“

„Ja“, antwortete Kenai, der versuchte sich vorbeizuschieben, doch aus irgendeinem Grund versperrte ihm plötzlich ein Gehstock den Weg.

„Es sah so aus, als hätte er einen Speer dabei.“

„Ja, scheint so.“ Kenai versuchte es mit der anderen Seite, doch abermals war es der Gehstock, der ihm am vorbeischleichen hinderte.

„Will er denn etwa Fischen gehen?“, fragte Grannie mit unschuldiger Miene, als sie die Spitze ihres Gehstocks in Kenais Rücken rammte, der versucht hatte unter ihr hindurch zu kriechen.

„Nein, will er nicht“, stieß Kenai mit tränenden Augen und noch immer auf dem Boden liegend hervor. „Es geht um irgendeinen Nuka.“ Spätestens jetzt hätte sogar ein Blinder erkannt, dass etwas mit diesem Namen nicht stimmte. Klappernd fiel der Stock aus Grannis alten Händen, die Augen vor Schreck geweitet. Vollkommen fassungslos drohte sie sogar das Gleichgewicht zu verlieren, doch Kenai konnte sie noch rechtzeitig auffangen.

„Hast du- Hast du Nuka gesagt?“, fragte sie mit bebender Stimme.

„Wer ist dieser Nuka?“ Sie sah ihn an, doch er war sich nicht sicher, ob sie ihn wirklich wahrnahm. Tränen schimmerten in ihren wasserblauen Augen. Sorge regte sich in ihm. Warum benahmen sich alle so seltsam wenn sie diesen Namen hörten? Erst sein eigener Vater, dann Granni. Und letztere schien auch noch kurz davor zu sein in Tränen auszubrechen. Sanft legte er ihr eine Hand auf die Schulter. „Granni? Ist alles in Ordnung?“

Mit großen Augen schien sie durch ihn hindurch zu starren. Vollkommen reglos stand sie da, zuckte noch nicht einmal mit einer Wimper. Mit gerunzelter Stirn wedelte er mit seinen Händen vor ihr Gesicht herum. Keine Reaktion. Er kniff sie. Keine Reaktion. Er schüttelte sie. Keine Reaktion. Ein plötzlicher Schreck fuhr durch seine Glieder. Sie hatte doch nicht etwa einen Herzstillstand?! „Oh nein“, wisperte er, schlagartig käseweiß. „Ich habe sie umgebracht!“

„NUKA IST ZURÜCK!!!“

Vor Schreck machte Kenai einen Satz nach hinten. Vollkommen verblüfft starrte er Granni hinterher, die nicht einfach nur in die Richtung, in die sein Vater verschwunden war, rannte, sondern regelrecht raste. Trotz ihres hohen Alters und des Gehstocks, der traurig auf dem Boden lag. Kenai wollte ihn gerade aufheben, als er von einer plötzlichen Horde von Dörflern umgerannt wurde, die rein zufälligerweise in Hörweite gewesen waren. Was, zum Henker, ging hier vor sich?

Das Dorf war in heller Aufregung. Jeder, der gehört hatte, dass Nuka wieder da war, drängte sich nun auf dem großen Platz und versuchte einen guten Blick auf den Mann zu erhaschen, der im Zentrum der ganzen Aufmerksamkeit stand. Bei seinem Anblick brachen einige in Tränen aus, andere schrien ihm irgendetwas zu, doch es war unmöglich bei dem Stimmengewirr irgendetwas herauszuhören. Es kehrte erst schlagartig Ruhe ein, als sich Harun einen Weg durch die Menge bahnte, sichtlich erzürnt über ihr hier sein und übersät mit Fußabdrücken. So wie sein Sohn zuvor, war auch von einer plötzlich aufgetauchten Frauenherde niedergetrampelt worden.

Direkt hinter ihm und von ihm unbemerkt, drängte sich Kenai überraschend gewandt durch die Menge, wobei er höllisch aufpassen musste nicht von einem Ellenbogen erschlagen zu werden. In der zweiten Reihe blieb er stehen und reckte den Hals um besser sehen zu können. Sein Vater stand beinahe gänzlich mit dem Rücken zu ihm, wobei er den Fremden mit dem Namen Nuka halb bedeckte.

„Du bist also der, der behauptet Nuka zu sein?“, fragte Harun mit harter Stimme, woraufhin ihn nicht nur Kenai, sondern auch einige andere (vorwiegend die jüngere Generation) verwirrt ansahen. Sein Vater hatte eigentlich eine sehr weiche und freundliche Stimme, doch davon war in diesem Augenblick nichts mehr zu hören.

„Habe ich mich etwa so sehr verändert?“, kam es unbekümmert als Antwort. „Aber was sehe ich da? Ein Speer? Ich bin beeindruckt, Harun. Ich hätte nicht gedacht, dass du ihn jemals wieder anfassen würdest.“

„Was willst du hier?“

Nuka schwieg einen kurzen Moment und in diesen kurzen Sekunden war es, als wäre die Welt verstummt. Jeder schien dem Atem anzuhalten. Jeder bis auf Kenai und die wenigen anderen Kinder, die, angelockt von der Menschenmenge, aus Neugierde hinzugekommen waren. Doch auch diese wagten es nicht die angespannte Stille zu stören. Schließlich war es an Nuka, das Schweigen zu brechen. „Ich bin gekommen, weil ich eure Hilfe brauche.“ Er wagte es nicht in die Menge zu blicken, die schlagartig wieder in helle Aufregung geriet. Abermals war es unmöglich irgendetwas aus dem Stimmengewirr herauszuhören.

Plötzlich packte jemand Kenai am Arm. „Hey. Was ist hier los?“

Erschrocken blickte Kenai in das Gesicht seines drei Jahre älteren Freundes Atka, der ihn mit gerunzelter Stirn fragend ansah. Eine Strähne seines dunklen Haares fiel ihm ins Gesicht, die er ärgerlich fort zu pusten versuchte. „Keine Ahnung. Das versuche ich auch gerade herauszufinden. Aber ich verstehe kaum ein Wort.“

Atka nickte ihm nachdenklich zu, dann zerrte er seinen Freund aus der Menge hinaus, ohne auf dessen Protest zu achten. Es dauerte einige Sekunden bis Kenai begriff, was Atka vorhatte und gemeinsam kletterten sie auf das nächstbeste Haus, von dem aus sie zwar nur bedingt besser hören konnten, doch dafür einen viel besseren Blick hatten. Nun konnten sie zum ersten Mal Nuka erkennen und für einen winzigen Augenblick vergaßen die beiden zu atmen.

Nuka und Harun schienen etwa im selben Alter zu sein, aber ebenso gut konnte ersterer auch etwas jünger sein, oder um Jahre älter. Es war unmöglich zu sagen, denn Nukas Gesicht war von mehreren tiefen, fürchterlich aussehenden Narben entstellt. Selbst sein kurzer Bart konnte daran nichts ändern. Im Gegenteil. Dadurch wirkte er nicht nur älter als er in Wirklichkeit war, sondern auch noch wie ein Kriegsveteran.

„Wieso sollten wir dir helfen?“, fragte Harun scharf. Wieder wurde es still.

Nuka antwortete nicht sofort. Er stand einfach nur da, stolz und aufrecht, die Augen fest auf sein Gegenüber gerichtet. Er schien nach den richtigen Worten zu suchen, wissend, wie wichtig diese werden konnten. Langsam befeuchtete er nachdenklich mit seiner Zunge die Lippen, dann holte er tief Luft. „Ich bin nicht wegen mir hier, Harun. Wenn es nach mir gehen würde, wäre ich immer noch im Land der brennenden Erde, an der Seite unserer Brüder und Väter und Kinder, die für unser Volk kämpfen, während wir hier unsere Zeit mit Reden vergeuden. Ich bin hier her gekommen, weil ich darum gebeten wurde. Wir brauchen Hilfe. Eure Hilfe. Wir-“

„Ich habe es dir damals gesagt und ich sage es dir noch einmal“, unterbrach ihn Harun wirsch. „Wir haben mit deinem Krieg nichts zu tun.“

„Meinem Krieg?“ Ungläubig starrte Nuka den Stammesfürst an. „Mein Krieg?! Ich habe diesen Krieg nicht angefangen!“

„Was für ein Krieg?“, fragte Kenai leise, doch sein Freund blickte ebenso ratlos drein wie er.

„Wer hat denn angefangen?“ Nukas Stimme zitterte vor unterdrücktem Zorn. „Wer hat denn unser Dorf angegriffen? Wer hat denn unsere Frauen und Kinder abgeschlachtet als wären sie Vieh?! Erinnerst du dich noch, oder hast du es etwa verdrängt? Hast du es etwa verdrängt, wie sie vor vierzehn Jahren hier einfielen, erst zu dutzenden, dann zu hunderten? Hast du etwa den Geruch der brennenden Luft vergessen? Hast du etwa die Schreie vergessen? Das Weinen? Das Flehen? Die Klagelaute der Familien, als sie um ihre Toten weinten? ICH habe das nicht vergessen! Und eure Männer, Brüder, Onkels, Großväter und Söhne auch nicht, die für euch immer noch da draußen kämpfen, fern ab ihrer Heimat! Seit vierzehn Jahren kämpfen sie für euch, für jene, die wir verloren haben! Und wir sind so kurz davor! Wir sind so kurz davor zu gewinnen! Alles, was wir dazu noch brauchen, sind ein paar tapfere Krieger, die uns helfen!“

„Deswegen bist du hier hergekommen?“, donnerte Harun ungerührt. „Du bist hier hergekommen, um auch noch unsere letzten Söhne mitzunehmen? Um noch mehr Familien zu zerstören? Du hast schon genug angerichtet mit deinem Wahn nach Rache! Wie viele Familien müssen wegen dir trauern, hm? Wie vielen Müttern, Ehefrauen und Kindern musst du gleich in die Augen sehen und ihnen sagen, dass ihre Liebsten nicht mehr nach Hause zurückkehren werden? Wie vielen? Sag es mir!“ Nuka sagte nichts, doch er senkte auch nicht seinen Blick. „Dein Kampf wird unsere Toten nicht zurück bringen.“

„Unser Kampf wird unsere Toten nicht zurück bringen, das ist wahr. Aber unser Sieg wird ihren Seelen Frieden geben! Du hast doch keine Ahnung, Harun! Du hast doch keine Ahnung, wie es da draußen aussieht! Du sitzt hier, inmitten unseres Stammes und verkriechst dich in deiner Eishütte! Du schimpfst dich Clanführer? Du bist ein Feigling! Du hättest an meiner Stelle ausziehen müssen! Du hättest unsere Krieger in den Kampf führen müssen und nicht ich! Du müsstest es sein der mit ihnen redet, ihnen Mut zu spricht, mit ihnen Feiert und triumphiert! Gib mir mehr Männer, Harun! 50, nein 25 reichen wenn sich unter ihnen mindestens drei Wasserbändiger befinden und in wenigen Monden könnten wir wieder zu Hause sein! Dieser Krieg ist fast vorbei und wir sind so kurz davor den Sieg davon zu tragen! Begreift ihr es denn etwa nicht? Eure Familien könnten wieder nach Hause kommen!“ Nuka wandte sich dem Dorf zu. Die Zahl der Lauscher hatte sich verdreifacht während er gesprochen hatte. Es gab wohl niemanden, der nicht anwesend war. Doch alle schwiegen. Einige hielten sich stumm fest, andere schluchzten und wieder andere hingen fasziniert an seinen Lippen. „Stellt euch das vor! Nach vierzehn Jahren können wir wieder nach Hause kommen! Ihr könnt eure Männer wieder in die Arme schließen! Eure Familien können endlich wieder Frieden finden!“

„Niemand kann Frieden finden, wenn dieser Frieden mit Blut errungen wird.“ Harun sprach ruhig. Er musste sich arg zusammenreißen um nicht seine Fassung zu verlieren. In jedes Wort, dass seine Lippen verließ, legte er all seine Autorität die er aufbringen konnte. „Ich werde dir keine Männer geben. Keinen einzigen.“

„Du willst uns also wieder im Stich lassen, was? Das sind deine Männer da draußen!“

„Und sie können jeder Zeit gerne wieder hier her zurück kommen. Keiner von denen, die hier zurückgeblieben sind wollten das sie gehen. Es war ihre Entscheidung. Wir haben an jenem Tag alle geliebte Menschen verloren. Ich lasse nicht zu, dass wir deswegen noch mehr verlieren. Die einzigen Krieger, die wir haben, sind noch halbe Kinder. Sie sind unsere Zukunft. Ich werde nicht zulassen, dass dein Krieg unsere Zukunft ruiniert!“

„Ach ja?“ In Nukas Augen lag plötzlich ein seltsamer Glanz. Sein Blick huschte über die Menschenmenge, suchte Gesichter, die er nicht kannte und fand sie in der Jugend, die sich zwischen den Erwachsenen versammelt hatte. „Sie wissen es nicht, oder? Ihr habt es ihnen also nicht gesagt? Habt ihr ihnen etwa nicht gesagt, warum einige von ihnen keine Mutter oder keinen Vater haben? Warum manche bei ihren Großeltern oder gar Fremden aufwachsen müssen?“ Sein Blick richtete sich wieder auf Harun, so scharf, als würde er ihn erdolchen wollen. „Was ist mit deinem Jungen? Was hast du ihm gesagt?“

„Halte Kenai daraus!“

„Glaubst du, er wird nicht wissen wollen was mit seiner Mutter passiert ist? Ich glaube kaum, dass er sich darüber freuen wird wenn er erfährt, dass du ihn angelogen hast. Oder hast du ihm die Wahrheit gesagt?“

„ES REICHT!“, donnerte Harun und seine Stimme hallte von den eisigen Klippen wieder die den Ort umgaben. „Ich habe genug gehört! Ich lehne deine Bitte ab! Ruh dich aus, fülle deinen Proviant auf und verschwinde von hier. Ich will dich hier erst wieder sehen, wenn du unsere Männer wieder zu uns nach Hause zurück bringst.“ Mit einem letzten, harten Blick sah er Nuka an, dann wandte er sich ab und verschwand in der Menge. Kaum war er verschwunden, brach Chaos aus.

Oben auf dem Dach saß Kenai, stumm, verwirrt und aufgewühlt. Er hatte gesehen, was es zu sehen gab, hatte gehört, was es zu hören gab und doch fühlte er sich mit einem Mal sehr leer. Er sah Atka an und in seinem Blick lagen dieselbe Frage, die auch ihn beschäftigte: Was war hier gerade passiert?

Kenai mochte die Oase der Geister. Er mochte die Ruhe, die diesen Ort umgab. Sie schien auf ihn abzufärben, beruhigte seine Gedanken und half ihm nachzudenken. Und gerade jetzt konnte er einen ruhigen Geist gebrauchen, denn er fühlte sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Zusammen mit Atka saß er am Ufer des kleinen Sees und beobachtete die Geister Tui und La, die in Form zwei Koi-Karpfen ihre endlosen Kreise zogen. Wenn sein Vater wüsste, wo er war, würde es sicher Ärger geben, doch Harun war seit seiner Auseinandersetzung mit Nuka nicht mehr gesehen worden. Kenai hatte ihn gesucht, jedoch nicht gefunden und da er keine Lust auf das Chaos hatte, dass draußen ausgebrochen war, waren er und sein bester Freund nun hier, wobei Atka bisher noch kein Wort gesagt hatte. Die Arme um die Beine geschlungen hockte er im Gras und starrte vor sich hin. Er wollte offensichtlich schweigen, doch Kenai hatte das dringende Bedürfnis mit jemanden zu reden. Er wollte gerade den Mund aufmachen, als Atka ihm zuvor kam.

„Kann sein, dass mein Vater auch dort draußen ist“, sagte er mit sich überschlagender Stimme. Sein seltsam glasiger Blick war in weite Ferne gerichtet. „Meine letzte Erinnerung an ihn ist, wie er mir das letzte Mal mein Haar zerzaust hat. Danach war er einfach weg. Mutter hat uns nie gesagt was aus ihm geworden ist.“ Mit ‚uns‘ meinte er sich selber und seine kleine Schwester Kaija, die nur wenige Wochen jünger war als Kenai. „Vielleicht ist er wie dieser Nuka losgezogen um zu kämpfen.“

„Fragt sich nur warum.“

„Warum? Hast du nicht zugehört? Unser Stamm ist überfallen worden!“

„Das weiß ich auch.“ Beleidigt schob Kenai die Unterlippe vor. Als hätte er nicht genau gehört, was auf dem Platz gesprochen worden war. „Aber warum? Von wem? Wieso ausgerechnet unser Stamm? … Was ist noch da draußen?“ Vierzehn Jahre lang war alles, was er gekannt hatte, sein Dorf und das Wasser, das es umgab und plötzlich hörte er, dass da draußen noch andere Sachen gab. Nuka hatte es gesagt. Man könnte sich nicht vorstellen was da draußen vor sich ging. Er hatte Recht. Zumindest Kenai konnte es nicht. In seiner Vorstellung bestand der Rest der Welt aus Wasser und Eis, eben so, wie er es von klein auf kannte, doch das passte nicht zu einem Land, wo die Erde brannte. Erde konnte brennen? Das ging doch gar nicht! Er sah Atka an, wollte etwas sagen, doch dieser starrte ihn an, als hätte er ein schlimmes Wort benutzt. „Was ist?“

„Was ist noch da draußen? Du hast gerade erfahren, dass dein Vater dich belogen hat! Und du fragst nur, was da draußen ist?!“

„Vater hat mich nicht belogen!“, protestierte Kenai heftig. „Er hat mir nur nicht alles gesagt! Das ist nicht das gleiche!“

„Oh doch, ist es!“

„Nein, ist es nicht!“

„Oh doch, ist es!“

„Na nu?“, erklang plötzlich eine Stimme, die die beiden Jungen erschrocken zusammenzucken ließ. „Ich dachte, dass hier wäre ein Ort der Ruhe und der Friedens und nicht der Ort der Zankereien.“ Nuka hatte die Oase betreten, doch anstatt empört über ihr Benehmen zu sein, grinste er breit. „Ich bin wohl nicht der einzige, der die Vorteile dieses Ortes zu schätzen weiß. Darf ich?“ Er wartete keine Antwort ab, sondern setzte sich einfach zwischen die Jungen, löste einen Trinkbeutel von seinem Gürtel und nahm einige Schlucke einer scharf riechenden Flüssigkeit, die er sichtlich genoss. „Ah! Es gibt nichts Besseres als ein guter, heimischer Schlummertrunk. Denkt aber nicht, dass ich euch was abgebe, Jungs. Du bist eindeutig noch zu jung dafür“, sagte er zu Kenai, „und du siehst aus, als würdest du mir alles wegtrinken können, also kannst du es gleich vergessen.“

Atka hob lediglich eine Augenbraue. Im Gegensatz zu Kenai schaffte er es nicht auf die zahlreichen Narben zu starren. „Du bist also dieser Nuka.“

„Der bin ich. Wenn ihr Fragen haben solltet, stellt sie jetzt wo wir ungestört sind und wir nicht gestört werden.“ Kaum hatte er das gesagt, überschlug sich Atkas „Kennst du einen Nakana?“ mit Kenais „Was ist da draußen?“ Abwehrend hob Nuka seine Hände. „Immer langsam mit den jungen Robben. Nicht alle auf einmal. Nakana, sagtest du?“ Atka nickte ernst. „Ja, den kenne ich. Er ist mein Stellvertreter. Während wir hier reden, führt er wahrscheinlich unsere Krieger in den nächsten Kampf. Bist du sein Junge? Du siehst ihm ähnlich.“ Atka wusste nicht, was er sagen sollte. Ein plötzlicher Kloß schnürte ihm die Kehle zu, so dass er nur nicken konnte. Lächelnd legte ihm Nuka eine Hand auf die Schulter. „Wenn du nur halb der Mann bist der er ist, könnten wir dich gut gebrauchen. Ich habe Platz im Boot. Dein Vater würde bestimmt große Augen machen, wenn sein Sohn plötzlich vor ihm stehen würde. Du bist nicht zufällig ein Wasserbändiger, oder?“, fragte er beiläufig. Als Atka abermals nickte, trat ein triumphierender Glanz in seine stahlblauen Augen.

„Ich bin auch einer!“, platze es aus Kenai heraus, obwohl er das gar nicht hatte sagen wollen. Nuka wandte sich zu ihm um und musterte ihn eingehend, bis er ihm direkt in die Augen blickte. Der Junge spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Ein Windhauch, warm und sanft, aber anders als er es je gespürt hatte, strich sanft über seine Haut, schien in ihm etwas zu erwecken, was vorher noch nicht dagewesen war. Er sah in diese stahlblauen Augen, doch er sah durch sie hindurch. Er vermeinte dort etwas erkennen zu können, doch er konnte es nicht greifen, egal wie sehr er sich bemühte. Jemand schien ihn etwas zu fragen, doch er verstand die Worte nicht. Vor ihm erschien ein Bild, doch es verschwamm noch bevor er es erkennen konnte. Plötzlich packte ihn jemand an der Schulter und rüttelte ihn.

„Hey! Kenai! Bist du in Ordnung?“, fragte ihn Atka. „Du hast plötzlich so komisch geguckt.“

Kenai blinzelte verwirrt. „W- was ist?“

„Kenai?“, fragte Nuka erschrocken und starrte den Jungen an, plötzlich aufgeregt. „Haruns Sohn? Junge! Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du gerade Mal einen Tag alt! Du warst etwa so groß, hast ständig am Daumen genuckelt und gesabbert wie ein Weltmeister! Lass dich ansehen! Was für ein Glück. Optisch schlägst du jedenfalls eher nach meiner Familie.“

„Deiner Familie?“ Kenai war immer noch leicht benommen, doch jetzt war er auch noch verwirrt. Nuka beachtete das nicht.

„Du hast Haruns Haar geerbt. Es fällt die genauso lässig über die Stirn wie einst deinem Vater, doch du hast die gleichen Augen wie Selena.“ Er zögerte einen Moment, dann legte er ihm die Hände auf die Schläfen, hob seinen Kopf etwas an und sah ihm traurig lächelnd ins Gesicht. „Das gleiche blau wie sie, strahlender als der Ozean und so unergründlich wie die See.“ Er ließ ihn wieder los. „Sie war auch eine Wasserbändigerin.“

„Du kanntest meine Mutter?“

„Das will ich hoffen! Ich bin ihr Bruder, was Harun bestimmt vergessen hat zu erwähnen. Nenn mich aber nicht Onkel Nuka. Das klingt so alt. Du hast bestimmt tausend Fragen.“ Jeder normaler Mensch hätte jetzt ganz gewiss tausende von Fragen gehabt, doch irgendwie vielen Kenai plötzlich keine ein. Er fühlte sich schummerig. Ihm war warm, beinahe heiß, doch es war nicht unangenehm. „Ist er immer so?“, fragte Nuka Atka besorgt.

„Eigentlich nicht. Aber vermutlich ist ihm das alles ein wenig zu viel … Was ist das für ein Krieg, von dem du erzählt hast?“

Nuka wurde ernst. Langsam verschränkte er die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen einen großen Stein, der direkt hinter ihm aus der Erde ragte. „Ihr wisst es wirklich nicht, oder? Das Harun nichts erzählt hat verstehe ich ja noch, aber mich wundert, dass nicht zumindest ein paar Dorfbewohner etwas gesagt haben. Vermutlich wollen sie nicht daran erinnert werden …“ Er schwieg einen Moment, bevor er schwer seufzte. „Seid mir nicht böse, aber die Einzelheiten erspare ich euch lieber. Ihr wollt sie nicht hören und ich will sie nicht erzählen. Was ihr jedoch verstehen müsst, bevor ich sie euch erzähle, ist vollgenes: Die Welt ist groß, viel größer als ihr es euch vorstellen könnt. Wenn ihr mit euren Booten ins Meer hinaus fahrt, müsst ihr immer geradeaus fahren. Tage, wenn ihr Pech habt vielleicht sogar Wochen lang immer nur gerade aus, doch dann werdet ihr irgendwann einmal Land erreichen. Dort ist es anders. Das Land besteht nicht nur aus Eis, so wie bei uns. Dort gibt es Erde und es ist warm, viel zu warm sogar nach meinem Geschmack. Ihr solltet das sehen! Bäume! Wisst ihr, was Bäume sind?“ Er sah sie an und blickte in zwei ratlose Gesichter. „Das sind Pflanzen, höher als unsere Häuser, so hoch, dass man manchmal die ganze Welt sehen kann wenn man auf sie hinaufklettert. Wenn ganz viele Bäume sehr eng zusammen stehen nennt man das Wald. In solchen Wäldern gibt es sogar Geister.“

Kenai sah auf. Noch immer fühlte er sich benommen, als würde er neben sich stehen und auf gewisse Weise war dem auch so. Ein Teil seines Geistes war wie hypnotisiert und auf die Karpfen gerichtet, die noch immer ihre Kreise zogen und es auch immer tun würden, bis in alle Ewigkeit, doch der andere Teil lauschte Nukas Worten und diese faszinierten ihn. Das Gefühl, was er vorhin nicht hatte beschreiben können, begann ihm endlich klarer zu werden. Er versuchte sich vorzustellen wie es war über den Ozean zu fahren um nach einer langen Reise eines Tages an einen Ort zu gelangen, der vollkommen anders war als alles, was er kannte. Er versuchte sich vorzustellen wie es war, auf einen Baum zu klettern, obwohl er weder genau wusste was ein Baum war, noch wie solch einer aussah. Obwohl er es sich nicht vorstellen konnte, oder vielleicht gerade deshalb, wuchs in ihm ein Verlangen danach diese Welt zu sehen, von der sein Onkel sprach.

Nuka lächelte, als er in die glänzenden Augen seines Neffen blickte, doch dann verschwand es hinter einer Miene der Traurigkeit. „Es gibt dort viel schönes, doch leider auch viel schlechtes … Unser Stamm ist nicht der einzige, den es gibt. Es gibt noch viele andere, mit anderen Menschen und anderen Fähigkeiten. So wie wir das Wasser bändigen können, gibt es welche die bändigen das Feuer, wieder andere die Erde, auf die sie stehen und es gibt sogar welche, die die Luft bändigen können. Oh, ihr solltet sie sehen, diese Bändiger! Während wir auf der Erde stehen, können sie fliegen, wirklich fliegen! Ihnen sind keine Grenzen gesetzt! Aber sie sind gefährlich. Wie die anderen Bändiger auch. Sie versuchen uns zu vernichten, denn sie wollen diese Welt für sich alleine haben. Vor vierzehn Jahren haben einige der Feuerbändiger ihren Weg zu uns gefunden, ohne dass wir das bemerkt hatten. Sie hatten einen Weg gesucht, um die Erdbändiger aus dem Hinterhalt angreifen zu können, doch stattdessen trafen sie auf uns … Es war nicht so, dass wir noch nie Außenstämmige gesehen hatten, doch noch nie in diesem Ausmaß. Wir dachten sie kämen in Frieden … Aber dem war nicht so. Sie überfielen uns, ohne Vorwarnung. Bevor wir wussten, wie uns geschah, war unser halbes Dorf bereits zerstört worden. Unsere Reihen fielen, noch bevor wir überhaupt die Zeit hatten sie zu errichten … Es war furchtbar. Noch heute wache ich deswegen schweißgebadet auf. Wenn man solche Bilder gesehen hat, kann man sie nicht vergessen. Als wir es endlich geschafft hatten, unsere Angreifer zurückzudrängen, war es für viele schon zu spät. Ich hatte alles verloren. Meine Eltern waren verschwunden, von meinem Freunden hatte nur Harun überlebt, doch kurz nach dem Rückzug der Feuerbändiger wusste ich das noch nicht. Ich habe überall nach ihnen gesucht, nach ihm und Selena, doch als ich sie fand, war es für sie bereits zu spät. Harun kniete neben ihr, vollkommen aufgelöst, doch er hielt einen Säugling in den Armen.“ Nukas Blick richtete sich auf Kenai, dessen zuvor noch leuchtende Augen trübe geworden waren. „Der Säugling warst du. In all den Chaos und des Leidens warst du geboren worden und als ich dich sah, so winzig und verletzlich, brach es mir das Herz. Es war nicht gerecht. Du warst kaum auf der Welt und schon warst du eine Halbweise. Selena hatte sich auf dich gefreut, weißt du. Stundenlang hat sie sich mit mir darüber unterhalten, wie du einmal sein könntest, ob du ein Junge oder ein Mädchen werden würdest … Es war nicht fair. Alles, was geschehen war, war nicht fair! Wir mussten etwas tun! Wir konnten das doch nicht einfach so hinnehmen! Man hatte unsere Familien zerstört! Unser Leben!“ Wut regte sich in ihm. Die sanften Wellen des Sees kräuselten sich. „Es ist die Aufgabe eines Kriegers sein Volk zu schützen. An diesem Tag hatten wir versagt, aber wir waren noch nicht geschlagen. Eine Gruppe, inklusive deines Vaters Nakana, wollten ihnen sofort nachjagen, doch Harun hielt uns zurück. Er war verwirrt und stand unter Schock und konnte daher nicht erkennen was er als Stammesoberhaupt hätte tun müssen. Dachte ich zumindest. Heute weiß ich, dass er immer noch genauso denkt wie damals. Das wir nur noch mehr Leid erfahren würden, wenn wir Rache nehmen würden, doch er irrt sich.“ Diese Worte richtete er nicht an Kenai, sondern an Atka, der ihm stumm und mit ernster Miene zuhörte. „Wir sind die Krieger des Wassers! Wir werden nicht ruhen, bis unsere Gefallenen endlich ruhen können. Verstehst du das, Junge? Würdest du nicht genauso handeln wie wir? Würdest du nicht auch kämpfen wollen, wenn man dir alles genommen hätte?“ Atka schwieg weiterhin, doch etwas lag in seinem Blick, was Nuka hoffen ließ. Nun wandte er sich wieder an seinen Neffen. „Dein Vater ist ein guter Mann, Kenai. Auch wenn wir uns momentan nicht gut verstehen, so ist er immer noch mein bester Freund, mein Schwager, mein Bruder und mein Anführer. Ich weiß nicht was er dir über deine Mutter erzählt hat, aber ich würde gerne mit dir über sie reden … Du siehst ihr wirklich sehr ähnlich, besonders deine Augen. Als würde sie durch dich hindurch in unsere Welt blicken.“ Eine Weile lächelte er ihn traurig an, dann erhob er sich ächzend. „Es ist nur schade, dass ich nicht länger hier bleiben darf. Ich werde mir ein Zimmer suchen, eine Runde schlafen und noch vor dem Morgengrauen abreisen. Ich würde wirklich gerne mit dir über Selena reden und dir die Welt da draußen zeigen, Kenai. Du würdest sie lieben. Du würdest nicht glauben, was du alles sehen würdest!“ Lächelnd zerzauste er ihm das Haar, dann wandte er sich um und hielt Atka die Hand hin, die der junge Mann sofort ergriff. „So stark wie der Vater! Nakana wäre stolz auf dich, Junge! Ich werde ihm von dir erzählen. Vorausgesetzt er lebt noch.“ Erschrocken sah Atka ihn an. „Oh, keine Sorge! Dein Vater ist der zähste von uns allen. Dem passiert so schnell nichts. Ein Nakana ist sechs Krieger wert! Aber ich würde lügen wenn ich sagen würde, dass selbst unseren besten nichts passieren kann.“ Er verstummte, den Blick in weite Ferne gerichtet. Er zögerte, doch dann wandte er sich zum Gehen um. „Es war schön euch zu sehen. Eure Eltern können stolz auf euch sein.“ Mit diesen Worten verschwand er und ließ zwei nachdenkliche Jungen hinter sich zurück.

Es war bereits spät geworden, als sich Kenai endlich dazu aufraffen konnte nach Hause zu gehen. Er fühlte sich noch immer ein wenig benebelt und Nukas Worte wollten ihm nicht mehr aus dem Sinn. Er war verwirrt. Die Nachricht, dass seine Mutter und viele andere auch bei einem Überfall ums Leben gekommen waren, bedrückte ihn, doch es wog nicht so schwer wie die Bilder neuer Welten, die ihn erfüllten. Sein Vater hatte ihn nie belogen. Er hatte ihm nur gesagt, dass seine Mutter bei seiner Geburt gestorben war und nach dem, was er nun wusste, stimmte das auch. Nur die Umstände hatte man ihm verschwiegen. Konnte er seinem Vater etwa deswegen böse sein? Nein, irgendwie nicht. Harun war ein wundervoller Vater. Er konnte ihm einfach nichts vorwerfen und er wollte es auch nicht, obwohl er bestimmt Gründe dafür finden konnte wenn er nur wollte.

So tief in Gedanken versunken, wie Kenai durch die eisigen Straßen seines Dorfes schlich, bemerkte er nicht was um ihn herum vor sich ging. Nichts war so wie es hätte sein sollen. Die Sonne verschwand langsam am Horizont und flutete das Eis in goldenes Licht. Kinder hätten zu dieser Zeit auf der Straße spielen sollen, doch von ihnen war nichts zu sehen. Aufgeregte Erwachsene hatten sich zu Minigruppen zusammengerottet und diskutierten hitzig miteinander, anstatt, wie üblich, gemeinsam auf dem Dorfplatz zu sitzen und den Tag mit Geschichten und Musik ausklingen zu lassen. Das einzige Gesprächsthema schien Nuka zu sein.

Plötzlich wurde Kenai von einem harten Wasserstrahl zu Boden geschleudert, welches sofort zu Eis gefror. „Hey!“

„Hab ich dich!“, erklang eine Stimme ganz in seiner Nähe triumphierend. Eine Mädchen beugte sich über ihn. Ihre wasserblauen Augen waren zu vorwurfsvollen Schlitzen verengt, während sie streng ihre Hände in die Hüften stemmte. Ihr dunkelbraunes Haar wehte im strammen Wind, der von der Eiswüste herüberwehte.

„Kaija!“, stieß Kenai überrascht hervor. Er konzentrierte sich, sammelte seine Kräfte und im nächsten Moment schmolz das Eis zu Wasser. Sofort war er wieder auf den Beinen. „Was sollte das?“

„Weißt du, dass ich dich schon seit Stunden suche? Dich und Atka? Meister Kohei sucht euch schon den ganzen Tag. Ihr seid nicht zum Training erschienen.“

„Oh.“ Das hatte Kenai vollkommen vergessen. Meister Kohei war ein älterer Mann mit schneeweißem Haar, schneeweißem Bart, tiefen Falten im Gesicht, einem Blick, bei dem man sich ständig fragte was man nun schon wieder angestellt hatte und einem ständigem Geruch nach faulem Fisch, den er einfach nicht mehr los wurde. Er war ein versehentliches Opfer eines heimtückischen Anschlages geworden, wie er selbst behauptete. In Wirklichkeit war er einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Kenai und die alte Granni hatten nicht wissen können, dass er gerade unter dem Fenster gestanden hatte, als sie gleich mehrere Körbe fauliger Fischreste entsorgt hatten. Wirklich nicht. Seit dem Tag roch der Wasserbändiger nicht nur ziemlich streng, er hatte auch noch die dazu passende Laune, die er gerne an seinem Lieblingsschüler ausließ. „Das ist schlecht.“

Kaija grinste hämisch. „Oh ja, das ist es. Ihr seid so was von erledigt. Ich habe ihn noch nie so übellaunig gesehen. Wirklich. Wenn er dich findet, bist du so gut wie tot.“ Mitleidig legte sie ihm einen Arm um die Schulter. „Deswegen bin ich ja hier. Ich wollte dich was etwas fragen … Kann ich deine Flöte und deine Schildkröte haben, wenn es hart auf hart kommt? Bitte!“ Flehend sah sie ihn an. Die Augen groß und rund, mit schimmernden Tränen, so herzzerreißend wie sonst der süßeste Blick von Babyrobben. Kenai schnürte es die Kehle zu. Ihm wurde warm. Seine Wangen brannten, während er in diese flehenden Augen blickte, so tief, so schön … Sofort stieß er sie von sich. „Auf gar keinen Fall“, krächzte er mit heiserer Stimme.

„Ach komm schon. Du kannst dir doch jeder Zeit eine neue schnitzen!“, protestierte Kaija. „Was ist denn schon groß dabei? Komm schon. Bitte! Zumindest die Flöte.“

„Auf gar keinen Fall!“ Er liebte seine Flöte! Es war der erste Gegenstand, den er je geschnitzt hatte und der auch funktionierte! Und die kleine Tonschildkröte würde er niemals hergeben. Als Kind war sie sein Lieblingsspielzeug gewesen und obwohl er längst aus dem Alter dafür raus war, so hing doch immer noch sein ganzes Herzblut an ihr. Seine Mutter hatte sie für ihn anfertigen lassen, kurz bevor er geboren worden war und sein Vater hatte sie liebevoll bemalt. „Niemals!“

Etwas verblüfft sah Kaija ihn an. „Was ist denn los mit dir?“ Solch ein Ausbruch von Kenai war höchst ungewöhnlich. „Ich habe doch nur einen Scherz gemacht. Kein Grund, sich so aufzuregen. Du bist ja heute genauso überspannt wie die anderen.“

Kenai nuschelte ein halbherziges „Entschuldigung“. Er wollte gehen, doch bereits nach zwei Schritten blieb er stehen. Das goldene Sonnenlicht war verschwunden, nur noch ein kleiner, goldener Schimmer am Ende des Meeres kündete vom Ende des Tages. Die ersten Sterne funkelten am dunklen Horizont. War es dort draußen, an den Orten, von denen ihm Nuka erzählt hatte, auch später Abend? Oder ging dort die Sonne jetzt erst auf, während sie bei ihnen unterging? Irgendwohin musste die Sonne ja verschwinden. „Kaija?“, fragte er nachdenklich, ohne sich jedoch zu ihr umzudrehen. „Hast du dich je gefragt, was dort draußen ist? Hinter dem Meer?“

Skeptisch hob Kaija eine Augenbraue. „Bist du sicher, dass es dir gut geht? Du benimmst dich irgendwie merkwürdig. Aber bitte. Dort draußen sieht es bestimmt so aus wie hier. Was sollte dort denn schon großartig anders sein?“ Etwas besorgt trat sie neben ihn. Sie standen auf einer Brücke, nicht allzu weit über dem Meeresspiegel, von wo aus man einen wunderschönen Blick auf den Ozean hatte. „Bis heute dachte ich, dass dort draußen nichts ist, nur das weite Meer“, gestand sie ihm, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten. „Bis heute hat mich das nicht großartig interessiert, wenn ich ehrlich bin.“

„Mich auch nicht.“ Keiner der Kinder hatte je einen Grund gehabt anders zu denken. Natürlich hatten viele wissen wollen, wie es hinter dem Horizont aussehen würde, doch für jeden von ihnen hatte es in ihrer Vorstellung dort so ausgesehen wie der Ort, an dem sie aufgewachsen waren. Und warum auch nicht? Sie kannten ja nichts anderes. Doch das hatte sich geändert. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmte, was Nuka ihm erzählte hatte, gab es dort draußen kein Eis, sondern Erde, Bäume und echte Wunder. Brennende Erde, wachsende Bäume, Menschen, die fliegen konnten! „Ich würde es gerne sehen“, flüsterte er so leise, dass nur er es hören konnte.

Als er endlich nach Hause kam, wartete sein Vater bereits auf ihn. „Kenai! Na endlich! Warum kommst du erst so spät?“ Ein Blick auf seinen Sohn genügte, um bei ihm sämtliche Alarmglocken läuten zu lassen. Harun stand auf. „Was ist los, Kenai?“ Er seufzte resigniert und beantwortete die Frage gleich selbst. „Du hast die Geschichte über Nuka gehört, oder?“

„Ja, habe ich. Ich habe auch mit ihm gesprochen.“

„Oh … Nun, das war nicht das, was ich wollte.“ Die Situation war ihm sichtlich unangenehm, doch Kenai lächelte.

„Keine Sorge, Vater. Ich bin nicht böse. Und Nuka ist es auch nicht. Er ist nur ein wenig enttäuscht, sonst nichts. Er will noch vor Morgengrauen abreisen.“

„Gut! Das … das ist gut.“ Unschlüssig beobachtete Harun, wie Kenai sein dickes Fell auszog, es achtlos in eine Ecke warf und er sich an den Tisch setzte, wo bereits eine saftige Fleischsuppe auf ihn wartete. „Kenai …“

„Hast du keinen Hunger?“, kam ihm der Junge zuvor, der fragend zu ihm aufsah.

Harun sah ihn an, dann lächelte er und setzte sich ihm gegenüber. „Natürlich habe ich das! Ich bin schon halb verhungert!“

„Wettessen?“

„Wettessen!“ Und sofort schlugen sie sich die Mägen voll. Sie sprachen kein Wort mehr über das, was an diesem Tag geschehen war. Erst als sich Kenai in seine warmen Felle gekuschelt hatte und sein Vater sich ebenfalls zu Bett begeben wollte, wurde das Thema noch einmal aufgegriffen.

„Kenai?“, fragte Harun in die Dunkelheit hinein. „Bist du noch wach?“

„Ja“, kam eine gegähnte Antwort.

„Wenn du über das reden willst, was heute passiert ist … kannst du jeder Zeit zu mir kommen.“

„Ich weiß. Keine Sorge. Mir geht es gut.“ Mit diesen Worten zog Kenai sein Fell über den Kopf, doch dann, nach kurzem Zögern, schlug er es zur Seite und richtete sich auf. „Nein, halt … Vielleicht doch.“ Er zögerte, nicht wissend wie er das, was er sagen wollte, beschreiben sollte. Schließlich tippte er sich mit den Fingern auf die Brust. „Kennst du … Kennst du das Gefühl, wenn es hier zieht? Genau hier? Als … Ich weiß nicht … Als würde dich irgendetwas rufen. Du versuchst es zu ignorieren, doch je mehr du es versuchst, desto stärker wird es. Als … als wärst du angeleint und jemand zieht an deiner Leine, immer stärker und stärker, bis aus dem Ziehen ein reißen wird. Kennst du das?“ Hoffnungsvoll sah er seinen Vater an, wartete auf eine Antwort, doch Harun schwieg. Sein besorgter, und doch nachdenklicher Blick ruhte auf seinem Sohn, so als würde er nicht wissen, wie er darauf antworten sollte. Schließlich schüttelte er den Kopf.

„Nein. Das Gefühl kenne ich nicht.“

„Oh … Na ja … Wahrscheinlich ist es nur Einbildung.“ Damit rollte sich Kenai zusammen, zog das Fell wieder über seinen Kopf und tat, als würde er schlafen. Er konnte hören, wie sich sein Vater irgendwann auch zur Ruhe legte, doch es schien endlos lange zu dauern, bis er endlich leise zu schnarchen begann. Vorsichtig zog Kenai sein Fell vom Kopf. Es war dunkel. Nur schwaches Mondlicht, welches durch die wenigen Fenster fiel, erhellte die Hütte. Draußen war es ruhig. Nichts regte sich. Kenai setzte sich auf, steckte die Hand unter sein Kissen und zog eine kleine Schildkröte hervor. Einen Moment lang betrachtete er sie. Sein Vater hatte ihm gesagt, dass das eine Schildkröte war, doch er hatte noch nie eine lebende gesehen. Ob es sie auch dort draußen gab? Zusammen mit den fliegenden Menschen? Seufzend ließ sich Kenai rücklings wieder auf sein Lager fallen. Die Schildkröte fest an seine Brust gepresst, rollte er sich zur Seite und betrachtete die schemenhaften Umrisse seines Vaters, der ihm den Rücken zugewandt hatte. Eine Weile sah er ihn einfach nur an, dann wurden ihm die Augen schwer. Er rollte sich noch auf den Rücken, dann war er eingeschlafen.
 

Er stand alleine in der Oase der Geister. Es stürmte. Wind zerrte an ihm, riss an seinen Kleidern, an seinen Haaren, versuchte ihn hinfort zuwehen, doch er stand einfach nur da, regungslos wie ein Fels und starrte in den Teich der Geister, wo das Wasser sich nicht rührte. Nur die Karpfen bewegten sich. Unaufhörlich zogen sie ihre Kreise, schienen ihn mit ihren sanften Bewegungen zu hypnotisieren. Doch plötzlich wandten sie sich ihm zu, blickten zu ihm auf, als würden sie etwas von ihm erwarten. Er wollte etwas sagen, doch er konnte sich nicht rühren. Ein seltsamer Klang erfüllte die Luft, ein immer wieder kehrender Chor, der ihn bis in sein Innrestes erschütterte.

„Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di, Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di.“

Die Geister sahen ihn an, sahen durch ihn hindurch, sahen ihm direkt in seine Seele. Ihre Augen leuchteten. Plötzlich brach Finsternis über ihn herein. Er stürzte, Wind fegte an ihm vorbei, wirbelte ihn unkontrolliert herum, bis vor ihm Sterne explodierten.

„Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di, Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di.“

Hunderte, Tausende, Millionen von Sternen explodierten um ihn herum, Funken sprühten, prasselten in aller Pracht auf ihn nieder, schienen ihn zu umhüllen, in ihn einzudringen, ihn zu wärmen. Sie fingen ihn auf, hinderten ihn daran in der endlosen Finsternis zu verschwinden. Unter seinen Füßen leuchtete es. Ein schmaler, silberner Pfad schlängelte sich durch die Schwärze und die explodierenden Sterne. Er wollte ihm folgen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht.

„Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di, Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di.“

Der Pfad verschwand. Die Sterne erloschen. Der Chor verstummte. Er war allein. Vollkommen allein. Doch dann, plötzlich, eine Stimme, so zart, so zärtlich, so voller Liebe, dass sich seine Starre endlich löste.

„Kenai.“

Er drehte sich um. Irgendwo in weiter Ferne funkelte ein Licht, so hell und klar, dass es in seinen Augen schmerzte, doch er war unfähig seinen Blick zu senken, denn direkt vor ihm, in goldenes Licht getaucht, stand eine Frau mit wehendem, schwarzen Haar. Mit Augen, so blau wie der Ozan und mit einem Lächeln, welches gütiger nicht sein konnte. Er hatte diese Frau noch nie gesehen, doch sein Herz wusste wer sie war. „M … Mutter?“

Ihr lächeln wurde breiter, als sie ihre Arme ausbreitete um ihn willkommen zu heißen, doch dann ließ sie sie wieder sinken. Ihr lächeln wandelte sich, wurde traurig. „Du musst gehen, Kenai.“

„Wohin gehen?“

Sie hob ihren Arm und deutete auf etwas hinter seinem Rücken. Er drehte sich um und sein Blick begegnete wieder dem Pfad, der sich ihm offenbarte.

„Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di, Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di.“

„Geh, Kenai. Du musst gehen. Geh!“

Er zögerte. Er wollte nicht gehen, nicht jetzt, nicht, wo er zum ersten Mal seine Mutter sah, doch etwas in ihm zerrte an ihm mit solch einer Kraft, dass er sich der Aufforderung nicht wiedersetzen konnte. Erst stolperte er, doch mit jedem Schritt wurden seine Beine sicherer, bis er schließlich rannte, die Stimme seiner Mutter in den Ohren klingend. „Geh! Du musst gehen. Geh!“ Plötzlich eine Wand, so unmittelbar vor ihm, dass er nicht mehr bremsen konnte. Mit voller Wucht prallte er dagegen, doch anstatt zurückzufallen, explodierte sie in tausende Bilder vor seinem Blick, rasten an ihm vorbei, schienen ihn in ihrer Wucht erschlagen zu wollen.

„Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di, Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di.“

Er sah Orte, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Er sah Wälder. Bäume, soweit das Auge reichte, in strahlenden Farben, doch plötzlich, ohne Vorwarnung, starben sie vor seinem Blick. Im hellen Licht der Sonne glitzerten Flüsse und Seen, so unterschiedlich in ihrer Form und doch alle gleich. Kinder tummelten sich an ihren Ufern, spielten miteinander oder planschten im kühlen Nass, doch dann versickerten sie plötzlich, vertrockneten, bis nichts mehr war außer trockenem Schlamm. In einer Höhle brachte eine Wolfsbärin ihre Jungen zur Welt. In Sekunden sah er sie erwachsen werden. Er sah wie sie spielten, wie sie lernten, wie sie ihrem Leben mit Freude begegneten, doch mit einem Mal gab es kein Wasser mehr, keine Nahrung. Sie verhungerten, verdursteten, einer nach dem anderen, bis niemand mehr von ihnen übrig war. Überall brannte es. Asche regnete auf die graue Welt hinab und verpestete die Luft, die sich dagegen aufzulehnen versuchte und in gewaltigen Stürmen die Erde verwüstete, die unter markerschütterndem Donnern unter der Welt aufbrach und alles unter sich begrub, während gigantische Fluten alles Leben mit sich rissen. Er sah Menschen. Hunderte, Tausende, sie schrien und wandten sich, rissen an ihren Kleidern, zerfetzten sich ihre eigene Haut, vollkommen dem Wahnsinn und der Verzweiflung verfallen.

Er wollte das nicht sehen, doch etwas in ihm zwang ihn dazu sich nicht von ihrem Anblick abzuwenden. Ihm würde übel. Alles drehte sich um ihn, doch egal wie sehr er es auch wollte, die Bilderflut ebbte nicht ab. Er sah die Schönheit, die Schönheit einer Welt die er nicht kannte, doch gleichzeitig zeigte man ihm auch all ihre Grausamkeit, all ihr leid. Er wollte nicht gehen.

„Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di, Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di.“

„Habe keine Angst, Kenai“, erklang die Stimme seiner Mutter. Sie war ganz nah. Er konnte ihre Gegenwart spüren, er konnte fühlen, wie sie ihn von hinten umarmte, wie sie ihn schützend in ihre Arme schloss, doch er konnte sie nicht sehen. „Du brauchst dich nicht zu fürchten.“

„Was sind das für Bilder?“

„Das wirst du nur wissen, wenn du gehst.“

„Aber wenn ich das nicht will?“

„Du willst gehen … und du wirst gehen. Schau hin, Kenai. Schau genau hin und fürchte dich nicht.“

Kenai fürchtete sich, doch er wehrte sich nicht. Immer mehr Bilder fluteten an ihm vorbei, erst schön, dann schrecklich, doch etwas änderte sich. Zuerst wusste er nicht was es war, doch dann, ganz langsam, bemerkte er es. Weit vor ihm, so weit, dass er es kaum erkennen konnte, stand ein Bild. Es bewegte sich nicht. Weder strömte es auf ihn zu, noch wurde es von Gewalt der anderen Bilder verschluckt. Jetzt, wo er es bemerkt hatte, war es ihm unmöglich etwas anderes wahrzunehmen außer diesem einzigen Bild. Er vergaß alles um sich herum, selbst die Gestalt seiner Mutter, die ihre Umarmung vorsichtig löste. Langsam näherte er sich dem Bild, das mit jedem Schritt zu wachsen schien, so lange, bis er direkt vor ihm stand. Helles Licht überflutete ihn, zwang ihn in die Knie zu gehen, doch er wandte seinen Blick nicht ab. Selbst wenn er gewollt hätte, so hätte er es nicht gekonnt. Etwas zwang ihn dazu es anzustarren, obwohl sein Verstand nicht begreifen konnte was es sah. Er konnte nicht mehr atmen. Etwas schnürte ihm die Kehle zu, doch er fürchtete sich nicht. Er starrte es an, bewegungslos, hilflos, allein und doch nicht allein, und doch nicht hilflos. Tränen schimmerten in seinen Augen, seine Hände zitterten. Er kniete da, vor diesen einem Bild, welches sich in seine Seele brannte, kniete nieder vor dem, was sich ihm offenbarte.

„Du musst gehen, Kenai“, flüsterte eine Stimme in sein Ohr. „Du musst.“

Ja, dachte er, unfähig zu sprechen, ich muss gehen.

„Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di, Na Mo A Mi Tuo Fo Shin Di.“

Ich muss gehen.
 

Keuchend schlug Kenai seine Augen auf. Irritiert lag er in seinem Bett, nicht wissend, wo er sich befand. Er hatte etwas geträumt, etwas wichtiges, doch umso mehr er versuchte sich daran zu erinnern, desto schneller zerrannen die Bilder wie Wasser in seinem Geist, bis sie ihm vollständig entronnen waren. Eines blieb jedoch, so bohrend, so drängend, dass er unfähig war es zu ignorieren. Ohne zu zögern erhob er sich von seinem Platz, streckte sich und suchte in der Dunkelheit der Nacht seinen Kleidern. Leise, fast geräuschlos, zog er sich an. Er fühlte sich seltsam. Sein Körper reagierte fast von alleine, als wäre er von seinem Geist getrennt. Etwas rief nach ihm. Er wusste nicht was es war, doch er wusste, dass er dem Ruf folgen musste. Er konnte nicht anders. Sein Körper bewegte sich fast vollkommen alleine, als würde er nicht mehr zu ihm gehören, während sein Geist daneben stand und ihn beobachtete. Kaum hatte er sich angezogen, packte er einige Sachen zusammen von denen er glaubte, sie eines Tages gebrauchen könnte. Noch immer schweigend schnürte er einen Beutel zusammen, warf ihn über seinen Rücken und steckte ein Messer in seinen Gürtel. Er war fertig. Doch so sehr alles in ihm danach drängte, er konnte noch nicht gehen. Sein Blick ruhte auf seinem Vater, der auf dem Rücken lag und leise schnarchte. Ihm wurde das Herz schwer. Er wollte ihn wecken, mit ihm reden, ihm erklären warum er gehen musste, obwohl er selbst nicht genau wusste weshalb, doch er konnte es nicht. Ihm fehlte die Kraft dazu. Er fühlte sich seltsam, als ob sich irgendetwas verändert hätte, ohne es jedoch genau benennen zu können. Aber er hatte es ihm doch gesagt, oder? Er hatte ihm doch gesagt, dass es irgendetwas gab, das nach ihm rief und wenn man gerufen wurde, so musste man diesem Ruf auch folgen. Dennoch fühlte es sich nicht richtig an. „Es tut mir leid, Papa“, sagte er schließlich in die Dunkelheit hinein, „aber ich muss gehen. Ich kann nicht hier bleiben. Aber keine Sorge. Ich komme wieder. Versprochen. Irgendetwas ist da draußen was nach mir ruft und ich werde herausfinden, was es ist. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich komme wieder.“ Lächelnd wandte er sich ab, doch noch bevor er den Durchgang erreicht hatte, blieb er stehen. Noch einmal kehrte er um, holte seine Schildkröte, die er zusammen mit seiner Flöte eingepackt hatte, aus seinem Beutel hervor und legte sie feinsäuberlich auf seine zusammengelegten Felle. Wenn sein Vater am Morgen aufwachen würde, würde er einen gewaltigen Schrecken bekommen, das wusste Kenai, doch er hoffte er würde die zurückgelassene Schildkröte als das erkennen, was sie von nun an symbolisieren sollte. Harun wusste, wie sehr er an dieser kleinen Figur hing. Er würde eines Tages zurückkommen und sie holen. „Pass gut auf sie auf, ja? Wenn du mich vermisst, nimm sie in die Hand und denke an mich. Dafür habe ich dein bestes Messer mitgenommen. Sei mir deswegen nicht böse. Ich bringe es dir ja zurück. Versprochen“ Harun murmelte etwas im Schlaf und rollte sich auf die Seite, dem Gesicht dem leeren Platz an seiner Seite zugewandt. Kenai lächelte zum Abschied. „Auf Wiedersehen, Vater.“ Mit diesen Worten verließ er die Hütte.

Das Dorf lag noch im tiefen Schlummer, als Kenai leise durch die eisigen Straßen schlich. Es war ein seltsames Gefühl. Er war daran gewöhnt überall auf bekannte Gesichter zu stoßen, die ihn morgens freundlich grüßten und ihm einen schönen Tag wünschten, doch jetzt war alles ruhig. Niemand rührte sich, kein Laut war zu hören. Es würde jedoch nicht mehr lange dauern bis die Sonne wieder aufgehen und mit ihr das Leben in den Häusern erwachen würde. Bis dahin würde er längst weit draußen auf dem Ozean sein. Aber vorher musste er noch etwas erledigen. Es dauerte nicht lange und er hatte sein Ziel erreicht: Eine Hütte, kaum zu unterscheiden von den anderen um sie herum, doch er erkannte sie sofort. An ihrem Eingang blieb er stehen, setzte sein Bündel ab und begann nach etwas zu suchen. Kurz darauf zog er seine Lieblingsflöte daraus hervor. Er lächelte. Kaija würde große Augen machen. Eigentlich wollte er sie nicht hergeben, doch da er nicht wusste, wie lange er fortbleiben würde, wollte er ihr etwas dalassen, was sie an ihn erinnerte. Und was konnte es besseres geben? Sie hatte selbst darum gebeten. Mit einem Lächeln auf den Lippen wollte er gerade die Hütte betreten, als sich plötzlich just in diesem Moment jemand aus der Hütte herausschlich. Erschrocken sahen sich die beiden Frühaufsteher an.

„Was machst du denn hier?“, fragten sie gleichzeitig.

„Ich will mit Nuka mitfahren“, antwortete Atka. „Und du?“

„Ich auch“, sagte Kenai.

„Und was machst du dann hier?“, fragte Atka, der seinen Freund argwöhnisch musterte, bis ihm die Flöte in dessen Hand auffiel. Er grinste und sofort schoss Kenai das Blut ins Gesicht. „Ich verstehe.“

„So … So ist das nicht!“

„Ja, ja. Schon klar. Lass dich nicht stören. Ich gehe schon einmal vor.“ Atka klopfte ihm vielsagend grinsend auf den Rücken, bevor er kurz darauf zwischen den Hütten verschwand. Kenai sah ihm nach, dann schlich er sich durch den Eingang. Er wagte es nicht zu weit hinein zu gehen, aus Furcht in dieser fremden Umgebung irgendetwas umzustoßen und legte die Flöte daher auf einen Tisch, bevor er sich so leise wie möglich wieder zurück zog. Wenig später holte er Atka wieder ein, kurz bevor sie die Anlegestelle der Boote erreichten.

„Welches ist es?“, fragte Atka, doch kaum hatte er das gefragt, entdeckten sie auch schon Nuka, der gerade sein Proviant unter einigen Fellen verstaute, die er in sein Boot geladen hatte. Als er die beiden Jungen entdeckte, grinste er breit.

„Ich wusste, dass ihr kommen würdet. Schnell. Steigt ein, bevor die Wachen hier auftauchen um sicher zu gehen, dass ich auch wirklich verschwinde.“ Die beiden Jungen sahen sich an, dann folgten sie der Aufforderung. „Tut eure beiden Beutel nach vorne und dann legt euch hin.“

„Wieso?“, kam die gleichzeitige Frage, doch da sie keine Antwort erhielten, gehorchten sie nach kurzem Zögern. Im nächsten Moment wurden sie unter Fellen begraben.

„Brave Jungs. Schön liegen bleiben für die nächsten ein bis zwei Stunden, ja? Wir wollen doch nicht, dass man euch entdeckt und an den Ohrläppchen wieder hier her zurück schleift, oder?“

Unter den Fellen warfen sich die beiden Jungen einen kurzen Blick zu, rührten sich jedoch nicht. Kurz darauf spürten sie, wie sich das Boot in Bewegung setzte. Nuka war kein Wasserbändiger, weswegen er auf die herkömmliche Art steuern musste. Mit einem Paddel. Dementsprechend langsam bahnte sich das Boot durch das ruhige Wasser. Erste Nebelfasern kamen auf, schlängelten sich langsam die weiten Gassen entlang und versperrten ihm die Sicht. Irgendwann tauchten neben ihm zwei kleine Boote auf, Wachen, die ihn aus dem Dorf geleiten sollten. Unter den Fellen lugte Kenai kurz hervor, doch der Nebel versperrte ihm die Sicht. Schweigend ruderte Nuka das Boot dem langsam heller werdenden Horizont entgegen, bis die Wachen schließlich abdrehten und ihn alleine ließen. Misstrauisch blickte er ihnen nach. Erst als er sicher war, dass sich niemand mehr in den Nebelbänken verbarg, hörte er auf zu rudern. „Ihr könnt jetzt rauskommen.“

„Na endlich!“ Sofort warf Kenai die Felle beiseite und japste nach Luft. Sein Gesicht war knall rot. Atka sah nicht besser aus. „War das heiß darunter.“

„Ich dachte schon ich ersticke.“

„Jetzt übertreibt mal nicht“, tadelte Nuka, doch er lächelte zufrieden. „Zumindest ihr beiden habt Mumm in den Knochen. Aber von meinem Neffen und Nakanas Sohn war auch nichts anderes zu erwarten. Wir können eure Hilfe gut gebrauchen.“

„Ich will zu meinem Vater“, sagte Atka ernst. „Seit ich klein bin träume ich davon ihn wieder zu sehen. Jetzt, wo ich die Chance dazu habe, kann ich einfach nicht länger warten. Wenn ich dabei meine Dienste tun kann, tue ich das mit Freuden. Wozu hat mich Meister Kohei sonst ausgebildet?“

„Du meinst wohl eher ‚wozu hat mich Meister Kohei sonst versucht auszubilden‘, oder?“, verbesserte Kenai grinsend. „Du warst von uns beiden der hoffnungslosere Fall.“ Im nächsten Moment war er vollkommen durchnässt.

„Wer ist hier Hoffnungslos?“, fragte Atka unschuldig.

„Hey, hey, hey!“, machte Nuka und hob seine Hände. „Keine Auseinandersetzungen. Wenn ihr Bändigen wollt, dann bändigt das Wasser so, dass wir schneller vorankommen. Wir haben einen weiten Weg vor uns und ich will unsere Krieger nicht länger warten lassen als unbedingt nötig.“

Die Jungen nickten und standen auf. Doch bevor sie sich daran machten das Wasser zu bändigen, warfen sie einen letzten Blick zurück. Die ersten Sonnenstrahlen erhellten den Himmel und in einiger Entfernung konnten sie das Funkeln der Eisklippen sehen, dort, wo ihr Dorf gerade erwachen musste. Es war ein merkwürdiges Gefühl zu wissen, dass sie es lange nicht mehr sehen würden. Doch dann rissen sie sich von dem Anblick los, hoben ihre Arme und spürten, wie das Wasser sich ihrem Willen beugte. Wellen hoben das kleine Boot an und trugen es hinaus in den weiten Ozean.
 

Zwei Tage lang waren sie unterwegs, bis die eintretende Wärme sie dazu zwang sich ihrer dicken Kleidung zu entledigen. Ein weiterer Tag verging, bis am Horizont die ersten, fremden Gebilde auftauchten.

„Wir werden bald Land erreichen“, erklärte ihnen Nuka, der seit dem Morgengrauen nicht mehr vom Bug des Bootes gewichen war, wo er mit hinter dem Rücken verschränkten Armen aufs Wasser hinaus blickte und die Jungen das Bändigen überließ.

„Wie lange wird es dauern, bis wir unsere Truppen erreicht haben?“, fragte Atka, dem langsam der Schweiß in den Augen brannte. Er war es nicht gewöhnt so lange das Wasser zu bändigen. Von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang waren er und Kenai am Arbeiten, nur unterbrochen von kleineren Pausen. Er konnte kaum noch seine Arme spüren.

„Das kommt darauf an wo wir landen. Sobald wir an Land sind, werden wir das Boot verstecken und den Rest des Weges zu Fuß zurück legen. Da wir nur eine sehr kleine Gruppe sind, werden wir wohl in keine Schwierigkeiten geraten.“

„Wieso sollten wir in Schwierigkeiten geraten?“, fragte Kenai, doch anstatt Nuka, antwortete ihm Atka.

„Das ist doch wohl klar. Da draußen herrscht Krieg. Eine größere Gruppe könnte auf Krieger hindeuten.“

„Also ich wäre bei einer kleineren Gruppe misstrauischer. Wer weiß, was die im Schilde führen.“

„Euch beiden würde niemand einen Krieger abkaufen“, kommentierte Nuka trocken. „Dafür seid ihr eindeutig noch zu grün hinter den Ohren. Aber das wird sich noch ändern sobald ihr richtige Männer seid.“ Atka lächelte, doch Kenai wandte seinen Blick ab, ohne etwas zu sagen. Seine Miene war unergründlich wie die See und unmöglich zu deuten. Sein Blick wanderte den endlosen Horizont entlang, bis er auf den näherkommenden Flecken in der Ferne ruhen blieb. Etwas kribbelte in ihm. Einen Moment gestattete er diesem Gefühl sein innerstes zu erfüllen, dann hob er langsam seine Arme und grinste. Das Boot begann plötzlich gefährlich zu schaukeln, als es sich aus dem Wasser zu erheben begann. Atka und Nuka strauchelten, plötzlich überrumpelt von dieser unerwarteten Bewegung.

„Was ist das?“, rief Nuka und hielt sich an der Reling fest, dem Beispiel von Atka folgend, der nach unten starrte. Einer Nussschale gleich thronte das Boot auf der Spitze einer plötzlich heraufbeschworenen Welle, die nur noch darauf wartete losgelassen zu werden.

„Kenai! Was machst du da?“

„Unsere Reise beschleunigen.“ In dem Moment wurde das Wasser entfesselt und schnellte, von der Welle getrieben, über den Ozean.

Nur wenig später raste das kleine Boot ungebremst auf einen Flecken Land zu, bis es brutal von einer Sandbank abgebremst wurde. Im hohen Bogen segelte Nuka elegant durch die Luft und prallte, mit dem Gesicht zuerst, in einen Sandhaufen, der ihn unter sich begrub. Nur noch seine strampelnden Beine lugten daraus hervor.

„Bist du verrückt geworden?!“, fauchte Atka Kenai an, der sich mit einem halben Herzinfarkt an die Überreste des sehr mitleidig aussenden Bootes klammerte. „So eilig hatten wir es auch nicht!“

„Sorry, sorry. Es ist einfach über mich gekommen.“ Er lächelte entschuldigend, dann trat er zu seinem Onkel und half ihm, sich aus seiner prekären Lage zu befreien. „Aber immerhin sind wir endlich da.“

„Wir zwei“, brummte Nuka finster, der versuchte etwas Sand aus seinen Ohren zu pulen, „werden noch ein ernstes Wörtchen über Diskretion führen müssen. Was, wenn uns jemand gesehen hat? Du kannst nicht so übertreiben! Wenn man euch als Wasserbändiger entlarvt, haben wir ein ernstes Problem! … Hörst du mir überhaupt zu?“ Kenai hörte ihm nicht zu. Mit großen Augen sah er an ihm vorbei und erblickte eine neue Welt, die sich ihm offenbarte. Nuka hatte Recht gehabt. Hier sah die Welt vollkommen anders aus. Egal in welche Richtung man auch blickte, nirgendwo gab es Eis und Schnee. Stattdessen erstreckte sich vor ihm ein weiter, braungelber Teppich, nur unterbrochen von kleineren Flecken nackter Erde und Steinen, die in den Himmel ragten. Neugierig streichelte Kenai das Gras, das auf seiner Haut lustig kitzelte. Es fühlte sich seltsam an, so fremd, so anders als alles, was er kannte, doch auch irgendwie vertraut, auch wenn es ihn für einen kurzen Augenblick irritierte. Da erblickte er in seiner Nähe plötzlich etwas, was sich vom Boden abhob und raschelt in die Höhe ragte. Bäume. Das waren Bäume! Echte Bäume! Aufgeregt rannte er auf sie zu. Das Holz war grob und rau, von zahlreichen Rinnen durchfurcht, doch er hatte noch nie zuvor etwas schöneres gesehen. Blätter raschelten im Strammen Wind, der sein Haar zerzauste. Fahles Sonnenlicht brach durch die Blätter der Bäume und tanzte auf seinem strahlenden Gesicht. Es erinnerte ihn an irgendetwas, doch so sehr er sich auch bemühte, er kam nicht darauf an was. Er zuckte nur mit den Schultern, dann begann er auch schon mit dem klettern. Nach nur wenigen Minuten hatte er die Kronen erreicht. Ein strammer Wind zerzauste ihm das rabenschwarze Haar, der salzige Geruch des Meeres lag auf seinen Lippen, das Rauschen der Wellen erklang in seinen Ohren, doch all das nahm er gar nicht wahr. Er sah nur noch das Land, das sich ihm offenbarte. Ein seltsamer Druck schien von seinen Schultern zu weichen. Er fühlte sich mit einem Mal leicht, beinahe als könne er schweben. Er wusste nicht woher diese plötzliche Freude herrührte, doch er wusste, dass er hier sein musste. Er spürte es, tief in sich drinnen und bevor ihn irgendjemand daran hindern konnte, stieß er einen lauten Freudenschrei aus, der vom Wind hinaus in die weite Welt getragen wurde.

„Kenai!“, brüllte Nuka aufgebracht, als er zu ihm herüber eilte. „Bist du verrückt geworden?! Sei gefälligst leise und komm sofort da runter! Willst du uns etwa umbringen? Hier könnten überall Feinde sein!“

„Hier sind keine Feinde“, beruhigte ihn Kenai, der von den Kronen aus einen wunderbaren Rundumblick hatte. „Wir sind alleine.“

„Das muss nichts bedeuten. Du kennst diese Welt nicht. Hier haben sogar die Steine Ohren!“

„Wie können denn Steine Ohren haben?“

Verzweifelt klatschte sich Nuka die Hand auf die Stirn. „Ist er immer so?“, fragte er Atka, der an seine Seite getreten war. Dieser schüttelte besorgt den Kopf.

„Eigentlich nicht. Aber ehrlich gesagt scheint er seit Tagen ein wenig neben der Spur zu sein.“

„Na, hoffentlich findet er wieder zu sich, bevor er uns in ernste Schwierigkeiten bringt … Oder uns am Ende gar noch umbringt.“ Mit einem letzten Blick auf die Baumgruppe, schulterte er sein Proviant und schickte sich an die Küste zu verlassen. „Kommt jetzt. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.“

Sie wanderten zwei Tage, ohne dass sie auf irgendwelche Menschen trafen, doch während dieser Zeit brachte Nuka den beiden Jungen alles bei, was sie seiner Meinung nach über die hiesige Welt wissen mussten. Sie hörten aufmerksam zu, auch wenn Kenai mehr als einmal zur Ordnung gerufen werden musste, denn er entdeckte fast hinter jeder Biegung und jedem Stauch etwas Neues, was sein Interesse weckte. Manchmal ertappte er sich selber dabei, wie er sich selbst fragte, was eigentlich mit ihm los war, doch diese Momente waren selten. Er fühlte sich wie berauscht, manchmal sogar regelrecht erschlagen. Alles war so neu, so anders, so wunderbar faszinierend, doch zugleich gab es etwas, was ihn störte, doch dieses Gefühl war so schwach, dass er es kaum bemerkte. Vielleicht wollte er das auch gar nicht.

Am Mittag des dritten Tages trafen sie zum ersten Mal auf Menschen. Sie wanderten gerade durch einen dichten Laubwald, als Nuka plötzlich stehen blieb und wachsam eine Hand hob. „Hört ihr das?“ Aufmerksam lauschend ließ er seinen Blick über die Baumstämme schweifen. „Versteckt euch!“ Sie hatten sich gerade hinter einer hohen Hecke versteckt, als auch schon eine kleinere Gruppe von Reitern an ihnen vorbei galoppierten, ohne sie zu bemerken. Nur durch einige Lücken in den Zweigen konnten sie einen kurzen Blick auf sie werfen. Nuka runzelte besorgt die Stirn.

„Feuerbändiger.“

„Woher weißt du das?“, fragte Kenai, der es als erster wagte wieder auf den Weg zu treten.

„An der Kleidung. Feuerbändiger haben eine Vorliebe für schwarz. Außerdem riecht es nach verbrannter Erde. Sie haben wahrscheinlich eine Siedlung überfallen.“ Nuka sollte recht behalten. Sie waren keine Stunde gelaufen, als sich der Wald vor ihnen lichtete. Atka erstarrte, Kenai drehte es den Magen um.

Hier hätte ein kleines Dorf stehen sollen, doch wo noch wenige Stunden zuvor Kinder gespielt und Erwachsene gearbeitet hatten, war kein Leben mehr. Schwarzer Rauch verpestete die Luft und brannte ihnen in den Augen. Es stank fürchterlich nach Tod und verbranntem Fleisch. Dort, wo eigentlich Hütten hätten stehen müssen, ragten nur noch verkohlte Überreste aus einem weichen Ascheteppich hervor, der den Boden bedeckte. Vereinzelt brennte es noch. Kenai brannten Tränen in den Augen, als er seinen Blick über das Bild der Zerstörung schweifen ließ. Er wagte es nicht die Einzelheiten genauer zu betrachten. Aus den Augenwinkeln bemerkte er immer wieder seltsame Umrisse, Gestalten, die in grotesken Winkeln auf dem Boden lagen. Nicht weit vor ihm, nur halb von Asche begraben, lag eine Holzfigur auf dem Boden, ein kleines Kinderspielzeug, das bis vor noch nicht einmal einer Stunde noch ein Tier symbolisiert hatte und noch immer von der kleinen, verkohlten Hand ihres einstigen Besitzers umklammert wurde. Ihm wurde übel. Seine Beine gaben nach und er viel würgend auf die Knie.

„Findest du diese Welt immer noch schön, Kenai?“, fragte ihn Nuka mit trockener Stimme. „Das hier ist auch bei uns passiert und es passiert überall zu jeder Zeit. Kommt jetzt. Hier können wir nichts mehr tun.“ Er wollte gehen, doch weder Kenai noch Atka rührten sich. „Wir müssen weiter. Wenn ihr irgendetwas für diese armen Kreaturen tun wollt, dann helft uns diesen Wahnwitz zu beenden. Unser Lager kann nicht mehr weit sein. Wir müssen unsere Leute warnen. Wo eine kleine Gruppe ist, könnten noch viele weitere sein.“ Mit diesen Worten setzte er seinen Weg fort, ohne sich noch einmal umzudrehen. Nur sehr langsam gelang es Atka, sich von diesem Anblick loszureißen und ihm zu folgen. Seine Augen waren rot und geschwollen, doch er weinte nicht, im Gegensatz zu Kenai, dem die Tränen über die Wangen liefen, bis er sie schließlich hinfort wischte. Mit zitternden Beinen stand er auf und sah sich um. Nicht weit entfernt entdeckte er einen kleinen Teich. Er schluckte schwer, dann schloss er seine Augen. Er konnte spüren, wie das Wasser ihm gehorchte. Er spürte den Fluss, die Energie, die ihn mit diesem kostbaren Element verband. Seinen anmutenden Bewegungen folgend, erhob es sich aus seinem natürlichem Gefäß, schwebte sanft durch die Luft, bis es über den kleinen Feuerherden zum Stillstand kam und die Brände löschte. Das war das einzige, was er noch tun konnte, doch dadurch fühlte er sich nicht besser. Schweren Herzens wandte er sich vom Dorf ab und folgte Atka und seinem Onkel, die an einer Weggabelung auf ihn warteten. Niemand redete mehr ein Wort.
 

In dieser Nacht machten sie nur eine kurze Rast, am nächsten Tag hielten sie sich von sämtlichen Straßen und Wegen fern, wodurch sie gezwungen waren durch dichtes Unterholz zu kriechen.

„Können wir nicht endlich eine Pause machen?“, fragte Kenai verzweifelt, als er sich zum gefühlten hundertsten Mal aus einem Dornenbusch befreien musste. Seine Wangen waren bereits ganz zerkratzt und er war ständig damit beschäftigt Zweige aus seinen Haaren zu pulen. Außerdem hatte er Hunger. „Wir sind seit dem Morgengrauen ohne Pause unterwegs.“

„Ich hätte auch nichts gegen eine kurze Rast“, kam ihm Atka zur Hilfe, der schon seit Stunden humpelte. Genervt rollte Nuka mit den Augen.

„Ihr zwei seit furchtbar“, kommentierte er laut, doch nicht laut genug um sein eigenes Magenknurren zu überspielen. „Okay. Wir Rasten. Kenai, geh und besorg uns etwas Feuerholz. Du bleibst hier Atka. Ich will mir dein Bein ansehen.“ Erleichtert ließ sich Atka zu Boden sinken. Kenai stellte seinen Proviant ab, dann machte er sich auf die Suche nach geeignetem Feuerholz. Er genoss die Ruhe des Waldes. Es tat gut mal ein wenig für sich alleine zu sein. Kaum war er außer Sichtweite der anderen, ließ er sich, alle viere von sich gestreckt, zu Boden fallen und blickte zu den braunen Baumwipfeln empor, die so dicht waren, dass kein Sonnenlicht bis zur Erde durchdrang. Dunkle Schatten befleckten den Boden, ein leichter Windhauch ließ vereinzelte Sträucher leise rascheln. Plötzlich knackte ein Zweig. Sofort setzte sich Kenai auf, die Hand auf dem Griff seines Messers ruhend.

„Ist da wer?“, fragte er wachsam, doch nichts rührte sich. Einen Augenblick lang lauschte er in die Stille hinein, dann ließ er sich schulterzuckend wieder zurücksinken. Vermutlich nur ein Tier, dachte er noch, als plötzlich etwas auf ihn herab fiel und seine Welt in Dunkelheit tauchte.

„He- Hey!“, rief Kenai erschrocken, als sich seine Welt in Dunkelheit tauchte. Jemand warf sich auf seinen Rücken. Er versuchte sich zu wehren, versuchte sich zu drehen und wenden, wollte um sich treten, doch etwas hielt ihn an seinen Beinen fest. „Was soll das? Wer seid ihr?!“

„Wir stellen hier die Fragen!“, zischte eine Stimme in seiner Nähe, doch der Sack, den man ihm übergestülpt hatte, dämpfte sie so, dass er kaum etwas verstehen konnte. „Sei schön ruhig und mache ja keinen Ärger. Ansonsten wird es das letzte sein, was du je getan hast. Haben wir uns verstanden?“

„Ich verstehe kein Wort!“, knurrte Kenai, der merkte, wie ihm jemand die Arme hinter dem Rücken zusammenband. „Was soll das?“

„Wir wollen nur auf Nummer sicher gehen“, antwortete die Stimme, jetzt ohne zu flüstern, aber immer noch leise genug, um nicht von jedem gehört zu werden. „Was hast du hier zu suchen?“

„Feuerholz.“

„Du hast nicht nach Feuerholz gesucht.“

„Ich bin ein schlechter Sucher.“

„Du bist wohl ein ganz frecher.“

„Eigentlich nicht.“

„Wer ist noch bei dir?“

„Mein Onkel und mein bester Freund“, antwortete Kenai nach kurzem Zögern. Er hatte keine Ahnung was er sonst sagen sollte. Er war ein so grausamer Lügner, dass er das Lügen bereits mit fünf Jahren aufgegeben hatte. Neben einem schlechten Gewissen brachte es auch nichts als Ärger ein. „Was wollt ihr?“

„Woher kommt ihr?“

„Ist das wichtig?“

„Woher kommt ihr?!“, verlangte die Stimme im scharfen Ton.

Unter dem Sack runzelte Kenai die Stirn. „Woher kommt ihr?“

„Ich habe zuerst gefragt.“

„Ähm, nein. Eigentlich habe ich zuerst gefragt. Im Gegensatz zu euch habe ich nur zuerst auf eure Frage geantwortet. Und sind wir doch mal ehrlich. Es ist für euch weitaus ungefährlicher mir zu sagen woher ihr kommt als für mich euch zu sagen woher ich komme, oder?“

„Wo er recht hat“, erklang eine zweite Stimme amüsiert, doch sie verstummte abrupt.

„Sei ruhig! Du hast ein ganz schön großes Mundwerk, Junge.“

„Eigentlich nicht. Aber eigentlich werde ich auch nicht gefesselt.“

„Er erscheint mir harmlos“, meldete sich die zweite Stimme wieder zu Wort.

„Der Schein kann trügen“, entgegnete die erste Stimme.

„Ach komm schon! Sieht der Junge für dich etwa wie ein Erd- oder gar Feuerbändiger aus? Er scheint mir nicht gerade der ‚Seht-mich-an-ich-mache-euch-fertig-zur-Not-auch-mit-dem-Dreck-unter-meinem-kleinen-Fingernagel-Typ‘ oder gar der ‚Seht-mich-an-ich-bin-so-heiß-das-selbst-die-Sonne-sich-vor-mir-verneigen-muss-Typ‘ zu sein. Er ist eher der ‚Hallo-wie-geht’s-Typ‘. Komisch. Ich dachte dieser Typ wäre bereits ausgestorben.“

„Seid ihr etwa vom Wasserstamm?“, fragte Kenai verblüfft.

„Was ist denn hier los?“, erklang plötzlich Nukas vollkommen überraschte Stimme. Stille folgte, dann Gelächter. „Tartok! Tuaq! Was für eine Überraschung! Ist das Lager etwa schon so nah?“

„Nuka!“, rief die zweite Stimme erfreut. „Das ging aber schnell! Wir hatten dich nicht vor dem nächsten Neumond zurückerwartet.“

„Heute ist der erste Neumond, Trottel“, brummte die erste Stimme.

„Dann hatten wir dich nicht in den nächsten zwei bis drei Tagen zurückerwartet“, sagte der zweite als wäre nichts gewesen.

„Hast du Krieger mitgebracht?“, fragte der erste.

„Besser“, antwortete Nuka. „Wasserbändiger.“

„Dem Ozean sei Dank!“ Die Erleichterung war dem zweiten deutlich anzuhören.

„Ähm, hallo?“, fragte Kenai, der das Gefühl hatte, dass man ihn bereits vergessen hatte. „Ich bin auch noch da.“

„Und einen davon habt ihr glorreich in eure Gewalt gebracht.“ Es war gut das Kenai unter einem Sack begraben war. Ansonsten hätte man sein sehr beleidigtes Gesicht sehen können. Kurze Zeit später war er jedoch wieder frei. „Wieso überrascht es mich nicht, dass es ausgerechnet dich treffen musste?“ Nuka sah ihn ernst an, doch seine Augen funkelten belustigt. Kenai lief rot an vor Scham.

„Ich war nur unvorbereitet!“, protestierte er.

„Ich habe dir doch gesagt, dass du überall mit allem rechnen sollst. Du hattest Glück. Wenn die Feuer- oder Erdkrieger dich erwischt hätten, würdest du jetzt entweder leblos an einem Baum hängen oder auf ewig ihr Gefangener sein.“ Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und schob ihn nach vorne. „Darf ich vorstellen? Tartok“ –Er deutete auf einen großen, kräftigen Mann mit der ersten Stimme- „Und Tuaq.“ –Er deutete auf einen völlig unscheinbar aussehenden Mann mit Zottelmähne, der ihm grinsend zuwinkte. „Das hier ist Kenai.“

„Hallo.“

„Siehst du? Ich sagte doch er ist der ‚Hallo-wie-geht`s-Typ!“ Begeistert boxte Tuaq Tartok immer wieder mit dem Ellbogen in die Seite, bis dieser ihn mit einer Kopfnuss auf den Boden verbannte.

„Bist du sicher, dass der Junge das packt?“

„Er ist mein Neffe, Tartok. Er schafft das schon.“

„Aber er ist doch hoffentlich nicht der einzige, oder?“

„Nein. Da gibt es noch einen zweiten Jungen. Auch ein Wasserbändiger.“

„Hey! Gehört? Noch ein Wasserbändiger“, strahlte Tuaq.

Tartok seufzte. „Ja. Noch ein Junge. Wie toll … Wir sind erledigt.“

„Ignorier ihn einfach, Kenai. Tartok ist ein Pessimist. Er ist nur glücklich wenn er ein paar Feuerkriegern in den Hintern treten kann.“ Freundschaftlich legte Tuaq ihm einen Arm um die Schulter. „Ich hingegen bin Optimist. Es nervt einfach die ganze Zeit über nur pessimistisch zu sein. Du verstehst?“ Plötzlich stutzte er, verengte seine Augen zu Schlitzen und starrte den Jungen durchdringlich an. „Weißt du, dass du mir irgendwie bekannt vorkommst? … Habe ich dich vielleicht irgendwann einmal gesehen? Hm … hm … hmmmmmmmmm … Ich hab‘s! Du siehst aus wie die alte Granni!“

„ICH SEHE NICHT AUS WIE DIE ALTE GRANNI!!!“ Kenai bekam fast einen Herzinfarkt. „Ich bin noch nicht einmal mit ihr verwand!“

„Schon gut, schon gut!“ Beschwichtigend hob Tuaq seine Hände. „Junge, hast du vielleicht ein Organ. Dich hat man bestimmt im ganzen Wald gehört … Aber du kommst mir trotzdem bekannt vor. Hat Nuka nicht gesagt, du wärst sein Neffe?“

„Jupp.“

„Hey! Dann musst du ja Selenas Sohn sein! Hast du ein Glück, weißt du das? Eine wundervolle Frau. Ich habe ihr mindestens zehn Mal einen Antrag gemacht, pro Tag, versteht sich, aber sie hat immer abgelehnt. Ach ja.“ Verträumt schwelgte er in romantischen Erinnerungen, bis es ihm plötzlich dämmerte. „Moment mal … Du bist Chief Harun Junior!“

Ein Stich jagte durch Kenais Herz, als er den Namen seines Vaters hörte. Schuldgefühle regten sich in ihm. Seit Tagen schon hatte er nicht mehr an seinen Vater gedacht, wie ihm jetzt erst bewusst wurde. „Yeah … Der bin ich.“

In diesem Moment stieß der humpelnde Atka zu ihnen, der in der Zeit, in der Kenai und Tuaq miteinander geredet hatten, von Nuka geholt worden war. Kaum fiel Tuaqs Blick auf den Neuling, stürmte er begeistert auf ihn zu. „Bei allen Geistern! Du siehst genauso aus wie die alte Granni!“ Der Typ hatte eindeutig nicht mehr alle Tassen im Schrank.
 

Den Rest des Weges wurden sie von Tartok und Tuaq geleitet. Es wurde bereits dunkel, als sie, tief im Wald verborgen, ein Lager erreichten. Es war nur provisorisch errichtet worden. In kleinen Gruppen hatte man zwischen den Bäumen Planen errichtet, die als Zelte dienten, vor denen vereinzelt Männer saßen, die ihre Waffen schärften. Andere hatten sich um kleinere Lagerfeuer versammelt und kümmerten sich ums Essen. Kein Wort wurde gesprochen. Erst als sie die Neuankömmlinge bemerkten, kehrte Leben in ihre Glieder.

„Nuka!“

„Du bist wieder da!“

„Na endlich!“

„Wo ist die Verstärkung?“

Ehe sich die kleine Gruppe versah, wurde sie auch schon umringt. Es dauerte eine ganze Weile, bis es Nuka schaffte sich Gehör zu verschaffen. „Nicht so laut, meine Brüder! Wir befinden uns nach wie vor in Feindesland!“ Der Lärm verstummte schlagartig. „So ist es besser. Wie ihr alle wisst, bin ich vor mehreren Wochen ausgezogen, um bei unseren Brüdern und Schwestern des Wasserstammes um Hilfe zu bitten. Wir alle wussten, dass das kein einfaches Unterfangen werden würde. Leider muss ich euch sagen, dass unsere Bitte nicht erhört worden ist. Harun ist immer noch von Engstirnigkeit geschlagen, so wie der Rest unseres Stammes auch. Die Zeit hat ihr Denken nicht geändert.“ Ein niedergeschlagenes Raunen machte die Runde. Empörung machte sich breit, ebbte jedoch sofort wieder ab, als Nuka seine Hände hob und sie dann seinen jungen Begleitern sanft auf die Schultern legte. „Aber es gibt auch Gutes zu berichten. Diese beiden jungen Krieger hier haben beschlossen uns in unserem Kampf zu unterstützen. Sie mögen noch jung und unerfahren sein, doch sie tragen Mut in ihren Herzen und haben von Meister Kohei das Wasserbändigen erlernt. Darüber hinaus sind sie nicht nur irgendwelche Jungen unseres Stammes. In ihren Adern fließt das Blut unserer Besten! Das hier ist Atka, Sohn von Nakana, unserem stärksten und mutigsten Krieger! Und das hier ist Kenai, der Sohn von Harun und Selena und darüber hinaus mein Neffe! Sie werden von nun an, an unserer Seite kämpfen. Wir alle wissen, dass ein einziger Wasserbändiger so viel wiegt wie zehn erfahrene Krieger. Sie mögen zwar nur zwei junge Männer sein, doch sie wiegen so viel wie zwanzig neue Krieger. Heißt sie in unseren Reihen willkommen! … Aber leise.“

Mit sehr leisem Gebrüll hoben sämtliche Kriege ihre Waffen und stampften auf dem Boden. Kenai musterte sie. Sie sahen müde aus, fand er, doch in ihren Augen brannte wilde Entschlossenheit. Einige hatten Narben erlitten, manche schwere Verbrennungen, andere schienen von Wunden bisher verschont worden zu sein. Auf den ersten Blick wirkten sie ausgezerrt, als hätten sie seit Tagen kaum etwas zum Essen gehabt, doch durch ihre straff gespannte Haut traten ihre Muskeln deutlich hervor. Einige waren dünn und drahtig, andere sahen aus als wären sie in der Lage mit nur einer Hand ganze Köpfe zu spalten. Wenn Kenai nicht gewusst hätte, dass sie zu seinen Leuten gehörten, hätte er Angst vor ihnen gehabt. Doch selbst dieses Wissen trübte nicht über das Gefühl hinweg, welches ihm plötzlich schwer im Magen lag.

Neben ihm rekte Atka unruhig den Hals, als er die Menge nach dem Gesicht absuchte, nach welchem es ihn so sehr verlangte. „Ist mein Vater hier?“, fragte er schließlich.

„Nakana ist mit einigen Männern auf Erkundungstour“, antwortete einer der Krieger. „Wir erwarten ihn nicht vor Morgengrauen zurück.“ Atka schien mit dieser Antwort nicht gerade Glücklich zu sein, doch es gab nichts, was er hätte tun können, also nickte er einfach nur. Nuka klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken.

„Kopf hoch. Du siehst ihn ja dann morgen früh. Er wird Augen machen wenn er dich sieht. Aber kommt. Essen wir erst einmal was und dann stelle ich euch den Führer unserer Wasserbändigertruppe vor, unter dem ihr dienen werdet. Bekommt aber keinen Schrecken.“

Fragend runzelte Kenai die Stirn. „Warum sollten wir uns vor ihm erschrecken?“ Nuka lächelte nur geheimnisvoll.

„Wie viele Krieger haben wir eigentlich und wie viele davon sind Wasserbändiger?“, fragte Atka, als sie sich an ein Feuer setzten. Jemand reichte ihm einen gebratenen Fisch am Spieß.

„Du bist eindeutig der Sohn deines Vater“, lächelte Nuka. „Du stellst genau die richtigen Fragen. Momentan haben wir schätzungsweise noch 150 Krieger und etwa 25 bis 30 Wasserbändiger. Im Vergleich mit den Feuer-, Erd- und Luftkriegern ist das sehr wenig, doch wir sind von allen am flexibelsten und am anpassungsfähigsten. Das ist ein entscheidender Vorteil. Wir kommen nur selten alle zusammen und operieren mit kleineren Gruppen, es sei denn, wir planen eine Großoffensive. Unsere größten Gegner sind die Feuer- und Erdbändiger. Wir haben zwar eine Allianz mit den Luftbändigern, doch ihnen darf man nicht trauen. Du weißt nie was in ihren Köpfen vorgeht. Das sind gerissene Halunken, glaubt mir. Ihr werdet verstehen was ich meine wenn er sie kennenlernt. Den einzigen, den man trauen kann, sind die eigenen Krieger. Hier zählt nur das Blut. Seht sie euch gut an. Von nun an sind das eure Brüder, eure Familie. Ihr werdet mit ihnen leben, mit ihren Essen und Trinken, mit ihnen eure Sorgen und Ängste teilen und an ihrer Seite kämpfen. Ihr seid ein Teil von ihnen, so wie sie ein Teil von euch sind. Ihr seid Krieger des Wasserstammes und als solche werdet ihr nie alleine stehen. Vergesst das nicht.“

Als sie halbwegs gesättigt waren, führte Nuka die beiden Jungen durchs Lager. Doch anstatt eines der Zelte aufzusuchen, wie sie es zuerst vermutet hatten, verließen sie den Platz. Eine kleine Weile folgten sie einem kaum wahrnehmbaren Pfad, bis sie endlich eine schmale Lichtung erreichten, wo sich ein schmaler Bach seinen Weg durchs Unterholz bahnte. Fünf Männer standen am Ufer. In höchster Konzentration versunken, übten sie das Bändigen. Einer perfekten Einheit gleich bewegten sie sich wie ein Mann, formten das Wasser nach ihrem Willen, welches in anmutigen Bewegungen über ihren Köpfen kreiste. Atka und Kenai beobachteten sie. Es war eine einfache Figur, eine der ersten, die ihnen Meister Kohei beigebracht hatte, aber sie wussten wie wichtig es war, die Grundfiguren immer wieder zu wiederholen, selbst wenn man sie bereits im Schlaf konnte. Doch plötzlich stutzen die Jungen. Im ersten Moment glaubten sie sich verguckt zu haben, doch dann rissen sie die Augen auf, vollkommen geschockt vom Anblick eines der Männer.

„MEISTER KOHEI?!“

Der besagte ‚Meister Kohei‘ öffnete seine Augen und sah sie an, ohne jedoch seine Übung zu unterbrechen. Schließlich wandte er sich wieder von ihnen ab, so, als wäre ihre Anwesenheit nicht seiner Aufmerksamkeit wert. Ungestört setzte er seine Übung fort. Verblüfft sahen Atka und Kenai sich an, nicht wissend, ob sie ihren Augen trauen sollten. Gerade noch rechtzeitig bemerkten sie die tausenden von Eissplittern, die plötzlich auf sie zu rasten. Im letzten Moment rissen sie ihre Arme hoch und wandelten das Eis in Wasser, welches ungefährlich zu Boden plätscherte.

„Gut“, sagte der Mann, der Meister Kohei wie aus dem Gesicht geschnitten war. „Reflexe habt ihr zumindest schon mal. Aber bitte sag mir, dass diese Grünschnäbel nicht alle sind die du mitgebracht hast, Nuka.“

„Sie sind die einzigen, die ich mitgebracht habe. Sie werden genügen müssen.“

„Pah. Da werde ich wohl einiges zu tun haben.“

Noch immer starrten die beiden Jungen den Mann an, sichtlich verwirrt.

„Er sieht genauso aus wie Meister Kohei“, flüsterte Kenai entsetzt.

„Er klingt sogar genauso wie Meister Kohei“, staunte Atka.

„Aber er riecht nicht so streng“, grinste Kenai, der sich den Kommentar nicht verkneifen konnte.

