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Damage Control

Ace/Nojiko
von

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I. Die Waffe. Der tote Mann. Ein Anruf.

Ein Beben erschütterte Nojikos Körper. Die Glock 17 rutschte aus ihren Händen und landete mit einem dumpfen Knall auf dem Holzboden.

Jegliche Gedanken und Motive, die sie vielleicht einmal gehabt hatte, waren aus ihrem Kopf gewaschen, in einer Flutwelle mitgerissen und ertränkt worden. Alles was übrig geblieben war, war Leere. Gähnende Leere, die so tief war, dass hätte man einen Stein hinabgeworfen, man niemals den Aufprall gehört hätte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf das Treppengeländer, bewegungslos, starr.

Inzwischen schwoll der Klumpen in Nojikos Hals unerträglich an. Er drückte ihr die Luft ab; es wurde immer schwieriger und schwieriger Sauerstoff in ihre Lungen zu saugen. Doch da war keine Panik, sondern nur Leere. Tränen sprangen in ihre Augen, bereit ohne Fallschirm von der Klippe zu springen und sich in die Tiefe, in die plötzliche Leere zu stürzen. Denn vielleicht würde der Moment des Fliegens, des Fallens, sie wachrütteln und den Schleier entzweireißen, Klarheit über die letzten Sekunden bringen. Was – zum Teufel – war hier geschehen? Wie konnte das nur passieren?
 

Auf die Knie sinkend, starrte Nojiko noch immer zum Treppengeländer, bevor sie zu ihm herüberkroch. Am Absatz der Stufen hielt sie inne, ihre zitternden Hände umfassten die Holzstäbe des Geländers, dass ihre Knöchel weiß herausstanden. Sie presste ihr Gesicht dagegen bei dem Anblick des Mannes, der im Erdgeschoss auf dem Fußboden lag. Seine Augen starrten geschockt zu ihr hinauf. Auch er schien nicht begreifen zu können, wie es dazu hatte kommen können. Aber wer konnte ihm das zum Vorwurf machen? Nojiko sicherlich nicht. Es hätte hierzu nicht kommen sollen, denn das hier ging gegen alle Pläne und Szenarien, die ihr durch den Kopf gegangen waren, bevor sie das Haus betreten hatte. Ein Schluchzen ertönte und Nojiko zuckte bei dem Geräusch zusammen, konnte nicht glauben, dass es aus ihrer eigenen Kehle gekommen war. Sich eine Hand auf den Mund pressend, schaute sie abermals zu dem Blonden herunter. Dieser starrte noch immer zu ihr hinauf. Eines seiner Beine war verdreht. Ansonsten sah er vollkommen in Ordnung aus, nicht viel anders als sonst auch. Womöglich war er gar nicht tot, sondern spielte ihr nur diesen makaberen Streich, um sich an ihr zu rächen. Bei diesem Gedanken entrann ihr ein freudloses Lachen, das in dem Haus wiederhallte, ein grausiges Echo wiedergab, das Nojiko niemals vergessen würde. Genauso wenig wie der Anblick des Mannes im Eingangsbereich unter ihr, brannte sich dieser Klang in ihr Gedächtnis ein.
 

Langsam und leise, als befand sich jemand im Haus, der sie hätte hören können, rappelte sie sich auf, um die Treppen herunterzusteigen. Derweil klebten ihre Augen weiterhin auf dem Mann. Auf dem Kerl, den Nojiko zu einem Mann degradiert hatte, weil alles andere diese Situation viel zu persönlich gemacht hätte. Denn Namen waren mit Erinnerungen verbunden und Nojiko war sich nicht sicher, ob sie sich an ihn erinnern konnte ohne schreiend aus dem Haus und die Straße herunterzurennen. Das alles war wahnsinnig und... nicht richtig. Doch ihre Welt hatte aufgehört sich richtig zu drehen, als sie den Anruf vom Krankenhaus bekommen hatte. Sie begann sich in die entgegengesetzte Richtung zu drehen, als die Schwester ihr mitgeteilt hatte, dass Nami mit blauem Auge, Kratzern und Blessuren in einem ihrer Betten lag. Als man ihr sagte, dass es aussieht, als sei sie verprügelt worden, sie sich aber dazu nicht hatte äußern wollen. Als sie erfahren hatte, dass dieser Arsch Hand gegen ihre kleine Schwester angelegt hatte. In diesem Augenblick wusste Nojiko nur noch eines: Dieser Kerl wird Nami nicht mehr anfassen. Nie mehr.

Immerhin war Nojiko Namis große Schwester. Wenn sie nicht auf Nami aufpasste, wer denn dann? Irgendjemand musste doch etwas unternehmen, wenn Nami es nicht selbst tat.
 

Ausdruckslos stand Nojiko vor Namis Freund, der tot zu ihren Füßen lag und mit geschocktem Blick an die sonnengeflutete Decke sah, die das Himmelstor selbst hätte darstellen können. Nur, dass er niemals in den Himmel kommen würde, denn Männer, die Frauen unterdrückten, konnten nicht in den Himmel kommen. Sie konnten einfach nicht. Männer, die Frauen ihre Liebe gestanden, um sie dann in die nächste Wand zu prügeln, sollten in der Hölle schmoren, denn die Frauen taten es auch. Sie waren in ihrer persönlichen Hölle gefangen. Aber nicht Nami, denn Nami hatte Nojiko, die sie herausholte, weil es niemand anderes tat. Niemand verstand was vor sich ging, weil Menschen zu oft die Augen vor der Wahrheit verschlossen. Dabei war Wahrheit das, was diese Welt brauchte. Es war schließlich das einzige, auf das man vertrauen konnte - egal wie grässlich sie sein mochte.

Noch immer erbebte ihr Körper, erzitterte unter etwas, was weder Kälte noch Angst war. Es war etwas, was Nojiko keinen Namen geben konnte. Aber namenlos war gut, denn namenlos machte alles etwas mehr distanziert und unpersönlich. Mit der Sandalette kickte sie dem Mann vor sich in die Seite. Er rührte sich nicht, woraufhin sich Nojiko hinkniete und nach dem Puls an seinem Hals fühlte. Seine Haut war warm, genauso wie die von Ace, wenn Nojiko ihre Lippen lasziv über sie hatte wandern lassen und sich eine Gänsehaut auf ihr ausgebreitet hatte. Warme Haut fühlte sich lebendig an. Bloß dass dieser Kerl es nicht war, denn da war kein Puls, da war gar nichts.

Ihre Hand zurückziehend, stand sie auf und sah sich unschlüssig um. Da war noch immer diese Leere, die in ihrem Kopf herrschte. Er war tot, weil sie ihn umgebracht hatte. Und jetzt stand sie hier in seinem Haus und... wusste nicht weiter. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun? Sie hatte ihn umgebracht. Sie sollte zur Polizei gehen. Nein, sie sollte Genzo anrufen. Genzo wusste, was zu tun war. Was zu tun war...? Gefängnis, das war, was zu tun war. Man würde sie in eine dieser kleinen, dreckigen Zellen der Stadt stecken und den Schlüssel wegwerfen. Sie hatte nichts anderes verdient. Das wusste sie, trotzdem stand sie auch weiterhin in der Mitte der Eingangshalle. Ihr Blick wanderte ziellos durch den Flur, wanderte über Schuhe, einem Jackenharken und einem kleinen Schrank mit Büchern und einem Telefon. An jenem blieben ihre Augen hängen, als ihr plötzlich eine Idee in den Kopf geschossen kam. Vielleicht sollte sie den Krankenwagen rufen und sagen, sie hätte ihn so aufgefunden. Und dann würde man ihr mitteilte, dass Mr. Smith leider bei seinem Sturz die Treppe herunter sein Genick gebrochen hatte. Da waren nur die Tatsachen, dass Nojiko nichts in seinem riesigen Haus (das dieser Mistkerl von seinen stinkreichen Eltern in den Arsch geschoben bekam, die er vermutlich noch selbst auf dem Gewissen hatte, um sein Erbe endlich einzuheimsen zu können) zu suchen hatte und die Glock 17 (die Nojiko aus der hintersten Ecke von Genzos Kleiderschrank genommen hatte, die er dort in einem Schuhkarton aufbewahrte) oben am Treppenabsatz herumlag. Was würde Genzo sagen, wenn er hier auftauchen würde? Er wäre sicher enttäuscht, außer sich, am Boden zerstört sein zu erfahren, dass eine seiner Stieftöchter sich zu einer Mörderin entpuppt hatte. Und das war doch, was sie war, nicht? Eine Mörderin. Und Genzo hatte immer gedacht, dass Ace einen schlechten Einfluss auf sie hatte. Das sie nicht lachte. Ace wäre niemals so aus der Haut gefahren und mit einer Waffe in dieses Haus eingedrungen, um seinen Besitzer ordentlich in die Schranken zu weisen und aus dem Leben der Schwester ein für alle Male zu vertreiben. Nein, nicht Ace. Nicht so.
 

„Ace...“, entwich es ihr in einem Wispern. Genau, Ace. Was würde Ace tun? Ace hatte für alles eine Lösung, zumindest für fast alles. Sich ein paar violettfarbene Haarsträhnen nach hinten streichend, griff sie in ihre Hosentasche und zog ihr Mobiltelefon heraus. Sie dachte nicht nach, denn diese Leere in ihrem Kopf machte es schwer klare Gedanken zu fassen. Und bevor sie sich versah, lauschte sie schon dem monotonen Tuten, wartete auf die bekannte Stimme am anderen Ende der Leitung, die sie stets mit neckischem „Na, Sehnsucht?“ begrüßte und sie den eigentlich Grund ihres Anrufes vergessen ließ.

„Nojiko“, meldete Ace sich aber doch nur. Da war kein Amüsement in seiner Stimme, sondern Verwirrung und Überraschung, die andere vielleicht nicht heraushören konnte, sie aber fast schon körperlich spüren konnte. Aber was hatte sie auch erwartet? Immerhin waren sie nicht mehr zusammen. Immerhin hatte Nojiko ihn mit groben Worten verlassen und war ihm seitdem aus dem Weg gegangen. Und nun rief sie an, um... was eigentlich?

Schweigen.

„Nojiko? Hey, komm’ schon, erst anrufen und dann nicht mit mir reden wollen?“

Und es tat so gut seine Stimme zu hören. Es ließ sie fühlen und die Leere vergehen. Sie zog sich zurück, langsam und stetig wie das Wasser der riesigen Ozeane bei Ebbe.

„Ich... hab’ Mist gebaut, Ace“, sagte sie irgendwann. Ihre Stimme war überraschend fest, beinahe emotionslos.

„Was ist passiert?“

„Mist“, erwiderte sie. „Und, Ace,... ich weiß nicht, was ich tun soll.“
 

Noch in demselben Augenblick als diese Worte ihren Mund verließen, wurde ihr bewusst, dass es eine glatte Lüge war. Sie würde seine Leiche einfach verschwinden lassen. Genauso taten sie es doch in Filmen oder in all den Krimibüchern, die Nojiko gelesen hatte. Sie könnte einen Stein an seinen Knöchel binden und ihn in den nächsten See werfen. Oder sie zündete das Haus an und es würde als Brandstiftung in die Geschichte eingehen. Wer würde sie schon hinter einer hässlichen Tat wie dieser vermuten? Anderseits lag es vielleicht doch nicht so fern, wie es im ersten Moment den Anschein haben mochte. Immerhin war sie Namis große Schwester. Nami, die zufällig seine Freundin war, die er krankenhausreif geprügelt hatte. Nami hatte ein Alibi. Genzo hatte Kontakte und vermutlich ebenfalls eines. Nojiko hatte gar nichts. Nichts, außer einen toten Mann vor ihren Füßen und eine Waffe auf dem Treppenabsatz.

„Hey, sag’ erst mal, wo du bist?“, meldete sich Ace’ Stimme unterdessen wieder und Nojiko, die das Handy sinken gelassen hatte, hob es wieder an ihr Ohr. „Wo bist du?“

„In... Bellamys Haus.“
 

Tbc.

II. Der Komplize. Ein Plan. Eine Fahrt.

„Wow“, entrann es Ace, als er zu Bellamy herunterstarrte. „Du hast ihn KO geschlagen.“

Daraufhin verschränkte Nojiko die Arme und hob eine Augenbraue. Manchmal fragte sie sich, was hinter Ace’ Stirn eigentlich vorging. Außerdem fragte sie sich, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, ihn angerufen zu haben. Sie hatte da wirklich so ihre Zweifel.