„Was wohl daran liegt, dass Kohei mein Zwillingsbruder ist“, stellte der Mann mit finsterer Miene klar, dem die erstaunten Blicke sichtlich missfielen. „Darf ich mich vorstellen? Ich bin Kurok. Ihr dürft mich Meister nennen, oder Meister Kurok., aber auf keinen Fall einfach nur Kurok.“

„Ähm … bist du sicher, dass du nicht Meister Kohei bist?“, fragte Kenai vorsichtig, dem übles schwante. Dieser Kurok war genauso wie Meister Kohei und in seinem Fall konnte das nichts Gutes bedeuten.

Missbilligend hob Meister Kurok eine Augenbraue. Tadelnd verschränkte er die Arme hinter dem Rücken. „Dein Vater hat es offensichtlich versäumt dir Manieren beizubringen.“

„Hat er nicht!“, knurrte Kenai beleidigt. Atka hielt ihm sofort den Mund zu.

„Mach ihn dir doch nicht gleich von Beginn an zum Feind!“, raunte er seinem Freund warnend ins Ohr, bevor er sich entschuldigend an den Meister wandte. „Ignoriert ihn einfach, Meister Kurok. Kenai ist zur Zeit ein wenig überdreht. Das wird sich wieder geben, ganz sicher. Gebt ihm etwas Zeit. Ich bin übrigens Atka.“

„Ich weiß wer ihr seid. Es spricht sich herum wenn neue Gesichter auftauchen, besonders wenn eines dieser Gesichter Haruns Sohn gehört. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dich freiwillig hat ziehen lassen. Du bist ein Ausreißer.“ Kenai sagte nichts. Kurok musterte ihn mit offener Strenge, dann wandte er sich an seine vier Untergebenen. „Lasst uns alleine.“ Sie verneigten sich vor ihm, dann zogen sie sich zurück. „Das gilt auch für dich, Nuka. Ich will mir alleine ein Bild von ihnen machen.“

„Ich warte vor meinem Zelt auf euch.“ Mit diesen Worten wurden die drei alleine gelassen. Aufmerksam schritt Kurok vor ihnen auf und ab.

„Ich würde euch am liebsten gegeneinander kämpfen lassen um zu sehen auf welchem Level ihr euch befindet, doch dafür haben wir zu wenig Platz und es könnte im schlimmsten Fall die Aufmerksamkeit anderer auf uns lenken. Daher will ich, dass ihr mir einige Figuren zeigt. Das wird mir fürs erste genügen müssen. Du fängst an, Atka.“ Mit diesen Worten ließ sich Kurok im Schneidersitz auf den Boden nieder. Kenai folgte seinem Beispiel.

Etwas unschlüssig stand Atka vor ihnen, dann holte er einmal tief Luft, bevor er sich auf das Wasser konzentrierte. Anmutig erhob es sich aus dem kleinen Bach, drehte und wand sich, gehorchte jedem seiner Bewegungen. Wie ein Lasso ließ er es über seinen Kopf kreisen, bevor er es in alle möglichen Richtungen schnellen ließ, ohne je die Kontrolle zu verlieren. Schon bald verfiel er einem Tanz, einer perfekten Mischung aus Balance und Grazie. Lächelnd klatschte Kurok in die Hände.

„Sehr gut. Besser, als ich es erwartet hätte. Du bist sehr talentiert, Atka. Kohei hat dich sehr gut unterrichtet. Du wirst uns eine große Hilfe sein.“

„Vielen Dank, Meister.“ Lächelnd verneigte sich Atka vor ihm, dann wechselten er und Kenai die Position.

Kenai schluckte. Er war nicht nervös, nicht wirklich zumindest, doch unter Kuroks durchdringenden Blick fühlte er sich wieder wie damals als Kind, als er Meister Kohei zum ersten Mal hatte zeigen müssen, wie talentiert er war. Damals war er so angespannt gewesen, dass er versehentlich seine Mitschüler eingefroren hatte. Doch das lag viele Jahre zurück. Er wusste nun, wie man das Wasser beherrschte. Trotz Atkas perfekter Performanz gab es keinen Grund nervös zu werden. Er musste sich einfach nur der Energie hingeben, die ihn mit dem wundervollen Element verband. Langsam schloss er die Augen. Es wäre nicht nötig gewesen. Die Energie des Wassers war allgegenwärtig. Er konnte es spüren. Überall um ihn herum, doch wenn er die Augen schloss, war es ihm, als könne er die Energie nicht nur spüren, sondern auch sehen. Es war wie ein Impuls, ein bläulich schimmerndes pulsieren, ruhig und wild zugleich, immer in Veränderung und niemals gleich, doch immer da, allgegenwärtig, der ewige Puls des Lebens. Kenai lächelte, als er seine Arme hob. Er spürte, wie das Wasser ihm folgte, wie es sich aus seinem erdigen Weg erhob und seinen Körper umhüllte. Vergessen waren Kurok und Atka, vergessen war der Gedanke daran, seine Fähigkeiten zu präsentieren. Es gab nur noch ihn und den Puls des Lebens.

Neben Atka runzelte Kurok kaum merklich die Stirn. „Okay, das genügt.“

Kuroks Stimme riss Kenai aus seiner Konzentration. Das Wasser erstarrte in der Luft und klatschte unkontrolliert auf ihn nieder. Vollkommen durchnässt starrte Kenai Kurok an. „Aber ich habe doch noch gar nicht richtig angefangen!“

„Ich habe gesehen was ich sehen musste. Ihr zwei seid für heute entlassen. Ich sehe euch morgen früh hier wieder.“

„Aber-“, wollte Kenai protestieren, doch Kurok schnitt ihm scharf das Wort ab.

„Ihr habt mich gehört! Geht jetzt.“

„Komm Kenai. Lass uns schlafen gehen. Ich bin müde und du sicherlich auch.“ Mit sanfter Gewalt zog Atka seinen Freund hinter sich her, der sich sichtbar den Kopf darüber zerbrach was er falsch gemacht haben könnte.

„War ich so schlimm?“, fragte er seinen Freund, doch dieser zuckte nur ratlos mit den Schultern.

„Eigentlich warst du wie immer, aber vielleicht hat ihm dieses kleine bisschen schon gereicht um dich beurteilen zu können.“

„Hm …“, brummte Kenai zweifelnd, „vielleicht.“
 

Als sich Kenai und Atka in einem gemeinsamen Zelt zum Schlafen niederlegten, saß Nuka noch am Lagerfeuer, welches sich jedoch langsam dem Ende neigte. Nur noch ein rötliches Glühen zeugte von der einstigen Wärme, doch er machte keine Anstalten es neu zu entfachen. Es wäre zu gefährlich gewesen, zu verräterisch, trotz des dicken Blätterwerkes über ihn. Die Nacht würde kalt werden. Vorsorglich hatte er sich bereits ein dickes Bärenfell über die Schultern geworfen. Plötzlich hörte er, wie jemand hinter ihn trat. Er musste sich nicht umdrehen um zu wissen wer das war. „Und?“, fragte Nuka. „Wie schätzt du sie ein?“

„Atka ist sehr vielversprechend. Die Balance zwischen Angriff und Verteidigung ist sehr gut. Wenn das im Kampf genauso sein sollte, wird er uns eine sehr große Hilfe sein. Bei ihm hast du einen erstklassigen Fang gemacht.“

„Und was ist mit Kenai?“ Kurok antwortete nicht. Das Schweigen verwunderte ihn und so wandte sich Nuka fragend zum Wasserbändiger um. Trotz der Dunkelheit konnte er einen Gesichtsausdruck erkennen, den er bei diesem Mann noch nie gesehen hatte. „Stimmt etwas nicht?“, fragte er alarmiert. Langsam schüttelte Kurok den Kopf.

„Um ehrlich zu sein weiß ich das nicht.“

Nun war Nuka wirklich alarmiert. „Was soll das heißen? Sprich nicht in Rätseln!“

„Ich habe so etwas noch nie gesehen“, sagte Kurok schließlich mit ernster Stimme. „Ich bin von uns allen der stärkste und erfahrenste Wasserbändiger. Ich habe mehr gesehen und getan als alle anderen unserer Brüder zusammen. Ich habe jeden gekannt der des Wasserbändigens mächtig war, sowohl hier als auch zu Hause. Viele von ihnen habe ich alles beigebracht was ich wusste, doch noch nie habe ich jemanden gesehen wie Kenai.“

„Ich verstehe kein Wort von dem was du mir sagen willst.“

„Du bist kein Wasserbändiger, Nuka. Du bist gar nicht in der Lage zu verstehen. Nur ein Wasserbändiger kann einen Wasserbändiger verstehen und ich sage dir: Atka ist ein großes Talent, Kenai aber ist ein Genie.“

„Ein Genie?“ Verblüfft starrte Nuka ihn an. „Kenai?!“

„Jemand wie ich braucht keine drei Sekunden um zu begreifen, dass Kenai anders ist als alle Schüler die ich je hatte. Sein Verständnis des Elements ist auf einem vollkommen anderen Level als bei irgendjemand anderen. Seine Verbindung ist um einiges stärker, inniger und sensibler. Wasserbändiger kontrollieren das Wasser, formen es nach ihrem Willen, doch bei Kenai ist es eher so, als wäre er ein Teil des Wassers … Oder das Wasser ein Teil von ihm. Ich habe noch nie so eine perfekte Harmonie zwischen Mensch und Element gesehen. Kohei hat es wahrscheinlich auch bemerkt. Ich kann mir vorstellen, dass sie nicht gut miteinander ausgekommen sind. Kenai könnte uns alle übertrumpfen.“

Nuka erhob sich langsam und sah Kurok direkt in die Augen. Sein Gesicht war ernst, doch seine Augen strahlten, als ihm langsam bewusst wurde, was das für sie bedeuten konnte. „Weißt du, was das für uns bedeuten würde, Kurok? Wenn das stimmt, könnte niemand uns mehr aufhalten!“

Kurok war weniger begeistert. „Da wäre ich mir nicht so sicher. Mein erster Eindruck von ihm ist nicht gerade der eines typischen Kriegers. Er ist zu weich. Das erkennt man in seinen Augen.“

„Unsinn!“, wehrte Nuka energisch ab. „Er ist erst vierzehn. Er ist noch ein halbes Kind und noch dazu in sehr behüteten Verhältnissen aufgewachsen. Harun hat ihn vor jedwedem bösen Einfluss beschützt. Er hält die Welt für einen wunderschönen, harmonischen Ort, in dem es keinen Schrecken gibt. Gestern hat diese Vorstellung erste Risse bekommen, als wir ein zerstörtes Dorf gesehen haben. Schon bald wird er merken, wie die Welt wirklich aussieht. Sobald seine kleine Illusion zerplatz, wird der Krieger in ihm erwachen. Du darfst nicht vergessen, dass er mein Neffe ist. Und Harun war einst der mächtigste Krieger den wir je hatten, bis Selenas Tod ihn verändert hat. Hätte ihn der Vorfall nicht so erschüttert, würden sich die Feuerbändiger längst vor uns im Staub winden. Das weißt du genauso gut wie ich. Der Krieger steckt Kenai im Blut. Er weiß es nur noch nicht. Sieh zu, dass er sein Potential voll entfalten kann, verstanden? Wenn er nur halb der Mann ist wie Harun es einst war, dann wird er uns zum Sieg führen.“

„Und wenn er nach seiner Mutter kommt?“

„Dann haben wir bereits gewonnen.“

In dieser Nacht schlief Kenai schlecht. Immer wieder schreckte er aus wirren Träumen auf, die er jedoch sogleich wieder vergaß, versuchte weiterzuschlafen, doch er sickerte Stundenlang in einer Art Dämmerzustand vor sich hin, bis er es irgendwann einfach nicht mehr aushielt und noch vor Sonnenaufgang unter seiner Plane hervor kroch. Ihm fröstelte es. Gähnend schlang er seine Arme um seinen Körper und torkelte ein wenig benommen im Lager herum. Alles schlief noch. Selbst der letzte Vertreter der Nachtwache saß am längst erloschenen Lagerfeuer, das Kinn auf der Brust ruhend und schnarchte leise vor sich hin. Es war der einzige Laut, den man hören konnte. Ansonsten war es still. Nichts rührte sich, als hätte die Zeit vergessen sich zu drehen. Erst langsam erwachten Kenais Lebensgeister, als er sich stolpernd seinen Weg zum kleinen Bach suchte. Kaum angekommen, kniete er sich am seichten Ufer nieder, tauchte die Hände ins kühle Nass und wusch sich das Gesicht. Tief durchatmend lehnte er sich zurück und sah zu dem Stückchen Himmel empor, der sich ihm offenbarte. Langsam wurde es hell. Die Sterne verschwanden und wichen einem gräulichen Blau, dem die ersten Sonnenstrahlen folgten. Kenai lächelte, doch plötzlich verdunkelte etwas den erwachenden Morgenhimmel. Etwas raste über ihn hinweg, so schnell, dass er es kaum erkennen konnte, begleitet von einem mächtigen Windstoß, der ihn über den Boden wirbelte. Einen Moment blieb er benommen liegen, dann stand er sofort wieder auf seinen Beinen. „Was war das denn?!“ Verwirrt starrte er in die Richtung, in der das Wesen verschwunden war, dann, nach kurzem Zögern, kehrte er ins Lager zurück, wo die ersten Krieger endlich aus ihrem Schlummer erwacht waren. Einer von ihnen Tuaq, der gerade aus seinem Zelt kroch.

„Ah, Morgen Kenai! Schon wach?“

„Ja. Hast du das eben auch gesehen?“

„Nö. Was denn?“

„Keine Ahnung. Da ist gerade ein Wesen über uns hinweggeflogen, so schnell, dass es mich von den Füßen gerissen hat. Ich konnte es nicht richtig erkennen.“

„Hm.“ Nachdenklich kratzte sich Tuaq am Kopf. „Hört sich nach einem Drachen an.“

„Ein Drache?“

„Ja, ein Drache. Groß, lang, übellaunig, kaum zu besiegen, blutrünstige Bestie, frisst am Liebsten Menschenfleisch, gelegentliches Haustier besonders idiotischer Feuerbändiger, stinken schlimmer als Tartoks durchgelatschte Schuhe. Aber keine Sorge. Es kann kein Drache gewesen sein, denn wenn es ein Drache gewesen wäre, wären wir jetzt alle Tod.“

Kenai verzog das Gesicht. „Wie beruhigend.“

„Es sei denn natürlich es war ein Späher. In dem Fall werden wir nur dann Tod sein, wenn sie uns entdeckt haben … Vorausgesetzt es war ein Schoßtier. Wenn es ein wilder Drache war, haben wir nichts zu befürchten, es sei denn er hat Hunger und er kommt zurück. In dem Fall wären wir wirklich Tod … Vielleicht solltest du Nuka sagen was du gesehen hast. Nur für den Fall.“

„Ja, nur für den Fall.“ Kenai wandte sich gerade von Tuaq ab, als er plötzlich bemerkte, wie drei voll ausgerüstete Krieger ins Lager eilten. Er erkannte den Anführer sofort. Der Mann sah genauso aus, wie sich Kenai Atka immer vorgestellt hatte wenn dieser erwachsen war. Die Ähnlichkeit war kaum zu übersehen. Das gleiche markante Kinn, die gleichen hohen Wangenknochen, die gleiche Nase. Nur die Augen waren anders. Es waren Kaijas Augen. Dieser Mann musste unverkennbar Nakana sein. Kenai sah ihn an, doch Nakana hatte keinen Sinn für seine Umgebung. Mit weiten Schritten durchquerte er das Lager, packte einen ihm nahe stehenden Krieger am Kragen seines Hemdes und zog ihn zu sich heran.

„Sieh zu, dass unsere Männer alle Sachen zusammenpacken. Wir müssen sofort weiterziehen. Die Feuerbändiger haben ihre Drachen ausgesandt. Los jetzt!“ Jeder, der ihn gehört hatte, gehorchte sofort. „Schon irgendwelche Neuigkeiten von Nuka?“, fragte Nakana. Er sah sich um und entdeckte zu seiner eigenen Überraschung ein ihm unbekanntes Gesicht. „Wer bist du?“

„Kenai. Ich bin mit Nuka gekommen. Er schläft dort drüben.“ Er deutete auf ein Zelt in der entgegengesetzten Richtung. „Ich habe den Drachen auch gesehen. Ich glaube nicht, dass er uns bemerkt hat.“

„Kennst du dich mit Drachen aus?“

„Nein.“

„Dann äußere dich auch nicht dazu. Drachen sind Bestien. Sie riechen dich aus mehreren Kilometern Entfernung und sehen selbst in absoluter Dunkelheit gestochen scharf. Wenn du ihn gesehen hast, hat er dich mit ziemlicher Sicherheit auch gesehen. Wenn du einen Drachen siehst, musst du sofort verschwinden. Selbst mehrere Wasserbändiger können es nicht mit ihnen aufnehmen. Sogar Feuerbändiger machen einen großen Bogen um sie. Nur sehr selten gelingt es einen von ihnen einen Drachen zu töten oder gar zu zähmen. Versprich mir, dass du dich von ihnen fernhältst, Junge. Ich habe schon genug tapfere Männer an sie verloren. Ich will nicht noch mehr an sie verlieren. Wenn es sich einmal doch nicht vermeiden lässt, dann hilft entweder nur noch beten oder dein Verstand. Merk dir das.“

Verdutzt sah Kenai ihn an, dann lächelte er. „Geht klar.“

Nakana wollte ihm gerade den Rücken zudrehen, als er sich anders entschied und sich ihm wieder zuwandte. „Wie alt bist du?“

„Ich bin vierzehn.“

„So jung.“ Nakana seufzte betrübt. „Du hättest nicht kommen sollen. Der Krieg ist nichts für vierzehnjährige. Er könnte dich zerstören. Aber da du schon einmal hier bist, lässt sich daran wohl nichts mehr ändern … Du kommst wohl aus unserem Stamm, wenn du mit Nuka gekommen bist.“

„Ja.“ Noch immer lächelte Kenai. Er sah in die Augen dieses Mannes, die ihn so sehr an Kaija erinnerten und erkannte auch die unausgesprochene Frage, die in ihnen ruhte. Er wollte darauf antworten, doch er tat es nicht. Sein Blick wanderte an Nakana vorbei, bis zu einem Punkt direkt hinter ihm, wo Atka gerade aus dem Zelt gekrochen kam, der sich wunderte, warum plötzlich so helle Aufregung herrschte. Als er Kenai entdeckte, eilte er auf ihn zu.

„Was ist denn hier los?“

„Drachen“, antwortete Nakana knapp. „Wie ich sehe haben wir noch einen neuen … Rekruten … Oh mein …“ Seine Stimme brach, als er Atka erkannte. Fassungslos starrte er ihn an, das Gesicht eine Maske des puren Unglaubens. „Du … du bist … Atka?! Bist du das? Was … was hast du hier zu suchen?“

„Vater!“ Vollkommen überrumpelt starrte Atka Nakana an, hin und hergerissen zwischen unbeschreiblicher Freude und Ärger, denn sein Vater machte nicht gerade den Eindruck als würde er sich freuen ihn zu sehen. Ganz im Gegenteil. Er war regelrecht entsetzt. „Ich bin hier, weil ich dich sehen wollte … Und weil ich helfen will. Freust du dich etwa nicht mich zu sehen?“

„Ich … ich … doch! Natürlich! Es ist nur … Bei allen Geistern, bist du groß geworden! Als ich gegangen bin, warst du noch keine drei Jahre alt und jetzt sieh dich an!“ Fassungslos sah er ihn an. Er wagte es nicht einmal ihn in die Arme zu nehmen. „Du bist fast ein ganzer Mann! Wie geht es deiner Mutter? Und dem Baby? Geht es dem Baby gut?“

„Mutter geht es gut. Und Kaija auch.“

„Kaija?“ Nakana lächelte glücklich. „Eine Tochter also. Ich habe eine Tochter!“ Er strahlte, doch dann, urplötzlich, wurde er schlagartig wieder ernst. Der Vater war verschwunden und hatte dem Krieger Platz gemacht. „Wir reden später. Packt eure Sachen. Wir müssen los. Nuka!“ Sofort wandte er sich wieder seinen Pflichten zu. Kurze Zeit später teilte sich das Lager in zwei Gruppen, die sich in unterschiedliche Richtungen zerstreuten, jedoch das gleiche Ziel hatten. Während Atka mit seinem Vater ging, blieb Kenai bei seinem Onkel und Meister Kurok, die ihre Gruppe zur Eile antrieben. Kenai merkte schnell, dass die Krieger ein eingespieltes Team waren. Jeder hatte seine Aufgabe, der gewissenhaft nachgekommen wurde. Einige bildeten die Vorhut, andere den Rückhalt, wieder andere bewachten die Waffen und die Verpflegung. Er selbst kam sich dabei vor wie ein Fremdkörper. Er hatte keine Ahnung was man von ihm wollte oder wie er sich am besten nützlich machen konnte. Sein Onkel wechselte ständig die Position und war kaum auffindbar, so dass er sich an Meister Kurok hielt, der die linke Flanke deckte. Da dieser ihn nicht verscheuchte, nahm er das als Zustimmung.

Sie wanderten den ganzen Tag und die halbe Nacht, bis sie endlich eine Pause einlegten, ohne jedoch ein Lager zu errichten. Jeder legte sich dort schlafen, wo er gerade stand, bevor es beim ersten Morgengrauen weiterging. Kenai merkte bald wie sich die Landschaft veränderte. Die Wälder verschwanden. Die Bäume lichteten sich und wichen immer öfters kahlen Stellen, die erst zu Hügeln, dann zu Felsen wurden. Nach fünf Tagen erreichten sie einen dunklen, furchteinflößenden Berg, der weite Schatten über das Land warf. Kenai erschauderte bei dessen Anblick. Er war nicht der einzige. Er konnte förmlich spüren wie die Stimmung umschlug. „Was wollen wir hier?“, fragte er leise.

„Wir haben hier eines unsere Verstecke“, erklärte ihm Kurok. „Ein unterirdischer See. Bisher sind wir dort immer unentdeckt geblieben. Das einzige Problem ist nur, dass manche Erdbändiger sehr sensibel sind. Daher nutzen wir diesen Ort nur sehr selten und auch nur dann wenn wir wissen, dass keine feindlichen Bändiger in der Nähe sind. Nakana hat den Ort auskundschaften lassen. Wir sind dort eine Weile sicher und wir können uns deiner weiteren Ausbildung widmen. Du hast es nötig.“

Mit dem bitteren Geschmack der Erinnerung verzog Kenai das Gesicht. Er hatte die Schmach seiner sehr kurzen Bändigungsvorführung immer noch nicht überwunden.

Als es Nachmittag wurde, erreichten sie einen geheimen Tunnel, so gut versteckt, dass nicht einmal eine Maus ihn bemerkt hätte, jedoch zugleich so eng, das man nur einzeln hindurch kriechen konnte. Als sich der Tunnel endlich lichtete, betrat Kenai eine gigantische Höhle, nur erleuchtet von grünlich schimmernden Kristallen. Hier gab es nichts weiteres als blanken Fels und einen ruhenden See, der die Mitte zierte. „Und hier sind wir wirklich sicher?“, fragte Kenai misstrauisch. Er hatte keine Ahnung wozu Erdbändiger fähig waren, von daher konnte er nicht sagen ob es klug war sich an einem Ort aufzuhalten, der von nacktem Gestein umgeben war.

„Vollkommen sicher“, antwortete Nuka, der an die Seite seines Neffen trat. „Erdbändiger trauen sich nicht hier her, aus Angst vor den Geistern dieses Ortes. Vollkommener Humbug, aber äußerst nützlich. Wir warten hier noch auf die anderen. Sobald sie hier sind, gibt es eine Einsatzbesprechung.“

„Was denn für Geister?“, fragte Kenai unruhig. Er hatte nicht die geringste Lust darauf irgendwelche Geister zu erzürnen. Man hatte ihm von klein auf beigebracht sämtliche Geister zu respektieren und ungefragt in ihr Territorium einzudringen zeugte nicht gerade von Respekt.

„Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Kümmere dich um dein Bändigungstraining. Du musst in Übung bleiben, denn du könntest jeder Zeit zu einem Einsatz gerufen werden.“
 

Das Bändigungstraining lief furchtbar. Er war noch nie so schlecht gewesen, aber irgendwie war es ihm vollkommen unmöglich sich zu konzentrieren. Der Ort hier machte ihm Angst. Alle seine Sinne schrien danach sofort von hier zu verschwinden, doch er traute sich nicht es auszusprechen, aus Furcht, man könne ihn für einen Feigling halten. Er fühlte sich von allen Seiten beobachtet und zwar nicht nur von den Kriegern, die ihm bei seinen lausigen Versuchen zusahen und ihre Witze über ihn rissen. Nein. Hier lauerte irgendetwas anderes im schwarzen Schatten der Felsen, was sich jedoch in Dunkelheit hüllte.

Als er zum zehnten Mal in Eis eingefroren wurde, riss Meister Kurok der Geduldsfaden. „Was soll das, Kenai?“, fachte er ihn wütend an. „In einem echten Kampf hätte ich dich ein dutzend Mal töten können!“

„Tut mir ja leid.“

„Tut es gar nicht! Im Kampf müssen wir uns auf dich verlassen können! Wie soll das gehen wenn du schon beim Training versagst? Ich hatte mehr von dir erwartet.“ Kenai sagte nichts dazu. Mit halb geschlossenen Augen wich er Kuroks Blick aus, bis dieser sich erbarmte und das Eisgefängnis auflöste. „Wir machen Schluss für heute. Ich will dich erst einmal nicht mehr sehen.“ Mit diesen Worten zog er sich zurück. Genau diesen Augenblick nutzte plötzlich Nakanas Gruppe, um durch einen zweiten Gang ins Innere der Höhle zu gelangen. Einer nach dem anderen kam durch ein kaum wahrnehmbares Loch gekrochen, darunter auch Atka, der sich staunend umsah, beeindruckt von der Wucht dieser Zufluchtsstätte.

„Es ist wundervoll hier!“, hauchte er ehrfurchtsvoll.

„Ist es nicht“, brummte Kenai schlecht gelaunt, der zusammengesunken am Ufer des Sees saß, vollkommen durchnässt. „Das hier ist ein Ort, der nicht in seiner Ruhe gestört werden sollte.“

„Was ist denn mit dir los?“, fragte Atka verwundert, der zur Seite weichen musste, um seinem Vater Platz zu machen, der es deutlich schwerer hatte sich durch die schmale Öffnung zu zwängen.

„Nichts“, brummte Kenai. Selbst ein Blinder hätte diese Lüge sofort durchschaut. „Ich mag nur diesen Ort nicht.“

„Hat dir irgendeiner der Männer die Geistergeschichte erzählt?“, fragte Nakana, der zwar keine Ahnung hatte worum es ging, sehr wohl jedoch eins und eins zusammenzählen konnte. „Glaub kein Wort davon.“

„Was denn für eine Geistergeschichte?“, wollte Atka wissen.

„Angeblich soll in diesem Gebirge ein Geist namens Tsai Shen sein Unwesen treiben“, erklärte Nakana geduldig. „Kein Lebender hat ihn je gesehen, keiner weiß wie er aussieht. Es heißt er könne seine Gestalt verändern. Manchmal sähe er aus wie ein Tier, manchmal wie ein Mensch, manchmal sogar wie ein Fels, unmöglich vom Gestein um sich herum zu unterscheiden. Jeder, der ihn je zu Gesicht bekommen hat, wurde von ihm verschlungen, und ist nun dazu verdammt als ruheloser Geist auf dieser Welt umher zu irren. Das ist freilich nur das Schicksal jener, die versehentlich seine Ruhe stören. Diejenigen, die das mit Absicht tun, erwartet ein noch viel grausameres Schicksal, so grausam, dass selbst die Erdbändiger sich nicht trauen es auszusprechen. Die Höhle hier soll angeblich einer seiner Rückzugmöglichkeiten sein. Aber das sind alles nur Geschichten. Wir nutzten dieses Versteck bereits seit zehn Jahren und bisher ist uns noch nie etwas geschehen.“

„Was nicht ist kann noch werden“, brummte Kenai, den die Geschichte alles andere als beruhigte. „Vielleicht hattet ihr bisher einfach nur Glück.“

„Vielleicht.“ Einen Moment sah ihn Nakana nachdenklich an, dann zuckte er mit den Schultern und begab sich auf die Suche nach Nukas Zelt um Bericht zu erstatten. Nur wenige Minuten später befand er sich auch schon inmitten einer Einsatzbesprechung.

„Wir haben Nachricht von Einsatzteam Zwei erhalten“, klärte ihn Nuka auf, kaum dass er das Zelt betreten hatte. „Feuerkrieger haben ihr Lager in einem kleinen Tal nicht weit von hier errichtet. Scheinbar planen sie einen Angriff auf die Luftbändiger. Sie haben mindestens einen Drachen, wahrscheinlich der, den sie als Kundschafter ausgesandt haben. Irgendwelche Vorschläge?“

„Wenn sie in einem Tal sind“, meldete sich Kurok mit ernstem Gesicht zu Wort, „können wir sie vielleicht einschließen und überfluten. Es muss nur genügend Wasser zur Verfügung stehen.“

„Wir haben keine Zeit das auszukundschaften. Nakana, ich weiß, wir haben alle eine lange Wanderung hinter uns und wir sind müde. Such dir eine schlagfertige Truppe zusammen und brich so schnell auf wie möglich. Das Gleiche gilt auch für dich, Kurok. Nimm einige Wasserbändiger mit und sieh zu, was ihr tun könnt. Wenn ihr sie mit einem Schlag vernichtet umso besser. Das zweite Einsatzteam wird euch erwarten. Ich werde auch umgehend eine Nachricht an unsere Verbündeten schicken.“ Kurok und Nakana nickten, erhoben sich und wollten zur Tat schreiten, doch Nuka hielt Kurok zurück. „Nimm die Jungs mit.“

„Dafür ist es noch zu früh.“

„Dafür ist es nie zu früh. Sie müssen lernen was es heißt zu kämpfen.“

„Hast du Kenai eben gesehen? Sein Bändigen war die reinste Katastrophe.“

„Du warst es, der ihn als Genie bezeichnet hat. Nimmst du das so schnell wieder zurück?“

Kurok zögerte kurz, dann schüttelte er den Kopf. „Nein.“

„Dann hast du meine Anweisungen gehört.“

Kurok war alles andere als begeistert, doch er wiedersprach nicht. Kaum hatte er das Zelt verlassen, suchte er sich fünf fähige Bändiger zusammen, bevor er sich auf die Suche nach den Jungen machte, die nicht schwer zu finden waren. Kenai hockte noch immer dort, wo er ihn zurückgelassen hatte, vollkommen zerknirscht. Atka stand ratlos daneben. „Packt eure Sachen“, wies er sie an, ohne ihnen eine Erklärung zu liefern. „Wir brechen in fünf Stunden auf. Ruht euch bis dahin aus. Wir haben einen Einsatz.“
 

Kenai konnte es gar nicht erwarten die Höhle so schnell es ging wieder zu verlassen, so dass die fünf Stunden wie eine Qual für ihn waren. An Ruhe war nicht zu denken. Umso erleichterter war er, als er sich wieder durch den engen Gang zwängen konnte, ausgerüstet mit einem vollen Wasserschlauch an seiner Seite, und kurz darauf frische, klare Nachtluft in seine Lungen sog. Sofort fühlte er sich wohler. Kurok bemerkte diese Veränderung.

„Leidest du an Klaustrophobie?“, fragte er.

„Klaustro-was?“

„Klaustrophobie. Hast du Angst vor engen, geschlossenen Räumen? Kaum bist du aus der Höhle raus, siehst du aus wie neu geboren.“

„Nein, eigentlich nicht“, antwortete Kenai wahrheitsgemäß. „Ich störe nur nicht gerne die Ruhe der Geister.“

„Hier gibt es keine Geister.“

Weisheitshalber hielt sich Kenai mit einem Kommentar zurück. Schweigend folgte die kleine Gruppe Kurok, ohne irgendwelche Fragen zu stellen und ohne zu wissen, dass sich Nakanas Truppe bereits eine Stunde vor ihnen auf den Weg gemacht hatte. Anstatt jedoch den Berg hinunter zu gehen, kletterten sie die steilen Berghänge entlang, folgten einigen schmalen Pfaden und beteten, das sie in der Dunkelheit nicht die Orientierung verlieren mögen. Kenai gähnte. Er war erschöpft und müde und bereute es bereits, dass er in den fünf Stunden, die ihnen vergönnt gewesen waren, keine Ruhe gefunden hatte. Langsam erreichte er das Maximum seiner Kräfte. Er war das ganze Reisen nicht gewöhnt und langsam kamen ihm Zweifel, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, seine Heimat zu verlassen, nur um ein blödes Gefühl loszuwerden, welches er, zugegeben, kaum noch verspürte. Es ruhte, tief in ihm drinnen, half ihm jedoch nicht seine Müdigkeit zu vertreiben. Er gähnte abermals. Sie hatten einen schmalen Pass erreicht. Eisiger Wind fegte über ihnen hinweg, zerrte an ihren Kleidern und ihren Haaren, stellte sich ihnen mit aller Macht entgegen, als würde er sie daran hindern wollen ihren Weg fortzusetzen. Irgendwo in weiter Ferne war lautes Donnern zu hören. Steinsplitter rollten einem Abhang hinunter. Kenai sah auf. Ein Steinschlag war das Letzte, was sie in diesem Augenblick gebrauchen konnten. Doch was er schemenhaft im schwachen Licht des grauenden Morgens erkennen konnte war kein Steinschlag. Er spürte instinktiv, dass es noch nicht einmal menschlich war. Weit über ihnen, einer gigantischen Spinne gleich, und von allen bis auf ihm unbemerkt, klebte eine Kreatur am rauen Gestein, mit neun leuchtenden Augen, die sich zornig auf ihn richteten. Mit lautem Gebrüll stürzte sie sich auf ihn.

Kenai kam gar nicht erst dazu sich zu verteidigen. Bevor er überhaupt in der Lage war zu begreifen, was sich da auf ihn stürzte, wurde er auch schon von den Füßen gerissen und unter einem wuchtigen Körper begraben. Entsetzt wirbelten die Wasserbändiger herum, sofort zum Angriff bereit, doch noch bevor sie die Chance dazu hatten, ihre Wasserflaschen zu öffnen, brüllte das Vieh sie an, so laut, so markerschütternd, mit so viel Wucht, dass sie nach hinten geschleudert wurden und hilflos über die Erde rollten, bis sie ächzend gegen die kahle Felswand knallten und einen Moment benommen liegen blieben. Sofort stürzte sich die Spinne auf sie, brüllend, mit haarigen Beinen, die sich plötzlich in dolchartige Pranken wandelten, bereit sie ohne zu zögern niederzustrecken.

„Tsai Shen!“

Die Pranke erstarrte, nur Millimeter von Kuroks Gesicht entfernt, der gerade erst wieder zur Besinnung kam. Panisch starrte er das Vieh an, unfähig sich zu bewegen. Langsam drehte sich die Spinne um. Kenai kniete auf der Erde, völlig zerzaust, jedoch vom Aufprall der Kreatur unverletzt. „Bitte. Tu ihnen nichts.“ Der Geist, Tsai Shen, rührte sich nicht. Mit glühenden Augen sah er ihn in, lange, schweigend, doch ohne Zorn. Dann ließ er die Pranke sinken, die sich wieder in ein haariges Spinnenbein verwandelte. Schließlich ließ er von der Gruppe ab, wandte ihr den Rücken zu und trat auf Kenai zu, der nicht vor ihm zurückwich. Schweigend sahen sie sich an, während am Horizont langsam die ersten Sonnenstrahlen die Welt erhellten. Hinter Tsai Shen zogen sich die Wasserbändiger langsam wieder auf die Beine. Atka war kreideweiß im Gesicht, die Augen vor Entsetzten auf die monströse Spinne gerichtet. Meister Kurok hatte seine Fassung wiedererlang. Mit ausdrucksloser Miene beobachtete er die Szene. Doch einer der Wasserbändiger, die unter ihm dienten, war nicht so gelassen. Vorsichtig, von allen unbemerkt, öffnete er seine Wasserflasche. Die langsam herausschwebende Flüssigkeit schimmerte, als sie sich in einen Eiszapfen verwandelte. Plötzlich ging alles ganz schnell. Kenai bemerkte den Splitter, doch sein warnendes „Nicht!“ kam zu spät. Der Eissplitter sauste durch die Luft und traf den Geist, der sich just in diesem Moment umwandte, mitten in die Stirn, ohne ihn jedoch zu verletzen. Der Eissplitter raste durch ihn hindurch und bohrte sich in das massive Gestein, doch es reichte, um Tsai Shens Zorn von neuem zu entfachen. Er brüllte, die Erde bebte. Risse jagten dem Boden entlang, Felsbrocken stürzten donnernd den Abhang hinab. Sofort versuchten sich die Wasserbändiger in Sicherheit zu bringen, doch Kenai war der Weg versperrt. Krampfhaft versuchte er wieder auf die Beine zu kommen, doch plötzlich rutschte die Erde unter ihm hinweg. Die Welt kippte. Alles drehte sich in rasender Geschwindigkeit. Felssplitter bohrten sich in seine Haut, Sterne explodierten vor seinem Blick. Etwas krachte und knackte und plötzlich, mit einem kräftigen Ruck, hörte das Drehen auf. Benommen öffnete Kenai die Augen. Alles drehte sich. Er blinzelte. Erst langsam klärte sich sein Blick und ihm gefror das Blut in den Adern, als ihm bewusst wurde, das er in eine bodenlose Tiefe starrte. Er wollte zurückweichen, doch etwas hielt ihn fest. Vorsichtig wandte er den Kopf. Tsai Shen klebte direkt hinter ihm am Felsen, noch immer in Gestalt einer Spinne, und hielt ihn mit einem seiner haarigen Beine fest. Es war das einzige, was ihn davor bewahrte in die tödliche Tiefe zu stürzen. Behutsam wurde er auf einen schmalen Felsvorsprung gezogen. Kaum hatte Kenai wieder festen Boden unter den Füßen, sackte er in sich zusammen, den Schreck noch immer in den Gliedern. Er zitterte einen Moment, dann riss er sich zusammen und verneigte sich vor dem Geist, der sich im Tageslicht langsam aufzulösen begann. „Danke.“ Dann war der Geist verschwunden.

„KEINAI!“, erklang weit über ihn Atkas Stimme. „LEBST DU NOCH? KENAI!“

Benommen legte Kenai den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Ihm wurde übel als ihm bewusst wurde, wie tief er gestürzt war. Er konnte seinen Freund zwar hören, jedoch nicht sehen. „ATKA!“, rief er, die Hände als Trichter vor seinem Mund geformt. „ICH BIN HIER!“

„BIST DU VERLETZT?“, erklang Meister Kuroks dunkle Stimme.

Kenai antwortete nicht gleich. Vorsichtig stellte er sich auf die Beine, ließ seine Schultern kreisen und machte einige Dehnübungen, bevor er sich seinen Nacken rieb, der ein wenig schmerzte. „NEIN!“, rief er schließlich. „NUR EIN PAAR KRATZER!“

„WO BIST DU?“, fragte Atka. „WIR KÖNNEN DICH NICHT SEHEN!“

„ICH STEHE AUF EINEM FELSVORSPRUNG!“ Er sah sich um, in der Hoffnung irgendetwas zu finden, was ihm weiterhelfen konnte. Er hatte Glück. „HIER GIBT ES EINEN SCHMALEN PFAD. ICH WEIß ABER NICHT WOHIN ER FÜHRT.“

Es dauerte eine Weile, bis Kurok ihm antwortete. „HÖR MIR ZU, KENAI. WIR KÖNNEN DICH NICHT HOLEN KOMMEN. DAS GESTEIN IST ZU BRÜCHIG. ES WÜRDE SOFORT NACHGEBEN. BENUTZE DEN PFAD UND VERSUCHE ZURÜCK ZUM SEE ZU KOMMEN. DU WEIßT JA, WO ER IST. ZUR NOT WARTE, BIS EINER DER WACHEN DICH SIEHT. HAST DU MICH VERSTANDEN?“

Kenai schluckte. Er hatte nicht die geringste Lust darauf alleine in einem für ihn völlig fremden Gebirge herumzuirren um nach einem Ort zu suchen, an den er eigentlich gar nicht zurück wollte, doch er verstand, dass es wohl keine andere Möglichkeit gab. Er war ein Wasserbändiger. Er würde auch alleine zurechtkommen, vorausgesetzt, er wurde nicht das Opfer eines wütenden Geistes … Aber der Geist hatte sich gar nicht auf ihn gestürzt, fiel ihm plötzlich auf. Ganz im Gegenteil. Er hatte ihm sogar das Leben gerettet, während er auf die anderen losgegangen war. Aber warum?

„KENAI?“, rief Atka besorgt.

„JA“, antwortete er sofort. „ICH HABE EUCH GEHÖRT. KEINE SORGE. ICH SCHAFFE DAS SCHON … PASST AUF EUCH AUF!“

„DU AUCH!“, kam die Antwort aus mehreren Kehlen, dann wurde es still. Im Licht des beginnenden Tages war Kenai mit einem Mal vollkommen allein. Etwas ratlos stand er auf seinem Felsvorsprung und starrte noch immer nach oben, dann wandte er sich vom rauen Gestein ab und betrachtete Land, das sich vor ihm erstreckte. Sie waren tiefer in den Berg eingedrungen als er gedacht hatte. Unter ihm fielen die Felswände steil ab, nur unterbrochen von spitzen, dolchartigen Gebilden, die nur darauf warteten unvorsichtige Wanderer schmerzhaft in Empfang zu nehmen. Doch dort, wo sich die Erde dann endlich zu ebnen begann, lugten erste Sträucher zwischen den Felsklippen hervor, bis erste karge Bäume ihre Schatten warfen, eingebettet in einem Gemisch aus Sand und Geröll. Irgendwo in weiter Ferne schimmerte ein kleiner, schmaler Bach. Die Gegend war wild und gefährlich, doch auf ihre eigene Art und Weise strahlte sie eine Schönheit aus, die Kenais Nerven ein wenig beruhigten. Er holte einige Male tief Luft, dann begann er den schmalen Weg entlang zu klettern. Es kostete ihn viel Kraft sich gegen die karge Wand zu pressen, die keine Möglichkeit für einen ordentlichen Halt bot, doch irgendwann, die heiße Sonne begann bereits ihm den Nacken zu verbrennen, wurde der Weg breiter, so das er schließlich normal gehen konnte. Er folgte dem Pfad einen halben Tag lang, manchmal den Berg hinauf, manchmal wieder hinab, bis er sich schließlich in einer sandigen Schlucht verlor, die seinen Weg in verschiedene Wege gabelte. Unschlüssig blieb Kenai stehen. Er hatte keine Ahnung wo er war. Er wusste weder, ob er sich dem Höhlensee näherte oder sich von ihm entfernte, noch, in welche Richtung er sich begeben sollte. Nachdenklich kratzte er sich den Kopf, ging dann zum linken Weg, nur um sich dann anders zu entscheiden und den rechten Weg einzuschlagen, den er jedoch abermals nach nur wenigen Schritten abbrach. Er war sich einfach nicht sicher, welchen Weg er einschlagen sollte.

„Na komm schon!“, rügte er sich selbst. „Es ist doch vollkommen egal wohin du gehst. Du hast doch eh keine Ahnung wo du bist.“ Er wollte sich gerade wieder dem linken Weg zuwenden, als er plötzlich auf dem rechten etwas hörte. „Hallo?“, fragte er vorsichtig, die Hand auf seiner Wasserflasche ruhend. Nur für den Fall. Niemand antwortete ihm, doch irgendetwas wimmerte, so leise, dass es kaum zu hören war. Wachsam folgte Kenai dem Geräusch, bereit, beim kleinsten Anzeichen von Gefahr zu reagieren. Doch nichts rührte sich, nichts stürzte sich auf ihn nieder oder griff ihn an. Alles war friedlich, bis auf das leise, klägliche Wimmern, das langsam immer lauter wurde. Die Schlucht begann sich langsam etwas zu weiten. Trockene Sträucher ragten aus der Erde hervor Lange Schatten warfen sich über das Gebiet und spendeten so eine angenehme Kühle vor der sengenden Sonne. Kenai blieb plötzlich stehen. Das Wimmern war nun so laut, dass es ganz aus seiner Nähe kommen musste, doch egal wohin er auch sah, er konnte nichts auffälliges entdecken, selbst an den Wänden nicht. Da fiel ihm ein Busch ins Auge, der leicht zitterte. Mit einem letzten Blick auf seine Umgebung näherte er sich dem Gestrüpp und schob vorsichtig die knorrigen Äste beiseite. Dann sah er es. Halb von Sand bergraben wimmerte und fiepte kläglich ein verletztes Jungtier. Es sah aus wie ein schneeweißes Fellknäul mit dicken, übergroßen Pranken, die in krampfhaften Schmerzanfällen unkontrolliert zuckten, mit an den Spitzen geknickten Ohren und einer angeschwollenen Zunge, die ausgedörrt aus dem halb geöffneten Maul ragte. Sofort trat Kenai auf das arme Geschöpf zu, nahm es in die Arme und beschwor ein wenig Wasser aus seiner Flasche, das er vor dem Tier in der Luft schweben ließ, doch es war zu schwach um es zu erreichen. Sofort benetzte er damit die geschwollene Zunge. „Na komm schon!“, beschwor er das Tier. „Trink. Du brauchst das.“ Das Tier zitterte, versuchte seine Zunge in sein Maul zu ziehen, doch es schaffte es nicht. Es war vollkommen entkräftet. Hilflos sah Kenai das kleine Geschöpf an. Etwas regte sich in ihm, eine Erinnerung, die tief in ihm verborgen lag. Er konnte sie nicht greifen, nicht heraufbeschwören und doch reichte es, um in ihm eine Flamme der Entschlossenheit lodern zu lassen. Ohne recht darüber nachzudenken zwang er die Kiefern des Jungtieres auseinander, nahm den Schlauch von seiner Seite und führte es an die ausgedörrten Lippen, so wie er es bei einem Menschen getan hätte, doch anstatt ihm große Schlucke zu geben, versuchte er nur so wenig wie möglich ins Maul zu tropfen, aus Sorge, das erschöpfte Wesen könnte sich verschlucken. Einen furchtbar langen Moment lang passierte nichts, doch dann, endlich, schaffte es das Tier die Zunge wieder ins Maul zu ziehen und die lebensspendende Flüssigkeit hinunter zu schlucken, doch diese kleine Bewegung kostete ihm so viel Kraft, dass es in seinen Armen erschlaffte. „Oh nein! Nicht sterben!“, rief er erschrocken, doch dann zuckte das kleine Wesen wieder unkontrollierbar mit den Pfoten, fiepte und wimmerte, der kleine Körper von Schmerzen gepeinigt. Verzweiflung regte sich in Kenai. „Es tut mir leid, Kleiner“, flüsterte er. „Wenn ich Heilen könnte wie meine Freundin Kaija, könnte ich dir helfen, aber ich habe keine Ahnung was ich tun soll.“ Jeder vernünftig denkende Mensch hätte das Tier von seinen Leiden erlöst, doch Kenai konnte es nicht. Traurig hielt er den kleinen Körper in seinen Armen. Er konnte den schwachen Herzschlag fühlen, das rasselnde Atmen, das Zucken der Muskeln. Doch da war noch etwas anderes. Etwas, was er nur schwach in den trüben Augen erkennen konnte. Ein ungetrübter Lebenswille. Das Tier wollte nicht sterben. Mit all der Kraft, die dem kleinen Ding noch verblieben war, kämpfte es dagegen an, bäumte sich innerlich gegen die langsam hereinziehende Dunkelheit auf. Leise fiepend sah es Kenai an und Kenai blickte zurück, mit zugeschnürter Kehle. Die Sekunden verstrichen, dann presste er das Tier fester an seine Brust, stand auf und setzte entschlossen seinen Weg fort. Er machte sich keine Gedanken darüber wohin ihn der Weg führen würde, es ging ihm einzig darum jemanden zu finden, der diesem armen Wesen helfen konnte. Selbst wenn es aussichtslos war, so musste er es wenigstens versuchen. „Halte durch, Kleiner“, sprach er dem Tier immer wieder Mut zu. „Wir finden schon jemanden, der dich wieder auf die Beine bringt. Du musst nur durchhalten, ja? So leicht lässt du dich doch nicht unterkriegen. Du hast bestimmt schon lange durchgehalten, da wirst du doch nicht so einfach aufgeben wollen.“ Das Kleine fiepte kläglich, doch er hatte das Gefühl, als ob es ihn verstanden hätte. Seine Hoffnungen wurden jedoch jäh zerstört, als die Schlucht abrupt endete und sich eine gewaltige Felswand vor ihm in den Himmel bohrte. Fassungslos starrte er sie an. Das war nicht gut. Das war überhaupt nicht gut! „Ach komm schon!“, beschwerte er sich mit zittriger Stimme. „Das kann doch jetzt nicht wahr sein!“ Verzweifelt sah er sich um. Nirgendwo gab es einen Pfad, nirgendwo gab es einen Weg, dem er hätte folgen können. Es gab noch nicht einmal eine Höhle, durch die er hätte gehen können. Ihm blieb nur der Weg zurück, doch das würde das kleine Ding in seinen Armen nicht überleben, das spürte er, auch wenn er sich hartnäckig weigerte diese Tatsache zu akzeptieren. Er wusste nicht warum es ihm so wichtig war, doch er würde nicht zulassen, dass dieses Tier in seinen Armen starb! Auf gar keinen Fall! Es musste doch einen Weg geben! „Keine Angst, Kleiner“, beruhigte er das Junge. „Ich muss nur kurz nachdenken. Keine Angst, ja? Alles wird gut.“ Mit rasenden Gedanken schritt er vor der Felswand auf und ab, raufte sich die Haare, blieb immer wieder stehen und sah nach oben. Plötzlich hatte er eine Idee. Vorsichtig steckte er das Tier unter sein Hemd, so das nur noch der Kopf hervorlugte und beschwor dann Wasser hervor, das sich über seine Fingerspitzen legte und zu Eis gefror. „Ich hoffe das klappt.“ Ohne zu zögern trat er an die Wand heran, bohrte das Eis ins raue Gestein und begann langsam daran hinaufzuklettern.