„Er ist die Treppe runtergestürzt“, erwiderte sie und abermals war ihre Stimme fest. Sie war so fest wie Stein und es wunderte sie, wie gut sie das doch eigentlich verkraftete. Immerhin hatte man nicht jeden Tag einen toten Mann zu seinen Füßen liegen. Doch scheinbar hatte sie den ersten Schock überwunden, obwohl ihr Magen noch immer flau war. „Er ist tot, Ace. Toter geht’s schon gar nicht mehr.“

Seinen Hut etwas nach hinten schiebend, ging er auf die Knie, um den Puls zu fühlen. Glaubte er ihr etwa nicht? Skeptisch beobachtete sie ihn, aber er störte sich nicht daran. Letztlich zog er jedoch seine Hand zurück, denn auch er wurde nicht fündig. Ace sah zu Nojiko hinauf. Abschätzend, suchend.

„Es war ein Unfall“, hörte sie sich automatisch sagen, als müsste sie sich vor Ace rechtfertigen. Früher hätte sie das nicht getan. Früher war Ace aber auch noch nicht ihr Exfreund gewesen. Damals hatte sie ihm blind vertraut, und obwohl sie es heute noch immer tat, hatte sich etwas verändert. Zweifel hatte sich mit Vertrauen vermischt, ohne eine klare Linie zu hinterlassen. Vielleicht lag es daran, dass Nojiko ihm Sachen an den Kopf geworfen hatte, die sie im Nachhinein gar nicht so gemeint hatte. Wahrscheinlicher aber war, dass jeder, der einen Mann auf dem Gewissen hatte, die Loyalität Nahestehender anzweifelte. Das war der Überlebensinstinkt, der plötzlich das Kommando an sich riss und die Fronten bestimmte. Die flüsternde Stimme, die gerne Dinge in Frage stellte, hatte sich ein Megafon gegriffen und deckte mögliche Gefahrenquellen auf. Doch sie lag falsch, Ace zu verdächtigen. Denn wenn sie nicht einmal ihm vertrauen konnte, wem denn dann? Wem denn dann, verdammt noch mal!
 

„Dafür bleibt noch genügend Zeit“, entrann es Ace, der sich mit knackenden Knien erhob. „Kannst mir die Geschichte erklären, nachdem wir ihn ins Auto geschafft haben.“

Nojiko erwiderte seinen Blick.

„Was hast du vor?“

„Vermutlich das, was du auch vorhattest.“ Er kratzte sich an der Stirn, als sein Blick wieder auf Bellamy zum Liegen kam. „Seine Leiche verschwinden lassen. Dafür hast du mich doch angerufen, oder nicht?“ Er grinste sie schwach an und wies mit einer Hand Richtung Tür. „Am besten stehst du mal Schmiere draußen. Gesellschaft ist ja eher unerwünscht hier.“

Nojiko wollte sich bedanken, aber alles, was ihren Mund verließ war „Ich hol’ mal besser die Pistole.“

Ace sah ihr überrascht nach, als sie die Treppe hinaufrannte und die Glock holte. Sie steckte sie hinten in ihre Hose, zog ihr Top darüber und verschwand durch einen schmalen Spalt der Tür, die sie hinter sich angelehnt ließ.
 

Die Straße vor dem Haus war wie leergefegt. Kein Wunder. Sie hatten gerade mal Mittag, jeder war arbeiten und die Gegend war sowieso abgelegen. Bellamys Haus lag südlich von Kokosville, das nicht größer als eine Kleinstadt war. Es hatte nicht einmal eine richtige Polizeistelle, sondern nur einen örtlichen Sheriff, der reinzufällig ihr Stiefvater war, und zwei Deputies. Perfekt, um einen Mord zu begehen, dachte Nojiko bei sich. Immerhin waren das jetzt die Sachen, über die sie von nun an nachdenken sollte. Sie war jetzt nicht nur die Tochter des Sheriffs, die Orangen auf dem Markt verkaufte, sondern schon bald eine gesuchte Mörderin. Mit Ace als Komplizen. Obwohl..., meldete sich besagte Stimme mit Megafon und ein Pochen hinter ihrer Stirn setzte ein. Wenn man keine Leiche fand, dann war kein Mord geschehen. Wenn es keinen Mord gab, suchte man keinen Mörder. Und wenn es keinen Mörder gab, dann war Nojiko auch keine Mörderin. Zumindest nicht im Auge des Gesetzes.

„Die Luft ist rein“, flüsterte sie durch den Türspalt, nachdem sie abermals den Blick über die Straße und die angrenzenden Wälder wandern gelassen hatte.

Kurz darauf schleppte Ace Bellamy im gleißenden Sonnenlicht zu seinem Wagen. Es war ein roter Dodge Viper für den Ace den Großteil aller seiner Gehaltschecks gespart hatte, um sich die Anzahlung leisten zu können. Er hatte schon in der Highschool von diesem Wagen geträumt. Heute war er sein wertvollster Besitz und es störte ihn nicht, wenn die Leute ihn darauf aufmerksam machten, dass die aufgemalten Ralleystreifen irgendwie krumm und schief aussahen. Es kümmerte ihn kein bisschen. Er zuckte dann immer nur grinsend mit den Schultern, was die schiefen Ralleystreifen schon wieder irgendwo cool machten. Dass er sie eines Nachts in der Einfahrt seines Hauses draufgemalt hatte und dafür sogar auf den Sex mit Nojiko verzichtet hatte, erzählte er niemanden. Nojiko glaubte, das wäre ihm dann doch etwas unangenehm gewesen. Männer und ihre Autos, das war wirklich kein Gerücht von den Medien verbreitet. Manchmal war es wahr. Genauso wie es manchmal wahr war, dass manche Menschen töteten und ihre Leichen verschwinden ließen.
 