Seine Muskeln schmerzten, Schweiß brannte in seinen Augen, doch er biss hartnäckig die Zähne zusammen und zwang sich immer weiter nach oben zu klettern, einen Schritt nach dem anderen. Plötzlich bebte die Erde. Geröll schlug ihm entgegen, verfehlte ihn nur um Haaresbereite und rutschte Donnernd den Abhang hinab. Kenai sah den purzelnden Steinen nach, dann sah er wieder nach oben und stieß einen erschrockenen Schrei aus, bevor er von mehreren Felsbrocken in die Tiefe gerissen wurde. Er spürte, wie er auf der Erde aufschlug, doch plötzlich gab irgendetwas unter ihm nach und er stürzte in absolute Finsternis, die ihn unter sich begrub. Schmerz explodierte in seiner Seite, dann verlor er das Bewusstsein.

Ein bestialischer Gestank ließ Kenai langsam wieder zu sich kommen. Ihm war schlecht, sein Schädel dröhnte und alles drehte sich um ihn, als er vorsichtig seine Augen öffnete. Er hatte keine Ahnung wo er war. Alles um ihn herum war in ein seltsames Dämmerlicht gehüllt und schien vor seinem Blick zu verschwimmen. Er versuchte sich aufzurichten, doch ein stechender Schmerz explodierte in seiner Seite, zwang ihn ächzend dazu sich wieder auf sein Lager sinken zu lassen. Etwas bewegte sich an seiner Seite. Vorsichtig drehte er den Kopf. Nicht weit von ihm entfernt brannte ein Feuer, auf dem ein großes Tongefäß stand. Eine Gestalt stand davor, ihm den Rücken zugewandt, und rührte darin herum, ohne sich an dem fürchterlichen Gestank zu stören, der daraus hervorquoll und die Luft verpestete.

„Wo … wo bin ich?“, fragte Kenai leise. Die Gestalt wandte sich nicht um, sondern rührte einfach weiter, so dass er nicht sicher war, ob sie ihn gehört hatte. Er wollte gerade noch einmal fragen, als sie ihm zuvor kam.

„Du bist schon wach. Hm, Mana hatte gehofft noch alleine essen zu können. Pech gehabt. Du bekommst nichts ab. Das ist Manas Essen. Wenn du Hunger hast, dann hol dir selbst was.“

„Ist das Essen etwa im Topf drinnen?!“

„In meinem Bauch ist es jedenfalls nicht, Grünschnabel.“

Angewidert verzog Kenai das Gesicht. Der Gestank alleine war schon schlimm genug, aber ein Bissen davon würde ihn garantiert umbringen. „Danke. Ich bin nicht hungrig.“

„Gut. Du hast ohnehin essensverbot. So lange, bis die Salbe eingezogen ist. Du darfst der alten Mana dafür danken, dass sie dich gerettet hat.“

„Ähm … Bist du denn Mana?“

„Es gibt nur eine Mana und da ich Mana heiße, werde ich wohl die alte Mana sein. Oder siehst du hier noch eine andere Mana?“

„Ähm nein, scheinbar nicht … Danke für die Hilfe.“ Wieder versuchte er sich aufzurichten, doch dieses Mal um einiges behutsamer. Erst jetzt bemerkte er, dass man seine Brust verbunden hatte. Seine Seite schmerzte, doch nicht so stark wie noch Momente zuvor. Wieder sah er sich um. Diesmal verschwamm die Umgebung nicht vor seinem Blick. Er war in einer Höhle, die um einiges kleiner war als jene, in der seine Leute Zuflucht gesucht hatten, doch sie war um einiges gemütlicher. An den Wänden war sie mit allen möglichen Gegenständen vollbepackt, an der Decke baumelte etwas was aussah wie getrocknete Pflanzen und auf dem Boden lag ein kuschliges Fell, was ihn ein wenig an sein zu Hause erinnerte. Nur der Gestank bereitete ihm weiterhin Übelkeit. Aber irgendetwas störte ihn. Etwas fehlte. Etwas wichtiges … „Was ist mit dem Jungtier?!“, entfuhr es ihm entsetzt. Sofort stand er auf seinen Füßen. Schmerz explodierte an seiner Seite. Er taumelte, fiel rückwärts und landete wieder auf seinem provisorischen Lager. „Was ist mit dem Kleinen?“

„Dem Kleinen?“, fragte Mana verwirrt. „Meinst du das Wolfsbärenjunge, das du bei dir hattest? Das hat Mana zurückgelassen.“

„WAS?! Ist es, ist es …“

„Tot? Woher soll Mana das wissen? Es lag im Sterben, also hat Mana es zurückgelassen. Wolfsbären sind gefährlich und unzähmbar. Einmal von der Mutter getrennt, haben sie keine Überlebenschancen. Besonders dieses nicht. Es ist weiß. Es hat die falsche Farbe. Wolfsbären sind braun bis schwarz, aber niemals weiß. Es kann alleine nicht überleben.“

„Es ist nicht alleine!“, presste Kenai zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als er sich zum Aufstehen zwang. Sofort drehte sich wieder alles um ihn, doch er kämpfte diese Schwäche energisch nieder. „Ich habe ihm versprochen ihm zu helfen … Urgh … Und daran halte ich mich auch.“ Schwer atmend stolperte er auf die einzige Öffnung zu die er sehen konnte. Plötzlich versperrte ihm Mana den Weg. Sie war klein, um einiges kleiner als er sie von hinten her eingeschätzt hatte, mit verfilztem, grauen Haar und unzähligen Falten, die tiefe Schluchten in ihr runzliges Gesicht gruben. Mana war nicht einfach nur alt, sie war steinalt.

„Mana erlaubt es dir nicht aufzustehen!“, blaffte sie ihn an. „Du hast gebrochene Rippen. Du brauchst Ruhe. Wenn du dich nicht hinlegst, wird Mana dich nicht noch einmal behandeln!“

Kenai sah sie an, dann schob er sie achtlos beiseite. „Ich werde es überleben. Das Kleine nicht. Ich lasse es nicht alleine.“ Er wollte gehen, doch Mana hielt ihn fest. Ihre Hand bohrte sich in sein Handgelenk, so stark, als wolle sie versuchen es zu zerquetschen. Ein seltsam lodernder Glanz lag in ihren großen, hellen Augen, die sie zu Schlitzen verengt hatte.

„Es ist nur ein Tier.“

„Es ist ein Lebewesen.“

„Und wenn schon? Es wird ohnehin sterben.“

„Nicht, wenn ich irgendetwas tun kann.“

„Warum ist es dir so wichtig?“

„Es ist das erste Tier, dass ich hier je gesehen habe!“, fuhr er sie an, dann stutzte er verblüfft. Erst jetzt, wo diese Worte seinen Mund verlassen hatten, wurde ihm diese Tatsache bewusst. Zu Hause am Nordpol gab es nur wenige Tiere wie zum Beispiel die Koalaotter oder Seehunde, doch seit er seine Heimat verlassen und zum ersten Mal das Festland betreten hatte, hatte er keine Tiere mehr gesehen. Kein einziges, mit Ausnahme des Drachen, der jedoch so schnell vorübergezogen war, dass er ihn kaum erkannt hatte. Auch wurde ihm erst jetzt die beinahe unnatürliche Stille bewusst, die die Wälder umgeben hatte. „Ich … Ich will einfach nicht, dass es stirb. Es scheint hier kaum Tiere zu geben, um so kostbarer ist jedes einzelne Lebewesen. Zur Not werde ich es einfach alleine aufziehen.“

„Wolfsbären lassen sich nicht zähmen. Es könnte dich umbringen.“

„Das finden wir nicht heraus, wenn wir es einfach sterben lassen!“

Mana sah ihn schweigend an, sah in seine vor Entschlossenheit funkelnden Augen und erkannte, dass es nichts gab, was sie ihm hätte sagen können um ihn von seinem Entschluss abzubringen. Plötzlich lachte sie, so laut, dass Kenai erschrocken zusammenzuckte. Es war ein seltsames Lachen. Es erinnerte eher an das Bellen eines Hundes, wobei sie grölend ihren Kopf in den Nacken warf und ihre fünf einzig verbliebenen Zähne offenbarte. „Dein Gesicht! Du hättest dein Gesicht sehen sollen!“, lachte sie schalend. „Himmlisch! Himmlisch! Die alte Mana hat lange nicht mehr so gelacht! Als würde Mana hilflose Tiere im Stich lassen. Komm, komm mit!“ Noch immer lachend, führte sie den heillos verwirrten Jungen in eine andere Höhle, die mit der anderen durch einen breiten Gang verbunden war. Sie war noch einmal um einiges kleiner und halb so hoch, gerade so, dass Kenai noch aufrecht stehen konnte, die Decke aber durchaus mit seiner Hand hätte erreichen können. Der komplette Raum war mit Fellen ausgelegt. Das einziges Licht kam von kleinen Nischen, in denen kleine Feuerchen loderten. Auf dem Boden, in einem kleinen Körbchen ruhend, lag das Wolfsbärenjunge, dessen Körper immer noch von heftigen Krämpfen gepeinigt wurde.

„Wie geht es ihm.?“, fragte Kenai besorgt.

„Es ist eine sie“, belehrte ihn Mana. „Und es geht ihr furchtbar. Nur die Zeit wir zeigen, ob sie überleben wird. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt noch am Leben ist. Sie braucht in den nächsten Tagen viel Aufmerksamkeit.“

„Dann bleibe ich bei ihr. Autsch!“ Unschuldig sah Mana ihn an und tat, als hätte sie keine Ahnung davon, wer ihn da gerade heftig in den Arm gezwickt hatte. „Was sollte das denn?“

„Du kannst nicht bei ihr bleiben“, sagte Mana schließlich. „Nur Mana kann der Kleinen helfen. Du kannst das nicht. Wenn du willst, dass Mana deinem Tier hilft, musst du tun, was Mana von dir verlangt.“

„Und was soll ich tun?“

„Mana hat hier einen kleinen Dachsmaulwurf“, erklärte sie ihm und deutete auf eine andere Seite des Raumes, wo sich ein anderes Tier zusammengerollt hatte und in einen tiefen, ruhigen Schlaf versunken war. „Es hat seine Eltern verloren, genau jetzt, wo es in seiner wichtigsten Entwicklungsphase ist. Wenn Mana ihm nicht zeigt, wie es Bändigen kann, wird es nicht leben können, aber wenn Mana sich um ihn kümmert, wird diese hier sterben. Daher musst du Mana helfen, wenn beide Tiere leben sollen, ansonsten wird das Wolfsjunge sterben müssen.“

„Ich kann nur Wasser bändigen“, erklärte Kenai, der sich nicht vorstellen konnte, dass dieses Tier irgendetwas mit Wasserbändigen anfangen konnte.

Mana wandte sich vom Wolfsbärenjungen ab und sah ihn an, das Gesicht in tiefe Schatten gehüllt. „Du bist ein Wasserbändiger?“

„Ja. Bin ich. Ist das ein Problem?“

„Was machen Wasserbändiger an diesem Ort? Das ist falsch. Hier dürfen keine Wasserbändiger sein. Wasserbändiger haben hier nichts zu suchen! Geh! Sofort! Verschwinde!“

Kenai rührte sich nicht, vollkommen verblüfft von der plötzlichen Stimmungsschwankung der alten Greisin. „Aber … aber …“, protestierte er, doch er hatte keine Chance irgendetwas anderes zu sagen, denn plötzlich bewegte sich der Boden unter seinen Füßen und schmiss ihn aus der kleinen Höhle hinaus und in den Gang hinein. Der Schmerz in seiner Seite trieb ihm Tränen in die Augen. „Aber ich habe doch gar nichts getan!“

„Nichts getan?!“, fauchte Mana, die vor seinem Blick zu wachsen schien, bis sie den ganzen Gang ausfüllte. „Wasserbändiger verunreinigen diesen Ort! Sie fluten ganze Täler und vertreiben das Leben aus diesen Orten, die nicht die ihren sind! Sie entweihen den Berg! Sie haben keinen Respekt vor den hiesigen Geistern! Sie ziehen ihren Zorn auf sich! Die Geister werden wütend! Mana wird nicht zulassen, dass der Geist auf Mana wütend wird, nur weil sie einen Wasserbändiger beherbergt! Geh! Verschwinde!“

„Ich kenne Tsai Shen!“, rief Kenai verzweifelt, der sich immer wieder ducken musste, denn Mana hatte begonnen Steinsplitter auf ihn zu schleudern. „Ich habe ihn gesehen! Er hat mir das Leben gerettet!“ Der Angriff brach so abrupt ab, wie er begonnen hatte.

„Was sagst du da?“

„Ich habe Tsai Shen gesehen“, begann er keuchend, die Hand auf seine schmerzende Seite gepresst. „Er sah aus wie eine gigantische Spinne. Ich war mit einer Gruppe von anderen Wasserbändigern zusammen. Tsai Shen stürzte sich auf uns, begrub mich unter sich und stürzte sich auf die anderen. Er wollte … Ich glaube, er wollte sie verletzten oder gar töten. Aus einem Bein wurde eine Pranke. Ich rief seinen Namen und bat ihn, es nicht zu tun. Er ließ von den anderen ab und sah mich an, ohne jedoch irgendwie zornig zu sein. Als einer der Wasserbändiger ihn angegriffen hat, wurde er wütend und löste ein Beben aus. Dabei stürzte ich in die Tiefe. Wenn er mich nicht aufgefangen hätte, wäre ich gestorben. Er hat mein Leben gerettet.“

„Wieso sollte der Geist dich retten?“

„Keine Ahnung. Das habe ich mich auch schon gefragt. Vielleicht mag er mich ja.“

„Der Geist mag niemanden! Entweder du achtest seine Regeln und er duldet dich, oder du missachtest seine Regeln und er bestraft dich. Was anderes gibt es nicht. Mana muss es wissen.“

„Mag sein. Aber das ändert nichts daran, dass er mir mein Leben gerettet hat. Wieso sollte ich mir das ausdenken?“

„Woher soll Mana wissen, was im Kopf eines Wasserbändigers vor sich geht?“, konterte Mana, noch immer misstrauisch, doch zumindest machte sie keine weiteren Anstalten Steine nach ihm zu schmeißen. „Es gibt nur einen Weg um herauszufinden, ob du die Wahrheit sagst. Komm mit.“ Sie führte ihn durch ein Labyrinth aus hunderten von Gängen, die er sich unmöglich alle merken konnte, besonders, da es, je weiter sie sich von Manas Lager entfernten, immer dunkler wurde, bis er nichts mehr sehen konnte und sie ihn an der Hand nehmen musste. Plötzlich blieben sie stehen. Kenai hörte, wie Mana einmal kräftig auf den Boden stampfte und plötzlich öffnete sich zu seiner linken die Höhle. Etwas verwundert trat er ins Freie hinaus. Sie hatten einen weiten, runden Platz erreicht, der von spitzen Felsen umrundet wurde, die von seltsamen, verschnörkelten Bäumen bewachsen waren. Ein paar glatt geschliffene Steinbrocken lagen scheinbar wahr los in der Gegen herum, doch in ihrer Einfachheit stachen sie an diesem Ort hervor, der vom Licht der untergehenden Sonne erhellt wurde.

„Wo sind wir hier?“, fragte er, doch als er sich umdrehte, merkte er, dass Mana und der Eingang verschwunden waren. „Ja, toll“, brummte er verstimmt. Seine gebrochenen Rippen meldeten sich zu Wort. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ er sich auf einem der flachen Steine sinken. Es dauerte nicht lange und die Dunkelheit brach über ihn herein. Sterne schimmerten am schwarzen Firmament, erst vereinzelt, dann ein wahres Sternenmeer. Kenai saß einfach nur da und starrte nach oben. Er kannte diese Sterne. Sie sahen genauso aus wie in seiner Heimat, nur dass sie nicht genau dort lagen, wo sie in seinen Erinnerungen hätten sein müssen. Doch kaum hatte er eine vertraute Konstellation entdeckt, fügten sie sich zu einem Bild zusammen. Er konnte den Eisbären erkennen und direkt daneben den Krieger und irgendwo dort oben musste auch die Seeschlange sein. Alles Sternenbilder, die sein Vater ihm gezeigt hatte, als er ein kleines Kind gewesen war. Ein trauriges Lächeln legte sich auf sein Gesicht, doch die Traurigkeit wich der Gewissheit, dass er und sein Vater, trotz der Distanz, die zwischen ihnen lag, die gleichen Sterne sehen konnte. Ein Gefühl von Verbundenheit regte sich in ihm.

Plötzlich verdunkelte ein Schatten seinen Blick auf die Sterne. Kenai erstarrte, als er fassungslos mit ansah, wie sich eine gigantische Kreatur vor ihm aus dem Boden schälte. Zuerst war sie durchsichtig, kaum wahrzunehmen, doch je höher sie sich stemmte, desto fester wurde ihre Gestalt, bis er nicht mehr durch sie hindurchsehen konnte. Dieses Mal war es keine Spinne, die ihren Schatten auf ihn warf, sondern eine gigantische Bärenechse, die seine Augen auf ihn richtete, kaum dass er ihn bemerkt hatte.

„Ts … Tsai Shen?“, fragte Kenai unsicher. Er war sich nicht sicher, ob er dem richtigen Geist gegenüberstand, doch seine Zweifel schwanden, als Tsai Shen seine Schnauze senkte und an ihm schnüffelte. „So schnell sieht man sich wieder, was? Danke noch einmal, dass du mein Leben gerettet hast. Und ich entschuldige mich für den Idiot der dich angegriffen hat. Du hast ihm nur Angst gemacht. Da hat er einfach falsch reagiert. Ich bin sicher, dass ihm Kohei … Ich meine Kurok, ganz schön den Kopf gewaschen hat. Das wird ihm bestimmt nicht noch einmal passieren. Ganz bestimmt.“ Hoffnungsvoll lächelte er den Geist an, dann wurde er ernster. „Ich weiß, dass ich das vielleicht nicht fragen sollte, aber … Warum hast du sie angegriffen und mich verschont? Ich bin auch ein Wasserbändiger, genau wie sie, aber du hast mich von ihnen getrennt und sie angegriffen, nicht aber mich. Wieso?“ Der Geist sah ihn an. Seine Augen, die bei ihrer ersten Begegnung voller Zorn gewesen waren, schienen amüsiert zu funkeln, beinahe so, als würde ihn diese Frage belustigen. Kenai grinste verkniffen. „Ist diese Frage für dich so bescheuert?“ Tsai Shen schien zu lächeln, als er seine gespreizte Zunge hervorschnellen ließ, mit der er dem jungen Wasserbändiger übers Gesicht schleckte, bevor er sich von ihm abwand und geschwind die Wand emporkletterte. Kenai folgte ihm mit seinem Blick, bis der Geist in der Dunkelheit verschwunden war, dann wischte er sich mit seinem Ärmel den Speichel aus dem Gesicht. Er wandte sich um und blickte plötzlich in das fassungslose Gesicht einer verschrumpelten Pampelmuse.

Erschrocken machte er einen Satz nach hinten, dann erkannte er sie. „Mana! Bei allen Geistern! Willst du mich zu Tode erschrecken?!“, fuhr er sie an, die eine Hand auf seinem rasendem Herzen ruhend, die andere an seiner schmerzenden Seite gepresst. Mana starrte ihn an, als könnte sie das, was sie eben gesehen hatte, nicht glauben. Nach einigen Minuten starrte sie ihn immer noch an, ohne ein einziges Mal mit den Augen zu blinzeln. Langsam machte er sich Sorgen. „Mana?“, fragte er und fuchtelte mit seinen Händen vor ihrer Nase herum. „Hallo? Lebst du noch? … Mana? Hallo.“ Er klopfte ihr auf die Stirn. „Sag mir jetzt bitte nicht, dass Tasai Shens Anblick dich umgebracht hat. Das finde ich nämlich nicht witzig! … MANA!“

Plötzlich kehrte das Leben in ihre alten Knochen zurück. Ungläubig schüttelte sie den Kopf, ohne ihre weit aufgerissenen Augen von ihm zu nehmen. „Du bist anders“, sagte sie schließlich.

Fragend hob Kenai eine Augenbraue. „Ist das gut oder ist das schlecht?“ Besonders, wenn das von jemanden wie dir kommt, fügte er in seinen Gedanken hinzu.

„Du bist anders“, wiederholte sie noch einmal.

„Nur, weil Tsai Shen mich abgeschleckt hat?“

„Ja, genau deshalb. Geister interessieren sich nicht für die Lebenden, es sei denn, du erzürnst sie. Mana weiß nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. Vielleicht bedeutet das, dass du bald sterben wirst.“

„Du machst Witze, oder?“

„Geister interessieren sich nicht für die Lebenden, aber dieser Geist mag dich. Mana würde sich an deiner Stelle Sorgen machen.“ Plötzlich lachte sie wieder und klopfte ihm heftig auf den Rücken. „Mana erlaubt dir zu bleiben, bis wir wissen, was aus deinem Jungtier wird. Und du darfst auch wieder essen.“

„Wie … schön.“ Allein der Gedanke an den bestialischen Gestank reichte aus, um ihm sämtlichen Appetit zu verderben.

Am nächsten Tag führte ihn Mana in eine der zählreichen Gänge ihres Labyrinths, nur begleitet vom kleinem Dachsmaulwurf, den sie in ihren Armen trug. „Hör zu, Grünschnabel“, begann sie. „Dachsmaulwürfe lernen in sehr jungen Jahren wie sie überleben können. Sie lernen von ihren Eltern und geben das, was sie von ihnen gelernt haben, an ihre Kinder weiter, die das Wissen an ihre Kinder weiter geben. Seine Eltern starben, bevor sie ihr Wissen weitergeben konnten. Deswegen musst du das jetzt übernehmen. Dachsmaulwürfe sind von Geburt an blind. Sie sehen über die Vibrationen in der Erde und spüren instinktiv, was du oder Mana empfinden. Das ist wichtig wenn du ihm beibringen willst, wie man die Erde bändigt.“

„Womit wir wieder bei dem Problem sind, dass ich keine Erde bändigen kann.“ Sofort kniff sie ihn wieder feste in den Arm. „Aua!“

„Du musst die Erde nicht bändigen können um ihm beizubringen wie man die Erde bändigt. Das macht er von ganz alleine. Du musst ihm nur beibringen was man dazu braucht um die Erde zu bändigen. Verstanden?“

„Kein Wort.“

„Erde steht für Substanz. Erdbändigen beruht auf Stärke und Entschlossenheit. Um dem kleinen Kerlchen hier das Erdbändigen beizubringen, musst du Entschlossen sein und felsenfest davon überzeugt, dass du diesen Fels bewegen kannst. Der Dachsmaulwurf wird diese Gefühle wahrnehmen und verinnerlichen. Siehst du? Ganz einfach.“ Kenai war alles andere als überzeugt, doch Mana kümmerte sich nicht darum. „Du musst nur immer wieder diese Bewegung machen, so lange, bis das Junge es dir nachmacht.“ Entschlossen trat sie mit dem Fuß auf dem Boden, während sie gleichzeitig die Hände nach vorne streckte, als würde sie etwas von sich wegstoßen wollen. „Mehr musst du nicht tun. Nur diese Bewegung. Ganz einfach.“

Es klang wirklich einfach. Er positionierte sich vor einer Wand, holte tief Luft und machte genau die Bewegung, die Mana ihm vorgemacht hatte. Er kam sich unglaublich dämlich dabei vor. Sofort kniff ihm Mana wieder in den Arm.

„Stärke und Entschlossenheit! Der Dachsmaulwurf lernt durch deine Gefühle. Also?!“

„Stärke und Entschlossenheit.“ Mana nickte. Sie setzte den Dachsmaulwurf auf den Boden ab und ließ die beiden dann alleine, um sich um ihre andere Patientin zu kümmern. Kenai sah den Dachsmaulwurf an, der Dachsmaulwurf sah Kenai an. „In Ordnung. Dann wollen wir mal. Stärke und Entschlossenheit, Stärke und Entschlossenheit, Stärke und Entschlossenheit.“ Im sich ewig wiederholenden Singsang ließ er seine Schultern kreisen, wippte ein paar Mal auf und ab und ließ seinen Nacken knacken, bevor er sich wieder auf die Wand konzentrierte. „Stärke und Entschlossenheit.“ Entschlossen stampfte er mit seinem Bein auf den Boden und stieß seine Hände nach vorne. Selbstverständlich passierte nichts. Der Dachsmaulwurf saß neben ihm und sah ihn an, ohne die geringste Lust seinem Beispiel zu folgen. Wieder wiederholte Kenai die Bewegung. Dann noch einmal. Und noch einmal. Der kleine Dachsmaulwurf sah ihm dabei zu. Neugierig neigte er den Kopf zur Seite, doch schon bald verlor er die Lust daran und nagte lieber an seinen langen Krallen herum.

„Hey“, beschwerte sich Kenai laut, kaum dass er das Dessinteresse seines Schülers bemerkte. „Schau gefälligst hin wenn ich mich schon für dich zu Affen mache!“ Wieder konzentrierte er sich auf die Wand, doch er konnte sich einfach nicht dazu aufraffen, diese sinnlose Bewegung fortzusetzen. Er kam sich abgrundtief dämlich dabei vor. Wenn er Atka erzählen würde, was er hier tat, würde dieser ihn bis ans Ende seiner Tage damit aufziehen. Der Dachsmaulwurf sah ihm noch nicht einmal dabei zu. Ob Mana ihm das ganze Theater nur aufgebrummt hatte, damit sie sich in Ruhe um das Wolfsbärenjunge kümmern konnte? Seufzend sah er den jungen Dachsmaulwurf an, dann nahm er ihn in seine Arme. „Du hast keine Lust darauf, oder? Kann ich verstehen. Machen wir Pause?“ Begeistert schleckte ihm das Kerlchen die Nase ab.

Als sich sein schlechtes Gewissen meldete, nahm Kenai die sinnlose Übung wieder auf, war jedoch nur halbherzig bei der Sache. So sehr er sich auch bemühte, er konnte sich einfach nicht zur Ernsthaftigkeit durchringen. Er war ein Wasserbändiger durch und durch. Mit Wasser konnte er etwas anfangen, nicht aber mit dieser dämlichen Wand, die ihm von Sekunde zu Sekunde unsympathischer wurde. Ernsthaft. Wenn er etwas immer weniger Leiden konnte, dann war es dieses vollkommen unnütze Gestein, das so unschuldig vor ihm stand, das es ihm vorkam, als wolle es ihn verhöhnen. Frei nach dem Motto: „Ätsch. Ich stehe hier und du musst vor mir die beknacktesten Bewegungen deines Lebens machen, nur um einem kleinen Dachsmaulwurf etwas beizubringen, was diesen nicht interessiert und der dir gerade ans Bein pinkelt.“ Es war zu spät um das Tierchen noch davon abzuhalten.

Wieder verstrich einiges an Zeit, bis Kenai endlich die Übung fortsetzte, doch anstatt Stärke und Entschlossenheit zu empfinden, war das einzige, was er empfand, Frustration und Wut. Die Wand machte ihn noch fertig. Er wusste, dass er sie nicht bewegen konnte, aber der Gedanke, das er davon überzeugt sein musste diese Wand bewegen zu können, obwohl er wusste, dass das vollkommen unmöglich war, war einfach zu viel für ihn. Er stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. „Oh, ich hasse dich! Ehrlich.“ Die Wand strafte ihn mit Schweigen.

„WAS MACHST DU DA?!“, donnerte plötzlich Manas aufgebrachte Stimme, magisch verstärkt vom Echo der Gänge. „Du sollst Entschlossenheit und Stärke ausstrahlen!“

„Ich kann keine Entschlossenheit und Stärke ausstrahlen!“, fuhr er sie an. „Ich kann das einfach nicht!“

„Dann stirbt das Wolfsbärenjunge. Mana will gerade los, um einige Kräuter zu besorgen. Es muss entgiftet werden. Der Dachsmaulwurf hat die besseren Überlebenschancen, also wird Mana sich von nun an nur noch um das Dachmaulwurfsjunge kümmern.“

„Nein.“ Angespannt ballte Kenai seine Hände zu Fäusten. „Bitte nicht.“

„Du bist scheinbar nicht in der Lage, diese einfache Aufgabe zu bewältigen.“

„Ich komme mir dabei so dumm vor“, gestand er und senkte seinen Kopf. „Diese Wand macht mich fertig! Wie soll ich Stärke und Entschlossenheit ausstrahlen, wenn ich genau weiß, dass ich nichts ausrichten kann?“

„Du sollst nichts ausrichten, du sollst nur lehren. Das Tier hier wird sterben, wenn es das Bändigen nicht lernt. Es steckt in seinem Blut, doch er braucht das Wissen um es anwenden zu können. Du hast jetzt das Wissen, aber nicht das Blut. Ihr ergänzt euch. Zeig ihm wie es geht und er wird dir folgen.“

„Er schaut mir noch nicht einmal zu!“

„Kein Wunder. Du machst dich mit deinem Gehampel lächerlich.“

„Ich mache nur, was du mir gezeigt hast!“

„Nein, machst du nicht. Du machst das!“, sagte sie und führte ihm die Übung noch einmal vor. Sie trat auf den Boden als wolle sie einen Käfer zerquetschen und streckte so schlaff die Arme aus, als hätte sie Angst ihre Fingernägel abzubrechen. Sie hatte recht. Es sah lächerlich aus. „Was Mana meint ist das!“ Energisch trat sie auf den Boden und stieß die Hände nach vorne. Mit einem ohrenbetäubenden Knirschen und Donnern wurde der Fels zurückgeschlagen. Staub wirbelte durch die Luft. Als er sich wieder legte, war eine tiefe Kuhle entstanden. Neugierig hob der Dachsmaulwurf den Kopf. „Du musst nur überzeugt sein. Wenn du es richtig machst, wird das Tier einen Gang erschaffen und damit die Fähigkeit erhalten in der Welt überleben zu können. Wenn du einen Fels bewegen willst, musst du ein Fels werden. In deinem Fall musst du einfach nur so tun. Hast du Mana verstanden?“

„Ja. Ich habe verstanden.“

„Dann wird Mana sich wieder um das Wolfsbärenjunge kümmern.“ Mit diesen Worten zog sie sich zurück. Seufzend sah Kenai ihr nach, dann sah er den Dachsmaulwurf an, bevor er sich wieder an die verhasste Wand wandte. „Um einen Fels zu bewegen, musst du selbst zum Fels werden.“ Er holte tief Luft, dann schloss er seine Augen. Es ging nicht um die Wand. Die Wand stand einfach nur da, weil sie da stehen musste. Es war ihre Natur. Er musste sich nur selbst überzeugen. Die Wand war eine Blockade, Blockaden waren da, um überwunden zu werden. Überwinden konnte man etwas nur, wenn man stark war, egal ob körperlich oder mental. Körperlich konnte er gegen die Wand nichts ausrichten, aber mental würde er sich nicht von ihr fertigmachen lassen. Er war stärker als ein Fels!

Entschlossen stampfte Kenai mit dem Fuß auf, stieß die Arme mit voller Kraft nach vorne, spürte, wie er den Fels berührte und wurde mit solch einer Wucht nach hinten geschleudert, dass er auf der anderen Seite des Ganges in der Wand stecken blieb. Benommen hustete er sich den aufgewirbelten Staub aus der Lunge, blinzelte und stieß einen erschrockenen Schrei aus, als er merkte, dass er unbequem mit dem Hintern im Felsen schreckte. Es kostete ihn alle Mühe sich heraus zu drücken. „Was war das denn?“, fragte er den Dachsmaulwurf, doch dieser leckte sich die Fußsohlen. Verwirrt wanderte sein Blick von der unversehrten Wand vor ihm zu der brüchigen Wand hinter ihm und wieder zurück. „Alles klar“, meinte er schließlich gedehnt, während er sich den schmerzenden Hintern rieb. Das musste Mana gewesen sein. Wahrscheinlich war sie hier irgendwo in seiner Nähe und wollte ihm eine Lektion erteilen. Bitte. Er würde ihr beweisen, dass er diese Aufgabe durchaus ernst nehmen konnte.

Wieder schloss er seine Augen. Wieder atmete er einige Male tief durch, versuchte seine Gefühle zu beherrschen und seine Gedanken alleine auf sein Ziel zu konzentrieren. Es gab nur ihn und den Felsen. Alles andere existierte nicht, nicht einmal der Dachsmaulwurf. Alles löste sich auf, verschwand in Bedeutungslosigkeit. Er spürte, wie er langsam ruhiger wurde.

Er öffnete die Augen, stampfte mit dem Fuß auf den Boden auf und stieß seine Hände nach vorne. Er wurde zum Fels, der Fels wurde zu ihm. Seine Hände berührten das raue Gestein. Es bebte. Es krachte. Brechender Stein hallte wie Donner in den weiten Gängen wieder, hundertfach verstärkt durch ein nicht enden wollendes Echo. Staub wirbelte auf und verklärte ihm die Sicht. Zermalmtes Gestein rieselte von der Decke auf ihn hinab, doch Kenai rührte sich nicht. Er stand einfach nur da, fest wie ein Fels, die Hände zum Stoß erhoben und starrte nach vorne, ohne zu begreifen was sich ihm da offenbarte. Vor ihm stand keine Felswand mehr. Vor ihm klaffte ein großes, tiefes Loch.

Neugierig kroch der junge Dachsmaulwurf auf das Loch zu und schnüffelte an dessen Rändern. Begeistert sah er zu Kenai auf, doch dieser rührte sich noch immer nicht. Sein Verstand konnte nicht begreifen, was er da sah. Er wusste was er sah, er konnte es deutlich sehen, doch er verstand es nicht. Wo kam das Loch her? Das war eben noch nicht da gewesen. Er war sich sicher, dass es eben noch nicht da gewesen war! Warum war da plötzlich ein Loch?! Langsam ließ er seine Arme sinken. Das machte keinen Sinn. Das musste Einbildung sein. Seine Vorstellungskraft spielt ihm einen Streich damit er sich gegenüber der Wand besser fühlte. Ja, das musste es sein. Doch als er seine Hand ausstreckte, um die Illusion verschwinden zu lassen, griff er ins leere. „Okay ... Das wird jetzt irgendwie gruselig … Mana!“, rief er und wirbelte herum, als würde er sie hinter seinem Rücken erwarten. „Ich weiß, dass du hier bist! Ich habe es ja verstanden! Stärke und Entschlossenheit! Du kannst damit aufhören mich zu veralbern, hörst du?“ Erwartungsvoll sah er sich um, doch nichts rührte sich. Sofort suchte er die näherliegenden Gänge ab, doch nirgendwo konnte er Mana entdecken, nicht einmal das kleinste Anzeichen von ihr. Verwirrt kehrte er zum Dachsmaulwurf zurück. „Sie muss sich versteckt haben“, erklärte er dem Tier unnützerweise. „Vielleicht hört sie jetzt damit auf und kümmert sich wieder um die Kleine. Sie wird gemerkt haben, dass ich es jetzt begriffen habe. Oder?“ Hoffnungsvoll sah er das Jungtier an, doch das Jungtier neigte nur leicht den Kopf zur Seite. „Also schön. Versuchen wir es noch einmal.“ Dieses Mal dauerte es bedeutend länger, bis er seinen Geist beruhigt und seine Konzentration gesammelt hatte. Wieder stampfte er auf den Boden und stieß die Hände nach vorne, dieses Mal jedoch nicht so wuchtig wie zuvor. Wieder krachte es, als der Fels zurückgeschleudert wurde und nichts anderes zurückließ als eine klaffende Wunde im Gestein.

Ungläubig fiel Kenai auf die Knie. Langsam dämmerte es ihm. Das war nicht Mana gewesen. Er hatte genau darauf geachtet. Die Wand hatte genau in dem Moment nachgegeben, als er sie berührt hatte. Es konnte nicht Mana gewesen sein, ebenso wenig wie der kleine Dachsmaulwurf, der noch immer nicht die geringsten Anstalten machte seinem Beispiel zu folgen. Das konnte nur er gewesen sein. Aber das war nicht möglich. „Ich bin ein Wasserbändiger“, hauchte er. Fassungslos hob er seine Hände und starrte sie an. Das waren die Hände eines Wasserbändigers. Diese Hände waren dazu gemacht worden um das Wasser zu bändigen. Bis vor wenigen Wochen hatten diese Hände noch nie feste Erde berührt. Sein ganzes Leben lang hatte es für sie nur Schnee, Wasser und Eis gegeben. Sie konnten nur das Wasser bändigen! Doch als er seinen Kopf hob, sah er ein tiefes, in Dunkelheit getauchtes Loch, das er mit eben diesen seinen Händen erschaffen hatte. „Unmöglich“, flüsterte er. „Vollkommen unmöglich. Das kann nicht sein!“ Energisch ballte er seine Hände zu Fäusten, sprang auf seine Füße und versuchte es noch einmal. Und dann noch einmal. Und noch einmal. So lange, bis er es nicht mehr leugnen konnte. Schwer atmend stand er vor einem Loch, das so tief ging, das er damit Manas Labyrinth durchbrochen hatte und auf der anderen Seite das Prasseln von Regen hören konnte. Staub klebte ihm auf seiner schweißnassen Stirn, seine Seite brannte wie Feuer, doch das alles nahm er kaum noch war. Er verstand es nicht. Er wusste, dass er all diese Löcher und Gänge erschaffen hatte. Er hatte es gesehen, gehört, sogar gespürt, doch er konnte es einfach nicht begreifen. Er stand vollkommen unter Schock und das tat er auch noch, als Mana ihn wenig später fand. Überrascht sah sie sich um, doch dann lächelte sie glücklich.

„Mana ist erfreut“, lobte sie ihn. „Mana hätte nicht gedacht, dass du dem Jungtier so schnell das Bändigen beibringen kannst. Normalerweise dauert es einige Zeit, bis die Jungen ihre ersten selbstständigen Versuche machen. Du musst ein sehr guter Lehrer sein, Grünschnabel.“ Lächelnd wartete sie auf eine Reaktion ob ihres Lobes, doch als diese ausblieb, verzog sie beleidigt das Gesicht. „Mana hat dir ein Kompliment gemacht!“, beschwerte sie sich laut. „Mana macht nur selten Komplimente! Wenn Mana ein Kompliment macht, solltest du ihr dankbar sein!“ Als er immer noch nicht reagierte, verengte sie misstrauisch ihre Augen zu Schlitze. „Was ist los?“

„Mana“, begann Kenai langsam, doch seine Stimme schien seltsam fremd in seinen Ohren. „Ist es möglich, mehrere Elemente bändigen zu können?“

„Mehrere Elemente?!“ Mana musste lachen bei dieser Vorstellung. „Unmöglich. Vollkommen unmöglich. Ein Apfelbaum kann nur Äpfel tragen und niemals Birnen, so wie ein Erdbändiger nur Erde bändigen kann, aber niemals Feuer.“

„Und wenn man es doch könnte?“

„Unmöglich. Das wäre gegen die Natur.“

„Du hast es auch nicht für möglich gehalten, dass Tsai Shen mich mag“, erinnerte sie Kenai.

Misstrauisch runzelte Mana die Stirn. „Was willst du Mana damit sagen?“ Kenai sah sie an. Etwas in seinem Blick beunruhigte sie, doch sie sagte nichts, als er sich vor eine Wand stellte, die Augen schloss und all seine Kräfte bündelte. Sie erkannte sofort, dass er sich ihre Worte zu Herzen genommen hatte. Seine Körperhaltung hatte sich vollkommen verändert. Kaum hatten seine Hände das Gestein berührt, wurden es wuchtartig zurückgeschleudert, so das nichts weiter blieb als ein neuer Gang. „Du hast mich angelogen!“, rief sie empört, noch bevor sich der Staub gelichtet hatte. „Du hast gesagt, dass du ein Wasserbändiger bist!“

„Ich BIN ein Wasserbändiger!“ Kenai war der Verzweiflung nahe.

„Bist du nicht!“

„Ach ja?“ Grob packte er Mana am Arm und zerrte sie einen seiner selbstgemachten Gänge entlang, bis er mit ihr mitten im Regen stand. Er ließ sie los, entfernte sich einige Schritte von ihr und genoss für einen kurzen Moment das kühle Nass auf seiner Haut. Noch nie hatte sich Wasser so gut angefühlt. Erbarmungslos prasselte der Regen auf ihn hinab, angestachelt von einem scharfen Wind, der ihm entgegen peitschte. Donner erfüllte die Luft, Blitze zerrissen die schwarzen Wolken. In Sekunden schnelle waren sie beide bis auf die Knochen durchnässt, doch er kümmerte sich nicht darum. Mit geschlossenen Augen empfing er sein Element, das Element, mit dem er geboren war und breitete langsam seine Arme aus, als wolle er es nach so langer Zeit willkommen heißen. Doch plötzlich spannte Kenai seinen Körper an. Das Wasser erstarrte im selben Augenblick. Als hätte die Zeit vergessen sich zu drehen, erstarrten die Regentropfen um sie herum, mitten in der Luft. Einen Moment lang schwebten sie sanft um sie herum, doch dann schlossen sie sich zu einer großen Blase zusammen, die sie vor dem Unwetter schütze, das über dem Gebirge hereingebrochen war. Fassungslos sah Mana sich um. Hier, direkt bei Kenai, war es warm und trocken, doch wenn sie über seine Schulter blickte, vorbei an der Barriere aus Wasser, sah sie den tobenden Sturm und den Regen, der erbarmungslos vom Himmel goss.

„Jetzt sag mir noch mal, dass ich kein Wasserbändiger bin.“ Mit diesen Worten gab er den Regen wieder frei. Hilfesuchend sah er Mana an, die fassungslos nach Fassung rang. Plötzlich brach sie in Jubel aus.

„Mana hat einem Wasserbändiger das Erdbändigen beigebracht … Mana hat einem Wasserbändiger das Erdbändigen beigebracht! Mana ist ein Genie!“

„Aber wie ist das möglich? Wieso kann ich plötzlich Erde bändigen? Ich komme vom Wasserstamm! Wasser ist keine Erde.“ Wie ein aufgescheuchtes Huhn eilte Kenai im Gang auf und ab und raufte sich die Haare. „Wasser ist ganz definitiv keine Erde! Argh! Ich verstehe das nicht!“ Verzweifelt schlug er mit dem Kopf gegen eine Felswand. Die Wand gab nicht nach, aber dafür hatte er ziemliche Kopfschmerzen.

Genervt steckte Mana ihren Kopf aus der Höhle, in der sie sich um das verletzte Wolfsbärenjunge kümmerte. „Wirst du endlich still sein?!“, blaffte sie ihn an. „Mana muss sich konzentrieren! Geh und hol Mana heißes Wasser.“ Kenai gehorchte sofort, alleine schon um irgendetwas zu tun zu haben, um sich von seinen wirren Gedanken abzulenken. So schnell er konnte eilte er davon und brachte Mana was sie von ihm verlange. In der kleinen Höhle war es richtig heiß. Mana hatte überall Feuer entzündet, deren Rauch nur durch ein Loch in der Decke entweichen konnte. Den Eingang zur Höhle öffnete sie nur noch dann, wenn sie es unbedingt für nötig erachtete. Das kleine Wolfsbärenjunge sah immer noch kläglich aus. Es war vollkommen abgemagert und bestand eigentlich nur noch aus Fell und Knochen, das immer noch von unkontrollierbaren Krämpfen befallen wurde. Doch das kleine Geschöpf weigerte sich hartnäckig aufzugeben.

Kaum brachte Kenai Mana das heiße Wasser, schüttete sie ein weißliches Pulver hinein und tränkte damit einige Lumpen. „Halte sie fest.“ Kenai ließ sich auf den Boden sinken und nahm das Jungtier behutsam in seine Arme, damit es Mana in Wickel legen konnte. Das Tier wehrte sich nicht gegen den heißen Kokon, ob aus fehlender Kraft oder in der Hoffnung auf Linderung war unmöglich zu sagen. Beruhigend kraulte Kenai sie hinter den Ohren, so lange, bis sie in einen unruhigen Schlaf versunken war.
 

Wenn Kenai nicht dabei half sich um das Jungtier zu kümmern, kümmerte er sich um den lernfaulen Dachsmaulwurf. Mana hatte ihm eine neue Bewegung beigebracht und so hatte sich sein Spektrum von Löcher in die Wand stoßen um Löcher mit den Fingern in die Erde graben erweitert. Er wusste nicht wie lange er schon bei Mana war. Hier, in den Höhlen, war es fast unmöglich so etwas wie ein Zeitgefühl aufrechtzuerhalten. Immer öfter verlegte er daher seine Übungsstunden nach draußen ins Freie, so das er vermutete, dass es mittlerweile einige Tage sein mussten. An seinen Onkel und die anderen Wasserkrieger dachte er nicht. Nicht, weil es ihm eventuell gleichgültig war, sondern weil er zur Zeit einfach ganz andere Sorgen hatte. Er betete, dass das Wolfsbärenjunge wieder gesund werden würde und ihm gierte es nach Antworten, besonders auf die Frage, warum er Erde bändigen konnte. Diese Frage ließ ihn einfach nicht mehr los und verdrängte alles andere aus seinen Gedanken.