Sie verstauten Bellamy im Kofferraum, der mit allerlei Zeug vollgestopft war, dass es schwer war, ihn überhaupt noch hineinzubekommen. Nojiko musste ihm die Stiefel ausziehen und sie ihm auf die Brust stellen, damit sie den Deckel schließen konnten. Ace brachte es doch wirklich noch fertig bei ihrem Gesichtsausdruck zu lachen. Auch Nojiko spürte dann ein Grinsen an ihren Mundwinkeln zupfen. Geteiltes Leid war scheinbar doch halbes Leid – oder so ähnlich.

Gemeinsam stiegen sie in den Dodge und fuhren die Straße hinunter. Nojiko beobachtete wie Bellamys Haus im Seitenspiegel kleiner wurde und Ace beobachtete Nojiko aus dem Augenwinkel. Und irgendwann begann sie einfach ihm die ganze Geschichte zu erzählen. Mit all den kleinen, hässlichen Details, verstand sich.

„So, du wolltest ihn nur bedrohen?“, war alles, was Ace zu sagen hatte. Nojiko nickte und öffnete das Seitenfenster einen Spalt, um den Wind hereinzulassen.

„Wow“, entrann es ihm abermals an diesem Tag. „Also, mit der Waffe in seinem Türrahmen aufzutauchen, hätte ich nicht einmal dir zugetraut. Ganz neue Seite an dir.“

Er klang dabei noch verdächtig heiter. Er fand das Ganze wohl urkomisch. Wieso überraschte sie das gar nicht?

„Weißt du, ich fange an mir zu wünschen, ich hätte dich nicht angerufen, Ace“, sagte sie.

„Und, warum hast du es doch getan?“, fragte er.

„Keine Ahnung. Alte Angewohnheit, nehme ich an.“

„Sicher.“

Ace lachte leise auf und Nojiko sah aus dem Fenster, wo die grüne Landschaft an ihnen vorbeirollte. Da fiel ihr ein, dass sie nicht einmal wusste, wohin sie fuhren. In Ace’ Richtung sehend, musterte sie sein Seitenprofil. Er sah gut aus. Wie immer eigentlich.

„Du hast ein Zielort im Kopf?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Denn Ace hatte eigentlich für alles eine Lösung. Zumindest hatte Nojiko ihn selten ratlos gesehen. Eigentlich nie, wenn sie näher darüber nachdachte.

„Nein, ich dachte, eine Spazierfahrt mit einer Leiche im Kofferraum würde den Kopf freimachen“, erwiderte er grinsend.

Nojiko schwieg, woraufhin Ace das Radio anschaltete. Von da an dudelte rosarote Countrymusik für die restliche Fahrt durch das Auto. Es war Miranda Lambert mit ‚Only Prettier’, das wusste sie von Genzo, der Country jeden Tag herauf und herunter hörte. Es machte ihr Sorgen, dass Ace die Melodie des Songs mit den Fingern auf das Lenkrad trommeln konnte.
 

Ungefähr eine halbe Stunde später, bogen sie auf einen zugewachsenen Feldweg ein. Äste und Sträucher peitschten gegen das Auto und auch die Fahrt war rumplig. Ace schien unbekümmert wie eh und je, Nojiko beneidete ihn darum ein wenig. Manchmal würde sie sich gerne ein Scheibe von ihm abschneiden. Anderseits auch wieder nicht. Die Welt konnte nur eine bestimmte Anzahl von Leuten wie Ace auf einmal beherbergen ohne unterzugehen, da war sie sich sicher.

„Tada.“ Ace hielt den Wagen inmitten einer Lichtung, die tief im Wald lag. Hier endete der Feldweg. Sie befanden sich mitten im Nichts. „Wir sollten wohl noch etwas tiefer, aber das können wir dann auch zu Fuß tun. Oder willst du kneifen?“ Nojiko sah ihn an, als Ace sie herausfordernd angrinste. Ihr Blick sagte alles, weshalb Ace lachend ausstieg. Nojiko folgte ihm und sah sich um. Die Bäume waren hoch und die Wipfel ließen kaum Sonnenlicht durch. Der Wald an sich lag im Halbdunklen, verlassen und verwuchert. Wie hatte Ace diesen Platz gefunden?

„Das ist ein geeigneter Ort. Hier wird ihn keiner vermuten“, sagte Nojiko, als sie zu Ace an den Kofferraum trat.

„Du denkst schon wie ein Verbrecher, was?“, erwiderte Ace heiter.

„Solltest du auch mal ausprobieren.“ Daraufhin zuckte Ace mit den Schultern und sie teilten ein schmales Grinsen.

„Schaden kann’s wohl nicht.“
 

Tbc.

III. Der Wald. Der Kofferraum. Eine Panne.

„Der Ort ist schön und gut“, bemerkte Nojiko irgendwann, „aber wir haben überhaupt nichts, um ein Loch zu buddeln. Keine Schaufel, gar nichts.“ Ace nickte kaum merklich. Dazu konnte er scheinbar nicht viel sagen, woraufhin beide Bellamy, in den Kofferraum gequetscht, ansahen. So abgelegen wie es war, hatte keiner der beiden die Angst, dass man sie sehen würde. Das einzige, was hier drinnen Augen hatte, waren Rehe und die vielen Krabbelviecher im Unterholz. Nichts, was zwei Beine hatte und die Polizei alarmieren konnte, da war sich Nojiko sicher.

„Ich hab’ eine Idee“, meinte Ace plötzlich und grinste sie verschmitzt an. Er umrundete das Auto, zog die Tür zum Rücksitz auf, schaltete das Deckenlicht dort an und kramte zwischen CDs und leeren Bierdosen herum. Bevor Nojiko nachfragen konnte, präsentierte Ace ihr einen Plastikbecher. Ihn entgegen nehmend, drehte Nojiko ihn in ihren Händen hin und her. Es war einer, den man an jeder Tankstelle für einen Dollar bekam und den man unbegrenzt nachfüllen konnte. Dem braunen Rand im Inneren nachzuurteilen, hatte Ace Cola getrunken. Nojiko hob eine Braue.

„Und damit willst du ein Loch graben, das nicht nur tief, sondern auch breit genug für einen Menschen ist?“

„In so einer Situation kann man halt nicht wählerisch sein.“ Abermals grinste Ace gelassen. Für ihn schien das alles Hand und Fuß zu haben. „Ich hab’ irgendwo noch einen, dann geht’s doppelt so schnell.“ Wieder ging er zum Kofferraum, fing dort an zu suchen. Nojiko stand nur daneben. Sie wusste nicht so recht, was sie von dem Ganzen halten sollte.

„Mach’ nicht so ein Gesicht“, sagte Ace dann, sein Grinsen noch eine Spur breiter. Und obwohl es beinahe unmöglich schien, wurde es größer, als er einen Spaten irgendwo hinter Bellamy herauszog. „Das war nämlich nur ’n Scherz.“

„Ist das dein Ernst?“, fragte Nojiko, schmiss sie den Pappbecher wieder auf den Rücksitz und die Autotür zu. Der Spaten war genau das, was sie jetzt brauchten! Und warum zum Teufel erlaubte er sich Späße, die dermaßen unerwünscht waren. Sie knuffte ihm in die Seite und nahm ihm den Spaten ab. „Woher hast du den?“

„Jobs.“ Nebenbei zog er noch eine Harke zum Ausklappen aus dem Kofferraum und drückte diese ebenfalls Nojiko in die Hand. „Makino hat Luffy und mich gebeten, uns um ihren Garten zu kümmern. Der brauchte mal ’ne Generalüberholung.“

„Du spielst also immer noch 'Mädchen für alles' im Dorf?“ Daraufhin lachte Ace leise auf und Nojiko wandte den Blick von ihm ab. Eigentlich ging es sie auch gar nichts an.

„Ich kann mich nicht beklagen“, sagte er und richtete seinen roten Cowboyhut. „Es sind gute Jobs. Im Grunde nicht viel anders als deiner.“

„Wie das denn?“

„Jede Orange, die du hegst und pflegst, ist wie jeder meiner Jobs. Du kriegst jede Orange bezahlt auf dem Markt, genauso wie ich jeden Job. Wir arbeiten von Orange zu Orange.“

Er zuckte heiter mit den Schultern. Dann griff er nach Bellamys Armen, zog ihn aus dem Kofferraum und hievte ihn sich ächzend über die Schulter. Als er davon marschierte, eine wahllose Richtung einschlug, schloss Nojiko den Deckel und trug das Equipment hinter ihm her. Keiner der beiden bemerkte das brennende Licht im Wagen. Nein, sie stiefelten durch dichtes Laub tiefer in den Wald davon, dass dieser schnell außer Sichtweite geriet. Nichts als Bäume und Sträucher, grün und braun blieben übrig. Nojiko war wirklich nicht kleinlich, doch jetzt wünschte sie sich, sie hätte keine Sandalen angezogen.
 

Irgendwann fanden sie glücklicher Weise eine besonders dicht bewachsene Stelle. Ace legte Bellamy auf dem Boden ab und klopfte ihm auf die Schulter, als wollte er ihm sagen, dass alles irgendwie schon in Ordnung kommen würde. Doch würde es wirklich? Konnte es überhaupt? Nojiko war sich da nicht mehr so sicher. Immerhin hatte sie einem Mann das Leben genommen. Unfall hin oder her. Wäre sie nicht gewesen, würde Bellamy noch am Leben sein. Und womöglich Nami wieder durch die Mangel nehmen, sagte die Wut in ihrem Bauch, die sie erst mit der Glock zu seinem Haus geführt hatte. Sie konnte sich daran erinnern, als würde sie noch jetzt vor seiner Tür stehen und auf die Klingel drücken. Als würde sie ihm jetzt, in diesem Augenblick Beleidigungen an den Kopf werfen. Als würde sie in dieser Sekunde die Waffe herausholen, weil er auf sie zukommt. Nojiko verzog unwillkürlich das Gesicht. Sie wollte nicht daran denken, wollte auch nicht in das Gesicht dieses Schweins schauen, weshalb sie ihre Augen schloss. Sie öffnete sie erst wieder, als sich ein Arm um ihre Schultern legte. Es war Ace’ Arm und sie lächelte zu ihm hoch. Danach griff Nojiko nach dem Spaten und begann zu graben, während Ace sich auf einen abgeknickten Baumstamm niederließ. Es kam ihr so vor, als wäre sie Bellamy das schuldig. Die Gefühlswelt war schon eine merkwürdige Sache. Aber Leben spielte schon immer gerne mit den Emotionen eines Menschen Tischtennis. Hin und her und ab ins Aus.
 

Inzwischen veränderte sich der Sonnenstand. Hier und da fanden Strahlen den Weg durch die dichten Baumwipfel, fielen Nojiko ins Gesicht. Schweiß stand ihr auf der Stirn und ihre Arme schmerzten. Jede Bewegung mit dem Spaten schien die letzte, doch sie zwang sich weiterzumachen. Das Loch war zwar keinen Meter tief bis jetzt, hatte aber die Form eines Sargs. Sehr passend, aber Nojiko hatte einfach nicht gewusst, was für eine Form sie sonst hätte ausheben sollen. Sie steckte den Spaten in die Erde und atmete tief durch.

„Wenn du so weitermachst, dann sind wir morgen noch hier“, sagte Ace grinsend und löste sie ab. Weiter wanderte die Sonne am Horizont und größer wurde der Berg Erde neben dem sargförmigen Loch. Irgendwann war es dann so weit, Dunkelheit flutete den Wald, aber das Loch war fertig.

„Das dürfte tief genug sein, damit wilde Tiere ihn nicht ausbuddeln“, sagte Ace, als er den Spaten fallen ließ. Nojiko knirschte mit den Zähnen bei diesem Gedanken und zusammen ließen sie Bellamy in das Loch sinken.

„Irgendwelche letzten Worte?“

„Eigentlich nicht...“, erwiderte Nojiko. Was sollte sie ihm sagen? Außer vielleicht, dass es ihr nicht so leid tat, wie angebracht war?

„Na gut“, antwortete Ace. „Dann ruh’ mal in Frieden, Kumpel.“ Damit schaufelte er das Loch zu. Das ging relativ schnell im Vergleich zum Ausheben. Schweigend beobachtete Nojiko wie sein Gesicht unter der braunen Erde verschwand. Ihr Magen drehte sich um. Aus mehreren Gründen. Da war der Verwesungsprozess, der ihr in den Kopf geschossen kam mit Maden und anderen Viechern, und Nami, die ihm Krankenhaus lag und von nichts ahnte. Irgendwie bekam sie das Gefühl, dass es hiermit leider nicht getan war.
 