Kenai grub gerade mit den Fingern ein Loch in den steinernen Boden, als der junge Dachsmaulwurf endlich auf die Idee kam, es auch einmal zu versuchen. Auf den Hinterbeinen sitzend, hockte das Tier neben dem jungen Wasserbändiger, hob seine scharfen Klauen und rammte sie in die Erde hinein. Es stutze, offenbar von sich selbst überrascht. Nach kurzem Zögern folgte die andere Klaue und von nun an hatte Kenai alle Hände voll damit zu tun, das Jungtier daran zu hindern das ganze Labyrinth auseinander zu nehmen. Es war sofort auf den Geschmack gekommen und wollte gar nicht mehr damit aufhören.

Dementsprechend ausgelaugt schaute Kenai noch einmal beim Wolfsbärenjungem vorbei, bevor er sich in der größeren Höhle zum Schlafen zurückziehen wollte. Mana war nicht da. Dem Geruch nach zu urteilen machte sie sich gerade etwas zu essen und so waren er und das Tier zum ersten Mal seit dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren, wieder alleine. Leise setzte sich Kenai neben dem Jungtier nieder, lehnte sich gegen die Wand und nahm es in seine Arme. „Du bist ganz schön zäh, Kleine“, flüsterte er leise, während er sie behutsam streichelte. „Du bist eine kleine Kämpferin. Mana weiß nicht, ob du es überleben wirst, doch ich bin sicher, dass du das schaffst. Wir beide sind für ein Wunder gut. Wenn ich es schaffe, neben Wasser auch Erde zu bändigen, dann wird es für dich doch eine Kleinigkeit sein wieder gesund zu werden, oder? Ja, du hast richtig gehört. Ich kann Erde bändigen. Ganz schön verrückt, oder? Das war ein ganz schöner Schock. Ich werde es dir zeigen wenn es dir wieder besser geht. Ich frage mich, ob das nur Zufall ist oder ob es auch noch andere gibt, die zwei Elemente bändigen können. Ich hoffe zumindest, dass es auch noch andere gibt. Ich meine, es wäre doch sehr unwahrscheinlich, wenn ich der Einzige wäre. Nicht wahr? Ich meine, das kann doch eigentlich gar nicht sein. Irgendwo muss es noch andere geben! …“ Er schluckte. „Aber was ist, wenn ich doch der einzige bin? Was dann?“ Er seufzte. Angst regte sich in ihm, geschürt von Hilflosigkeit und Ungewissheit. „Wenn ich der einzige sein sollte … Wie soll ich das den anderen erklären? Soll ich einfach zu Nuka gehen und ihm sagen: ‚Hallo, da bin ich wieder. Entschuldigung, dass ich so lange gebraucht habe. Aber hey! Überraschung! In der Zwischenzeit habe ich versehentlich gelernt wie man Erde bändigt! Toll, was?‘ Ich glaube, das wäre keine gute Idee. Er hasst Erdbändiger. Wenn ich ehrlich bin glaube ich, dass er jeden hasst der nicht aus unserem Volk stammt … Du hast es gut. Du musst dir darüber keine Gedanken machen. Du musst dich nur darauf konzentrieren wieder gesund zu werden … Aber da fällt mir ein, dass du noch einen Namen brauchst! Mana würde zwar sagen, dass das unnötig ist, aber sie ist auch ein wenig … speziell“, drückte er es freundlich aus. Nachdenklich betrachtete er das Tier in seinen Armen. Es war wach. Die kleinen, hellblauen Augen waren halb geöffnet, schienen ihn jedoch nicht wahr zu nehmen. Fiebrig blickten sie in weite Ferne, doch ihre Ohren zuckten kaum merklich. „Weißt du, wenn ich dich so ansehe, finde ich, dass du ein wenig wie eine Anyu aussiehst. Bist du eine Anyu?“ Hoffnungsvoll sah er sie an. Bildete er es sich nur ein, oder hatten wirklich ihre Ohren gezuckt? „Also gut. Von nun an wirst du Anyu für mich sein. Wenn dir der Name nicht passt, kannst du dich später bei mir beschweren.“ Er grinste, dann wurde er still, während er das kleine Tier beobachtete, bis es in seinen Armen eingeschlafen war. Er rührte sich nicht. Er saß einfach nur da und beobachtete es, bis ihm selbst die Augen zufielen.
 

Am nächsten Morgen, vorausgesetzt, dass es draußen tatsächlich Morgen war, wurde Kenai von einem schwachen Fiepen geweckt. Schläfrig öffnete er seine Augen. Er lag seitlich auf dem flauschigen Boden ausgestreckt. Der Dachsmaulwurf hatte es sich auf seinen Beinen gemütlich gemacht, die bereits unangenehm zu kribbelten begannen, doch er war nicht der einzige, der es sich bei ihm gemütlich gemacht hatte. Die kleine Anyu hatte sich an seine Brust gekuschelt. Leise fiepend schmiegte sie sich an ihn, die Augen geschlossen und gelegentlich mit dem Schwänzchen wedelnd. Sie atmete nach wie vor schwach, doch um einiges ruhiger und gleichmäßiger als er es je bei ihr gesehen hatte.

„Du bist anders.“ Vorsichtig hob Kenai den Kopf. Mana saß auf der anderen Seite der Höhle. Ihre großen, hellen Augen ruhten auf ihm und betrachteten ihn mit nachdenklicher Ernsthaftigkeit. Dieses Mal sagte er nichts, sondern wartete, bis sie von alleine weiter redete. „Der Geist mag dich, obwohl ihn Lebende nicht interessieren. Du kannst Erde bändigen, obwohl du Wasserbändiger bist. Du verbringst eine Nacht mit einem todkranken Tier und erschaffst damit zwischen euch eine Bindung, die sie ins Leben zurück bringen wird.“

„Sie wird es schaffen?“ Kenai strahlte. Mana nickte.

„Ja. Mana denkt schon, obwohl sie das nicht erwartet hat. Das Band zwischen euch ist stark. Vielleicht so stark, dass sie nicht mehr von deiner Seite weichen wird. Das kann Mana nicht mit Sicherheit sagen. Die Zeit wird es zeigen. Aber eines weiß Mana mit Sicherheit: Du bist anders.“

„Ich mag es nicht, wenn man mich anders nennt.“

„Du musst das akzeptieren. Du bist anders. Ob du willst oder nicht. Mana hat nachgedacht. Mana möchte dir ein Angebot machen. Mana bietet dir an eine Weile hier zu bleiben, damit sie dir das Erdbändigen beibringen kann. Richtiges Erdbändigen. Mana glaubt, dass der Geist dich zu ihr gebracht hat, damit sie dir helfen kann die Erde zu meistern. Mana kennt den Grund dafür nicht, aber Mana würde niemals den Willen der Geister in Frage stellen.“

„Ich muss zu meinen Leuten zurück“, antwortete Kenai zögerlich. Er konnte sich nur schwer vorstellen, dass der Geist ihn nur deswegen gerettet hatte, damit er lernte die Erde zu bändigen. Allerdings hatte sich in den letzten Tagen so viel geändert, dass er sich dessen nicht wirklich sicher sein konnte. „Sie machen sich bestimmt schon Sorgen um mich.“

„Pah.“ Mana machte eine abwehrende Handbewegung. „Das ist doch unwichtig. Du hast selbst gesagt, dass der Geist dich von den anderen getrennt hat. Er will nicht, dass du bei ihnen bist.“

„Ich glaube kaum das einer von uns genau weiß was die Geister wollen und was nicht. Sie sind nicht gerade gesprächig. Ansonsten hätte ich längst mit Tsai Shen geredet. Vielleicht weiß er ja was mit mir nicht stimmt.“

„Wasserbändiger hassen Erdbändiger. Was werden sie tun wenn sie herausfinden das in dir ein Erdbändiger steckt? Willst du es ihnen verschweigen? Oder willst du es ihnen sagen? Du bist anders als sie.“

„Hör auf das zu sagen!“ Kenai wurde wütend. „Sie sind meine Familie! Atka ist mein bester Freund! Wir sind zusammen aufgewachsen! Und Nuka ist mein Onkel! … Auch wenn ich ihn noch nicht so gut kenne.“

„Wenn du ihn noch nicht so gut kennst, woher willst du dann wissen wie er reagiert?“

„Er ist mein Onkel!“

„Das muss ihm nichts bedeuten. Er ist ein Wasserkrieger. Er lebt nur um zu kämpfen und ist bereit alles zu opfern um zu siegen, selbst wenn es jeden um ihn herum das Leben kosten sollte!“

„Das kannst du nicht wissen!“

„Mana kann es wissen, denn Mana hat es gesehen! Mana hat gesehen, was der Wahn der Menschen anrichten kann! Die Menschen sind verdorben. Manas eigener Mann hat ihren Sohn in den sicheren Tod geschickt! Bei einem Unterfangen, was ohnehin zum Scheitern verurteilt war! Als unser Sohn starb, hat er ihn verachtet, weil er es nicht geschafft hatte den Plan auszuführen! Er hat ihn auf dem Sterbebett verleugnet! Dein Onkel ist nicht anders als Manas Mann! Siegen oder sterben, was anderes gibt es nicht!“

„Das … Das ist ja furchtbar!“ Kenai war entsetzt. Er hatte keine Ahnung was er darauf erwidern sollte. „Lebst …“, begann er, brach jedoch ab und räusperte sich. „Lebst du deswegen hier alleine in den Bergen?“

Mana ignorierte diese Frage. „Wenn man herausfindet, dass du anders bist, wird man dich jagen. Alles, was anders ist, ist schlecht. Vielleicht, wenn du Glück hast, wird man versuchen dich zu benutzen. Jemand, der Wasser und Erde bändigen kann, ist mächtiger und gefährlicher als jemand, der nur Wasser oder nur Erde bändigen kann. Du bist ein Meister im Wasserbändigen, doch du bist ein blutiger Anfänger im Erdbändigen. Du bist anders. Wenn du in dieser Welt überleben willst, musst du ein Meister im Wasser- und im Erdbändigen sein. Wenn du dich nicht verteidigen kannst, ist die ganze Welt dein Feind. Mana will dir helfen. Mana will dir alles beibringen was sie weiß, aber dafür musst du bleiben.“ Mit laut knackenden Knochen erhob sie sich schwerfällig von ihrem Platz. „Manas Angebot steht. Bleib oder geh.“ Mit diesen Worten ließ sie ihn allein.
 

Wenige Stunden später bahnte sich Kenai alleine seinen Weg durch die weiten Gänge des Labyrinths. Er hatte nicht wirklich eine Ahnung wo er eigentlich hin wollte. Er ertrug es einfach nicht mehr tatenlos herumzusitzen und sich über Dinge Gedanken zu machen, die er nicht verstand und die ihn ängstigten. Er bereute es bereits seine Heimat verlassen zu haben. Damals war alles so viel einfacher gewesen. Damals war er einfach nur der Sohn eines Clanführers gewesen, der Wasser bändigen konnte. Jetzt war er ein von zu Hause ausgerissener Junge, der mit Kriegern kämpfen sollte, obwohl er eigentlich nur die Welt hatte sehen wollen, der von seinen Leuten getrennt worden war, Zuflucht bei einer alten Greisin gefunden hatte und darüber hinaus auch noch die Erde bändigen konnte, zusätzlich zu Wasser. Ach ja, und der Geist dieses Berges mochte ihn auch noch. Irgendjemand erlaubte sich einen ganz üblen Scherz mit ihm.

Mit diesen Gedanken, die er einfach nicht verdrängen konnte, öffnete er irgendwann einen der Gänge und trat ins Freie hinaus. Mit einem lauten Platschen landete er plötzlich in eiskaltem Wasser. Erschrocken kämpfte er sich wieder an die Oberfläche und zog sich hustend ans Ufer. „Das war so klar“, würgte er hervor. Warum musste so was immer genau dann passieren, wenn er es gerade überhaupt nicht gebrauchen konnte? Bei seinem Glück war er jetzt bestimmt von einem Dutzend Kriegern umringt, die ihn überrascht anstarrten und ihre Speere auf ihn richteten. Ein Blick reichte um festzustellen, dass dem nicht so war. Er war vollkommen alleine. Er seufzte erleichtert, doch dann stutzte er. Irgendetwas an diesem Ort kam ihm beunruhigend vertraut vor. Ihm wurde kalt. Eine eisige Gänsehaut ließ ihm die Nackenhaare zu Berge stehen. Er kannte diese Höhle, kannte die Kristalle, die sie mit einem schaurigen Schimmer erhellte, kannte den See, der unschuldig in der Mitte ruhte. Das hier war das Lager des Wasserstammes, nur, dass es vollkommen verlassen war. Er war vollkommen alleine. Ungläubig stand er auf und lief einmal um den See herum. Hier gab es nichts. Rein gar nichts. Nicht einmal den kleinsten Hinweis darauf, dass hier eine ganze Kriegerschar gewesen war, noch Spuren irgendeines Kampfes. Man hatte das Lager einfach verlassen. Ohne ihn. Ohne ihm einen Hinweis hinterlassen zu haben, wohin sie gegangen sein könnten. Nichts.

Vollkommen perplex stand er einfach nur da und starrte ins Wasser. Mit einem Mal fühlte er sich vollkommen allein. Sie waren weg. Einfach so. Sie hatten nicht auf ihn gewartet. Hatten sie überhaupt nach ihm gesucht? Er konnte unmöglich so lange fort gewesen sein. Ein paar Tage, höchstens, nicht mehr. Auf keinen Fall lang genug um ihn einfach so zurückzulassen! Zorn regte sich in ihm. Tränen schossen ihm in die Augen. Das war nicht fair. Ja, er hätte vielleicht früher zurückkommen können, doch sie hätten zumindest irgendeine Nachricht hinterlassen können! Irgendetwas! „Halt“, machte er plötzlich, als ihm ein hoffnungsvoller Gedanke kam. Vielleicht hatten sie ihm draußen irgendeinen Hinweis hinterlassen! Sofort suchte er nach einem der Gänge, zwängte sich hindurch und trat schon bald ins Freie hinaus. Er brauchte einen Augenblick, bis sich seine Augen an das grelle Tageslicht gewöhnt hatten. Die Umgebung war rau und karg, genauso, wie er sie in Erinnerung hatte. Nichts hatte sich verändert. In weiter Ferne konnte er am Horizont einige sich bewegende Punkte entdecken, doch sie waren zu weit weg um sie genau erkennen zu können. Vielleicht waren es Drachen, auch wenn sie sich nicht halb so schnell bewegten wie der, den er gesehen hatte. Es interessierte ihn nicht besonders. Sofort sah er sich um, doch so sehr er auch suchte, er fand nichts, was ihm auch nur den geringsten Hinweis auf den Wasserstamm hätte liefern können. Sie hatten ihn tatsächlich alleine gelassen. „Sie sind weg“, flüsterte er leise. „Einfach weg …“ Ungläubig starrte er vor sich auf den Boden. Seine Hand zitterte, als Hoffnungslosigkeit von ihm Besitz ergriff. Das konnte noch wahr sein! „Du Lügner!“, schrie er ins Tal hinab. „Du hast gesagt, dass ihr eure Brüder niemals im Stich lasst! Und was ist das hier? Ihr seid einfach gegangen!“ Er wusste, dass ihn niemand hören konnte, doch das kümmerte ihn nicht. Und wenn ihn doch jemand hören konnte, umso besser. „Ihr hättet zumindest einen Hinweis hinterlassen können! Irgendetwas! Hört ihr mich? ICH BIN HIER!!!“ Ein frustrierter Schrei entrann seiner Kehle, doch er verhallte ungehört in den Schluchten des Gebirges. Er war alleine.
 

Die kleine Anyu lag fiepend in ihrer mit Fellen ausgelegten Kiste, die Schnauze in ihr weißes Fell gegraben und blickte mit großen, hellen Augen traurig zum Eingang der Höhle.

„Er wird wieder kommen“, sprach Mana beruhigend auf das Jungtier ein und versuchte sie zum Trinken zu bewegen, doch Anyu schien ihre Gegenwart nicht zu bemerken. „Mana glaubt nicht, dass er dich zurücklassen wird. Er hat zu viel für dich getan.“ Anyu ignorierte sie. Doch dann, plötzlich, zuckten ihre Ohren. Sie versuchte ihren Kopf zu heben, doch dafür fehlte ihr noch die Kraft. Nur wenige Augenblicke später betrat Kenai die kleine Höhle. Er war blass. In seinem Blick lag eine Mischung aus Enttäuschung und Traurigkeit. Ohne ein Wort zu sagen setzte er sich zu Anyu, nahm Mana ihre Wasserschale aus der Hand und hielt sie der kleinen Wolfsbärin hin, die begierig zu schlabbern begann. Beleidigt hob Mana eine Augenbraue.

„Sie ist nicht nett. Mana hat ihr das Leben gerettet, aber sie will nichts von Mana annehmen. Sie ist sehr wählerisch.“ Wenn sie gehofft hatte, Kenai auf diese Weise ein Lächeln zu entlocken, so war sie gescheitert. „Hast du darüber nachgedacht, was Mana dir gesagt hat?“

„Das brauchte ich nicht.“ Niedergeschlagen senkte Kenai sein Haupt. „Sie sind weg. Ich habe überall gesucht, doch ich habe keinen Hinweis gefunden. Sie haben mich einfach zurückgelassen. Wahrscheinlich denken sie, dass ich tot bin, weil ich nicht zurückgekommen bin.“ Er seufzte schwer. „Du hast Recht, Mana. Scheinbar will wirklich jemand, dass du mir das Erdbändigen beibringst. Ich habe keine Ahnung, wo ich sonst hin soll. Ich kenne mich hier nicht aus und ich habe keine Ahnung, wo ich sie finden kann. Vielleicht kommen sie eines Tages zurück. Keine Ahnung. Aber in der Zeit kann ich ebenso gut das Erdbändigen lernen. Besser, als nichts zu tun.“ Es war gut, dass er ihr nicht ins Gesicht sah, denn so entging ihm Manas erfreutes Lächeln.

Sie hatten Angst, auch wenn sie sich nicht trauten es sich gegenseitig einzugestehen. Der gegenseitige Respekt, der sie miteinander verband, verbot es ihnen, sich gegenseitig auf ihre schlotternden Knie aufmerksam zu machen. Doch irgendwann ertrugen sie die Stille nicht mehr, die sie umgab.

„Glaubst du, dass die Geschichten wahr sind?“, fragte der Mann mit dem Umfang einer Bohnenstange.

„Das will ich nicht wissen“, entgegnete ein wahrer Brocken neben ihm, der sich ängstlich an einen langen Stab klammerte.

„Es heißt, hier würde ein Geist wüten … Und er hat was gegen Menschen. Außerdem hört man hier seit längerem Tag und Nachts seltsame Geräusche … Es heißt, die Toten würden jetzt sogar am Tage wandeln … Wir sollten besser umkehren.“ Verängstigt begann die Bohnenstange an ihren Fingernägeln zu kauen. „Sicher ist sicher. Wir können den langen Weg nehmen.“

„Du … du wolltest unbedingt diesen Weg nehmen.“

„Ja, aber jetzt will ich lieber einen anderen Weg nehmen.“ Ein dumpfer Schlag erfüllte die Luft. Den Wanderern gefror das Blut in den Adern. „Hast … hast du das auch gehört? Das war der Geist!“

„Es ist noch Tag“, versuchte der Brocken ihn zu beruhigen, doch seine Stimme zitterte.

„Dann sind es die Toten. Oh, ich wusste, dass das Loch im Boden eben kein gutes Zeichen war!“ Etwas krachte, ganz in ihrer Nähe. Ein schmerzendes Heulen zerfetzte die Luft. Die beiden Wanderer sahen sich an, dann war von ihnen nur noch eine Staubwolke zu sehen. Nicht weit von der Stelle wo sie gewesen waren entfernt, nur etwas weiter über ihnen auf einem kleinen Plateau, versuchte ein junger Mann verzweifelt sich Gehör zu verschaffen.

„Jetzt halt endlich still! Hörst du nicht? Hör auf damit! … Anyu!“ Warnend stampfte er mit dem Fuß auf, was ein kleines Beben auslöste. Doch es brachte ihm keine Ruhe. Jaulend wie am Spieß, als wolle sie jemand aufspießen, wälzte sich eine sehr große, weiße Wolfsbärin im Staub herum, kläffte und fiepte und trat mit ihren gewaltigen Pranken um sich, so dass es ihm unmöglich war sich ihr gefahrlos zu nähern. „Oh, bei allen Geistern!“ Jetzt reichte es ihm. Er trat einmal kräftig auf den Boden, überkreuzte die Arme und plötzlich fand sich die klagende Anyu in einer felsigen Zwangsjacke wieder, die es ihr unmöglich machte mit ihrem Theater fortzufahren. „Du bist eine furchtbare Memme, weißt du das? Du bist eine große, flauschige Riesenmemme! Hier.“ Entschlossen trat Kenai auf ihre Hinterpranke zu, spannte seine Muskeln an und zog einen winzig kleinen Dornen aus ihrem Lauf, den er ihr tadelnd vor die Schnauze hielt. „Das ist alles. Und deswegen machst du den ganzen Aufstand?“ Mit einer lässigen Handbewegung ließ er die Steinplatten wieder im Boden versinken. Im nächsten Moment wurde er unter der Last der Wolfsbärin begraben. Eine lange, feuchte Zunge schleckte ihm übers Gesicht, ihr Schwanz klatschte begeistert wedelnd auf dem Boden hin und her. „Hey, hey, hey!“ Er lachte. „Ist ja gut! Ich hab dich ja auch … urgh … lieb.“ Vor lauter Begeisterung merkte Anyu nicht, dass sie ihm mit ihrer wuchtigen Pranke die Luft abschnitt. Verzweifelt versuchte er darauf aufmerksam zu machen, doch sie schleckte begeistert weiter. Erst als sie sich wunderte, warum er so plötzlich eine so komisch blaue Gesichtsfarbe bekam, ließ sie von ihm ab und setzte sich unschuldig auf ihre Hinterbeine. Einen Moment japste Kenai verzweifelt nach Luft, dann wurde er langsam wieder klar im Kopf. Hustend stemmte er sich in die Höhe. „Himmel bist du schwer. Was hast du gefressen. Einen ganzen Dachsmaulwurf?“ Sie gab ein lautes Bellen von sich. Grinsend stand Kenai auf. „Ich verstehe schon. Du hast wieder den Honig geplündert und dir dabei denn Splitter eingefangen. Mana hat recht. Du bist wirklich ungezogen. Von wem hast du das nur? … Wehe du schaust mich jetzt an.“ Sofort blickte Anyu in die andere Richtung, wackelte jedoch belustigt mit dem Schwanz. Plötzlich spitzte sie ihre Ohren. Ein leises, drohendes Knurren entrann ihrer Kehle. „Was ist los?“ Fragend folgte er ihrem Blick. Schwarzer Rauch schlängelte sich in weiter Ferne unheilvoll dem Himmel entgegen. Sein Magen verkrampfte sich. „Nicht schon wieder.“ In letzter Zeit vermehrten sich diese Bilder. Irgendetwas ging da draußen vor sich und er hatte kein gutes Gefühl dabei. In ihm war wieder eine innere Unruhe erwacht, ähnlich der, die ihn damals dazu verleitet hatte seine Heimat zu verlassen. Mit kummervollem Blick fasste er sich an seine Brust. Er konnte es wieder spüren, dieses drängende Ziehen. Zuerst hatte er es kaum wahrgenommen, doch nun begann es wieder stärker zu werden. Die Unruhe, die ihn erfasst hatte, lastete von Tag zu Tag schwerer auf ihm. Anyu bemerkte seinen Kummer und rieb aufmunternd ihre Schnauze an seine Wange.

Energisch schüttelte er den Kopf und trat einmal kräftig auf den Boden auf, wo sich ein breiter Schacht öffnete. Er war mittlerweile richtig gut geworden. Das Erdbändigen ging ihm beinahe genauso leicht von der Hand wie das Wasserbändigen und er konnte sich kaum noch ein Leben ohne vorstellen. Es war in den Bergen einfach unglaublich praktisch. Es gab nur eine Sache die ihn betrübte.

„Mana?“, fragte er, als er ihre kleine Höhlengruppe erreichte. Der Dachsmaulwurf war mittlerweile erwachsen und lebte längst sein eigenes Leben, doch Mana hatte sich bereits Ersatz beschaffen. Drei kleine Echsen kuschelten sich vor dem lodernden Feuer zusammen, ohne sich am Gestank von Manas Lieblingsessen zu stören, das sie mal wieder kochte. Eigentlich kochte sie immer nur das gleiche. Bisher hatte Kenai noch nicht den Mut dazu aufbringen können sie zu fragen, was sie da eigentlich genau fabrizierte. Er hatte Angst davor das es sein Magen nicht überleben würde, sobald er es wusste.

„Was gibt es, Grünschnabel?“

„Draußen steigt schon wieder Rauch auf. Ich mache mir langsam Sorgen.“

„Dort draußen gibt es nichts, worüber du dir Sorgen machen musst. Hier bist du sicher.“

„Ich mache mir nicht um meinetwillen Sorgen.“

Prompt hörte Mana auf ihre Suppe umzurühren. „Denkst du an deine Leute? Sie sind immer noch nicht aufgetaucht. Machst du dir Sorgen, dass der Rauch etwas mit ihnen zu tun hat?“

„Nein … Nicht wirklich.“ Er hatte kurz daran gedacht, doch dann war ihm etwas anderes in den Sinn gekommen. Etwas, was er bereits vergessen geglaubt hatte. „Ehrlich gesagt muss ich an ein kleines Dorf denken, das von Feuerbändigern zerstört worden ist, ohne den Einwohnern auch nur die Chance zum Überleben zu geben.“ Er schwieg. Vor seinem geistigen Auge sah er sich selber, fassungslos vor den Trümmern eines Dorfes stehend, wo kein Leben sich mehr regte. Kenai schloss die Augen. Stille legte sich über sie. Er hörte das prasseln des Feuers, roch den Gestank der Suppe, fühlte die Wärme auf seiner Haut und hörte eine Stimme, tief in sich drinnen, die nach ihm rief. Er erwartete, dass Mana etwas sagte, doch sie hatte ihm schweigend den Rücken zugewandt. „Ich muss gehen.“ Sie sagte nichts. „Du hast mir beigebracht, dass ein Erdbändiger sich in Geduld üben und auf den richtigen Augenblick warten muss. Ich glaube, dass dieser Augenblick gekommen ist. Ich spüre es, tief in mir drinnen. Ich höre wieder diese Stimme die mir sagt, dass ich gehen muss. Ich spüre wieder genau dasselbe ziehen wie damals.“ Mit schwerer Stimme fasste er sich an die Brust. Hoffnungsvoll sah er Mana an, die sich immer noch nicht rührte. „Verstehst du das?“

„Und was willst du tun?“, fragte sie schließlich, nach einer schier endlosen Zeit des Schweigens.

„Ich weiß es nicht … Du hast mir gesagt, dass ich anders bin. Vielleicht stimmt das, vielleicht auch nicht. Vielleicht gibt es da draußen noch andere wie mich, die sich irgendwo verstecken und wenn es sie nicht gibt, dann … dann muss ich herausfinden, warum ich anders bin. Ich habe viele Fragen, auf die ich hier keine Antworten finde. Du hast mir alles beigebracht was du weißt, du hast mir Unterschlupf gewährt, du hast dich um mich gekümmert. Ich weiß nicht, wie ich mich dafür erkenntlich zeigen kann, aber ich danke dir für alles.“ Mit diesen Worten kniete er vor ihr nieder. Er wartete, doch nichts rührte sich mit Ausnahme der Echsen, die ihn neugierig beäugten. Langsam hob er seinen Kopf. Mana sah ihn an. Sie zitterte, die Augen gefüllt mit Tränen, die ihr über die faltige Haut kullerten.

„Mana will nicht, dass du gehst“, sagte sie, doch dann holte sie einige Male tief Luft, um ihre Fassung wieder zu erlangen. „Aber Mana versteht.“ Sie trat auf ihn zu und umarmte ihn fest. So fest, dass seine Knochen gefährlich knackten.
 

Als Kenai am nächsten Morgen aufbrechen wollte, war Mana fort. Sie hatte ihm nichts hinterlassen außer einem Sack voller Proviant, der, zu seiner eigenen Überraschung, nicht nach verdorbenem Fleisch roch. Er lächelte. Wenig später trat er mit Anyu ins Freie hinaus. Die Sonne stand noch tief am Himmel, doch ihre ersten Strahlen flutete das Land in goldenes Licht. „Sieh dich gut um, Anyu“, sagte er und streichelte ihr über das seidige Fell. „Wir werden eine ganze Weile nicht mehr hier her zurück kommen … Na ja. Nicht mein erster Abschied.“ Er warf noch einen letzten Blick über die Schulter, dann kletterte er auf Anyus kräftigen Rücken. „Lass uns gehen.“ Mit einem Satz sprang sie einen Abhang hinunter.
 

Der Wald war totenstill. Nichts rührte sich. Kein Wind ließ die braunen Blätter der Bäume rascheln, kein Plätschern eines Flusses oder eines Baches erfüllte die Luft, kein Laut irgendwelcher Art drang an seine Ohren, während Kenai, auf Anyu reitend, eine schmale Lichtung entlang eilte. Er konnte noch nicht einmal Anyus Pfoten beim Auftreten hören und das, obwohl sie mit ihren gewaltigen Pranken nicht gerade schleichen konnte. Ein seltsamer Schleier schien sich vor seine Augen gelegt zu haben. Die Welt wirkte irgendwie trübe und blass, als würde irgendetwas seinen Blick auf sie verklären wollen. Ist das Rauch?, fragte er sich und sog scharf die Luft ein, doch sie roch kaum anders als er es von den Bergen her gewohnt war.

„Kannst du etwas schneller laufen, Anyu?“, bat er sie und festigte seinen Griff um ihr strahlendweißes Fell. Seine Stimme klang merkwürdig fehl an diesem Ort, beinahe so, als würde die Stille selbst sie dafür Hassen sie zu stören. Ihm sträubten sich die Nackenhaare. „Ich will nur wissen, woher der Rauch kommt und danach verschwinden wir von hier, einverstanden?“ Anyu stieß ein leises, zustimmendes Fiepen aus, dann trieb sie sich selbst zur Eile an. Trotz ihrer eleganten Masse, halb Bär, halb Wolf, preschte sie gewandt durch den Wald. Ihre Pranken flogen förmlich über die Erde hinweg, schienen diese kaum zu berühren, beinahe sie als würde sie fliegen. Zweige schlugen Kenai ins Gesicht, verfingen sich in seinen Haaren und brachen mit einem lauten Knirschen, der ihn jedes Mal krampfhaft zusammenzucken ließ. Angespannt beugte er sich näher an Anyu heran, die einen gewaltigen Satz machte und über einen plötzlich aufgetauchten Bach sprang. Während sie darüber hinwegzufliegen schien, warf Kenai einen kurzen Blick nach unten und spürte, wie ein eisiger Dolch sein Innerstes zu durchbohren schien. Anyu landete auf dem Boden und preschte ins dichte Unterholz hinein, doch Kenai blickte über seine Schulter zurück, die Augen vor Entsetzen geweitet. Hatte er sich das nur eingebildet, oder war der Fluss tatsächlich rot gewesen?

Plötzlich verlangsamte Anyu ihren Schritt. Mit angelegten Ohren und gesenktem Kopf trottete sie leise aus dem Wald heraus und betrat eine Klippe, von der aus man den Blick auf ein kleines Tal hatte. Rauch stieg in zahlreichen, schwarze Fäden auf, die sich unheilvoll in den Himmel schlängelten. Qualm brannte in ihren Augen. Betrübt stieg Kenai von Anyus Rücken und trat näher an den Abhang heran. Er konnte nur noch die brennenden Überreste einer zerstörten Siedlung erkennen.

Plötzlich bebte die Erde unter seinen Füßen. Er wirbelte herum, genau in dem Moment, als eine gigantische Steinplatte auf ihn zuraste. Er riss die Arme hoch, doch es war bereits zu spät. Sie traf ihn mit voller Wucht und schob ihn nach hinten, gefährlich nahe an den Abgrund heran. Kenai stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Tiefe Furchen gruben sich in die Erde hinein, doch er schaffte es im letzten Moment die Steinplatte zu stoppen. Er seufzte erleichtert, dann gab er der Platte einen kräftigen Stoß und schickte sie dahin zurück, woher sie gekommen war. Neben ihm schaute Anyu immer noch zum Dorf hinunter, ohne sich darum zu kümmern was um sie herum geschah. „Hey!“, rief Kenai in den Wald hinein. „Was sollte das?“

Im ersten Augenblick rührte sich nichts, doch dann traten vier Gestalten auf ihn zu. Einer von ihnen, ein braun gebrannter Wuschelkopf, hob entschuldigend die Hände in die Luft. „‘Tschuldigung, ‘tschuldigung. Mein Fehler. Wir dachten, du wärst der Feind. Aber du bist ein Erdbändiger, also bist du einer von uns.“ Kenai sagte nichts. Der Mann trat an seine Seite, wobei er einen respektablen Abstand zu Anyu hielt, die von seinen Gefährten misstrauisch beäugt wurde. „Weißt du, wer das gewesen ist?“

„Nein. Ich bin gerade erst gekommen.“

„Tsss. Das nimmt in letzter Zeit wirklich zu.“ Frustriert rieb sich der Mann den Nacken. „Ich bin Tuk.“

„Kenai.“

„Kenai? Was ist das denn für ein Name? Woher kommst du?“

„Ähm …“ Das war nicht gut. „Ähm … Ich komme aus den Bergen. Ich habe dort eine Weile trainiert.“

„Ja, das riecht man. Nichts für ungut, aber du stinkst im Himmel.“ Mit gerunzelter Stirn hob Kenai einen Arm und schnüffelte an seiner Achsel.
 

Ehe sich Kenai versah, befand er sich plötzlich in Tuks Dorf, umringt von einer Horde von älteren Damen, die ihn in einen Zuber eiskalten Wassers gesteckt hatten und ihn nun ordentlich von oben bis unten durchschrubbten. Eine von ihnen kümmerte sich um sein verfilztes und mittlerweile viel zu lange Haar, das um einiges gekürzt werden musste, eine andere betrachtete seine stinkende, verdreckte und an vielen Stellen aufgerissene Kleidung, verzog das Gesicht und warf sie achtlos auf den Boden. Daraufhin verschwand sie und kam erst dann wieder, als die anderen Frauen beschlossen, dass Kenai wieder vorzeigefähig war. Sie legte ihm frische Kleidung neben den Zuber, lächelte ihn an und scheuchte die anderen von dannen. Kenai sah ihnen nach. Kurze Zeit später zog er sich an. Er schämte sich plötzlich ein wenig. Er musste wirklich entsetzlich gestunken haben. Seit er von seinen Leuten getrennt worden war, hatte er keine frische Kleidung mehr getragen, ganz zu schweigen davon, dass er sich wirklich hatte gehen lassen. Er fühlte sich beinahe wie neu geboren, als er, endlich, in neuer Frische unter dem rötlich gefärbten Himmel stand, die letzten Strahlen der Abendsonne genoss und in nicht allzu weiter Ferne längst vergessene Geräusche hörte. In den Bergen hatte es nur ihn und Mana gegeben, jetzt drangen von allen Seiten Stimmen an sein Ohr. Die Frauen des Dorfes, die sich um ihn gekümmert hatten, standen vor ihren Holzhütten und unterhielten sich, manche leise, als fürchteten sie sich belauscht zu werden, andere so laut, dass man davor Angst haben konnte. Kleine Kinder hatten sich hinter einer Hütte versteckt und beobachteten Anyu, die etwas außerhalb unter einem Baum lag und tat, als würde sie schlafen. Ein kleines Mädchen nahm all ihren Mut zusammen und marschierte entschlossen auf die Wolfsbärin zu, doch als diese plötzlich auf die Beinen sprang, eilte sie erschrocken zu ihren Freunden zurück, die sie damit aufzogen. Kaum hatte sich Anyu wieder hingelegt, versuchte ein Junge sein Glück, doch seine Beine zitterten wie Espenlaub. Einige Alte saßen um ein Lagerfeuer herum und kümmerten sich um das Essen, dessen Geruch ihm in die Nase stieg. Er hätte sich beinahe heimisch fühlen können, wenn nicht eine seltsame Schwere in der Luft gehangen hätte. Energisch schüttelte Kenai den Kopf. Er war zum ersten Mal seit langem wieder unter Menschen. Er wollte diesen Moment genießen und sich nicht von irgendwelchen dunklen Gedanken ablenken lassen.

„Oh, sie passen!“ Die Frau, die ihm die Sachen herausgelegt hatte, trat strahlend auf ihn zu und betrachtete ihn von allen Seiten. „Wusste ich es doch. Genau die gleiche Größe wie mein Sohn. Du siehst gut aus, jetzt, wo du wieder frisch aussiehst.“

Kenai errötete. „D- danke. Aber geht das auch wirklich in Ordnung?“

Lächelnd legte sie ihm eine Hand auf die Schulter. „Mach dir darüber keine Gedanken. Wir sind nur ein kleines Dorf mit wenigen Erdbändigern. Wann immer wir unseren Kriegern helfen können, helfen wir doch gerne. Es ist alles was wir tun können.“

„Unseren Kriegern?“ Kenai verkrampfte sich, doch die Frau schien das nicht zu bemerken.

„Tuk meinte, du wärst ein Erdbändiger. Alle jungen Erdbändiger müssen Kämpfen. Du hast dich bestimmt darauf vorbereitet, so zerzaust wie du warst.“ Sie Lächelte, doch ihr Lächeln erreichte nicht ihre Augen. „Meine Kinder kämpfen auch. Ich habe einen Sohn und zwei Töchter. Alle drei kämpfen, um uns zu beschützen. Wenn du sie sehen solltest … kannst du … kannst du ihnen etwas ausrichten?“ Sie versuchte es zu verbergen, doch ihre Hände zitterten kaum merklich. Noch immer lächelte sie, doch das konnte ihn nicht täuschen, so wenig wie ihre Worte. „Sag ihnen, das ich jeden Tag an sie denke und für sie bete.“

„Soll ich ihnen nicht lieber sagen, dass sie nach Hause kommen sollen?“ Die Frau zuckte heftig zusammen. „Du hast doch bestimmt Angst, dass ihnen irgendetwas passiert, oder? Du hättest sie lieber hier bei dir, wo sie in Sicherheit sind, als irgendwo dort draußen, weit weg von dir, nicht wahr?“ Etwas veränderte sich. Er konnte förmlich erkennen, wie ihre Augen sich verfinsterten. Das Lächeln verschwand, wurde zu einer steinernen Miene.

„Es macht keinen Unterschied ob sie bei mir sind oder nicht. Wir sind nirgendwo in Sicherheit.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und eilte von dannen.

„Aus welchem Loch bist du denn gekrochen?“, erklang plötzlich Tuks Stimme. Kenai drehte sich zu ihm um und erschrak, als sich ihre Blicke trafen. Tuks Miene war hart wie Granit. „Du kannst so etwas nicht sagen! Wenn dich die falschen Leute hören, bekommst du Ärger!“

„Aber es stimmt doch, oder?“ Er dachte an die Frauen in seinem Dorf und daran, wie sie sich um Nuka gedrängt hatten, begierig darauf zu erfahren, wie es um ihre Liebsten bestanden war.

Seufzend schüttelte Tuk den Kopf und legte ihm einen Arm um die Schulter. „Es geht nicht darum, ob es stimmt oder nicht oder darum, was wir uns wünschen. Es geht einzig darum, was wir tun müssen, ob wir wollen oder nicht. Sieh dich doch nur um. Sieh dir die Kinder an. Seit sie geboren wurden, haben sie nie länger als ein paar Tage an einem Ort gelebt, genau wie ihre Brüder und Schwestern und ihre Eltern vor ihnen. Sie sind noch zu klein um es zu begreifen, doch schon bald werden sie bemerken, dass wir jeden Tag um unser Leben fürchten müssen und wir deswegen nie lange an einem Ort bleiben, damit wir nicht so schnell von unseren Feinden gefunden werden können. Wenn sie groß sind, werden einige von ihnen uns verlassen um zu kämpfen, damit wir in Frieden leben können. Das ist doch genau das Gleiche wie mit dir, oder? Du wirst doch auch kämpfen?“ Kenai mied seinen Blick und beobachtete die noch immer spielenden Kinder. „Oder?“, hackte Tuk nach.

„Warum kämpfst du nicht?“, fragte Kenai ausweichend.

„Weil es sonst niemanden geben würde, der auf sie aufpasst. Unsere Krieger können nicht überall zu gleich sein. Sie können uns vor den Luft- und den Erdbändigern schützen, nicht aber vor den Wasserbändigern.“

„Den Wasserbändigern?!“ Erschrocken starrte Kenai Tuk an. „Was ist mit ihnen?“

Tuk runzelte kaum merklich die Stirn. „Diesen Bastarden? Komm schon Junge! Das musst du doch wissen! Die sind wie die Pest. Wenn sie dich erwischen, ist es dein Ende und das all jener, die mit dir sind. Wo immer sie auftauchen, herrscht der Tod. Keiner weiß, wo sie sind. Keiner weiß, wer sie sind. Niemand kann uns vor ihnen beschützen. Wo sie sind, ist der Tod. Deswegen ziehen wir weiter, damit sie uns nicht finden.“

„Aber- aber ihr seid doch keine Krieger! Hier sind doch nur Alte, Frauen und Kinder. Es gäbe doch keinen Grund euch anzugreifen. Das würden sie doch niemals tun!“

„Woher willst du das Wissen?!“, fauchte ihn Tuk an. Seine Finger bohrten sich schmerzhaft in Kenais Schulter. Aus nicht allzu weiter Ferne war ein warnendes Knurren zu hören. Misstrauisch sah Anyu zu ihnen hinüber. Sofort ließ Tuk ihn los. „Tut mir Leid … Es wäre schön, wenn die Wasserbändiger es genauso sehen würden wie du, aber das tun sie nicht.“ Traurig ließ er seinen Blick über die Landschaft schweifen. Es wurde bereits dunkel. Die ersten Sterne funkelten bereits schwach am Horizont. „Seit ich klein bin träume ich davon, dass dieser Krieg eines Tages zu Ende ist. Jede Nacht träume ich, dass wir eines Tages in Frieden leben können, dass wir keine Angst mehr zu haben brauchen, dass wir nicht mehr fliehen müssen …“ Ein sehnsüchtiges Lächeln erhellte sein Gesicht. „Ich würde nach Omashu ziehen. Warst du schon einmal in Omashu? Ich auch nicht. Aber es soll da wundervoll sein. Ich würde mit meiner Familie ein Haus bauen, ein festes Haus, eines, dass wir nie wieder verlassen müssen. Ich würde zusehen wie meine Kinder in den Straßen spielen und in Frieden heranwachsen. Ich würde vielleicht einen kleinen Garten anlegen. Einen, den ich Pflegen kann. Ich würde dann unter einem Baum liegen, meine Enkel und Urenkel beim Spielen zusehen und dann, eines Tages, in Frieden sterben.“ Noch immer lächelte er, vollkommen in seine Fantasie gezogen, doch dann stutzte er plötzlich und rieb sich verlegen lachend den Nacken. „Ein ganz schön blöder Traum, oder?“

„Nein. Finde ich nicht.“ Kenai lächelte. „Ganz und gar nicht.“

„Warum erzähle ich dir das eigentlich?“ Nachdenklich kratzte sich Tuk am Kinn, dann schlug er Kenai so kräftig auf den Rücken, dass dieser fast auf den Boden krachte. „Komm jetzt. Lass uns was essen. Du hast bestimmt Hunger.“ Und ob er den hatte. Nach wer weiß was vielen Monaten von Manas Kochkünsten, war alles andere ein Paradies für die Geschmacksnerven und die Sonne war längst verschwunden, als er sich endlich zufrieden zurücklehnte und seinen runden Bauch streichelte, ohne sich an den verblüfften Blicken seiner Mitmenschen zu stören. Neben ihm stapelten sich zahlreiche leere Schüsseln. Sterne funkelten am Firmament. Ein wunderschöner Vollmond spendete silbernes Licht. Ein sanfter Windhauch ließ die Blätter der Bäume sachte rauschen. Es war eine wundervolle Nacht. Die Kinder lagen längst in ihren Lagern und schliefen den Schlaf der Gerechten, einige an ihre bereits ruhenden Mütter gekuschelt. Nur wenige saßen noch am längst erloschenem Lagerfeuer, den Kopf in den Nacken gelegt, und betrachteten das Sternenmeer. Schließlich stand Tuk auf und streckte sich genüsslich. Seine Knochen knirschten furchteinflößend.

„Ich fürchte, ich werde langsam alt“, entschuldigte er sich mit einem Grinsen. „Komm mit Junge. Du kannst bei mir schlafen.“

Kenai stand auf und folgte ihm. Sie waren erst einige Schritte gegangen, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Unweit von ihm entfernt stand Anyu, das Fell gesträubt. Mit angelegten Ohren und die Lefzen zu einem stummen, grauenvollen Knurren verzogen, stand sie da, zu ihrer vollen Größe aufgerichtet und grub ihre mächtigen Pranken tief in die Erde, während ihr Schwanz unkontrolliert hin und her peitschte. Ihre Stummheit beunruhigte ihn mehr als es ein Knurren oder Heulen je vermocht hätte. „Anyu?“, fragte er vorsichtig. „Was ist los?“ Mit ihrem weißen, gesträubten Fell, das im Mondlicht silbern schimmerte, sah sie aus wie ein Geist, der kurz davor war sich auf die Menschen zu stürzen. Doch ihr Blick galt nicht dem Lager, sondern dem Mond, der voll am Himmel stand. „Was ist denn los? Was hast du?“ Er wollte zu ihr treten, sie beruhigen, doch er konnte sich nicht rühren. Etwas hinderte ihn daran, ein flaues Gefühl, das schwer auf seinen Magen drückte. War es nur Einbildung, oder begann der Boden unter seinen Füßen tatsächlich zu zittern?

„Was hast du, Junge?“, rief ihm Tuk zu, der sich wunderte warum er so lange brauchte.

Kenai antwortete nicht, denn in diesem Moment stieß Anyu ein warnendes, quälendes Heulen aus, so markerschütternd, so plötzlich, dass man meinen könnte die Welt würde untergehen. Und das tat sie auch. Weit vor ihnen, doch mit einem ohrenbetäubenden Donnern und Krachen, verdunkelte plötzlich eine schwarze Wand den Mond und die Sterne, tauchte die ganze Lichtung in absolute Finsternis. Das Zittern wurde zu einem Beben. Erschrockene Schreie wurden laut. Kinder weinten. Irgendetwas brach mit einem lauten Knirschen entzwei und stürzte zu Boden, während sich die Wand in ohrenbetäubender Geschwindigkeit auf sie zubewegte, ja, sogar noch anschwoll je näher sie kam, und dazwischen Anyus fürchterliches Heulen.

„Bei allen Geistern!“, rief jemand ganz in seiner Nähe. „Was ist das?“

Kenai wusste es. Er spürte es instinktiv. „Wasser“, hauchte er kaum hörbar. „Das ist Wasser!“ Mit Entsetzen sah er zu, wie eine gigantische Welle über sie hereinbrach.