Es war praktisch schon finster, als sie Laub über die Stelle harkten und sie sich endlich auf den Rückweg machen konnten. Allerdings stellte sich das als schwieriger heraus, als sie gedacht hatten.

„Weißt du, aus welcher Richtung wir gekommen sind?“

„Aus Westen“, entwich es Ace und er kramte in seiner Hosentasche. Nojiko zuckte mit den Schultern. Das sagte ihr gar nichts. Woher sollte sie in der Dunkelheit wissen, wo Westen war? Zwar hatte sie mal gehört, dass man die Himmelsrichtungen irgendwie an den Sternen ablesen konnte, aber die konnte sie nicht sehen und die würden ihr auch nicht mehr sagen.

Unterdessen holte Ace seinen Schüsselbund heraus, befestigt an ihm ein Kompass in der Form eines Anhängers, der Himmelsrichtungen und Temperaturen anzeigte. Nojiko kannte ihn gut. Sie hatte Ace den Kompass zum Geburtstag geschenkt, bevor er mit Zoro und Luffy zum Campen aufgebrochen war.

„Den hast du noch?“, entwich es ihr wie von selbst. Inzwischen versuchte Ace die Nadel des Kompass im Dunkeln zu erkennen.

„Warum sollte ich nicht?“, erwiderte er heiter. „Geschenke gibt man nicht zurück.“ Dazu konnte Nojiko nicht viel sagen, nur, dass es ihr lauwarm den Rücken herunterlief. Sie zog ihr Mobiltelefon aus der Hosentasche und klappte es auf. Das Licht des Displays gab die Nadel preis und sie strauchelten und stolperten nach Westen. Und vielleicht war es Planung oder reiner Zufall, aber irgendwann fanden sie das Auto wieder, nachdem sie beinahe an ihm vorbeigelaufen wären.

„Seit wann verlässt du dich auf Kompasse?“, fragte Nojiko grinsend, als sie in den Dodge stiegen.

„Seit du mir einen geschenkt hast.“

„Verstehe“, erwiderte sie, obwohl sie eigentlich gar nichts verstand. Wie konnte er so was einfach sagen? Wie konnte es zwischen ihnen so unkompliziert sein, nachdem sie ihn nicht vertrauenswürdig genannt hatte. Nachdem sie ihm gesagt hatte, dass er sein Leben als ein reines Abenteuer sah und ihr das alles zu planlos war. Doch nun waren sie hier und plötzlich hatte Ace einen Plan, anstatt kopfüber ins Unbekannte zu stürzen.
 

„Der Wagen springt nicht an“, riss Ace’ Stimme sie aus seinen Gedanken. Nojikos Augenbraue zuckte in die Höhe.

„Was?“

„Der Wagen springt nicht an?“, wiederholte Ace, versuchte abermals den Wagen zu starten, doch bekam nur ein leises Keuchen als Antwort. Er kramte sein eigenes Handy aus der Hosentasche, öffnete die Motorhaube, stieg aus und leuchtete damit hinein. Nojiko folgte ihm, schaute zu, wie er an den Kabeln zupfte, checkte, ob keines lose war. Aber das schien nicht das Problem. Nein, Ace klappte den Deckel mit einem Knall zu und sie setzten sich zurück in den Wagen. Dort probierte Ace das Radio, doch auch das war tot.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, die Batterie ist leer“, sagte er irgendwann und sah zum ersten Mal finster drein.

„Das heißt was genau?“

„Das wir hier festsitzen.“

Eigentlich hätte diese Wendung Nojiko nach alledem nicht überraschen sollen. Zu ihrem Erstaunen tat es das nicht mal wirklich. Sie war die Ruhe in Person. Sie zuckte mit den Schultern und lehnte ihren Kopf nach hinten gegen den Sitz.

„Dann übernachten wir eben hier“, sagte sie.

„Man wird Verdacht schöpfen“, erwiderte Ace und sah zu ihr herüber. Er grinste nicht.

„Niemand weiß, wo wir sind. Ich werde einfach allen sagen, dass wir die Nacht miteinander verbracht haben, weil es zwischen uns wieder gefunkt hat.“

„Ach,... hat es das denn?“

„Ich weiß es nicht.“

Sie grinste ihn an, dann wurde sie ernst.

„Warum hast du mir geholfen?“ Es brannte ihr schon die ganze Zeit auf der Zunge. Doch Ace sah aus dem Seitenfenster, dass sie sein Gesicht nicht richtig sehen konnte. Nicht mit der Dunkelheit im Wagen.

„Weil ich an deiner Stelle vermutlich das Gleiche getan hätte“, sagte er irgendwann, als sie glaubte, keine Antwort mehr zu bekommen. Inzwischen fing Nojiko an zu frösteln und rieb sich die nackten Arme. „Große Brüder verstehen halt große Schwestern.“ Und da war es wieder, dieses Grinsen. Gleichzeitig beugte Ace sich zum Rücksitz herüber, griff nach der Wolldecke, die er da herumzuliegen hatte und reichte sie Nojiko. Anschließend machte er es sich wieder in seinem eigenem Sitz gemütlich.

„Wenn du dich erkältest, denkt Genzo wieder das schlechteste über mich.“ Daraufhin lachte Nojiko auf.

„Bestimmt“, sagte sie und legte sich die kratzige Wolldecke über.

Das Ganze war schon fast romantisch, fast zum Verlieben. Ace war ein Kerl zum Verlieben - schon immer gewesen. Aber manchmal war Verlieben nicht genug. Und manchmal kam es einem nur so vor und man stieß es von sich, um dann zu bemerken, dass Verlieben alles war, was man gebraucht hätte. Denn Verlieben war jung und unverbraucht. Verlieben hielt Jahre, Jahrzehnte oftmals, während Liebe zerbrach. Liebe kroch einem wie Sand durch die Finger, wenn man nicht aufpasste.

„Ich denke, es hat zwischen uns gefunkt“, brachte sie irgendwann über die Lippen. Schweigen folgte ihren Worten, dass sie zu Ace herüberschaute.

Dieser lehnte mit dem Kopf am Seitenfenster und schlief.
 