Schreie. Panische Schreie. Mütter, die nach ihren Kindern suchten, Kinder, die weinten und verzweifelt nach ihren Müttern brüllten, doch ihre Rufe wurden vom tosenden Donner der Welle verschluckt, die unbarmherzig auf sie nieder raste.

Kenai wusste nicht, wie ihm geschah. Jemand zerrte an ihm, schrie ihm etwas zu, doch er verstand die Worte nicht, die Augen fassungslos auf die tödliche Wand gerichtet. Er hatte keine Zeit zu denken, keine Zeit Angst zu verspüren. Zu gewaltig war das Wasser, zu schnell stürzte sich die Wand auf ihn herab. Er wusste, dass er irgendetwas sagte, irgendetwas schrie, doch der Lärm war so gewaltig, dass er sich nicht hören konnte. Niemand schien ihn zu hören. Alle versuchten in ihrer Panik zu fliehen, sich in Sicherheit zu bringen, doch es war bereits zu spät. Sie konnten nicht weg. Es gab keinen Ort, wohin sie hätten fliehen können. Sie waren dem Tode geweiht und sie wussten es. Selbst Kenai wusste es. Er mochte einer der begabtesten Wasserbändiger seines Stammes sein, doch dem Monstrum, das über ihm zusammenbrach, war er nicht gewachsen. Er wollte wegrennen, sich in Sicherheit bringen, doch er konnte nicht. Seine Beine gehorchten ihm nicht. Alles brüllte in ihm, verlangte von ihm die Flucht zu ergreifen und doch … wollte er es nicht. Er wollte nicht fliehen. Im Bruchteil einer Sekunde wurde ihm das bewusst und noch eher er begriff, was das bedeuten würde, stieß er einen lauten, trotzigen Schrei aus, der alle um ihn herum Verstummen ließ. Er wirbelte herum, die Arme gebieterisch in die Lüfte erhoben. Vor seinen Füßen brach der Boden auf und raste in die Höhe, folgte seinen raschen Bewegungen und begann sich über ihren Köpfen zu verformen.

Kaum hatten die anderen Erdbändiger begriffen, was er vor hatte, halfen sie ihm und kaum das ihre erdige Kuppel sich über sie geschlossen hatte, brach die Welle endgültig über sie herein.

Sie waren in absolute Finsternis getaucht. Ein furchtbaren Donnern und Krachen erfüllte die Luft. Der Boden bebte. Alles dröhnte und drückte furchtbar auf die Ohren, so schlimm, dass ihnen die Augen tränten. Kenai konnte sich kaum auf den Beinen halten. Immer wieder drohte er wegzurutschen, während er mit aller Macht seine Hände in die Erdkuppel drückte, verzweifelnd versuchend das Wasser zurückzuhalten. Seine Glieder begannen zu schmerzen. Er zitterte, doch er wagte es nicht sich auch nur eine einzige Sekunde zu entspannen. Er konnte die Wassermassen spüren, die gegen ihre winzige Festung drückten, unbarmherzig versuchend sie in den Tod zu reisen. Seine Muskeln begannen zu bersten. Stechender Schmerz benebelte seinen Geist. Ein wiederwertiger, metallener Geschmack erfüllte seinen Mund. Er merkte noch nicht einmal wie fest er sich auf die Lippen biss. Er wusste gar nichts, nicht einmal wie viele Menschen sich unter der Kuppel befanden, die er mit aller Macht zu halten versuchte. Er wusste nur, dass er sich mit ganzer Kraft gegen die Fluten stemmte, während seine Beine unter der Last immer wieder wegrutschten.

Plötzlich spürte er, wie sich jemand gegen ihn lehnte. Anyu. Mit ganzer Kraft stemmte sie sich gegen ihn und gab ihm den Halt, den er so dringend brauchte. Er lächelte schwach, nur von dem Ziel erfüllt, das Ganze irgendwie zu überstehen, doch plötzlich zerfetzte ein entsetzter Schrei seine Konzentration.

„WASSER!“

Kenai konnte nichts sehen, doch er konnte förmlich spüren, wie etwas in der Mauer brach. Es knirschte und krachte und zischte. Wasser drang ins Innere der Kuppel und umspülte rasch seine Knöchel. „Nicht nachlassen!“, brüllte Kenai gegen den tosenden Lärm an und ließ von seiner Seite der Kuppel ab, um das Wasser zu Eis gefrieren zu lassen.

„W-Was ist das?“, rief jemand panisch.

„Ist doch egal!“, rief Kenai, der sich wieder auf seine Wand konzentrierte. „Nur nicht nachlassen!“ Sekunden wurden Minuten und Minuten zu Stunden. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis Kenai spürte, dass der Druck des Wassers langsam nachließ. Kurze Zeit später ließ er sich entkräftet zu Boden fallen. Sein ganzer Körper schmerzte, seine Arme zitterten unaufhörlich. Ihm war spei übel und er war heil froh, dass er sich bei der Dunkelheit nicht selber sehen konnte. Wenn er auch nur halb so aussah, wie er sich fühlte, wäre das kein schöner Anblick. Um ihn herum war es ruhig geworden. Keiner wagte es zu reden. Nur selten drang ein verängstigtes Wimmern an seine Ohren. Niemand schien es zu wagen das erste Wort zu ergreifen. „Ist … ist alles okay?“, fragte Kenai schließlich. Seine Stimme war entsetzlich zittrig. Leises Gemurmel wurde laut.

„Ist es vorbei?“, wagte es jemand vorsichtig zu fragen.

„Ich … ich denke schon. Lasst mich nachsehen.“ Anyu half ihm wieder auf die Beine zu kommen.

Wenig später stand er alleine auf der Kuppel und ließ seinen Blick über das Land schweifen. Es war noch dunkel. Doch das fahle Licht des Mondes reichte, um das Ausmaß der Verwüstung erkennen zu können. Bäume waren entwurzelt und von der Wucht der Strömung hinfort gerissen worden. Schutt, Schlamm und Geröll trieben auf dem ruhigen Wasser, das die Landschaft in einen See verwandelt hatte, doch es begann bereits im Boden zu versinken. Nichts war mehr vom kleinen Tal geblieben. Der Anblick schnürte ihm die Kehle zu. Vor wenigen Minuten war der Ort hier noch voller Leben gewesen, doch jetzt … Wut keimte in ihm auf und er ballte die Hände zu Fäuste. Hinter ihm krochen bereits die ersten aus ihren Löchern und sahen sich um, die Hände vor Entsetzen vor den Mund geschlagen. Einige sanken auf die Knie und schluchzend, während ihre Familie oder Freunde versuchten sie zu beruhigen. Vergebens. Immer mehr kamen aus dem Loch, doch dann, viel zu früh, kam niemand mehr. Alle Augen richteten sich auf einen der Erdbändiger, der als letztes zu ihnen gestoßen war. Seine Gesichtszüge entgleisten, als er ihre Blicke gewahr wurde. „Ich …“, stammelte er, die Augen blutunterlaufen, „ich war der letzte.“

Ein fürchterlicher, herzzerreißender Schrei erfüllte die Luft, ein Klang voller Leid und Schmerz. Eine Frau drehte sich verzweifelt im Kreis und raufte sich die Haare, während sie weinend nach ihren Liebsten rief, doch es gab niemanden, der ihr hätte antworten können. Ein kleiner Junge stand einsam zwischen all den Erwachsenen und sah sich um, vollkommen verängstigt und verstört, ohne jemanden, der ihn hätte in die Arme nehmen können. „Mami?“, fragte er leise. Dicke Tränen rollten ihm übers verschmutzte Gesicht. „Mami …? Mama, wo bist du? MAMAAAAAAA!“ Doch seine Mutter gab es nicht mehr.

„Hat … hat jemand Tuk gesehen?“, fragte einer der Erdbändiger mit brüchiger Stimme. „Tuk! TUUUUKKKK!“

„Da!“, rief plötzlich jemand und deutete auf etwas im Wasser. Jemand sprang. Die Welt verstummte, die Zeit schien still zu stehen. Wie in Trance taumelte Kenai an den Rand der Kuppel und half die Last an Land zu ziehen. Alles drehte sich in ihm, er würgte. Im Licht des Mondes konnte er das seltsam blasse Gesicht einer Frau erkennen, die leblosen Augen gebrochen gen Himmel gerichtet. Ihre nassen Haare klebten ihr im Gesicht. Mit zitternden Händen strich Kenai sie zur Seite. Die Haut war bleich und kalt. Er erkannte die Leiche. Noch vor wenigen Stunden hatte sie ihm seine neuen Kleider gegeben. Sie hatte mit ihm geredet, voller Sorge um ihre im Krieg kämpfenden Kinder. Sie war freundlich zu ihm gewesen, ohne dass sie ihn gekannt hatte. Sie hatte ihm geholfen sich zu waschen. Sie, die Frau, deren Namen er noch nicht einmal kannte und die so voller Leben gewesen war … Sie würde nie wieder ihre Kinder sehen können, nie wieder mit ihnen reden oder in die Arme nehmen können … Fort. Sie war fort und ihre kalten, leeren Augen würden nie mehr das Licht des anbrechenden Tages sehen können …

Kenai taumelte zurück. Er schwankte, seine Knie zitterten, konnten ihn nicht mehr tragen. Würgend brach er in sich zusammen, konnte nicht mehr atmen. Der Gestank von gebrochenem brannte ihm in der Nase, benebelte seine Sinne. Überall Schreie, verzweifelte Rufe, weinen, Stille … So viele fehlten … So viele würden nie mehr nach Hause kommen, nie wieder mit ihren Freunden lachen können … Sie waren fort, in eine Welt, in die man ihnen nicht folgen konnte. Die Frau, die Mutter des noch immer verzweifelt nach ihr rufenden Jungen, Tuk … Tuk konnte das nicht überlebt haben. Die Welle war zu schnell gekommen, zu plötzlich. Mit kalter Grausamkeit hatte sie das Dorf entzwei gerissen, hatte das Leben von fast der Hälfte von ihn genommen … Ihnen … Den Bewohnern dieses friedlichen Dorfes … Das war ungerecht. Was hatten sie denn getan? Nichts!

Kenai würgte. Sein ganzer Körper bebte, während seine Wut zunehmend zu kochen schien. „Wer war das?“, fragte er und stemmte sich wieder auf die Füße. „WER WAR DAS?!“ Er brüllte. Erschrocken wichen die Dorfbewohner vor ihm zurück. Er achtete nicht mehr auf sie. Er sah sich um, suchte in der Dunkelheit die Gegend ab. Da, sich schwarz vom Nachthimmel abhebend, ragte eine Klippe empor. Anyu folgte seinem Blick. Ein dunkles, zorniges Knurren entrann ihrer Kehle, ihre Nackenhaare sträubten sich. Irgendjemand musste dort oben sein, keinen Zweifel.

Die Welt schien rot zu werden. Kenai dachte nicht mehr darüber nach, was er tat. Es interessierte ihn nicht mehr. Alles war mit einem Mal bedeutungslos geworden, alles, außer einer einzigen Frage: Wer war das gewesen? Beinahe ohne sein Zutun gefror das Wasser zu Eis, während er auf Anyus Rücken sprang, die den eisigen Pfad entlang hastete, ohne einen letzten Blick auf die entsetzen Dorfbewohner zurückzuwerfen. Sie schlitterte, sie rutschte, doch Anyu drosselte ihr Tempo nicht. Wie ein Geist rauschte sie durch die Nacht, hatte schon bald Gestein unter ihren mächtigen Pranken und sprang die felsige Klippe empor, bis sie mit einem lauten Heulen auf festen Grund landete. Einige Gestalten stolperten vor ihr zurück, erschrocken von diesem furchteinflößenden Ungetüm, das mit gefletschten Zähnen über ihnen thronte.

Fünf Männer wichen langsam vor Anyu zurück, ja darauf bedacht keine zu hastige Bewegung zu machen, die sie vielleicht hätte reizen können. Fünf Männer ließen Vorsicht walten, doch in ihren Augen konnte man sehen, dass sie alle bereit waren Anyu zu töten, falls sie sie angreifen sollten. Fünf Männer, Bändiger, die er hier nicht hatte sehen wollen.

Langsam glitt Kenai von Anyus Rücken herunter und trat an ihre Seite, ohne seinen Blick von den Kriegern zu nehmen, die gebieterisch ihre Arme hoben, bereit zum Kampf. Kenai kannte sie, jeden einzelnen von ihnen. Sie sahen ihn an, stumm und forschend. Plötzlich ließ einer von ihnen seine Deckung sinken, vollkommen überrascht.

„K-Kenai?“, fragte ihn eine vertraute Stimme verblüfft. Ungläubig löste sich Atka aus der Gruppe, wollte auf ihn zu eilen, doch ein warnendes Bellen von Anyu hielt ihn zurück. „Bist- bist du das wirklich?“ Er strahlte. Es war offensichtlich wie sehr er sich über den Anblick seines Freundes freute, doch als dieser ihn mit eiskalten Blick ansah, runzelte er die Stirn. „Was ist los?“

„Wart ihr das?“, fragte Kenai mit kalter Stimme.

Atka ignorierte diese Frage. „Wo hast du gesteckt? Wir dachten schon dich hätte es erwischt!“

„Wart ihr das?“, fragte er noch einmal, die Stimme schneidender als die seines Vaters. Erschrocken wich Atka einen Schritt zurück und sah sich irritiert zu seinen Begleitern um, unter ihnen auch Kurok, der kaum merklich die Augen verengte.

„Natürlich waren wir das“, antwortete Atka schließlich unbekümmert. „Wer hätte es denn sonst sein sollen? Du weißt doch, dass der Vollmond unsere Kräfte steigert. Nur so können wir solche Wassermassen kontrollieren.“ In seiner Stimme schwang kein Mitleid, keine Trauer, nicht einmal den leisesten Hauch von Reue mit. Nur Überzeugung und ein gewisser Stolz waren ihr zu entnehmen. Kenai sah ihn an, das Gesicht zu einer eisernen Maske gefroren. Atka begegnete seinem Blick, schien auf irgendetwas zu warten, doch was immer es auch war, was er hören wollte, er hörte es nicht. Stattdessen trat Kenai auf ihn zu, ruhig, ohne seinen Blick von ihm abzuwenden. Er war groß geworden. Hatte er vorher zu Atka aufsehen müssen, so waren sie sich nun ebenbürtig. Kenai blieb vor ihm stehen. Wortlos sah er ihn an, dann, ganz plötzlich, knallte er ihm eine.

Drei Wasserbändiger hätten sich am liebsten auf Kenai gestürzt, doch allein ein einziger Schritt von Anyu reichte aus um sie verängstigt an den Rand des Waldes zurück zu treiben. Kurok hielt sich zurück und beobachtete das Geschehen aufmerksam, bereit einzuschreiten falls es notwendig werden sollte. Atka lag verblüfft auf dem Boden und hielt sich den schmerzenden Kiefer, während Kenai ungerührt auf ihn herab blickte.

„Was zum … Bist du verrückt geworden?!“

„Warum habt ihr das getan?“

„Du kannst mir doch nicht einfach eine runterhauen!“

„Warum habt ihr das getan?!“

„Was ist los mit dir?“

„ICH HABE DICH ETWAS GEFRAGT!“

Fassungslos starrte Atka ihn an. Sie waren von Kindheit an zusammen aufgewachsen, doch er hatte Kenai noch nie so wütend erlebt. Seine Augen schienen regelrecht zu glühen, beinahe zu brennen. Seine Handknöchel waren weiß und er zitterte am ganzen Leib, so als müsse er sich ernsthaft zusammenreißen um sich nicht auf ihn zu stürzen. Aber da war noch etwas, etwas, was viel verstörender war als dieser ungewohnte Zorn. Tränen liefen über Kenais Gesicht, ohne das er es selbst zu bemerken schien. Kenai weinte nicht. Das hatte er noch nie getan, nicht einmal als er einmal unter einem Eisberg begraben worden war und beinahe einen Arm verloren hätte. Dass er es jetzt tat, erschien so fremdartig, so falsch, das Wut in Atka erwachte. „Weil es irgendjemand tun musste!“, antwortete er verärgert.

Das war die Antwortet, die Kenai erwartet hatte, doch es aus dem Mund seines Freundes zu hören war wie ein Dolchstoß mitten ins Herz. Er verstand es nicht. Er wollte es noch nicht einmal verstehen. Wut brodelte in ihm, gemischt mit Abscheu und Hilflosigkeit. „Das waren Menschen!“

„Das waren Erdbändiger!“

Wie ein Echo hallten diese Worte in Kenai wieder. Erschüttert starrte er auf seinen Freund hinab, zitternd vor Wut. „Nur Erdbändiger?“, fragte er mit belegter Stimme. „Das waren nicht einfach nur Erdbändiger. Das … das waren Menschen! Sie haben mir geholfen! Sie haben mir Essen gegeben, neue Kleidung!“

„Du … du warst unten im Dorf?“, fragte Atka verdutzt.

„Das hier“, fuhr Kenai ungerührt fort und griff sich an sein Hemd, „hat mir eine Frau geschenkt. Das waren die Kleider ihres Sohnes. Sie hatte Kinder! Söhne und Töchter, an die sie ständig dachte und die sich Sorgen um sie gemacht hatte, jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde ihres Lebens. Sie hatte Angst! Angst davor, dass sie sterben könnten, ohne dass sie sie vorher noch einmal gesehen hat. Sie war eine Mutter, Atka! Keine Erdbändigerin. Sie waren keine Gefahr! Sie- … sie waren so nett … Sie … Sie wollten doch einfach nur …“ Seine Stimme versagte. Er schluckte. „Ihr habt sie getötet. Einfach so. Sie und Tuk und all die anderen. Warum? Sie waren doch gar keine Gefahr. Sie … sie haben doch nichts getan!“

Atka starrte ihn an, schien diese Worte nicht zu begreifen. Er war fassungslos. „Das waren Erdbändiger“, sagte er noch einmal. „Sie sind unsere Feinde. Wir müssen sie stoppen, bevor sie uns töten. Nur so können wir überleben! Verstehst du das denn nicht? Sie sind unsere Feinde!“

„Und was ist mit mir?“, fragte Kenai. Er war plötzlich seltsam ruhig. Seine Wut schien verflogen, doch sie hatte etwas anderem Platz gemacht, einem Gefühl, das er noch nie zuvor empfunden hatte. Abscheu. „Bin ich dann auch euer Feind?“

Perplex sah Atka ihn an. „Warum solltest du unser Feind sein? Du bist einer von uns. Ein Bändiger vom Wasserstamm. Wir sind doch alle Brüder.“

„Sind wir das? Warum habt ihr mich dann alleine gelassen?“

„Was meinst du?“

„Als wir in den Bergen getrennt wurden. Ich habe euch gesucht. Aber die Höhle war leer.“

„Die Feuerbändiger haben uns entdeckt“, mischte sich nun auch Kurok ein, der dem Treiben schweigend zugesehen hatte. „Wir mussten gehen. Wir konnten nicht warten.“

„Wo hast du all die Zeit gesteckt?“, wollte Atka wissen.

Ich war bei einer alten Eremitin und habe das Erdbändigen erlernt, dachte Kenai, doch er sprach es nicht aus. Er konnte es nicht sagen, selbst wenn er es gewollt hätte. Plötzlich hatte er Angst. Erdbändiger waren Feinde, hatte Atka gesagt. Er hatte gesehen, wie kaltblütig sie ein ganzes Tal geflutet hatten, nur um ein Dorf zu zerstören, indem sie Erdbändiger vermutet hatten. Was würden sie mit ihm tun? Sie hielten ihn für ihren Bruder, einen Wasserbändiger, den Sohn ihres Clanführers. Doch er war kein Wasserbändiger, nicht nur. Er war auch ein Erdbändiger und mit plötzlicher Gewissheit wurde ihm klar, dass sie auch ihn töten würden, wenn sie es jemals erfahren würden. Er konnte Manas Stimme hören: „Wasserbändiger hassen Erdbändiger. Was werden sie tun wenn sie herausfinden das in dir ein Erdbändiger steckt? Willst du es ihnen verschweigen? Oder willst du es ihnen sagen? Du bist anders als sie.“ Kenai wich zurück, unfähig seinen Blick von Atka abzuwenden. „Wenn man herausfindet, dass du anders bist, wird man dich jagen. Alles, was anders ist, ist schlecht. Vielleicht, wenn du Glück hast, wird man versuchen dich zu benutzen. Jemand, der Wasser und Erde bändigen kann, ist mächtiger und gefährlicher als jemand, der nur Wasser oder nur Erde bändigen kann.“ Er konnte Mana förmlich vor sich sehen mit ihrem schrumpeligen Gesicht und den hellen Augen, die ihn ständig zu durchbohren schienen. Sie hatte recht. Auch wenn er es damals nicht hatte wahrhaben wollen. Er war anders als sie. Noch nie war ihm das so bewusst geworden wie in diesem Augenblick. Sie hatten unschuldige Menschen getötet, beinahe auch ihn. Sie würden es wieder tun.

Kenai wich weiter von ihnen zurück, das Gesicht voller Angst und Abscheu. Er war anders als sie. Er war keiner von ihnen. Und, verdammt noch mal, er war noch nie so froh darüber. „Ich will mit euch nichts mehr zu tun haben.“

„Du kommst mit uns mit.“ Kurok trat auf ihn zu, doch Anyu stellte sich zwischen sie. „Dein Onkel macht sich Sorgen um dich.“

„Interessiert mich nicht.“

„Was ist mit dir los?“, fragte Atka, der wieder auf den Beinen stand. „Du bist plötzlich so anders.“

„Nein, du bist es. Du bist derjenige, der unschuldige getötet hat!“

„Kenai!“

„Rühr mich nicht an!“ Mit einem Satz war Kenai bei Anyu und kletterte auf ihren Rücken. „Mit euch bin ich fertig!“ Ein Wasserstrahl raste auf ihn zu, wollte ihn daran hindern zu fliehen, doch er lenkte ihn blitzschnell zu Kurok zurück, der das Wasser mit den Händen teilte. Er wollte einen neuen Angriff starten, doch es war bereits zu spät. Kenai war mit Anyu in der Dunkelheit verschwunden.
 

Kenai konnte nicht zurück zum zerstörten Dorf. Er wagte es nicht ihnen unter die Augen zu treten. Er fühlte sich furchtbar. Noch nie war er sich so alleine vorgekommen. Er wollte einfach nur noch fort, egal wohin, solange es nur so weit wie möglich weg von diesem Ort war.

Anyu spürte sein Leiden. So schnell sie konnte raste sie durch den Wald, rannte einfach nur gerade aus und ließ sich vom Zufall leiten. Kenai beugte sich über sie und grub seine Hände fest in ihr dickes Fell. „Ich hätte niemals von zu Hause fortgehen dürfen.“

Daraufhin stieß sie ein leises, tröstendes Fiepen aus.
 

Es war Mittag, als Kenai Anyu endlich dazu brachte anzuhalten. Er war müde. Er hatte die ganze Nacht über nicht geschlafen. Alles drehte sich um ihn. Ihm war schlecht. Er schaffte es gerade noch von Anyus Rücken zu gleiten, dann brach er zusammen.
 

Er war krank. Schwere Krämpfe erschütterten seinen Leib. Immer wieder erwachte er aus schweren Fieberträumen und halluzinierte. Schwarze Schatten standen um ihn herum, zogen seltsame Fratzen, versuchten ihn mit ihren Klauen zu greifen, zu zerreißen. Er brannte. Sein ganzer Körper schmerzte.

Die ganze Zeit über wich Anyu nicht von seiner Seite. Sie wachte über ihn, wie er einst über sie gewacht hatte. Immer wieder leckte sie ihm über die Stirn oder legte sich neben ihn um ihn zu wärmen. Es wurde Nacht, dann wieder Tag, ohne das sich an seinem Zustand irgendetwas änderte. Dunkle Wolken zogen auf. Es begann zu regnen. Vorsichtig nahm Anyu Kenai zwischen ihre Zähne und trug ihn in die Büsche, wo der Regen nicht ganz so schlimm war. Sie legte sich neben ihn und schlief ein. Als sie aufwachte, war der Regen vorbei. Es war spät. Die Sonne ging wieder unter und tauchte die Welt in blutrotes Licht. Es dampfte. Kenai hatte sich ein wenig beruhigt. Er schlief tief und fest, ohne angestrengt nach Luft zu schnappen, doch er war noch immer entsetzlich blass. Liebevoll leckte Anyu ihm über die Stirn. Plötzlich zuckten ihre Ohren. Sie hörte etwas. Jemand näherte sich ihrem Versteck. Leise erhob sie sich und schlich zu einigen Büschen, tief an den Boden gepresst und späte zwischen den Zweigen hindurch. Eine Gruppe seltsam riechender Fremder kam auf die Lichtung marschiert, einige von ihnen mit Speeren bewaffnet. Sie redeten mit einander. Einige lachten. Plötzlich blieben sie stehen.

„Hey“, sagte einer von ihnen und deutete mit seinem Speer in die Büsche. „Habt ihr das auch gesehen?“

„Was denn?“, fragte ein anderer, die Augen zu Schlitzen verengt um besser sehen zu können.

„Da ist etwas“, antwortete der erste. Im nächsten Moment raste gleißendes Feuer an ihm vorbei und versenkte das Gestrüpp, hinter dem sich Anyu verborgen hatte. Die Augen eines Feuerbändigers begannen zu glänzten.
 

Als Kenai wieder zu sich kam, war er allein. Er fühlte sich grauenvoll. Sein Mund war ausgetrocknet, sein Kopf hämmerte fürchterlich und ihm war übel. Seine Gedanken waren schwer. Er versuchte aufzustehen, doch er schwankte. Nur mit Mühe konnte er sich an einem Baumstamm festhalten. „Oh … Als würde Kohei in meinem Schädel Polka tanzen …“ Blinzelnd rieb er sich die Schläfen, dann sah er sich um. Es war dunkel geworden. Nur wenige Sterne lugten zwischen dem wolkenverhangenem Himmel hervor. Er hatte keine Ahnung wo er war. Er hätte es nicht einmal sagen können wenn es hell gewesen wäre. Alles wirkte so anders, beinahe Geisterhaft. Bäume ragten hoch in die nächtliche Dunkelheit, doch statt Laub hingen nur spärliche Nadeln an ihnen. Es war still. Nichts rührte sich. Noch nicht einmal der leiseste Hauch des Windes war zu vernehmen. Dennoch fröstelte es ihm. Ihm war kalt. Zitternd schlang er seine Arme um seinen durchnässten Leib. Ein seltsamer Geschmack nach Galle brannte in seinem Mund. Übelkeit regte sich in ihm. Angewidert verzog er das Gesicht und schloss seine Augen. Sofort sah er sie wieder, sie, die Frau, die so nett zu ihm gewesen war. Er sah ihre blasse, kalte Haut, ihr nasses Haar, das ihr Gesicht bedeckte, sah ihre kalten, toten Augen, die leblos in den nächtlichen Himmel blickte. Entsetzt schnappte Kenai nach Luft und öffnete wieder seine Augen. Er schwankte, wollte sich an der nassen Rinde eines Baumes abfangen, doch er rutschte ab und landete auf einem kleinen Busch. Mühsam stemmte er sich wieder in die Höhe, verdreckt vom Schlamm der aufgeweichten Erde. Mit leerem Blick sah er an sich herab. Die Kleidung, die die Frau ihm gegeben hatte, die einst ihrem Sohn gehört hatte, war vollkommen verdreckt. Ruiniert. Plötzlich klärte sich sein Blick. Erschrocken versuchte er den Schlamm zu entfernen, diese Sachen zu retten, die das letzte Zeugnis der verstorbenen Frau waren. Er versuchte es wegzuwischen, irgendwie zu entfernen, doch anstatt sauberer zu werden, schien es sich weiter zu verschlimmern. Ein leiser Fluch entrann seiner Kehle. Er sah seine Hände an. Warum konnte er den Schlamm nicht entfernen? Warum – Plötzlich stutzte er. Blasses Mondlicht schob sich durch die Wolkendecke und vertrieb ein wenig die nächtliche Finsternis. Ein seltsames Gefühl schnürte Kenai die Kehle zu, als er seine Hände hob um sie besser betrachten zu können. Seine Hände waren schmutzig, doch es war nicht nur Schlamm, den er da anstarrte. Da war noch etwas anderes. Langsam ließ er seinen Blick über das Gelände schweifen. Ein eisiger Schauer lief ihm eiskalt den Rücken herunter. Nicht weit von ihm entfernt wuchsen einige Sträucher. Ihre Äste waren zerknickt, teilweise lagen sie verstreut auf dem Boden herum, der aufgewühlt worden war. Durch den Schlamm konnte man gut zahlreiche Spuren entdecken. Die meisten Fußspuren schienen von Menschen zu sein, andere waren die Abdrücke gewaltiger Pranken und wieder andere Spuren sahen aus, als hätten sich Fingernägel und Krallen in einem fürchterlichen Kampf in die Erde gegraben. An einigen Bäumen klafften rußige Wunden, als hätte sie irgendjemand, oder irgendetwas, angesengt. An einem Baum war sogar regelrecht ein Teil des Stammes herausgerissen worden. Ein verkohlter und zerbrochener Speer steckte noch tief im Holz. Und überall klebte Blut. Egal wo Kenai auch hin sah, auf den Boden, an den Bäumen oder an den Sträuchern, es klebte einfach überall.

Plötzliche Panik vertrieb jegliche Schlaffheit aus seinem Körper. „ANYU! Wo bist du? Hörst du mich? ANYU!“ Angespannt lauschte er in die Dunkelheit, doch nichts rührte sich. Angst regte sich in ihm. Irgendetwas war hier passiert, während er im Schutze eines Strauches geschlafen hatte. Irgendetwas war mit Anyu. Kaum vorzustellen, was- Energisch schüttelte Kenai den Kopf. Nein. Daran durfte er gar nicht erst denken. Immerhin ging es hier um Anyu! Sie konnte zwar ein ziemliches Weichei sein, aber wenn, dann war sie ein kämpferisches Weichei! Und was immer hier auch passiert war, es sah nicht so aus, als hätte Anyu keinen Wiederstand geleistet. Bestimmt hatte sie die Fremden, wer auch immer diese waren, verjagt oder woanders hingelockt. Ja, ganz bestimmt. Anders konnte es gar nicht sein.

Zumindest wollte er an nichts anderes glauben. „Okay, Kenai“, versuchte er sich selber Mut zu machen. „Keine Panik. Hol einmal tief Luft und dann konzentrier dich.“ Kenai holte einmal tief Luft, fuhr sich mit der Hand durchs rabenschwarze Haar und fasste einen Entschluss. Er konnte Anyu nicht alleine lassen. Wo immer sie war, sie brauchte vielleicht seine Hilfe. Er konnte hier nicht tatenlos herumstehen. Wie gut, dass sein Vater ihm das Spurenlesen beigebracht hatte.

Es dauerte nicht lange, bis Kenai eine Spur gefunden hatte, die von der verwüsteten Stelle wegführte. Der nasse Boden half ihm dabei. Es war ein leichtes den zahlreichen Fußspuren zu folgen, die tief in den Schlamm gedrückt waren. Alles andere aus seinen Gedanken drängend, folgte er der Fährte, die tiefer in den Wald hinein führte. Schon bald tastete er sich blind durch ein schier endloses Labyrinth aus blätterlosen Bäumen und aus der Erde ragenden Steinen, die seinen Weg säumten. Die hohen Wipfel schluckten nun auch das restliche spärliche Licht des Mondes. Nichts rührte sich. Eine gespenstige Stille lag über dem Wald. Kenai wagte es kaum zu atmen. Seine Nackenhaare sträubten sich. Immer wieder musste er anhalten und am Boden nach den Spuren tasten. Er wusste nicht wie lange er ihnen schon folgte, doch irgendwann änderte sich plötzlich das Bild.

Vor ihm leuchtete ein schwaches Licht. Vorsichtig schlich er sich an das Leuchten heran, bis leise Stimmen an sein Ohr drangen. Er konnte kein Wort verstehen. Es klang, als würden sich einige Leute Geschichten erzählen, die zwischendurch von schallendem Gelächter unterbrochen wurden. Doch sie hätten ebenso gut Kochrezepte austauschen können, so wenig verstand er sie. Vielleicht sprechen sie mit vollem Mund, dachte er sich, als der Geruch von gebratenem Fleisch ihm in die Nase stieg. Wasser lief in seinem Mund zusammen. Sein Magen knurrte. Erst jetzt bemerkte er, wie hungrig er eigentlich war.

„Willst du was?“ Jemand hielt ihm einen fleischigen Knochen vor die Nase. Kenai stutzte und wandte sich um. Ein riesiger Mann, ganz in schwarz gekleidet, stand hinter ihm und grinste ihn an. Eine tiefe Narbe entstellte sein Gesicht. Es sah aus, als hätte jemand versucht ihm mit einer Axt den Kopf zu spalten. Dieser jemand war jedoch ganz offensichtlich gescheitert. „Willst du was?“, fragte er Koloss noch einmal. Kenai blinzelte verblüfft. Sein Magen knurrte abermals, dieses Mal um einiges lauter als zuvor.

„Ja, bitte“, hörte er sich sagen. „Ich bin am Verhungern.“ Er wollte nach dem Knochen greifen, doch der Koloss hob ihn so hoch, dass er ihn nicht erreichen konnte. Das Grinsen wurde plötzlich böse.

„Bettler kriegen nichts“, sagte er nur und ließ den Knochen mit solcher Wucht auf Kenais Kopf niederkrachen, dass dieser augenblicklich das Bewusstsein verlor und reglos zu Boden ging. „Und Spione erstrecht nicht.“

„Pssst.“

Ein seltsames Geräusch störte ihn.

„Pssst.“

Das Geräusch begann ihm bereits auf die Nerven zu gehen. Alles war so still, so ruhig, so wunderbar friedlich. Er wollte nicht aufwachen. Er wollte weiterschlafen. Die Dunkelheit umhüllte ihn ein wie einen Freund, doch das Geräusch versuchte diese traute Zweisamkeit zu stören.

„Hey! Pssst!“

Konnte das Geräusch nicht endlich verschwinden? Er wollte es nicht. Sollte es sich doch jemand anderen suchen.

„Dann eben anders.“

Ein plötzlich Sturm brach über ihn herein und verscheuchte die Dunkelheit wie eine lästige Fliege. Erschrocken öffnete Kenai die Augen.

„Schönen guten Morgen!“

Verwirrt blinzelnd sah Kenai direkt in das Gesicht eines fast kahlköpfigen Jungen, der ihn mit großen, grauen Augen halb freudig, halb mitleidig ansah. „Ähm … Morgen?“ Irgendetwas war hier seltsam. Ob es etwas damit zu tun hatte, dass der Junge an einen Pfahl gefesselt war, er sich selber aus irgendeinem Grund nicht bewegen konnte und sein Kopf sich anfühlte, als hätte ihn jemand mit Manas Kochlöffel erschlagen, wusste er nicht zu sagen. Irgendwie war ihm übel, ein Gefühl, das langsam Normalität für ihn zu werden schien. Glaubte er zumindest. Irgendwie waren seine Gedanken ein wenig durcheinander. War es eben nicht noch Nacht gewesen?

„Ich dachte schon, du willst für immer schlafen. Weißt du eigentlich, dass du eine richtig große Beule hast? Sieht ziemlich hässlich aus.“

Deswegen also die Kopfschmerzen, dachte Kenai bei sich. Er wollte die Beule betasten, doch er konnte seine Hände nicht bewegen. Warum eigentlich? Fragend sah er an sich herab. Ich bin gefesselt, stellte er nüchtern fest und sah wieder den Jungen an. „Du bist gefesselt“, sagte er zu diesem.

„Du auch“, sagte der Junge.

„Yeah …“ Warum eigentlich? Kenai runzelte die Stirn. Irgendetwas musste doch passiert sein, oder etwa nicht? „Scheint so.“

„Die haben dich ziemlich schlimm erwischt, oder? Mich auch. Ich hänge hier schon seit drei Tagen herum.“

„Seit drei Tagen?“

„Jupp. Das wird ganz schön langweilig mit der Zeit. Die Kerle da hinten sind nicht grade gesprächig.“

„Welche Kerle?“ Kenai drehte den Kopf soweit er konnte und zuckte vor Schmerzen zusammen. Seine Beule begann heftig zu pochen. Er hatte keine Ahnung wo er war; auch ein Gefühl das zu seinem ständigen Begleiter geworden war. Soweit er es erkennen konnte, musste er in irgendeinem Lager sein. Überall lagen Felle und achtlos fortgeworfene Knochen herum. Um ein knisterndes Lagerfeuer saßen einige Männer versammelt, die an Trockenfleisch herum kauten und einige Steine bearbeiteten. Keiner sprach auch nur ein Wort. Sie schienen ihre Gefangenen noch nicht einmal zu beachten. Irgendwie hatte Kenai das Gefühl, dass irgendjemand fehlte. Er wusste nur nicht wer. Träge sah er wieder zum Jungen und musterte ihn. „Hey … Weißt du, dass du gefesselt bist?“

„Yeah“, machte dieser mit hochgezogener Augenbraue. „An dieser Stelle waren wir schon.“ Ein Feuerball raste plötzlich an ihnen vorbei und versenkte das Gras zu ihren Füßen.

„Hey ihr Würmer!“, schnauzte sie einer der Männer brüsk an. „Haltet gefälligst die Klappe oder es setzt was!“

Feuer? Kenais Augen weiteten sich, als sich in seinem Kopf etwas mit einem Schlag wieder zusammen setzte. Er sah sich selber, wie er in der Asche eines Dorfes niederkniete, sah, wie eine Wand aus Wasser über ihn herein brach und alles Leben um ihn herum vernichtete. Er erinnerte sich, wie er einer Spur gefolgt war, die ihn zu einem Licht geführt hatte. Irgendjemand hatte ihm eine mit einem Knochen übergezogen, aber warum war er noch einmal dort gewesen? Ach ja, kam es ihm mit wachsendem Entsetzen wieder in den Sinn, Anyu. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass die Nacht längst verstrichen war. Das war nicht gut. Anyu hätte niemals zugelassen, dass man ihn einfach so fesseln würde. Wenn diese Kerle ihr irgendetwas angetan hatten! „Wo ist sie?“, rief er den Männern zu, die, verdutzt ob seines aggressiven Tonfalls, ihre Arbeit unterbrachen und zu ihm hinüber blickten. „Wo ist Anyu? Was habt ihr Mistkerle mit ihr gemacht?!“

„Mistkerle?!“ Im nu standen die Männer auf den Beinen. Der fremde Junge schluckte schwer.

„Ich glaube das war keine so gute Idee.“

„Wenn ihr ihr irgendetwas angetan habt“, rief Kenai zornig, ohne auf die Warnung zu hören, „dann-“

„Was ist dann?“, schnitt ihm plötzlich eine dunkle Stimme das Wort ab. Ein Schatten legte sich über ihn. Kenai sah auf und blickte in das vernarbte Gesicht seines nächtlichen Angreifers. So eine Visage konnte man nicht vergessen. „Willst du uns dann den Hintern versohlen?“ Seine Kumpanen lachten.

„Ich werde euren Hintern mehr als nur versohlen wenn es sein muss!“

„Uuuuuuuhhhhhhhhhiiiiiiiiiii“, machten die Männer und hielten sich die Hände vor den Mund. Das Narbengesicht grölte und gab Kenai eine so kräftige Kopfnuss, dass dessen Kiefer schmerzhaft zusammenkrachte.

„Der kleine Bettlerspion ist bissig.“

„Er weiß scheinbar nicht, wer wir sind“, rief ein altes Klappergestell vom Lagerfeuer zu ihnen hinüber. „Vielleicht sollten wir ihm Feuer unterm Hintern machen.“

„Gute Idee!“, rief ein pickeliger Jugendlicher. „Spion am Spieß!“

„Ihr werdet hier aufgespießt, wenn ihr mir nicht sofort sagt, was ihr mit Anyu gemacht habt!“

„Wer ist Anyu?“, fragte ein zahnloser Glatzkopf.

„Vielleicht seine Freundin?“, mutmaßte ein dicker Mann mit schulterlangem Haar, woraufhin das Pickelgesicht begeistert nickte und schweinisch grinste.

„Was er wohl alles mit ihr anstellt?“

„Ich weiß jedenfalls, was ich mit ihr anstellen würde“, lachte der Alte und machte einige ziemlich eindeutige Hüftbewegungen. Es machte knack und er ging mit einem Hexenschuss zu Boden. Seine Kammeraden grölten vor Lachen.

„Binde mich los!“, fauchte Kenai den Narbigen an, halb blind vor Zorn. „Mach mich los und ich mache euch fertig!!!“ Das Lachen war wie blanker Hohn in seinen Ohren und brachte sein Blut regelrecht zum Kochen. Er wusste nicht mehr was er tat. Er hörte, wie er die Männer anschrie und beleidigte. Er spürte, wie er seine Muskeln anspannte und versuchte, gegen die Fesseln anzukämpfen, die sich immer tiefer in sein Fleisch schnitten, seinem Toben jedoch keinen Einhalt gebieten konnte. Es war zu viel. Wenn sie Anyu auch nur ein Haar gekrümmt hatten, würde ich er sich nicht mehr zurück halten. Was immer sie ihr angetan hatten, er würde es jedem einzelnen vergelten. „ICH WERDE EUCH-“ WAMM! Er bekam noch nicht einmal mit, wie ihm der Narbige wieder eine überzog. Mit einem Mal war alles schwarz vor seinem Blick und er verlor sich abermals in Dunkelheit.
 

Er kam erst wieder zu sich, als ihm jemand Wasser ins Gesicht schüttete. Blinzelnd öffnete er die Augen. Es war mittlerweile Abend geworden. Der Himmel hatte sich blutrot verfärbt und lange, schwarze Schatten wanden sich drohend über das Lager, das zu neuem Leben erwacht war. Wo zuvor nur wenige Krieger am Feuer gesessen hatten, tummelten sich nun zahlreiche Gestalten, die einen stummen Kampf darüber ausfochten, wer zuerst seine Schüssel mit heißer Suppe füllen durfte, deren wundervoller Duft Kenai das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Andere Krieger wiederrum saßen oder lagen auf der Erde und wurden von ihren Kameraden verarztet. Einigen stand der Schmerz förmlich ins Gesicht geschrieben, doch bis auf ein leises Wimmern war kaum ein Laut von ihnen zu hören.

Kenai sah, wie ein bulliger Mann von zwei seiner Freunden auf den Boden gepresst wurde, während ein anderer ihm ein Stück Holz zwischen die Zähne klemmte. Selbst das schwindende Licht konnte nicht verbergen, wie weiß und verschwitzt dessen Haut war, die von roten Blutspritzern gesprenkelt war. Instinktiv wusste Kenai, dass er nicht sehen wollte was da geschehen würde und wandte sich ab. Kurz darauf fuhr ihm ein gequälter, eher an eine Kreatur als an einen Menschen erinnernder Laut bis ins Mark und jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken. Er konnte hören, wie etwas Schweres zu Boden viel. Er wollte gar nicht erst Wissen was es war.

„Gut für dich nicht hinzusehen“, sagte plötzlich eine ihm fremde Stimme. „Wir werden ihn wohl in Zukunft ‚Einarm‘ nennen, vorausgesetzt, er überlebt.“ Kenai hob den Kopf. Direkt vor ihm stand ein älterer, drahtiger Mann mit grauem, dünnen Haar und einem kurzen, verfilzten Bart, der dort, wo sein linkes Auge hätte sein sollen, einen um den Kopf gewickelten Stofffetzen trug. In den Händen hielt er zwei Schüsseln, von der eine leer war. Zweifellos hatte er ihm den Inhalt ins Gesicht geschüttet damit er wach wurde. Aus der Anderen stieg ihm ein unwiderstehlicher Geruch in die Nase, der seinen Magen laut knurren ließ. Erst jetzt erinnerte er sich daran wie hungrig er war. Das Einauge führte ihm die Schüssel an die Lippen und er trank gierig die zähe Brühe, die sich darin befand. Sie schmeckte nach nichts, was angesichts des Geruches verwunderlich war, doch darum kümmerte er sich nicht.

„Sehr schön“, sagte das Einauge, kaum dass er die Schüssel geleert hatte, doch etwas in seiner Stimme stimmte nicht. „Du wirst deine Kraft brauchen.“

„Wofür?“, fragte Kenai beunruhigt. Trotz der Brühe, die ein wohliges, warmes Gefühl in seinem Magen verursachte, fühlte er sich alles andere als gesättigt, geschweige denn gestärkt. Im Gegenteil. Sein vorheriger Wutanfall schien ihn vollkommen entkräftet zu haben. Wenn dieser seltsame Tonfall nicht gewesen wäre, wäre er beinahe in eine Art gleichgültige Schwermut verfallen. Er schluckte, als er in das mitleidvolle, braune Auge des Einäugigen blickte.

„Dan!“, rief plötzlich eine dunkle Stimme außerhalb von Kenais Blickfeld. „Wie sieht es aus?“

„Tut mir leid“, murmelte der Einäugige leise und wandte sich von ihm ab. „Er ist wach“, sagte er nur.

„Dann bring ihn zu mir.“

Dan nickte langsam und band Kenai los. Das ist die Gelegenheit!, schoss es ihm durch den Kopf, doch die Fesseln waren noch nicht einmal zu Boden gefallen, da war das Fünkchen Hoffnung auch schon wieder erloschen. Man hatte seine Hände extra gefesselt, bevor man ihn an den Pfahl gebunden hatte und das nicht einfach nur an den Handgelenken. Man hatte ihm die Unterarme zusammengebunden. Selbst wenn er es durch irgendein Wunder schaffen sollte zu fliehen, so wäre es ihm unmöglich gewesen sich von seinen Fesseln zu befreien. Doch dazu war es bereits zu spät. Kaum waren die Fesseln zu Boden gefallen, packte ihn Dan auch schon mit überraschender Stärke am Oberarm.

„Am besten du sagst ihm, was er wissen möchte. Das ist besser für dich“, raunte er ihm ins Ohr und sah zu dem anderen gefesselten Jungen, der mit Blutergüssen übersäht war. Der Kopf ruhte regungslos auf der Brust, so dass man unmöglich sagen konnte ob er bei Bewusstsein war oder es einfach vorzog, nicht zu ihnen aufzusehen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schleifte ihn Dan einmal durch das gesamte Lager, bevor er ihm einen Stoß in den Rücken gab, der ihn zu einem umgefallenen Megalithen taumeln ließ. Ein Mann thronte darauf, die Beine übereinandergeschlagen und die Hände auf seinem Schoß gefaltet, während jemand eine blutende Wunde behandelte, die auf seiner Schulter prangte. Sie sah aus, als hätte sie etwas großes mit einer Pranke verursacht, doch wahrscheinlich war das nur seine Einbildung. Er hatte sein langes, schwarzes Haar zu einem festen Knoten zusammengebunden, während er seinen Bart zu einem Zopf geflochten hatte. Er warf Kenai mit seinen bernsteinfarbenen Augen nur einen einzigen Blick zu, der ausreichte, um den Jungen erschaudern zu lassen.

„Wer bist du?“, fragte ihn der Mann beinahe gelangweilt. Kenai antwortete nicht. „Nun gut. Zoran?“ Der narbengesichtige Koloss, der Kenai zwei Mal bewusstlos geschlagen hatte, trat mit einem diabolischen Grinsen nach vorne und ließ seine Fäuste knacken. Noch bevor Kenai reagieren konnte, schlug Zoran ihm mit dem Handrücken ins Gesicht. Er taumelte. Blut floss aus seiner Nase und tropfte auf den Boden.