Tbc.

IV. Ein Traum. Ace' Kumpel. Die Angst.

Der Himmel über ihrem Kopf war blutrot und es war schwül. Es war so heiß, dass die Luft um sie herum flimmerte. Sie stand auf einer Lichtung, wo Bäume und Sträucher gespenstige Tänze tanzten. Gleichzeitig war es still, so still, dass Nojiko ihr Herz gegen ihren Brustkorb hämmern hören konnte. Orangerotes Licht fiel durch die Baumkronen und brach sich auf dem blonden Haar des Mannes vor ihr. Nojiko stand einfach nur da, konnte sich nicht rühren, nicht einmal den Klumpen in ihrem Hals herunterschlucken. Sie wusste, dass es nur ein Traum war. Es musste einer sein! Doch die Welle aus Angst und Panik erschlug sie trotz allem.

„Dachtest du etwa, du hättest mich erledigt?“

Sein Lachen war schallend und laut. Selbst als sein Mund wieder zugeklappt war, dröhnte es noch in ihren Ohren. Es jagte ihr kalte Schauer über den Rücken.

„Du bist genauso ein Träumer wie deine dumme Schwester!“, spuckte er und abermals folgte Gelächter. „Und obendrein bist du noch eine elende Mörderin. Wie ist es, jemand auf dem Gewissen zu haben? Dabei kannst du mich nicht töten, denn egal, wohin du gehst, mit deinem zarten Gewissen, werde ich immer dabei sein. Du wirst immer an mich denken. Immer!“ Und das Lachen hörte nicht auf. Es schien von allein Seiten zu kommen, von oben und unten, von außen und aus ihrem Inneren. Schweiß bildete sich auf Nojikos Stirn, ihre Haut war klamm und kalt. Und sie konnte nichts tun, nur dastehen, Bellamy anstarren, während sich zwei unsichtbare Hände um ihren Hals legten und langsam, quälend langsam zudrückten.

Das ist nur ein Traum, ein beschissener Traum, dachte sie. Die Luft wurde knapp. Lider schlossen sich, als sie sich anstrengte, Sauerstoff in ihre Lungen zu ziehen.

Was ist, wenn nicht?, wisperte eine Stimme. Jene, in ihrem Kopf. Jener Überlebensinstinkt mit Megafon. Was ist, wenn nicht? Wenn es kein Traum ist? Wenn es Realität ist?

„Ich hätte vermutlich das Gleiche getan“, sagte eine andere Stimme. Sie war merkwürdig ruhig, vertrauensselig. „Große Brüder verstehen halt große Schwestern.“
 

Nojikos Augen öffneten sich. Hektisch sog sie Sauerstoff ein. Sie saß kerzengerade im Dodge und starrte durch die Frontscheibe in den Wald hinaus. Die Sonne fiel hier und da durch die Baumwipfel und irgendwo zwitscherten Vögel. Es war ein schöner, warmer Frühlingstag, der einem Bilderbuch entsprungen sein konnte. Da war kein wiederauferstandener Bellamy und auch keine Stimmen. Nicht einmal Ace. Verwirrt blinzelnd sah sie sich um, während sie ihre steife Schulter massierte. Sie hatte noch nie in einem Auto übernachten, den Nackenschmerzen nach zu urteilen, würde sie es auch nicht wieder tun. Gähnend stieg sie aus, ließ aber die Autotür angelehnt, als sie nach Ace Ausschau hielt. Von diesem war keine Spur. Wäre es jemand anderes gewesen, hätte Nojiko geglaubt, man habe sie hier im Wald sitzen lassen. Nur handelte es sich hierbei um Ace, dem sie absolut vertraute. Wie könnte sie auch nicht, wenn sie ihn angerufen hatte, um eine Leiche verschwinden zu lassen.

Bellamy...

Der Traum war ihr so real vorgekommen, so detailliert. Selbst die Narbe über Bellamys Auge hatte sie sehen können. Und was er gesagt hatte, machte ihr noch immer Gänsehaut. Zartes Gewissen? Eigentlich hatte sie ihr Gewissen niemals als zart gesehen. Sie war nicht gerade sensibel. Glaubte sie zumindest.
 

„Ace?“, rief sie aus, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Immerhin war es nur ein Traum gewesen. Ein simpler Traum, nichts weiter. „Ace, wo bist du?“

Sekunden später raschelte es im Gebüsch zu ihrer Rechten und Ace trat hervor. Er trug sein typisches Grinsen auf den Lippen. Nojiko ersparte sich die Frage, wo er gewesen war, als sie seine Hände am Verschluss seiner Hose sah. Sie senkte den Blick peinlich berührt, aber auch irgendwo amüsiert zu Boden und strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht.

„Ich dachte schon, du bist abgehauen“, scherzte sie, als Ace nichts sagte.

„Für so einen hältst du mich also“, erwiderte er belustigt. Sein gelbes Hemd war offen und hing ihm lose um die Schultern, als er zum Auto zurückkehrte. „Gut geschlafen?“ Er öffnete die Tür zum Rücksitz und kramte abermals zwischen all den Sachen herum. Nojiko wunderte sich unwillkürlich, was er noch alles herumfuhr. Es kam ihr fast so vor, als würde er in seinem Wagen wohnen. Obwohl sie schätzte, dass es dafür wohl doch noch zu wenig Zeug war.

„So gut, wie es sich im Sitzen halt schlafen lässt.“

„Mit der Zeit gewöhnt man sich dran“, meinte Ace, als er sich wieder aufrichtete. Dann drückte er ihr eine angefangene Wasserflasche und einen Energieriegel in die Hand. „Nach dem Frühstück fühlst du dich garantiert besser.“ Das bezweifelte Nojiko, aber dankbar war sie trotzdem.

„Wie alt ist der?“, fragte sie schmunzelnd und hielt den Riegel in die Höhe, bevor sie sich wieder ins Auto setzte. Ace setzte sich ebenfalls mit einem und einer halbleeren Colaflasche hinein.