„Hatte er irgendetwas bei sich?“

„Nur das hier“, sagte Zoran und reichte seinem Befehlshaber einen Dolch, den dieser interessiert in seinen Händen drehte. Er fuhr mit dem Finger langsam über die scharfe Klinge, die sich rot verfärbte. „Ich habe solch eine Handwerksarbeit schon einmal gesehen“, sagte er und sah Kenai lauernd an. „Das hier gehört den Wasserkriegern.“ Kenais Magen verkrampfte sich. Hinter ihm hob Dan neugierig den Kopf. Zoran stieß einen leisen Pfiff aus. Selbst der Mann, der die Wunde seines Befehlshabers verarztete, hielt inne und sah zu Kenai hinüber. „Bist du ein Wasserkrieger?“ Kenai antwortete nicht. Er wusste nicht was er machen sollte. Sollte er es zugeben? Wenn ja, was würden sie mit ihm anstellen? Zweifelsohne würden sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen. Es war viel wahrscheinlicher, dass sie ihn gleich töten würden oder versuchen würden den Aufenthaltsort seiner Brüder aus ihm herauszuquetschen. Seiner ehemaligen Brüder, verbesserte er sich in Gedanken. Wenn er allerdings nichts sagte, würde Zoran wieder zuschlagen und das wollte er nicht. Er musste Lügen. Er wusste, dass er Lügen musste. Doch er konnte es nicht. Sein Blick richtete sich auf den Dolch, seines Vaters Dolch. Zu Lügen würde bedeuten, seinen Vater zu verleugnen. Das war etwas, was er nicht konnte, nicht einmal wenn sein Leben davon abhing. Aber war es wirklich wert deswegen zu sterben oder Schmerzen in Kauf zu nehmen? Es wäre so einfach den Kopf zu schütteln, es abzustreiten. Ein stummer Kampf begann in ihm zu toben, während er regungslos den Dolch ansah. Genervt rollte der Befehlshaber die Augen. „Zoran.“

„Mit Vergnügen.“

„Aber nicht ins Gesicht. Er braucht den Mund noch zum Sprechen und ich will ihm in die Augen sehen.“ Daraufhin schlug Zoran Kenai mit voller Wucht in den Magen. Er stöhnte. Sein Knie knickte ein und er ging zu Boden, während Speichel seinem Mundwinkel herab tropfte. Der Schlag brannte wie Feuer in seinem Magen und raubte ihm beinahe die Sinne. „Nun? Ich höre?“ Schwer atmend kniff Kenai die Augen zusammen und verzog das Gesicht. Er musste irgendetwas sagen. Schnell. „Zohan.“ Zohan verpasste ihm eine schallende Ohrfeige, die ihn fast zur Seite riss.

„Ich hatte gesagt nicht ins Gesicht!“, fuhr der Befehlshaber ihn mit finsterer Stimme an.

„Verzeihung, Shizon.“

„Ich will meine Frage nicht noch einmal wiederholen“, sagte Shizon zu Kenai, der benommen seinen Kopf schüttelte. Zwischen seinen Ohren klingelte es.

„Das ist nicht mein Dolch“, sagte Kenai schließlich. „Ich habe ihn mir genommen.“

„Von wem hast du ihn dir genommen?“

„Keine Ahnung.“

„Du weißt nicht, von wem du ihn genommen hast?“

„Ich kannte ihn nicht“, log Kenai und fühlte sich schrecklich dabei. „Er lag auf dem Boden und ich habe es an mich genommen.“

„Zoran.“ Zoran trat ihm abermals in den Magen. „Du bist ein schlechter Lügner“, sagte Shizon, der beobachtete, wie Kenai hustend und würgend auf dem Boden lag. „Wie sehen seine Augen aus?“

Zoran packte Kenai an den Haaren und riss seinen Kopf nach oben. Er lächelte. „Wie Wasser.“

„Wie Wasser“, wiederholte Shizon nachdenklich. Er klang beinahe erfreut. „Wir haben es hier entweder wirklich mit einem Spion zu tun-“ (Zoran gab ein triumphierendes Grunzen von sich.) „-oder aber wir haben uns einen Verräter angelacht.“ Kenai sah Shizon an, der ihm fest in die Augen blickte, als würde er versuchen wollen seine Gedanken zu erraten. „Auf jeden Fall wird es nun interessant werden. Wo sind deine Freunde?“

Das war eine Frage, auf die Kenai keine Antwort wusste, doch niemand glaubte ihm.

Jemand führte ihm einen Becher an den Mund. Kenai konnte spürten, wie ihm warmes Wasser die Kehle herunter rann. Hustend öffnete er die Augen.

Dan sah ihn an. Mit betrübter Miene führte er ihm noch einmal den Becher an die Lippen. Sein ganzer Mund brannte, als er schluckte. „Das sind die Wunden“, erklärte ihm der Einäugige seufzend. „Ich hatte dir doch gesagt, dass du ihm sagen sollst, was er von dir wissen will.“

Ärger regte sich in Kenai, doch er schaffte es kaum den Kopf zu heben. Jeder einzelne Knochen in seinem Leib schmerzte fürchterlich, und das hatte nichts mit seinen Fesseln zu tun, die ihn wieder an den Pfosten banden. „Aber jetzt ist es zu spät“, fuhr Dan fort. Er brach ein Laib Brot, tauchte einzelne kleine Stückchen in eine Schüssel und stopfte sie Kenai in den Mund, damit dieser Essen konnte. „Er wird jetzt nicht mehr aufhören. Selbst wenn du ihm alles sagen würdest, was er wissen will.“

Ich kann ihm gar nicht sagen, was er wissen will, dachte sich Kenai träge. Aber das hatte er bereits so oft gesagt, dass er diese Worte beinahe selbst nicht mehr glauben konnte. Soweit er noch wusste, hatte er irgendwann einfach gar nichts mehr gesagt. Die Schläge und Tritte waren irgendwann nur noch auf ihn nieder gehagelt, bis er selbst den Schmerz nicht mehr hatte spüren können, solange, bis er das Bewusstsein verloren hatte. Aber hatte er das wirklich? Er konnte sich nur dunkel daran erinnern, dass er irgendetwas geträumt hatte. Etwas Schönes. Er wollte weiter träumen. Alles war besser als der Albtraum, in dem er gelandet war.

„Shizon ist ein guter Anführer“, erkläre Dan weiter, obwohl es Kenai gar nicht hören wollte. „Er kümmert sich gut um uns. Unsere Angriffe sind erfolgreich und wir haben so gut wie keine Verluste. Wir vertrauen ihm. Er weiß, was er tut, auch wenn es im ersten Moment nicht immer so aussehen mag. Wenn wir die Kämpfe überleben, dann nur wegen ihm.“

Als das Brot alle war, holte er ein paar Kräuter aus seiner Beuteltasche und tat sie in die Schüssel hinein, wo noch ein kläglicher Rest des Wassers übrig geblieben war. Dann nahm er einen Mörser und begann die Kräuter zu zerstampfen, während er weiter redete. Es schien ihm irgendwie wichtig zu sein. „In letzter Zeit lief es jedoch nicht besonders gut. Die Wasser- und Luftbändiger sind zur Zeit auffallend aktiv. Deswegen hat Shizon momentan ziemlich schlechte Laune. Bitte nimm es ihm nicht übel. Er würde ansonsten nicht so mit euch umgehen. Er würde euch gleich umbringen.“

Diese Selbstverständlichkeit, mit der er dies sagte, erschütterte Kenai. „Warum-?“, flüsterte er und zuckte augenblicklich zusammen. Er konnte spüren, wie eine Wunde an seiner Lippe aufplatzte. Dan sah ihn mit seinem einen Auge mitleidvoll an.

„Warum ich dir das alles sage?“, fragte er. Der Junge schloss die Augen, was er als ein Ja interpretierte. „Ich weiß es nicht.“ Nachdenklich kratzte Dan sich am Kinn. „Irgendwie scheint es mir wichtig zu sein.“ Er lächelte kurz, dann neigte er leicht den Kopf zur Seite. Das braune Auge ruhte lange auf ihm, bevor der Mann weiter sprach. „Irgendetwas an dir ist anders.“

Kenais Innere verkrampfte sich schlagartig. Schon wieder. Wieso sagten ihm Menschen, die ihn gar nicht kannten und die er noch nie zuvor gesehen hatte, ständig diese Worte? Anders. Ja, er war anders. Das musste man ihm nicht mehr sagen. Wenn anders bedeutete, keine unschuldigen Menschen zu töten, war er es gerne. Aber warum beunruhigte ihn der Klang dieses Wortes dann noch so? Es war, als würde irgendetwas unheilvolles daran lasten. Offenbar schien Dan zu erahnen, was Kenai beschäftigte.

„Das hörst du scheinbar öfters“, vermutete er. „Ich kann dir leider nicht sagen wieso, aber du hast irgendetwas an dir, was ich noch nie gesehen haben … Irgendetwas in deinem Blick … Als … Ich weiß nicht recht …“ Er kniete sich nieder, um Kenai besser in die Augen sehen zu können. „Es ist als … als …“ Seine Stimme brach. Schwer schluckend richtete er sich wieder auf und bedeckte kurz sein Auge. Waren ihm etwa die Tränen gekommen? Nein. Das würde keinen Sinn machen. „Tut mir leid“, sagte er schließlich. „Mir fehlt wohl Schlaf. Hier. Trink das.“ Kenai schluckte die kleingemahlenen Kräuter herunter. Der Brühe war zäh und brannte, doch sie schmeckte nicht unangenehm. Doch plötzlich verklärte sich sein Blick.

„Was-“

„Es verhilft zu einem schmerzlosen Schlaf.“

Kenai blinzelte, versuchte gegen das seltsame Kribbeln anzukämpfen, das sich in ihm ausbreitete, doch langsam kippte sein Kopf nach vorne und ihm fielen die Augen zu.
 

Es dämmerte, als Kenai langsam die Augen wieder öffnete. Das Lager war noch in tiefem Schlummer gehüllt. Überall lagen die Feuerkrieger auf dem Boden herum und schnarchten leise, während ein paar unglückliche noch immer Pflichtbewusst Wache standen.

„Morgen“, flüsterte eine Stimme. „Du siehst übrigens furchtbar aus.“

Kenai sah auf. Der andere Junge war ebenfalls wach und sah ihn an mit einem zugeschwollenen Auge und mit zahlreichen Blutergüssen übersäht erschöpft an. „Du auch.“

Der Junge rang sich zu einem müden Lächeln durch, doch es erreichte nicht seine Augen. Mehr Worte wechselten sie nicht miteinander.

Langsam erwachte das Lager zu neuem Leben. Nach und nach erhoben sich die Krieger, entzündeten ein Feuer und aßen die Reste vom gestrigen Abend. Irgendwann kam Dan zu ihnen. „Shizon will dich sprechen“, sagte er und band Kenai vom Pfahl los. Wortlos führte er ihn zum umgefallenen Megalithen. Shizon saß dort im Schneidersitz. Auf seinem Schoß lag ein Speer, den er grade fest verschnürte. Er sah nicht auf, als Kenai vor ihn hin geführt wurde.

„Ich hoffe, du bist heute gesprächiger.“

„Ich weiß nicht, wo die Wasserbändiger sind“, sagte Kenai, obwohl er genau wusste, dass Shizon ihm nicht glauben würde. „Ich kann dir nicht sagen, was ich nicht weiß.“

„Wie du willst“, sagte dieser nur ungerührt. Er hob den Speer in die Luft, um seine Balance zu testen. „Zoran. Du weiß, was zu tun ist.“

Grinsend trat der Koloss auf Kenai zu und leckte sich die Zähne. „Aber mit dem größten Vergnügen.“ Und mit diesen Worten rammte er ihm die Faust in den Magen. Stöhnend taumelte Kenai zurück, schaffte es jedoch irgendwie auf den Beinen zu bleiben.

„Wie viele seid ihr?“

Das war endlich mal etwas, auf das Kenai tatsächlich eine Antwort hätte geben können. Doch obwohl er sich vor Zorans geballter Kraft fürchtete, brachte er sie einfach nicht über die Lippen. Shizon brauchte den Befehl gar nicht erst zu erteilen. Aus den Augenwinkeln sah Kenai, wie Zoran zu einem neuerlichen Schlag ausholte, doch dieses Mal war er schneller. Er duckte sich seitlich unter den Hieb hinweg, doch plötzlich traf ihn Zorans linke so heftig in die Seite, dass er aufschrie und wie ein nasser Sack zu Boden ging. „Dachtest wohl du könntest mich austricksen, was?“, höhnte der Koloss gehässig. „Vergiss es.“ Mit diesen Worten trat er ihm noch einmal in die Seite. Sterne explodierten vor Kenais Blick. Um ihn herum erfüllte gedämpftes Lachen die Luft.

„Für einen Wasserkrieger bist du ziemlich dumm“, urteilte Shizon gleichgültig. „Deine Gefährten hätten sich lieber selbst umgebracht als in Gefangenschaft zu geraten.“

„Ich bin nicht wie sie“, presste Kenai zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Dein Pech und unser Glück. Ich frage dich noch einmal: Wie viele seit ihr?“

Mit Schmerz verzehrtem Gesicht schaffte es Kenai, sich auf seine Knie aufzurichten. Übelkeit regte sich in ihm und er musste einen Moment die Augen schließen, bevor er langsam den Kopf schüttelte. Im nächsten Moment traf ihn Zorans Schlag so heftig auf die Brust, dass es ihm den Atem raubte. Hustend und japsend lag er auf der Erde und von überall her hagelte höhnisches Gelächter auf ihn nieder.

„Was für ein Vollidiot“, meinte einer.

„Der ist Frischfleisch.“

„Ich hab’s doch gesagt! Ich hab’s doch gesagt! Die Wasserleute, alles Weicheier. Habe ich’s nicht gesagt? Habe ich’s euch nicht gesagt? Guckt mal! Hättest dich wohl lieber umbringen sollen, was? Zu feige, um es selbst zu beenden. Und zu blöd, um einfach den Mund aufzumachen. Stehst wohl auf Schmerzen, was? Hättest wohl doch nicht spionieren sollen, was?“

„Hey, Zoran! Darf ich auch mal?“

„Vergiss es!“, schnauzte der Koloss sofort. „Such dir deinen eigenen Spion.“

„Ich bin kein Spion“, sagte Kenai leise, doch er war nicht sicher, ob ihm überhaupt jemand zuhörte. „Ich habe mit eurem dummen Krieg nichts zu tun.“

„Was hast du gesagt?“, fragte ihn Shizon gebieterisch. „Wenn du was zu sagen hast, sprich lauter.“

Erschöpft schüttelte Kenai den Kopf. „Ich bin kein Krieger“, sagte er und war überrascht, wie einfach ihm dieses Eingeständnis über die Lippen kam. „Ich kämpfe nicht in diesem Krieg. Ich habe niemanden ein Leid zugefügt und ich habe noch nie jemanden getötet. Ich bin noch nicht einmal sicher, ob ich es jemals könnte.“ Vor seinem geistigen Auge tauchte das zerstörte Dorf wieder auf. Er fühlte das Zittern der Erde, als die Welle über ihn herein brach, hörte die verzweifelten Rufe der Überlebenden und sah die Leiche der namenlosen Frau stumpf in den Himmel starren. Tränen brannten in seinen Augen.

„Ich will es auch gar nicht!“ Angestrengt stemmte er sich wieder auf die Beine. Einen Moment lang schwankte er, doch dann straffte er die Schultern. „Du kannst mich fragen, was du willst, Shizon. Ich werde dir nichts sagen. Genau so wenig wie du irgendetwas sagen würdest, wenn du an meiner Stelle wärst.“ Es war schlagartig Muchs Mäuschen Still geworden. Shizon sah ihn an und zum ersten Mal hatte Kenai das Gefühl, dass er ihn wirklich wahrnahm.

„Der Kerl ist vollkommen irre“, murmelte einer der Krieger perplex.

„Der glaubt doch nicht im ernst, dass wir ihm das abkaufen“, entgegnete ein anderer.

„Was für ein Spinner“, lachte einer und nach und nach vielen immer mehr von den Männern ein, bis die ganze Lichtung von schallendem Gelächter erfüllt wurde. Nur Dan und Shizon blieben stumm. Langsam erhob sich der Anführer der Feuerkrieger von seinem Platz und starrte auf den Jungen nieder, der in seinem langen Schatten stand.

„Töte ihn.“

Augenblicklich griffen zahlreiche Hände nach Kenai, die ihn wieder auf die Knie zwangen. Shizons Worte hallten wie ein Donnerschlag in ihm wieder. Wie im Traum sah er, wie jemand Zoran einen Dolch zu warf, den dieser mit einem breiten Lächeln geschickt auffing. Mit dem Gesichtsausdruck eines Kindes, dem man grade ein wunderbares Geschenk gemacht hatte, fuhr er mit dem Daumen über die Klinge, während er sich genießerisch die Lippen leckte. Kenai starrte das Messer an. Er war mit einem Mal sehr ruhig, obwohl er nicht wusste warum. Jeder normale Mensch würde jetzt um sein Leben flehen, doch die ganze Szene war so surreal, dass das unmöglich grade passieren konnte. Es machte einfach keinen Sinn, dass fremde Hände ihn zu Boden drückten, dass sich vor ihm ein blutlüsterner Koloss erhob und eine scharfe Klinge im Licht der Morgensonne aufblitzte, die dazu bestimmt war ihm die Kehle aufzuschlitzen oder sich ihm ins Herz zu bohren. Das konnte einfach nicht sein. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er in wenigen Augenblicken tot in seinem eigenen Blut liegen sollte, tausende von Meilen von seinem zu Hause entfernt. So grausam konnten die Geister nicht sein. Geister … Kenai spürte, wie ihm plötzliche Angst die Kehle zuschnürte. Sein Herz begann zu rasen. Schweiß trat auf die Stirn, als ihm plötzlich wieder etwas einfiel, was er fast vergessen hatte. Die Erinnerung brach mit solch einer Wucht über ihn herein, dass es ihm schier den Atem raubte.

Tsai Shen.

Mana hatte vermutet, dass Tsai Shen ihn mochte, weil er bald sterben könnte. Kenai hatte das für einen schlechten Scherz gehalten. Jetzt war er sich dessen mit einem Mal nicht mehr so sicher. Überhaupt nicht mehr!

Zoran sah ihn an. In seinen Zügen war nichts menschliches mehr zu erkennen. Er sah aus wie ein Tier, das bereit war sich auf seine hilflose Beute zu stürzen. Er hielt den Griff des Dolches so fest umklammert, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten, dennoch war seine Hand ruhig. Das Gesicht war vor Aufregung leicht gerötet, die Zähne gefletscht. Was jedoch wirklich furchteinflößend war, war der gnadenlose Glanz in seinen Augen, als er vor Kenai auf den Boden spuckte.

„Ich werde es schön langsam und qualvoll machen“, versprach Zoran grinsend.

Kenai hatte daran keine Zweifel. Verkrampft zwang er sich dazu auf den Boden zu starren. Er hatte nicht den Mut dazu Zoran weiter ins Gesicht zu sehen. Doch das war keine gute Idee. Kaum war der Koloss aus seinem Gesichtsfeld verschwunden, überschlug sich seine Vorstellungskraft in blanke Panik. Die Welt verdunkelte sich, als wäre schlagartig die Finsternis über ihn hereingebrochen. Sein Herz raste so schnell und hart, dass er das Gefühl hatte, als würde es seine Brust sprengen und davon eilen wollen, fort von diesem Ort, der es auf ewig zum Stillstand bringen wollte.

Bummbumm-bummbumm-bummbumm-bummbumm-bummbumm.

Es schmerzte, es schrie. Er zitterte.

Bummbumm-bummbumm-bummbumm.

Zorans Schatten tanzte vor seinem Gesicht, geformt aus einer Lache von Blut. Seinem Blut. Es wand sich und krümmte sich und schien nach ihm greifen zu wollen, als sich ein Teil davon löste, das erschreckende Ähnlichkeiten mit einem Arm hatte, der einen tödlichen Dolch in Händen hielt.

Bummbummbummbumm-bummbummbummbumm.

Angstschweiß durchnässte Kenais Kleider, jagte ihm einen eisernen Schauer durch Leib und Seele. Er spürte, wie sich die Griffe jener, die ihn auf die Erde zwangen, verfestigten. Dutzende von Stimmen dröhnten in seinen Ohren, doch sie verschwammen in einem Gewirr aus Leben, eines, was er in wenigen Sekunden nicht mehr mit ihnen teilen konnte. Doch auch sie wurden leiser, gedämpft vom Rauschen des Blutes, das durch seine Adern schoss, als würde es sich darauf vorbereiten, jeden Moment mit Gewalt aus ihm heraus zu schießen. Schließlich war es nur noch der Klang seines rasenden Herzens, der ihn erfüllte.

Bummbummbummbummbummbummbummbummbumm.

Kenai schloss die Augen. Der blutige Schatten verschwand. Nichts rührte sich. Alles war stumm. Dann, ganz plötzlich, hörte er ein leises scharfes Klingen, als der Dolch die Luft zerschnitt und auf ihn nieder rauschte.

Bumm.

Kenai entspannte sich plötzlich. Es war seltsam, als wäre er seinem Körper mit einem Mal entrückt. Seine Angst war wie weggeschlagen, seine Hinrichtung bedeutungslos. Sie war unausweichlich. Es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Er war einer von vielen, die in diesem Sinnlosen Krieg ihr Leben ließen.

Wahrscheinlich war es seine Schuld. Er hatte seinen Vater betrogen, als er sich heimlich davon geschlichen hatte um den Lügen seines Onkels zu folgen. Er hatte sich für die Worte eines Fremden entschieden und nicht für die Weisheit des Mannes, den er sein ganzes Leben lang gekannt hatte. Es musste so enden. Wahrscheinlich war das von vorneherein bestimmt gewesen. Die Stimme hatte ihn an diesen Ort geführt, damit er hier sterben konnte. Nur die Geister konnten den Sinn dahinter kennen. Kenai kannte ihn nicht. Es war ihm nicht bestimmt den Grund zu kennen. Es gab so viele Fragen, so viele Dinge noch zu tun, aber sie bekümmerten ihn nicht mehr. Sie waren nicht wichtig. Wichtig war nur dieser eine Moment, dieser Atemzug, mit dem er sein Leben aushauchen würde.

Manche sagten, der Tod eines Mannes würde sein ganzes Leben bestimmen und der letzte Atemzug würde beweisen, wer man sein ganzes Leben lang gewesen war. Es war das Ende, an das man sich später erinnern würde. Selbst der größte Feigling konnte in seinen letzten Momenten zum Helden werden, während der größte Held um Gnade flehte. Der letzte Moment war das Spiegelbild der Wirklichkeit.

Kenai wusste nicht, wie man sich an ihn erinnern würde, falls überhaupt, aber in diesem Moment war ihm eines mit Gewissheit klar: Er hatte Mitleid. Er wusste nicht woher dieses Gefühl mit einem Mal kam. Es war einfach da, ganz plötzlich. Zoran war wahnsinnig. Der Krieg hatte ihn in ein Monster verwandelt. Im Gegensatz zu ihm, der eine behütete Kindheit genossen hatte, hatte er die Gier nach Kampf und Blut mit der Muttermilch aufgesogen. Wer weiß, was für ein Mensch aus ihm geworden wäre, wenn er nicht vom Chaos umgeben wäre. Vor so jemanden konnte man keine Angst haben. So eine Kreatur konnte man nur bedauern. Und das galt nicht nur für ihn, sondern für alle. Für jeden dieser armen Seelen, die sich im Gewirr aus Hass und Angst verloren hatten. Vor ihnen brauchte man sich nicht zu fürchten. Man konnte nur Mitleid mit ihnen haben.

Mit diesem Gedanken öffnete Kenai die Augen und hob den Kopf, bereit den Tod erhobenen Hauptes zu begegnen, doch das, was er sah, verwirrte ihn. Er konnte Zoran nicht sehen. Im ersten Augenblick dachte er, dass er gestorben war ohne es zu merken, doch dann begriff er, dass das keinen Sinn machen würde. Die Welt schien ihm entrückt, doch gleichzeitig war sie ihm noch nie so klar erschienen. Um ihn herum standen in einem großen Kreis die Feuerkrieger, die noch vor wenigen Sekunden seinen Tod gefordert hatten, doch sie sahen ihn nicht an. Sie schienen mit einem Mal ihr Interesse für ihn verloren zu haben. Stattdessen galt ihre Aufmerksamkeit etwas, was direkt vor Kenai passierte.

Dan stand zwischen ihm und seinem Henker, die Hände hoch erhoben, als hätte er einen Schlag abgewehrt, der nicht ihm gegolten hatte. Kenai musste zweimal hinsehen um zu erkennen, dass der Einäugige ein Messer in der Hand hielt, dessen Klinge sich tief in sein Fleisch bohrte. Doch das schien ihn nicht zu stören. Unendlich langsam, so schien es, nahm er die Hände herunter und stieß jemanden von sich weg, der von dem, was immer auch eben passiert war, so überrascht war, dass er dieser stummen Aufforderung folgte leistete. Erst jetzt erkannte Kenai Zoran, der Dan anstarrte, als wäre dieser der Leibhaftige persönlich.

„Was hast du gesagt?“, fragte er fassungslos, die Stimme triefend vor blankem Entsetzen.

Langsam ließ Dan das Messer zu Boden fallen. „Ich habe nein gesagt“, sagte dieser ruhig. „Ich lasse nicht zu, dass ihr ihn tötet.“ Diese Worte kamen einem Verrat gleich, selbst Kenai erkannte das. Dazu brauchte er nicht die Krieger, die entsetzt und ungläubig nach Luft schnappten. Dazu brauchte er auch nicht Shizon, der sich von seinem steinernen Thron erhob und Dan ansah, als könne er nicht glauben, was er da eben gehört hatte und in seinem Falle war das kein gutes Zeichen.

„Was hast du gesagt?“, fragte er im leisen Flüsterton, doch seine Stimme war so schneidend, dass ihn jeder hören konnte.

„Ihr dürft ihn nicht töten“, sagte Dan, der nun doch ein klein wenig angespannt wirkte.

„Warum nicht?“ Kenai wusste nicht ob das eine ernst gemeinte Frage war, oder nur der verzweifelte Versuch sich davon abzuhalten, dem einäugigen Mann nicht sofort an die Kehle zu gehen. Der stolze Krieger umklammerte seinen Speer so fest, dass das weiß seiner Knöchel deutlich hervortrat.

Dan warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah Kenai an, der nichts anderes tun konnte als zurück zu sehen, als hätte er vergessen wie man sprach. „Ich glaube nicht, dass es gut wäre, wenn wir ihm ein Leid zufügen“, sagte Dan an seine Kameraden gewandt, bevor er Shizon direkt in die Augen blickte. „Uns könnte großes Unheil heimsuchen, wenn wir ihm was antun.“

Shizons Augenbraue zuckte gefährlich. „Wieso glaubst du das?“

„Sieh dir den Jungen genau an, Shizon. Erkennst du es denn nicht?“

„Was soll ich erkennen?“

Das war eine sehr gute Frage. Kenai hatte keine Ahnung worauf Dan eigentlich hinaus wollte. Warum war er noch am Leben? Warum hatte der Mann ihn beschützt? Was ging hier vor sich? Er war verwirrt. Irritiert sah er sich um und erst jetzt bemerkte er, dass man ihn losgelassen hatte. Mit zittrigen Knien stand er auf. Niemand hinderte ihn daran. Dan drehte sich wieder zu ihm um und legte ihm seine blutende Hand auf die Schulter. Sanft bedeutete er ihm neben ihn zu treten. Kenai folgte der Aufforderung. Verwirrt sah er von ihm zu Shizon und als er diesen ansah, hatte er aus irgendeinem Grund nicht das Gefühl, einen stolzen Anführer vor sich zu sehen. Shizon wirkte auf ihn auf einmal … anders. Er wusste nicht wie er es beschreiben sollte. Grade eben hatte dieser Mann ihn zum Tode verurteilt, doch nun wirkte er zwar zornig, doch es kam ihm vor, als würde er damit nur eine plötzlich aufgekeimte Unsicherheit überspielen wollen. Er sah ihn an als würde er ihn mit Blicken töten wollen, doch Kenai, benommen wie er war, begegnete seinem Blick ohne auch nur der geringsten Spur von Furcht. Was war hier los?

„Was soll ich sehen?“, fragte Shizon scharf. „Ich bin nicht in Stimmung für Spielchen.“

Traurig schüttelte Dan den Kopf. „Ich kann es nicht erklären, aber …“ Er seufzte und rieb sich den Nacken, wobei er ein Gesicht machte, als würde er hastig nach einem guten Grund für sein Einschreiten suchen. Wieder sah er Kenai an. „Es ist … Ich glaube ihm“, sagte er schließlich schlicht. „Ich glaube ihm, dass er nichts mit dem Krieg zu tun hat. Sieh ihn dir doch an. Wie alt bist du, Junge? Fünfzehn, sechzehn? Auf keinen Fall älter. Und doch kann man ihm seine Unschuld an der Nasenspitze ansehen. Hast du je jemanden in dem Alter gesehen, der so unschuldig wirkt?“

„Tarnung!“, knurrte Zoran.

„Das kann man nicht tarnen“, erwiderte Dan. „Das weißt du so gut wie wir alle zusammen. Wir wissen, wie unsere Jungen sich verändern, wenn wir sie zum ersten Mal in die Schlacht schicken. Man kann es in den Augen sehen, den Unterschied zwischen jemanden, der schon einmal getötet hat und dem, der nicht. Du rühmst dich doch damit so etwas sofort erkennen zu können.“ Zoran schnaubte nur abfällig. „Seine Augen sind nicht die eines Kriegers, der schon einmal getötet hat. Seine Augen sind die eines Kinders, das den Krieg mit Abscheu betrachtet. Hast du schon einmal jemanden mit solchen Augen gesehen, Shizon? In dem Alter? Selbst der Luftbändiger da hinten hat es bereits getan und der ist bestimmt ein oder zwei Jahre jünger als der hier. Gibt dir das nicht auch zu denken?“

„Du strapazierst meine Geduld“, grollte Shizon.

„Was ich sagen will ist eigentlich nur, dass du gründlich darüber nachdenken solltest, ob du ihn wirklich töten willst. So jemanden wie ihn gibt es heute nur noch selten. Wenn überhaupt. Es wäre ein Verbrechen ihm aus einer Laune heraus etwas anzutun. Außerdem juckt mein großer Zeh wenn ich ihn ansehe.“ Ein Schaudern ging durch die Runde und die Krieger machten allesamt einen Schritt nach hinten, fort von Kenai, der den Versuch aufgegeben hatte irgendetwas von dem was hier grade vor sich ging verstehen zu wollen. „Und du weißt, Shizon, wann mein großer Zeh juckt.“

Shizon sagte nichts. Stattdessen war er Zoran, der seine Muskeln spielen ließ. „Du lügst doch!“

„Mein Zeh lügt nicht. Wenn er juckt, dann juckt er. Wenn Zuzus Nase kribbelt gibt es schlechtes Wetter. Da zweifelst du auch nicht dran. Und wenn mein großer Zeh juckt, sind die Geister zornig. Wir sollten kein Risiko eingehen.“

Das kauft ihm doch keiner ab, schoss es Kenai durch den Kopf. Umso überraschter war er, als er in den Gesichtern der Menschen um ihn herum Furcht und Zweifel erkennen konnte. Selbst Shizon schien mit einem Mal unsicher zu sein. Die Stirn in tiefe Falten gelegt, sah er Dan lange nachdenklich an. Er war noch immer wütend, doch die Wut schien nicht so groß zu sein wie die Furcht vor Dans juckendem Zeh.

Irgendwo in der Ferne war ein lautes Heulen zu hören. Shizon sah auf und sah in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Dann betrachtete er seinen Speer, bevor er den Blick über seine Männer schweifen ließ, die er eingehend betrachtete. Am Ende wandte er sich ab. „Wir werden später darüber reden. Jetzt kümmern wir uns erst einmal um dieses vermaledeite Biest. Noch einmal wird es uns nicht entkommen. Aber sei dir gewiss, Dan, dass das ein Nachspiel haben wird. Zoran, du kommst mit uns. Abmarsch.“ Mit diesen Worten verließ er den Megalithen und bahnte sich seinen Weg durch die Menge, um, von einem Großteil seiner Männer begleitet, im Wald zu verschwinden.

Zoran folgte nicht sofort. Wie versteinert stand er einfach nur da und starrte Dan und Kenai abwechselnd an. Krampfhaft balle er die Hände zur Faust, seine Augenbraue zuckte gefährlich und in seinen Augen lag ein irrer Glanz, der selbst Nuka hätte erschaudern lassen, doch Kenai beunruhigte dieser Blick nicht mehr. Schließlich stieß Zoran einen fürchterlichen Fluch aus und trottete den Jägern schlecht gelaunt hinterher. Gleichzeitig packte Dan Kenai am Arm und zog ihn zurück zu den Pfählen. Wäre der Junge nicht so durcheinander gewesen, hätte er bemerkt welche Gelegenheit zur Flucht ihm sich nun bot, doch er erkannte sie nicht. Ehe er sich versah, band ihn Dan auch schon wieder an den Pfosten, wofür er dank seiner verletzten Hand eine Weile brauchte.

„Warum hast du das getan?“, fragte ihn Kenai mit rauer Stimme.

Dan sah ihn nicht an, während er an den Seilen herumfummelte. Immer wieder zuckte er heftig dabei zusammen. „Weil mein Zeh juckt.“

„Ernsthaft?“

„Ernsthaft. Ich hatte einmal eine Begegnung mit einem Geist. Seit dem meldet sich mein Zeh, wenn wir kurz davor sind etwas zu tun, was die Geister in der Nähe verärgern könnte.“

„Ich hatte auch eine Begegnung mit einem Geist“, sagte Kenai, „und mein großer Zeh juckt nicht.“

Ruckartig sah Dan auf. „Du hast einen Geist gesehen? Und du hast überlebt?“

„Du doch auch.“

Einen Moment lang war Dan vollkommen verblüfft, dann bleckte er halb schmunzelnd, halb schmerzhaft die Zähne. „Knapp. Hat mich mein Auge gekostet. Leg dich nie mit Geistern an. Das bekommt den Lebenden nicht gut. Shizon weiß das. Deswegen wird er es sich vorher gut überlegen, wann er sein Todesurteil wiederholen wird. Ich habe dir nur mehr Zeit verschafft. Mehr nicht.“

„Wirst du Ärger bekommen?“

Dan zuckte nur mit den Schultern und zog das Seil fest. „Wird wohl auf die Jagt ankommen. Wenn sie gelingt und er Erfolg hat, wird er so gute Laune haben, dass er die ganze Angelegenheit vergisst. Dieses Biest hat ein paar gute Leute auf dem Gewissen. Hast du ja an deinem ersten Tag hier gesehen“

„Was für ein Biest?“

„Ein Wolfsbär.“

Anyu, schoss es Kenai durch den Kopf. Das musste Anyu sein! Bestimmt war sie es, die vorhin geheult hatte. Natürlich war sie das gewesen! Warum hatte er das nicht sofort erkannt? Anyu war hier in der Nähe! Bestimmt würde sie ihn holen kommen! Einen Moment lang strahlte er, dann bekam er es plötzlich mit der Angst zu tun. Die Feuerkrieger machten jagt auf sie. Hoffentlich erwischten sie sie nicht. Das letzte, was er wollte, war, dass Anyu in die Hände dieser Wahnsinnigen fiel. Hoffentlich ging es ihr gut.

„Du freust dich?“, fragte Dan verwundert. „Wolfsbären sind gefährlich. Sie zu töten gilt als besonderes Zeichen des Mutes.“

„Wieso töten und nicht zähmen? Das wäre doch die größere Herausforderung.“

„Zähmen?“ Dan runzelte die Stirn. „Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Autsch.“ Er zuckte zusammen, als er versehentlich die Hand falsch bewegte. Blut tropfte auf die Erde. Wortlos wandte er sich ab, um sich behandeln zu lassen. Kenai sah ihm nach, immer noch nicht richtig begreifend, dass er noch am Leben war.

„Das war knapp“, sagte der gefangene Junge ihm gegenüber. „Du lebst noch.“

Kenai sah ihn an. „Yeah …“ Er lebte tatsächlich. Benommen wandte er den Kopf und versuchte die Stelle zu entdecken, die er beinahe mit seinem eigenen Blut getränkt hätte, doch sie lag außerhalb seines Blickfeldes. Dan hatte ihm das Leben gerettet.

„Ich lebe …“ Ein Schaudern lief ihm über den Rücken. Es war, als würde plötzlich eine eisige, tödliche Kälte von ihm abfallen. Frische Luft füllte seine Lungen. Blut raste durch seine Venen. Sein Herz schlug kräftig in seiner Brust. Die Sonne zog hoch am Himmel entlang und wärmte seine Haut. Der Geruch von Gras und Feuer stieg ihm in die Nase. Noch nie hatte es so intensiv gerochen. Er schloss die Augen. Er konnte die Erde spüren. Er spürte wie sie lebte, wie sie atmete, ähnlich wie er. Er konnte fühlen, wie sie leicht bebte, wenn sich irgendjemand regte. Kenai gab sich ihr hin, schien sich mit ihr zu verbinden. Noch nie hatte er sich so lebendig gefühlt. Er lebte. Er war nicht tot. Er konnte fühlen, wie sich seine Sinne erweiterten, als wollten sie sein zweites Leben feiern, wie sie durch die Weiten der Erde jagten. Wahrscheinlich bildete er es sich nur ein, aber es war ihm, als könne er plötzlich alles sehen. Obwohl sehen nicht das richtige Wort dafür war. Es war vielmehr eine Art erahnen, oder eher Einbildung, die seinen überschwänglichen Gefühlen zu verschulden waren. Er sah, wie Dan seine Messerwunde versorgte, während Shizon und seine Leute durch den Wald streiften, auf der Suche nach Anyu, die ihren Durst an einem Wasserloch stillte, plötzlich die Ohren aufstellte und sich wachsam umschaute. Sie sah nicht gut aus, aber wahrscheinlich war das nur seine Sorge, die ihm einen Streich spielte. Es war auch nicht wichtig. Er lebte und sie lebte auch. Sie würde nicht zulassen, dass die Feuerjäger sie erwischte. Immerhin war sie ihnen schon einmal entkommen. Aber da war noch mehr, viel mehr, vielleicht zu viel.

Kenai öffnete seine Augen, löste sich von den Weiten der Erde. Die Sonne blendete ihn. Er blinzelte. Und plötzlich lachte er.

„Geht es dir gut?“, fragte der Junge beunruhigt und zweifelnd zugleich.

Kenai sah ihn mit funkelnden Augen strahlend an. „Ich bin noch am Leben!“

Kenai mochte der Hinrichtung knapp entgangen sein, doch er war noch immer ein Gefangener der Feuerkrieger. Die im Lager verbliebenen Männer taten, was sie für gewöhnlich auch taten. Sie aßen, arbeiteten an ihren Waffen oder schoben wache. Nur zwei von ihnen, vom Alter her gehörten sie wohl zu den jüngeren, übten sich im Ringkampf, der so still vonstattenging, dass es eher wie ein stummer Tanz wirkte. Selbst Kenai und der Junge wagten es nicht sich leise zu unterhalten. Was immer sie sich zu sagen gehabt hätten, die im Lager verbliebenen würden jedes Wort ohne Probleme verstehen können. So hingen sie einfach nur in ihren Seilen und warteten darauf, dass die Zeit verstrich.

Es war Nachmittag, als die Idylle endete. Es kam plötzlich und traf die Männer vollkommen unerwartet.

Es war mucksmäuschenstill im Lager. Nichts war zu hören, mit Ausnahme eines leichten Windes, der die Äste der Bäume erzittern ließ. Doch dann knackte es im Unterholz. Eine der Wachen wirbelte herum. Alles, was man von ihm im Lager hören konnte, war ein markerschütternder, panischer Schrei, der abrupt verstummte.

Sofort waren die verbliebenden Männer auf den Beinen. „Habt ihr das gehört?“, fragte einer von ihnen.

„Werden wir angegriffen?“, fragte ein anderer.

„Geht auf eure Positionen“, wies Dan sie an, der mit seiner gesunden Hand einen Dolch aufhob und sich zu seinen Gefangenen stellte. Die anderen Männer gehorchten ihm, beunruhigt von der plötzlichen Stille, die mit einem Schlag über ihnen lag. Die Anspannung, die sie ergriff, war spürbar. Selbst Kenai schluckte. Sein Blick wanderte zum anderen Jungen, der auffallend bleich geworden war.

„Deine Leute?“, fragte er ihn.

Bei dem Gedanken zuckte der Junge zusammen. „Ich hoffe nicht.“

Diese Antwort verwirrte Kenai, doch ihm blieb nicht die Zeit ihn danach zu fragen, denn plötzlich war es ein markerschütterndes Heulen, dass allen Anwesenden das Blut in den Adern gefrieren ließ. Die Erde erbebte. Es Donnerte und Krachte, als würden Bäume ausgerissen werden. Ein Knurren, als würde es direkt aus den Tiefen der Hölle kommen, drang aus den Weiten des Waldes auf sie zu. Die Männer wechselten keinen Blick miteinander. Mit erhobenen Waffen und bereit zu bändigen, waren sie bereit dem Grauen zu begegnen. Doch sie hatten keine Ahnung, was sie da erwarten würde. Kenai wusste es.

„Binde mich los“, sagte er sofort zu Dan, der ihm wachsam den Rücken zugewandt hatte. „Du musst mich sofort losbinden!“ Kenai würde nie erfahren, ob der Einäugige seiner Aufforderung an dieser Stelle nachgekommen wäre, denn in dem Moment brach eine monströse Bestie aus dem Wald hervor. Wie ein Dämon stürzte sie sich auf die ersten Männer, die sie erreichen konnte. Mächtige Kiefer krachten mit solcher Wucht aufeinander, dass sie Steine hätten zermahlen können. Wenn die Männer nicht vor Schreck umgefallen wären, hätte sie die Wucht des Bisses in Stücke gerissen. Doch die Sekunde, die der erste Angriff dauerte, war Zeit genug für die restlichen Männer um sich wieder zu fangen.

Einer von ihnen reagierte blitzschnell. Seine Muskeln zitterten vor Anspannung, als er zum Schlag ausholte, der sich in einer mächtigen Flamme entlud, die alles auf ihren Weg verbrannte und der Bestie das Fell versenkte. Ein fürchterliches Geräusch, halb Schmerz, halb unbändige Wut, entlud sich in einem markerschütterndem Geheule. Die Kreatur wirbelte herum, schnappte zu und schleuderte den Angreifer quer durch die Luft, wo er regungslos auf der Erde liegen blieb. Nun war sie jedoch erst richtig wütend. Mit einem dämonischen Brüllen hob sie eine ihrer mächtigen Pranken und ließ sie auf einen anderen Mann niedersausen, der sie mit einem Speer attackierte. Holz splitterte. Knochen brachen. Ein ersticktes Röcheln entrann dem Mann aus der Kehle, dann brach er blutüberströmt zusammen. Das gleiche Schicksal teilte ein anderer Mann, der mit Steinen warf, doch dann zerfetzten wieder einige Feuersalven die Luft und steckten die ersten Bäume in Brand. Brüllend stürzte sich die Bestie auf die Feuerbändiger. Blut spritzte, Schreie erfüllten die Luft.

Mit blankem Entsetzen verfolgte Kenai das makabre Schauspiel. Er erbleichte. Jeder Laut, jeder Schrei waren wie gellende Peitschenschläge. Blut. Überall war Blut. Die Luft stank nach Rauch und verbranntem Fell. Rauchschwaden schlangen sich zart dem Himmel entgegen. Bäume brannten. Sie knirschten und Krachten und erbebten im markerschütterndem Geheul der wilden Bestie, die wie ein tödlicher Sturm um sich herum wirbelte und nach allem schnappte was sich bewegte. Zum ersten Mal verstand Kenai, warum die Menschen bei dieser Kreatur vor Grauen erschauderten.

„ANYU!“, brüllte Kenai, doch seine geliebte Wolfsbärin hörte ihn nicht. „ANYU!!!“ Verzweifelt stemmte er sich gegen die Fesseln, die sich schmerzhaft in sein Fleisch bohrten, doch er spürte sie nicht. Hilflos musste er mit ansehen, wie sich Anyu auf jeden stürzte den sie erreichen konnte, während sie gleichzeitig von allen Seiten attackiert wurde. Verfallen im Blutrausch spürte sie ihre zahlreichen Wunden nicht. „Binde mich los!“, flehte Kenai Dan an, doch dieser verfolgte mit blankem Entsetzten das grausame Schauspiel. „Du musst mich losbilden! Sofort! LOSBINDEN!“ Hilfe bekam Kenai plötzlich von dem anderen Jungen, der einmal tief Luft holte und ein strammer Wind Dan überraschend ins Wanken brachte. „Mach mich los!“, rief Kenai noch einmal. „Bitte! ANYU!“

Dan drehte sich um. Sein Gesicht war aschfahl, das Auge vor Entsetzen geweitet. Einen Moment lang schien es, als hätte er Kenai nicht gehört, doch dann gab er sich einen Ruck, sprang hinter Kenai und machte sich hastig daran die Fesseln zu lösen. Doch es schien endlos lange zu dauern. Zum Warten verdammt musste Kenai beobachten, wie sich die Krieger langsam an Anyus Angriffe gewöhnten, die begannen unter ihren mächtigen Pranken hinweg zu tauchen und zu springen. Überall loderten heiße Feuer auf. Rauch brannte Anyu in Augen und Nase. Steine wurden gegen ihren mächtigen Körper geschleudert, Speere und Dolche schnappten nach ihren Flanken. „Komm schon“, knurrte Kenai hektisch. „Komm schon, komm schon, komm schon!“ Plötzlich spürte er, wie sich die Fesseln lösten und schwer zu Boden fielen. Ein fürchterlich prickelnder Schmerz peitschte durch seine Hände und Arme, als er sie zum ersten Mal seit Tagen bewegen konnte. Es war schier unerträglich. Tränen schossen ihm in die Augen und verklärte seinen Blick, doch sein blankes Entsetzen und die panische Angst um Anyu ließen alles um ihn herum vergessen. Wie von Sinnen rannte er los, die Muskeln zum Zerreißen angespannt. Mit einem Satz war er in der Luft. „LASST SIE IN RUHE!“, brüllte er, als er sich auf die Krieger stürzte. Noch in der Luft holte er zum Schlag aus und bohrte seine Faust mit solcher Wucht in den Boden, das die Erde erschütterte. Es krachte, als sie auseinander brach und sich ein Riss in rasender Geschwindigkeit auf die Krieger zubewegte. Hastig sprangen sie zur Seite, doch Kenai war darauf schon vorbereitet. Die Fäuste zum Kampf erhoben, machte er nur einen Schritt.

Es war, als würde ein elektrischer Schlag durch seinen Körper jagen, der seine Sinne tanzen ließ. Er konnte die Erde spüren. Er fühlte, wie sie zitterte, als er begann sie nach seinem Willen zu lenken. Er streckte nur eine einzige Hand aus und sofort raste ein Erdschwall auf einen der Männer zu, der im hohen Boden durch die Luft geschleudert wurde. Der zweiten Hand folgte ein weiterer Schwall, der einen weiteren Mann von den Füßen riss. Ehe er wusste, wie ihm geschah, hing er auch schon kopfüber an einem Baum. Doch Kenai ruhte sich danach nicht aus. Geschmeidig drehte er sich halb um die eigene Achse, die Arme angriffsbereit vor der Brust verschränkt. Als er mit dem Fuß auftrat, schnellte ein Felsbrocken in die Luft, den er mit solcher Wucht auf seine Widersacher schleuderte, das sie buchstäblich überrollt wurden.

Plötzlich sauste eine Feuersbrunst nur knapp an seinem Gesicht vorbei. Kenai wirbelte herum. In einer einzige Bewegung schoss abermals ein Felsbrocken in die Höhe, dem er einen mächtigen Tritt verpasste. Doch der Feuerbändiger wich aus und setzte zum Gegenschlag an, der jedoch nie kam, denn in dem Moment schoss ein Pfahl aus dem Boden, der sich ihm brutal in den Magen bohrte. Schaum quoll aus seinem Mund, als er benommen zur Seite kippte. In der selben Bewegung schnellte eine scharfe Klinge aus der Erde, die die Seile des noch immer gefesselten Jungen durchschnitten, der mit weichen Knien zu Boden sackte.

„Anyu!“, rief Kenai, als die meisten Gegner endlich aus dem Weg geräumt waren. Eilig rannte er auf die Wolfsbärin zu. „Anyu!“ Plötzlich blitzten messerscharfe Zähne vor seinem Blick. Erschrocken sprang er einen Schritt nach hinten, was ihm wahrscheinlich das Leben rettete. Anyu heulte. In ihren dunklen Augen lag ein bestialischer Glanz, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Wieder schnappte sie nach ihm. Hastig sprang er zur Seite. „Anyu!“, rief er noch einmal. „Ich bin es! Erkennst du mich denn nicht? Ich bin es! Anyu!“ Brüllend stürzte sie sich auf ihn. Ihre mächtigen Pranken streifte sein Hemd und riss es an der Seite in Fetzen, doch er schaffte es noch rechtzeitig zur Seite zu weichen. Sofort war er ganz nah an ihr heran und klammerte sich an ihren Hals. „Anyu. Es ist gut. Es ist alles gut. Ich bin es, Kenai! Bitte. Hör auf damit!“ Sie bäumte sich auf und riss ihn mit sich in die Höhe. Als sie sich schüttelte, rutschte er ab und landete unsanft auf dem Rücken. Im nächsten Moment stand sie direkt über ihm, die Pranke zum tödlichen Schlag erhoben. „ANYU!!!“ Wind kam auf und zerzauste ihm das Haar, trug seinen Duft direkt in Anyus zerkratzte Nase. Ihre Nasenflügel blähten sich auf, als sie einen vertrauten Geruch wahrnahm. Ihr mächtiger Körper wankte, als sie sich auf ihre Pranken fallen ließ. Keuchend starrte sie Kenai an, der es nicht wagte sich zu rühren. Beide starrten sich an, Auge in Auge. Dann, ganz plötzlich, stieß Anyu ein leises Fiepen aus. Traurig lächelnd steckte Kenai seine Hand und berührte sie sanft an der Schnauze. „Ach Anyu …“

Plötzlich hob Anyu ruckartig den Kopf. Mit angelegten Ohren starrte sie in den Wald hinein, aus dem seltsame Geräusche drangen. Kenai verschwendete keine Sekunde. Sofort sprang er auf Anyus Rücken. Er konnte spüren, wie ihre Muskeln zitterten, doch er hatte keine Zeit sich darum zu kümmern. „Wir müssen weg hier. Schnell!“ Sofort rann Anyu los, vorbei an Dan, der hastig zur Seite wich, ohne auch nur die geringsten Anstalten zu machen sie aufzuhalten. Genau im gleichen Augenblick konnte Kenai aus den Augenwinkeln sehen, wie Shizon und seine Männer aus den Wald heraus stürmten. Sofort trieb er Anyu weiter zur Eile an, dann löste er seinen Griff um ihr Fell, neigte sich zur Seite und griff nach dem Jungen, um ihn hinter sich auf den Rücken zu zerren, was schwerer war als erwartet. Feuer schoss knapp an ihnen vorbei. Sie konnten die Hitze auf ihrer Haut spüren. Kenai warf einen kurzen Blick über die Schulter, seine Hand krampfhaft um den Arm des Jungen geschlungen, der an Anyus Seite baumelte. Sie wurden verfolgt. Unter anderen Umständen hätte Anyu ihnen mühelos entkommen können, doch sie war verletzt und hatte noch nie zuvor das Gewicht von zwei Menschen tragen müssen. Sie waren viel zu langsam. Wieder verfehlte sie ein Flammenstoß nur um Haaresbreite.

„SCHNAPPT SIE EUCH!!!“, brüllte Shizon aus Leibeskräften.

Den Befehl hätte er sich sparen können. Beinahe alle seine unverletzten Männer hatten sich bereits an ihre Fersen geheftet, allen voran Zoran, der trotz seiner bulligen Gestalt überraschend schnell zu Fuß war. Flammen schossen aus seinen Händen, die Fauchend die Luft zerrissen und verbrannte Erde hinterließen, wo immer sie sie trafen.

Einer von ihnen streifte den Jungen am Arm, der laut Brüllte vor Schmerz. Sein Körper taumelte hin und her und entglitt beinahe Kenais Griff, dessen Muskeln unter der Last zu zerreißen schienen. Er konnte ihn nicht mehr lange halten. Dennoch biss er die Zähne zusammen und betete zu den Geistern, dass irgendein Wunder geschah.

Ein Speer sauste knapp an ihm vorbei und bohrte sich vor ihnen tief in die Erde. Anyu preschte daran vorbei, doch der Junge griff nach dessen Schaft. Der Ruck kam so plötzlich, das es Kenai beinahe mit zur Erde riss, doch er schaffte es irgendwie auf Anyus Rücken zu bleiben. Der Junge allerdings rollte über den Boden und stemmte sich sofort wieder auf die zitternden Beine. Er hielt den Speer wie eine Lanze vor sich gestreckt. Ganz allein stand er da, ein einziger Junge, dem eine ganze Horde wütender Feuerkrieger gegenüber stand. Eine wahre Feuersbrunst raste auf ihn zu. Wie eine Welle aus Feuer bäumte sie sich vor ihm auf. Die Welt schien in Flammen zu stehen. Der Wald standen in Flammen. Dicker Rauch verpestete die Luft und brannte in den Augen. Überall war die Erde versenkt oder brannte ebenfalls. Schwarze Flecken sprenkelten den Boden und die Felsen, die wie Dornen aus der Erde ragten. Doch selbst das harte Gestein schien der Hitze nicht gewachsen zu sein, die alles um sich herum verzerren ließ. Wenn der Flammenstoß sie traf, würde nichts als verbrannte Asche von ihnen übrig bleiben.

Doch da holte der Junge mit dem Speer aus. Er hob ihn hoch in die Luft und verharrte einen flüchtigen Moment lang so, dann ließ er ihn mit ganzer Kraft auf die Erde schnellen und entfesselte dabei einen Sturm, der eine schmale Schneise durch die Walze brach und die ersten Verfolger von den Beinen riss. Die Flammen jedoch schossen links und rechts noch weiter in die Höhe und ließen die Bäume vor Schmerzen kreischen. Ein fürchterliches Knirschen und Krachen dröhnte ihnen alle in den Ohren. Holz splitterte. Äste stürzten auf die brennende Erde herab. Funken stoben auf, die vom Wind hinfort geweht wurden und weitere Bäume in Brand setzte. Einige Leute schrien. Durch den Rauch konnte Kenai sie nicht sehen. Er konnte nur vermuten, dass einige Feuerkrieger unter den herabstürzenden Zweigen begraben wurden. Doch sie hörten nicht auf. Weitere Flammenstöße zerfetzten die Luft, die der Junge mit dem Speer abzuwehren versuchte. Der lange Stab wirbelte herum, blockte, was es zu blocken gab und trieb die Angreifer immer wieder zurück, was jedoch das Feuer immer weiter anschürte.

Es war ein Bild wilder Zerstörung, das sich Kenai offenbarte. Die Hitze brannte auf seiner Haut und trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Seine Augen begannen zu tränen, doch er schaffte es nicht seinen Blick von dem Geschehen abzuwenden. In seinem Inneren regte sich etwas.

Ehe er wusste, was er tat, war er auch schon von Anyus Rücken gesprungen. Er war wie elektrisiert. Sein ganzer Körper schien zu beben. Sein Inneres vibrierte. Das Heulen der brennenden Bäume dröhnte in seinen Ohren. Feuer leckte nach seiner Haut. Doch all das nahm er nur verschwommen wahr. In seiner Brust tobte ein Sturm, den er sich nicht erklären konnte.

Der andere Junge hingegen versuchte sein bestes, die Feuerbändiger zurückzutreiben, die immer wieder versuchten sie zu umzingeln. Doch immer wenn sie auseinander Stoben, trieb ein schneidender Wind sie wieder zusammen oder riss sie heftig von den Füßen. Doch seine Bewegungen begannen sich zu verkrampfen. Immer mehr Feuerstöße bahnten sich seinen Weg zu ihm und versenkten seine Kleider. Und dann war da plötzlich Zoran. Wie aus dem Nichts sprang er über einen brennenden Baumstamm hinweg, der dem Jungen die Sicht versperrte. Mit brennender Faust stürzte er sich auf ihn. Dieser riss den Speer hoch, doch dieser entglitt seinen schwitzigen Händen. Zoran warf einen gewaltigen Schatten. Seine Faust zog einen flammenden Schweif hinter sich her. Sie durchschnitt die Luft. Es zischte. Brannte. Der Junge duckte sich, doch Zoran war schneller. Er schlug zu und …

… wurde von einer mächtigen Steinplatte durch die Luft geschleudert, die donnernd aus der Erde schnellte. Mit einem Satz sprang Kenai darauf. Mit einer unerklärlichen Wut im Bauch, riss er seine Arme nach oben. Er konnte es spüren, das Beben der Erde, die unzähmbare Wut der Natur. Es krachte und donnerte, als sich der Boden seinem Willen beugte. Die Bäume erzitterten. Risse schnellten zwischen den Wurzeln hervor. Die Erde hob und senkte sich als würde sie atmen und mit jedem Atemzug wurden die Risse gewaltiger. Unter ohrenbetäubendem Lärm brachen die Bäume entzwei als wären sie aus Pappe. Flammen fauchten auf und Funken stoben in den Himmel, als sie krachend zu Boden fielen. Die Feuerkrieger stoben auseinander, doch einige stolperten oder verfingen sich mit dem Fuß in der wütenden Erde, die immer stärker erzitterte und sich aufzubäumen begann. Kenais Muskeln schienen zu bersten, doch verbissen stemmte er seine Hände dem Himmel entgegen, als würde ein schier unerträgliches Gewicht auf ihnen lasten. Er konnte die geballte Kraft der Erde auf sich ruhen spüren. Immer weiter und weiter stemmte er sie in die Höhe. Er spürte das Zittern, das Beben, die Macht, den Schmerz, die Wut. Noch weiter, noch ein kleines Stück, ermahnte er sich und stemmte weiter. Seine Knie zitterten wie Espenlaub und knickten ein, doch er kämpfte weiter. Wie von Sinnen stemmte er die unsichtbare Kraft, die unter seinen Füßen tobte, die er aber mit jeder Faser seines Körper spürte. Die Erde hob und senkte sich. Sie brach. Bröckelte. Die Risse zogen sich immer weiter durch den Wald. Unheilvoll umhüllten sie das flammende Inferno. Erde türmte sich auf, versuchte sich dem Feuer entgegen zu stemmen. Die Feuerkrieger bekamen es mit der Angst zu tun. Ihre Angriffe stoppten abrupt und Hals über Kopf stürzten sie davon, wobei sie immer wieder stolperten. Kenai hörte jedoch nicht auf. Jede Faser seines Körpers war zum Zerreißen angespannt. Seine Muskeln barsten. Knöchel und Sehnen stachen aus seinem Körper hervor. Seine Adern pulsierten und protestierten lautstark gegen die fürchterliche Kraft, die er zu stemmen versuchte. Er schrie. Eine Mischung aus Schmerz und schier unmenschlichem Trotz entlud sich in einem fürchterlichen Donnergrollen, als die Erde mit einem Schlag in sich zusammen brach.

Es war, als wäre die Hölle über den Ort hereingebrochen. Dicker Staub verklärte die Luft und lag wie ein unheilvolles Tuch über den Bäumen, das alles Licht verschluckte. Die Geräusche, die daraus hervortragen, ließen alle Lebewesen die Haare zu Berge geschehen. Es Donnerte, Krachte, Fauchte, Dröhnte, als wären Dämonen über sie hereingebrochen. Panisch eilten die Feuerbändiger davon. Versuchten von diesem unheilvollen Ort zu fliehen, doch der Staub holte sie ein und hüllte sie in Dunkelheit. Zitternd warfen sie sich auf den Boden oder klammerten sich an die Äste und flehten zu den Geistern. Alles zitterte, alles brach. Keiner wusste mehr wo sie waren. Niemand wusste was hier geschah. Alles passierte gleichzeitig und doch konnten sie nichts sehen. Es gab nur die Geräusche, diese furchtbaren Geräusche, die sie zu erschlagen schien.

Plötzlich war es still. Nichts rührte sich. Kein Laut ertönte. Zitternd begannen die Krieger sich zu erheben. Erst einer, dann ein zweiter und schließlich folgten alle anderen. Zoran stemmte sich mit schmerzverzehrtem Gesicht auf die Beine und hustete sich den Staub aus der Lunge, der sich langsam zu legen begann. Fluchend spuckte er auf den Boden und griff sich an den schmerzenden Schädel. „Dieser verfluchte Mi-“, begann er, doch der Rest des Satzes blieb ihm im Halse stecken, als der Staub sich endlich in Gänze legte. Von den beiden Jungen und der Wolfsbärin war nichts mehr zu sehen. Zurückgeblieben war nur ein riesiges Trümmerfeld aus zermalmter Erde, die ihnen den Weg versperrte. Kein Stein stand mehr auf dem anderen. Nichts sah mehr so aus wie zuvor. Kein Baum stand mehr an seinem Platz. Nichts brannte mehr. Kein Baum, kein Strauch. Nichts. Die Erde selbst hatte sich vor ihnen aufgetan.

Nicht weit entfernt schleppte sich Anyu so schnell sie konnte durch den Wald. Sie schwankte. Immer wieder prallte ihr massiger Körper gegen die Bäume, doch sie lief weiter, immer weiter. Tief hängende Zweige schlugen ihnen ins Gesicht. Felsen und Wurzeln säumten ihren Weg. Ihre Schritte wurden immer schwerer, doch sie kämpfte sich weiter, Schritt für Schritt. Doch dann konnte sie nicht mehr. Vor ihr erstreckte sich ein breiter Bach. Sie sprang, flog über ihn hinweg. Sie landete. Doch in dem Moment brachen ihre Beine unter ihr zusammen und sie stürzte. Die beiden Jungen wurden von ihrem Rücken geschleudert. Im hohen Bogen flogen sie durch die Luft, während die Wolfsbärin über den Boden rollte und schließlich wimmernd und fiepend regungslos liegen blieb.

Mit einem lauten Platschen landete Kenai im Bach. Eiskaltes Wasser raubte ihm für einen Moment die Sinne. Atemlos rollte er sich auf die Seite und stemmte sich hoch, doch seine zitternden Hände gaben nach und er sackte zurück. Keuchend versuchte er es noch einmal. Seine Hände gruben sich tief ins schlammige Ufer, als er sich keuchend auf die Beine Zwang. Er schwankte, doch irgendwie schaffte er es sich hinzustellen. Sein Blick verschwamm. Energisch schüttelte er den Kopf, doch das brachte ihn aus dem Gleichgewicht und er landete wieder im Wasser. Dieses Mal wartete er einige Sekunden, bevor er es noch einmal versuchte. Irgendwie schaffte er es auf den Beinen zu bleiben. Mühsam und am ganzen Leib zitternd kroch er aus dem Bach. Seine Arme und Beine brannten fürchterlich. Sie schmerzten, als hätte jemand versucht sie ihm auszureißen. Er sehnte sich danach sich auf die Erde sinken zu lassen und in einen tiefen Schlaf zu gleiten, doch sein Blick suchte verzweifelt nach Anyu. Da lag sie. Nicht weit von ihm. Genau da, wo der Bach sich gabelte. Ihr Körper bebte. Ein oder zwei Pfeile schienen aus ihrem Körper zu ragen, doch er war sich nicht sicher. Das Licht war zu schwach. Mühsam schritt er auf sie zu. Ein Fuß nach dem anderen. Sein Körper fühlte sich schwer an. Bei jedem zweiten Schritt strauchelte er und doch schleppte er sich mit hängenden Schultern weiter, bis-

-ihn ein plötzlicher Sturm von den Füßen riss. Hilflos wirbelte er durch die Luft und krachte hart auf die Seite. Alles drehte sich wild um ihn herum, so dass er seine Augen schließen musste. Als er sie wieder öffnete, stand der Junge über ihn. Dieser hielt noch immer den Speer in der Hand, den er auf Kenais Kehle drückte. Das Gesicht war vollkommen ausdruckslos.

„Du bist ein Erdbändiger“, sagte er tonlos. Kenai sagte nichts. „Sie haben gesagt du wärst ein Wasserkrieger.“ Kenai sagte noch immer nichts. Der Speer drückte ihn in den Hals, so dass er es kaum wagte zu atmen. „Wieso dachten sie, dass du ein Wasserkrieger bist?“

Kenai schluckte. Er öffnete den Mund, doch er schloss ihn wieder. Sein Blick glitt am Jungen vorbei auf Anyu, die sich kaum rührte. „Anyu …“, keuchte er flach. „Ich muss zu Anyu …“

Der Junge sah zur geschwächten Wolfsbärin hinüber, ohne jedoch Kenai aus den Augenwinkeln zu lassen. „Du bist ein Erdbändiger“, sagte er noch einmal. „Ich muss dich töten.“ Kenai sah ihn nicht an. Seine ganze Aufmerksamkeit galt allein Anyu.

„Anyu …“ Er konnte den wachsenden Druck auf seiner Kehle spüren. „Bitte … Sie braucht mich …“

Der Junge verfestigte seinen Griff. Wieder sah er zur Wolfsbärin, dann sah er wieder Kenai an, der ihm in die Augen blickte. Die beiden sagten kein Wort. Sie sahen sich einfach nur an. „Du hast mein Leben gerettet“, sagte er schließlich. Er ließ den Speer sinken und trat von ihm zurück. „Obwohl du ein Erdbändiger bist. Ich lasse dich gehen … Dieses eine Mal.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand zwischen den Bäumen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er irgendwie traurig aus.

Kenai hatte keine Zeit sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Mühsam stemmte er sich wieder auf die Beine und schlurfte zu Anyu hinüber, die leise fiepend auf dem Boden lag. Mit halb geöffneten Augen sah sie zu ihm auf. Kenai rang sich zu einem traurigen Lächeln durch, als er ihr vorsichtig übers Fell strich. Einige Stellen waren in Blut getränkt, andere verbrannt. Einige Wunden waren schon älter und verkrustet, doch zum Teil waren sie wieder aufgebrochen. „Ach, Anyu“, hauchte er mitleidsvoll. Seine Hand blieb an einem Pfeil stehen, der in ihrer Flanke steckte. Ein weiterer ragte an ihrem Bauch heraus. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er sie. „Ich muss sie rausziehen“, murmelte er. Er griff nach dem ersten Pfeil nah am Schaft. „Das wird jetzt weh tun.“ Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als er den Pfeil auch schon mit einem kräftigen Ruck heraus zog. Ein schmerzvolles Heulen entrann Anyus Kehle und sie verkrampfte sich. Kenai zog den zweiten Pfeil heraus. Blut quoll aus der Wunde hervor und tropfte auf den Boden. „Du hattest Glück, mein Mädchen“, sagte er und kraulte sie beruhigend hinter den Ohren. „Die Pfeile waren nicht besonders tief. Aber dennoch müssen die Wunden dir weh tun, nicht wahr?“ Sie fiepte kaum hörbar. „Ich bin weder Kaija noch Mana, aber ich werde sehen, was ich tun kann. Ich muss deine Wunden waschen. Versuch dich zu entspannen.“ Anyus Kopf kippte leicht zur Seite und ihr verkrampfter Körper entspannte sich kaum merklich.

Kenai atmete ein paar Mal tief durch und kämpfte seine Erschöpfung nieder. Es dauerte lange, bis er das Wasser spüren konnte. Es war, als würde irgendetwas sein Gespür für das Element dämpfen. Zäh wie Gummi zog es sich dahin, als er es träge aus dem Flussbrett zu heben versuchte. Doch es landete plätschernd auf dem Boden. Wieder versuchte Kenai es. Das Wasser hob sich hoch in die Luft, wo es schimmerte und funkelte. Langsam kehrte sein Gefühl dafür zurück. Mit einem eleganten Schwung rauschte es durch die Luft und legte sich sanft auf Anyus Wunden. Ein schwaches, warnendes Knurren entrann ihrer Kehle. Verwundert runzelte Kenai die Stirn. Plötzlich hörte er ein leises Geräusch. Sofort wirbelte er herum. Wie eine Peitsche schnellte das Wasser durch die Luft. Doch plötzlich klatschte es wirkungslos auf den Boden.

Am Bach stand kein Feuerkrieger, wie Kenai erwartet hatte. Der Junge war zu ihm zurückgekehrt. Mit großen Augen starrte er ihn an, als wäre der Leibhaftige persönlich. Seine Arme klammerten sich um den Speer, als würde er ihn irgendwie schützen können vor dem, was ihn ganz offensichtlich ängstige. Und dieses etwas war ganz offensichtlich Kenai. „Was bist du?!“, fragte er entsetzt.

Kenai erstarrte. Ungläubig starrte er den Jungen an. Er hatte ihn gesehen. Er hatte ihn beim Bändigen gesehen! Panik regte sich in ihm. Sein Herz begann heftig zu rasen, als würde es am liebsten davonrennen wollen.

Vorsichtig trat der Junge einen Schritt näher, denn Speer immer noch zum Angriff bereit. „Wie- wie hast du das gemacht?!“

Kenai antwortete nicht. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Warum war der Junge nur zurückgekehrt? Warum hätte er nicht einfach fort bleiben können? Er hatte keine Ahnung was er nun machen sollte. Warum hatte der Junge ihn nur sehen müssen?!

Neben ihm regte sich plötzlich etwas. Mit einem drohenden Knurren versuchte sich Anyu auf die Beine zu stemmen und löste damit Kenais Starre. Sofort sprang er auf und versuchte sie daran zu hindern. „Nein, nicht!“, flehte er, stellte sich ihr in den Weg und griff nach ihrer Schnauze. „Du darfst noch nicht aufstehen! Du musst dich ausruhen!“ Sie starrte ihn an. Er konnte sein eigenes Spiegelbild in ihren hellen Augen sehen, die sich langsam von ihm abwanden und hinüber zum Jungen glitten, der die Szene unruhig mit ansah. „Vergiss ihn“, flüsterte ihr Kenai beruhigend zu und begann sie zu kraulen. „Du hast genug getan. Leg dich hin. Bitte, Anyu. Genug.“ Sein Flehen wirkte. Ein Zittern ging durch ihren mächtigen Körper und sie ließ sich wieder zu Boden fallen. Sie seufzte, schloss die Augen und begann fast augenblicklich zu schlafen. Erleichtert grub Kenai sein Gesicht in ihr zerzaustes Fell. Sie war wieder bei ihm. Die Feuerkrieger hatten sie nicht erwischt. Sie hatten ihr stark zugesetzt, ja, aber die Wunden würden heilen. Sie hatte ihn gerettet. „Danke Anyu“, flüsterte er mit erstickter Stimme.

„Du bist merkwürdig“, sagte der Junge plötzlich. Kenai wandte sich um. Der Junge stand noch immer an Ort und Stelle, doch er hatte seinen Speer ein wenig sinken lassen. „Du hast vorhin die Erde gebändigt. Ich habe es gesehen. Und grade hast du das Wasser gebändigt. Wie hast du das gemacht?“ Kenai biss fest die Zähne zusammen. Er hatte keine Ahnung was er antworten sollte. „Was bist du?“, hakte der Junge nach. Scheinbar traute er sich nicht näher zu kommen, doch seine Furcht schien sich etwas gelegt zu haben. Kenai musterte ihn. Wie Dan gesagt hatte, schien er etwas jünger zu sein als er selbst, doch mit dem Speer in der Hand wirkte er um einiges reifer, aber auch gefährlicher. Kenai zweifelte keine Sekunde daran, dass er ihn noch einmal angreifen würde. Er musste auf der Hut sein.

„Nimm den Speer runter“, sagte er zu ihm. Mit einem mal fühlte er sich unglaublich müde. „Ich habe keine Lust zu kämpfen. Du etwa?“

Der Junge runzelte die Stirn. Einen Augenblick lang schien er nachzudenken, dann wirbelte er den Speer herum und rammte ihn in den Boden. „Nein.“ Dennoch machte er immer noch keine Anstalten sich ihm zu nähern. „Wer bist du?“

„Ich bin Kenai“, stellte sich Kenai vor. Ihm fiel etwas ein, eine Dunkle Erinnerung an die Erwähnung eines Paktes, und so fügte er noch etwas hinzu. „Ich komme vom Wasserstamm.“

Der Junge neigte leicht den Kopf zur Seite. „Ich bin Kalden von den Luftbändigern. Aber wenn du vom Wasserstamm bist, wieso hast du eben Erde gebändigt?“

Kenai seufzte resigniert. „Keine Ahnung“, sagte er. Es war nicht so, dass er diesem Kalden traute, doch der Schaden war bereits angerichtet und leugnen brachte nichts mehr. „Ich kann es einfach.“ Er konnte die Verwirrung und die Verwunderung in Kaldens Gesicht erkennen. Er wollte diesen Blick nicht sehen. Er hatte das Gefühl ihn nicht ertragen zu können und so befahl er der Erde eine sichere Kuppel um sich und Anyu zu schließen, so schnell, dass dem Luftbändiger keine Zeit zum Reagieren blieb. Dunkelheit umhüllte Kenai und mit einem mal fühlte er sich unglaublich müde. Er legte sich neben Anyu und schlief fast augenblicklich ein.
 

Kenai wusste nicht, wie lang er geschlafen hatte, doch als er die Kuppel wieder verschwinden ließ und ihn die warmen Sonnenstrahlen begrüßten, hatte er das Gefühl, dass es eine Ewigkeit gewesen sein musste. Seine Glieder waren steif. Seine Gelenke knackten bei der kleinsten Bewegung und es gab nichts, was ihm nicht weh tat. Dennoch fühlte er sich nicht wirklich schlecht. Seine Gedanken waren klarer wie zuvor. Er fühlte sich etwas besser. Er befand sich nicht mehr in Gefangenschaft. Es erwarteten ihn kein Verhör und keine Schläge mehr. Er war frei und dieser Gedanke schaffte es tatsächlich, ihm ein leichtes Lächeln auf die Lippen legen zu lassen. Es war doch immer wieder erstaunlich, was ein tiefer Schlaf alles erreichen konnte.

„Guten Morgen“, erklang plötzlich eine Stimme. Kenai zuckte heftig zusammen. Kalden hatte er völlig vergessen. Der junge Luftbändiger saß auf einen Baum und blickte auf ihn hinab. „Keine Feuerkrieger weit und breit“, berichtete er. Mit einem Satz landete er sanft neben Kenai auf dem Boden. „Sie scheinen uns nicht verfolgt zu haben. Zumindest noch nicht.“

„Gut“, hörte sich Kenai sagen, der sich innerlich bereits darauf vorbereitete, wieder ausgefragt zu werden. Sofort hatte sich seine Laune wieder verschlechtert.

„Dennoch sollten wir so schnell wie es geht von hier verschwinden“, fuhr Kalden fort, der Kenais Unbehagen nicht zu bemerken schien. „Je weiter weg wir sind, desto besser. Ich habe übrigens ein paar Beeren gesammelt. Es war nicht leicht welche zu finden. Willst du welche?“ Er reichte ihm eine Hand voll Beeren. Mit gerunzelter Stirn starrte Kenai sie an. Misstrauen regte sich in ihm. Warum war der Junge so freundlich? Weil die Wasserkrieger und die Luftkrieger Verbündete waren? Kenai wusste es nicht, doch ehe er sich versah hatte er schon nach den Beeren gegriffen und sie sich in den Mund gesteckt. Ein Schauder durchfuhr ihn. Sein Gesicht verzehrte sich und er fletschte die Zähne, als ein widerlicher Geschmack seine Kehle herunter rann.

„Bäh. Sauer.“

Kalden lächelte verkniffen. „Entschuldige. Aber was anderes habe ich nicht gefunden. Hier gibt es nicht viel Auswahl, es sei denn man mag Tannenzapfen.“

Kenai hatte das Gefühl, dass er im Moment alles hätte essen können, doch als sein Blick auf einen der schwarzen, verschrumpelten Tannenzapfen auf dem Boden fiel, verwarf er den Gedanken sofort. Eine unangenehme Stille entstand zwischen ihnen. Die beiden sahen sich schweigend an. Kenai wusste was Kalden beschäftigte. Es stand ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass man es unmöglich übersehen konnte. Aber er dachte nicht daran ihm irgendeine Antwort zu geben. Nicht, dass er eine gehabt hätte. Es ärgerte ihn ungemein, dass Kalden es herausgefunden hatte. Doch nun konnte er es nicht mehr ändern und das beängstigte ihn. Was würde jetzt mit ihm passieren? Allein beim Gedanken daran krümmte sich ihm der Magen.

„Ich habe da mal eine Frage“, begann Kalden langsam. Etwas nervös rieb er sich den Nacken und irgendwie schien er plötzlich reges Interesse an einem abgeknickten Zweig zu haben, der über ihren Köpfen an einem Ast baumelte. Kenais Kehle wurde schlagartig trocken. Jetzt waren sie wieder an diesem Punkt angelangt.

„Wie hast du es geschafft einen Wolfsbären zu zähmen.“

Kenai blinzelte. „Wie bitte?“

„Wie hast du es geschafft einen Wolfsbären zu zähmen?“

Irgendwie passte das, was Kalden sagte, nicht zu dem, was Kenai erwartet hatte. Verdattert sah er den jungen Luftbändiger an. „Wolfs … bären?“, fragte er langsam. Dann machte es klick. „Du meinst Anyu?“, fragte er, heil froh darüber, dass das Gespräch nicht in eine gefürchtete Richtung ging. „Ich habe sie als Welpen gefunden und aufgezogen.“ Er ging auf Anyu zu, die noch fest am Schlafen war. Als er jedoch begann ihr hinter dem Ohr zu kraulen, hob sie kurz den Kopf und gähnte herzhaft, bevor sie sich wieder platt auf den Boden legte. „Ich habe sie nicht wirklich gezähmt. Wir sind einfach nur Freunde.“

Kalden pfiff anerkennend durch die Zähne. „Das war wirklich so einfach?“

„Wir beide hatten nie Probleme miteinander.“ Zumindest keine nennenswerten, gestand er im stillen und dachte dabei an all die kleineren Zwischenfälle, die es gegeben hatte, wie etwa die mangelnde Stubenreinheit oder die Angewohnheit alles zu zerkauen, was ihr zwischen die Zähne kam, am liebsten Kenais Kleidung. Unwillkürlich musste er grinsen, doch das verging ihm schlagartig, als er Anyus verwundeten Leib betrachtete. Vorsichtig betrachtete er eine ihrer zahlreichen Brandverletzungen.

„Wird sie wieder?“, fragte Kalden besorgt. Kenai fiel auf, dass er sich im respektvollen Abstand zu Anyu hingekniet hatte und ihn aufmerksam beobachtete.

„Sie braucht Ruhe“, antwortete er.

„Die hat sie aber nicht. Die Feuerleute können jeden Moment hier auftauchen. Die dürften richtig sauer auf uns sein.“

Kenai erschauderte bei dieser Vorstellung. Sauer dürfte noch eine leichte Untertreibung sein. Er wollte erst gar nicht wissen was Shizon und Zoran mit ihm anstellen würden, wenn er ihnen jemals wieder unter die Augen kam. „Du hast recht.“ Seufzend kniete er sich neben Anyu und vergrub seinen Kopf in ihren Hals. „Hast du gehört, mein Mädchen? Ich weiß, dass du müde und erschöpft bist, aber du musst aufstehen. Wir haben uns genug ausgeruht. Wir müssen weiter. Ich weiß, dass du das kannst. Du hast doch schon viel schlimmeres durchgemacht als das hier. Davon lässt du dich doch nicht unterkriegen, oder? Wir suchen uns irgendwo ein nettes Fleckchen, wo wir uns ausruhen können. Bis dahin musst du dich zusammenreißen, verstanden? Wenn wir da sind, suche ich dir auch ein wenig Honig. Wie klingt das?“ Beim Wort Honig hatten sich Anyus Ohren schlagartig aufgerichtet. Mühsam stemmte sie sich in die Höhe, strauchelte und knickte mit den Hinterbeinen ein. Kenai zerbrach es fast das Herz, doch die Wolfsbärin gab sich einen Ruck und irgendwie schaffte sie es auf den Beinen zu bleiben. „Du honigsüchtiges Etwas“, neckte er sie liebevoll.

Sofort sprang Kalden leichtfüßig auf die Füße. „Sehr gut. Ich werde langsam unruhig. Es ist nie gut zu lange an einem Ort zu bleiben. Man weiß nie wer in den Büschen lauert.“

Verwundert sah Kenai ihn an. „Willst du etwa mit uns kommen?“

„Natürlich“, antwortete Kalden überrascht. „Was soll ich denn sonst machen? Ich habe keine Ahnung wo ich hin soll und zu dritt reist es sich viel angenehmer.“

„Was ist mit deinen Leuten?“

Kaldens Miene verfinsterte sich schlagartig. „Ich habe keine Ahnung wo sie sind und ich will es auch gar nicht wissen.“ In Kenai rührte sich etwas.

„Du bist wohl nicht gut auf sie zu sprechen, was?“

Traurig schüttelte der Junge den Kopf. „Nein … Aber du wohl auch nicht, oder?“ Er sah ihn offen an und Kenai spürte, wie er sich innerlich ein wenig entkrampfte. Er konnte förmlich Kaldens Bitterkeit spüren, die ihn so sehr an seine erinnerte, wann immer er an seine eigenen Brüder dachte. Ehemaligen Brüder, verbesserte er sich wieder.

„Nein“, gestand er. „Nicht so wirklich.“

„Also kann ich mitkommen?“, fragte Kalden hoffnungsvoll. Kenai zuckte nur mit den Schultern. Er musste daran denken, dass der Junge ihn verschont hatte, als er die Möglichkeit gehabt hatte ihn zu töten und er war genau wie er von den Feuerkriegern gefangen genommen und gefoltert worden. Vielleicht konnte er ihm dabei helfen sich nicht ganz wie ein Fremdkörper in dieser Welt zu benehmen. „Wenn Anyu nichts dagegen hat“, urteilte er schließlich.

Kalden verzog augenblicklich eine Grimasse. „Anyu?“ Er sah die Wolfsbärin an und schluckte, dann gab er sich einen Ruck und näherte sich ihr vorsichtig. „Hallo Anyu“, sagte er. Sie sah ihn an und er zuckte kaum merklich zusammen, fasste sich jedoch wieder. „Ich bin Kalden“, stellte er sich ihr vor. „Danke, dass du mich gerettet hast. Ähm … hast du was dagegen, wenn ich euch begleite?“ Dass sie ihn dieses Mal nicht anknurrte, schien ihm Mut zu machen. Mit einem beherzten Schritt stand er direkt vor ihr. Ihre Augen bohrten sich in seine und sie Sog scharf die Luft ein, als würde sie die kleine Spur von Heimtücke wittern können, doch dann wandte sie ihren Blick von ihm ab und schleppte sich zum Bach, wo sie mühsam ein paar Schlucke trank. „Das ist gut, oder?“

„Zumindest wird sie dich nicht gleich fressen“, scherzte Kenai. Auch er kniete sich neben den Bach und trank noch ein paar Schlucke, dann warf er Kalden einen knappen Blick zu, der den Himmel betrachtete. „Weißt du was das hier für eine Gegend ist?“

„Nein, nicht wirklich. So weit im Norden war ich noch nicht.“

„Wir sind im Norden?“

„Natürlich. Wusstest du das nicht?“

„Um ehrlich zu sein habe ich keine Ahnung wo hier überhaupt irgendetwas ist.“ Alles war so groß. Bei sich zu Hause hatte er alles gekannt, jeden einzelnen Stein, doch hier war ihm nicht nur alles fremd, es war auch viel zu groß für ihn, um sich davon ein Bild zu machen. „Irgendeinen Vorschlag, wohin wir gehen könnten?“

„Auf jeden Fall nicht da lang.“ Kalden nickte in die Richtung, aus der sie geflohen waren. „Und wenn wir in die Richtung gehen“, sagte er und deutete nach Osten, „stoßen wir auf zu viele Erdbändiger.“

Nachdenklich runzelte Kenai die Stirn. Dann blieb nur der Norden und der Westen, was auch immer das für ihn bedeutete. Er hatte nicht die geringste Ahnung. Wohin wollte er eigentlich? Ein Gefühl des verloren seins regte sich in ihm. Bisher war er immer drauf los gestürmt, hatte darauf vertraut, schon irgendwo hin zu kommen, ohne sich darüber Gedanken zu machen. Doch jetzt, wo er es zum aller ersten Mal tat, wusste er nicht was er machen sollte. Nicht einmal das ihm wohlbekannte ziehen war ihm behilflich, denn er spürte es grade nicht. Er versuchte in sich hinein zu horchen, doch es schien zu schlafen. „Hast du irgendeine Ahnung was uns nördlich oder westlich erwartet?“ Abgesehen von den Feuerkriegern, war er auch nicht sonderlich erpicht darauf seinen ehemaligen Brüdern über den Weg zu laufen.

“Nördlich könnten ein paar Luftbändiger sein“, meinte Kalden gedehnt, der mit seinen Augen den Horizont abzusuchen schien. „Aber ich bin mir nicht sicher. Wie deine sind sie nie lange an einem Ort.“ Plötzlich holte er tief Luft, pustete auf den Boden und wurde hoch in die Luft katapultiert. Erschrocken wirbelte Kenai herum und starrte nach oben. Sein Herz begann zu raßen. Er fliegt!, schoss es ihm ungläubig durch den Kopf. Er fliegt! Hoch oben, über den Bäumen, schwebte Kalden, schwebte tatsächlich, und sah sich um, als würde die Zeit still stehen. Bei allen Geistern. Sein Onkel hatte zumindest in dieser Hinsicht nicht gelogen. Menschen konnten fliegen! Doch genau da sank Kalden wieder, fiel in die Tiefe, drehte sich einmal um sich selbst und landete mit einer kleinen Staubwolke wieder auf den Füßen. Er wirkte besorgt.

„Irgendetwas ist in unserer Nähe.“

Kenai hörte ihn nicht. Fasziniert starrte er ihn an, das Herz rasend vor Begeisterung. „Du bist geflogen.“

„Ich … was?“ Einen Moment lang war Kalden verwirrt.

„Geflogen! Wie hast du das gemacht?“

„Geflogen? Ich? Nein. Ich bin nur hoch in die Luft gesprungen.“

„Gesprungen?“ Kenai glaubte ihm kein Wort. „Das waren locker fünfzehn Meter!“

„Tatsächlich? Ich dachte es wären weniger. Aber egal!“ Er packte Kenai am Arm und zog ihn hastig wieder auf die Beine. „Da kommt etwas. Vielleicht sind es die Feuerkrieger. Wir müssen weg.“

Bei der Erwähnung der Feuerkrieger fasste sich Kenai wieder. Er nickte, konnte es sich jedoch nicht verkneifen, noch einmal in den Himmel zu blicken. Genau in dem Augenblick huschte eine kleine Kreatur über ihn hinweg. „Was war das?“

„Was war was?“

„Da war grade etwas.“ Aufmerksam folgte er der Richtung, in der das Wesen hinter den Bäumen verschwunden war. „Kommt. Beeilen wir uns.“ Ohne weiter darüber nachzudenken, schlug er die selbe Richtung ein, den Weg nach Westen.
 

„Sie waren hier.“ Zorans Stimme war wie ein tiefes Donnergrollen, dass aus den Tiefen der Hölle zu erklingen schien. Mit einem Gesicht, dass so hasserfüllt war, dass sich niemand in seine Nähe traute, kniete er auf dem Boden und betastete eine Stelle, wo offensichtlich etwas Großes gelegen hatte. Bluttropfen bedeckten den Boden und nicht weit davon lagen einige wenige abgeknickte Pfeilspitzen herum. „Das ist noch nicht lange her. Sag Shizon Bescheid“, blaffte er einen seiner Begleiter an, der heftig zusammen zuckte. „Sie sind nach Westen gezogen.“ Mit glühenden Augen richtete er sich wieder auf und ließ eine Finger knacken. Er würde sie finden. Egal wo sie sich auch verstecken würden. Er würde sie finden und dann würde er ihnen alle Glieder einzeln ausreißen, Stück für Stück und er würde dabei jede Sekunde genießen. Oh ja, das würde er. So war sein Name Zoran war.



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Kommentare zu dieser Fanfic (28)
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Von:  schneegeist
2014-06-05T11:40:49+00:00 05.06.2014 13:40
Hi
Bin grade auf deine ff gestoßen.ich finde sie echt klasse ich hoffe für kenai das kalden in nicht hinter geht und das man ihm vertrauen kann vielleicht bringt er kenai ja das luftbändigen bei
Von:  Kupoviech
2014-03-05T11:08:06+00:00 05.03.2014 12:08
Nach der nervenaufreibenden spannenden "Schlacht" geht es also fast genauso spannend weiter.
Das Kapitel ist wieder sehr fesselnd geschrieben, wenn auch nicht ganz so flüssig und nahtlos ineinander übergehend wie das davor. (Man merkt das du dich schwergetan hast)
Nichts desto weniger finde ich die Situation in der sich die Charaktere befinden hervorragend dargestellt und beschrieben.
Zwar nicht detailreich, aber zu viele Details würden hier auch nur stören.
Obwohl hier und da etwas ruckartig, mag ich wie du Kalden darstellst.
Genau wie Kenai weiß man als Leser nicht ob man ihn nun vertrauen kann oder nicht. Besonders als er Kenai die Beeren anbot, hab ich innerlich geschrien "Iss die nicht, die sind giftig!"
Überrascht war ich, dass diese zwar bitter shcmeckten aber ansonsten keinen Schaden angerichtet haben.

Und immer wieder ruft der Cliffhanger. Also wirklich da will man gleich das nächste Kapitel lesen und es ist noch nciht da. ;______;
Vorallem bei der Schlussszene mit Zoran, dessen Wut du wunderbar zum Ausdruck gebracht hast.

Von:  Kupoviech
2014-01-01T22:21:58+00:00 01.01.2014 23:21
Wow.
Einfach nur Wow!
Ich habe das Kapitel regelrecht verschlungen und jetzt bereue ich nur, dass ich wieder so lange auf ein Neues warten muss.
Es war richtig spannend, emotional und sehr gut geschrieben.
Ich liebe es wie du Kampfszenen beschreibst ohne dass sie zu weitausschweifen und genau die richtigen Details haben.
Du beziehst das Schicksal der Einzelnen so gekonnt mit ein, dass sie einem gar nciht erschlagen, sondern das Gesamtbild lebendig vor Augen führen, als würde man einen sehr guten Film im Kino sehen. ;)

Wieder einmal ein Beweiß, dass du wirklich Talent hast...

Lg

Kupo
Von:  fahnm
2013-12-26T00:01:02+00:00 26.12.2013 01:01
Klasse Kapi^^
Von:  Kupoviech
2013-08-21T10:49:48+00:00 21.08.2013 12:49
Ein wirklich super Kapitel.
Ich liebe es wie du mit dem Thema Leben und Sterben in diesem Kapitel umgehst.
Es ist einfach nur wunderbar zu lesen. Und bei jedem neuen Satz eröffnet sich einem ein komplett neues Bild.

Ein paar Kleinigkeiten sind mir aber noch aufgefallen(auch wenn sie eigentlich nicht der Rede wert sind):

>>Seine Angst war wie weggeschlagen<<

Du meinst weggeblasen oder?

>>Seine Augen sind die eines Kinders<<

Seine Augen sind die eines KindES

>>„Wird wohl auf die Jagt ankommen. Wenn sie gelingt und er Erfolg hat, wird er so gute Laune haben, dass er die ganze Angelegenheit vergisst.(...)<<

JagD


Von:  fahnm
2013-08-16T22:25:15+00:00 17.08.2013 00:25
Hammer Kapi^^
Es geht weiter^^
Von:  Kupoviech
2013-06-05T08:53:52+00:00 05.06.2013 10:53
Ein wunderbares Kapitel...^^




Was denn? Ach du wolltest mehr hören? Alles gut.

Auch wenn es sehr brutal wirkt, muss ich wieder betonen, dass es in der wirklichen Welt nicht anders wäre.

Außerdem gibt es eine Stelle, die ich über alles Liebe:

>> „Du kannst mich fragen, was du willst, Shizon. Ich werde dir nichts sagen. Genau so wenig wie du irgendetwas sagen würdest, wenn du an meiner Stelle wärst.“ Es war schlagartig Muchs Mäuschen Still geworden. Shizon sah ihn an und zum ersten Mal hatte Kenai das Gefühl, dass er ihn wirklich wahrnahm.<<

Wie oft hat mich genau das vorgestellt einmal zu sagen.
Diese Szene eines Spions (oder auch Nicht-Spions), der gefoltert wird etwas zuverraten, ist so typisch und wird durch diese Worte wieder etwas EInzigartiges.
Es ist etwas von dem wir uns alle den Mut wünschen es einmal auszusprechen, doch trauen wir uns nie.
Dass Kenai den Mut aufbringt das zu sagen, ja das macht ihn anders...sag ihm das von mir ;)

Liebe Grüße

Kupo
Von:  Kupoviech
2013-06-05T08:24:00+00:00 05.06.2013 10:24
Lieber Naru,

Es war mir eine große Freude auch dieses Kapitel zu lesen.
Wie immer strahlt es vor Kreativität, die einem in seinen Bann zieht. Dein Stil ist wie immer brillant.
Aber ich will dir nicht zu viel Honig ums Maul schmieren, nachher wirst du mir zu übermütig und ich würde noch gerne mehr solcher Kapitel lesen.
Kapitel, die die Geschichte von Kenai erzählen unserem Helden, der unsere Herzen im Sturm erobert hat und der in ein kleines Abenteuer nach dem erlebt.
Besonders gefällt mir immer, wie sehr man sich doch in Kenai hinein versetzen kann, wie bildhaft man sich die Szenen vor Augen rufen kann, ohne das der eigenen Fantasie Grenzen gesetzt wären.
Die Begegnung mit den Feuermenschen könnte sich wirklich so abgespielt haben. Sie ist logisch und nachvollziehbar und lässt sich auch in die reale Welt übertragen ohne dabei ihren gewissen Wert zu verliehen.

Aber wie sagte ich? Ich will dir nicht zuviel Honig ums Maul schmieren. Es ist nur schwer grundlos nach etwas negativen zu suchen, wo es nichts gibt.

Ich verbleibe hiermit mit den besten Grüßen

Kupo
Von:  fahnm
2013-05-24T21:04:49+00:00 24.05.2013 23:04
Klasse Kapi^^
Von:  fahnm
2013-02-20T22:08:55+00:00 20.02.2013 23:08
Super Kapi^^


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