„Höchstens ein, zwei Monate?“ Er zuckte mit den Schultern, als er das Papier aufriss und abbiss. „Luffy lässt das Zeug immer hier liegen“, fügte er mit vollem Mund hinzu. „Falls du danach noch Hunger hast, auf dem Rücksitz sind bestimmt noch welche. Ein paar davon sind allerdings noch von Halloween, also nicht mehr so jung.“

„Ist er für Halloween nicht ein bisschen alt?“

„Probieren tut er es trotzdem.“

„Hat er sich verkleidet?“, fragte Nojiko.

„Als Pirat“, erwiderte Ace und beide teilten ein Grinsen. Luffy ging immer als Pirat, jedes Jahr und das seit er klein war. Als Nojiko und Ace noch die Highschool besucht hatten, waren sie mit Luffy immer am Abend von Halloween durch Kokosville gezogen. Nojiko hatte Ace’ Hand gehalten, als sie hinter Luffy her geschlendert waren. Unterdessen hatte dieser an jede Tür geklopft und Süßigkeiten eingesackt, an denen Ace sich bedient hatte, um sie mit Nojiko zu teilen. Damals war alles noch unkompliziert und einfach und unschuldig gewesen. Als Kinder waren sie noch unbefleckt gewesen, jetzt trug Nojiko so viel Schuld mit sich herum, dass sie nicht wusste, wohin damit. Ace schien ihren Gedanken zu verfolgen.

„Ich hab’ Zoro angerufen“, meinte er irgendwann und schmiss das Papier des Riegels auf den Rücksitz. „Er sollte in einer Stunde hier sein. Wir sollten uns auch bald auf den Weg zurück zur Straße machen.“

„Du hast Zoro... von Bellamy erzählst?“, fragte Nojiko, nachdem sie sich am Wasser verschluckt hatte. Sie hustete und Ace klopfte ihr sachte auf den Rücken.

„Nur, dass mein Auto liegengelieben ist und ich ’ne Mitfahrgelegenheit brauch’“, erwiderte er schulternzuckend.

„Und wie erklärst du, dass ich reinzufällig auch da bin?“

„Ganz einfach“, sagte Ace und grinste verschmitzt, dass es Nojiko lauwarm den Rücken herunterlief. „Wir haben die Nacht miteinander verbracht, weil es zwischen uns wieder gefunkt hat.“ Und Nojiko wurde sich der Hand bewusst, die nun bewegungslos in ihrem Nacken lag. Sie schloss die Augen für einen kurzen Augenblick.

„Gar nicht mal so dumm gedacht“, erwiderte sie dann schmunzelnd.
 

Wenige Zeit später baute Ace kurzerhand die Batterie des Dodge aus und steckte sie in Luffys Rucksack, den er ebenfalls auf dem Rücksitz hatte liegen lassen. Danach machten sie sich auf den Weg zurück zur Straße. Bei Tageslicht war diese weitaus einfacher zu finden, als gestern Nacht der Wagen. Besonders, weil sie dem zugewachsenen Feldweg folgen konnten. Es war ein Kinderspiel. Trotzdem nagten Schuldgefühle an Nojiko, als sie Ace hin und wieder über die Schulter blicken sah. Er beobachtete wie der rote Dodge Viper langsam hinter Bäumen und Büschen zurückblieb. Sie wusste, wie sehr er an diesem Wagen hing. Beinahe instinktiv griff sie daher nach seiner Hand und verhakte ihre Finger ineinander. Vielleicht war es mehr eine alte Gewohnheit, die jetzt, da sie mit Ace zusammen war, wieder hochkam, als ein simpler Instinkt.

„Zoro denkt immerhin, dass wir die Nacht miteinander verbracht haben“, meinte sie auf Ace’ grinsenden Seitenblick hin. Dieser hüllte sich in Schweigen, doch Nojiko hätte wetten können, dass jenes Grinsen noch ein Stückchen größer geworden war. Es ließ sie lächeln, während sie beide weiter einen Fuß vor den anderen setzten.

Es dauerte nur einige Minuten, bis der Wald sich lichtete und schließlich ganz wich, um die Straße preiszugeben. Grauer Asphalt mit Schlaglöcher hier und da zog sich links und rechts bis zum Horizont. Die Straße schien weder Anfang noch Ende zu besitzen. Nojiko ließ seine Hand los, als sie in beide Richtungen schaute. Kein Auto weit und breit. Alles wirkte wie ausgestorben, als wären sie die letzten Menschen auf diesem Planeten. Es erinnerte sie an all die Zombiefilme, die zu Halloween im Fernsehen gekommen waren und die sie sich mit Nami angesehen hatte. Sie hatten einen Fernsehabend veranstaltet mit einer Schüssel Süßigkeiten, während sie auf Kinder an der Tür gewartet hatten. Leider war es nicht Halloween und das hier kein Film. Nein, das war die Realität, die nie mehr so unbefangen sein würde, wie sie es an jenem Abend gewesen war. Nichts war mehr wie früher, denn sie hatte einen Mann umgebracht und seine Leiche in dem nächstbesten Wald verscharrt. Und sein Mörder würde niemals seine gerechte Strafe erfahren, denn Nojiko gab ihre Tat nicht zu. Bellamy würde niemals seine unverdiente Ruhe finden, weil Nojiko sich entschieden hatte, lieber sich selbst zu retten. Und alles, was ihr einfiel, war: „Wann kommt Zoro denn endlich?“

Ace, der sich an einen der Baumstämme gelehnt hatte, zuckte mit den Schultern.

„Die Stunde ist noch nicht mal rum“, meinte er, vergrub die Hände in den Hosentaschen und studierte unterdessen Nojikos Rückseite.
 

Als Zoros alter Mercedes tatsächlich auftauchte, stieß sich Ace vom Baum ab und kam neben Nojiko zum Stehen. Er legte ihr nonchalant eine Hand auf die Schulter und murmelte ein trockenes „Na also“. Nojiko warf ihm einen schrägen Blick an den Kopf, bevor ihre Augen wieder zu Zoros Wagen wanderten, der vor ihnen am Straßenrand hielt. Im Gegensatz zu Ace, der seinen Dodge hegte und pflegte, sah Zoro seinen Mercedes nur als Auto an. Die Kratzer und Beulen des Wagen sprachen Bände. Er sah noch schlimmer aus, als Nojiko ihn in Erinnerung hatte.

„Du bist ein echter Held, Zoro“, begrüßte ihn Ace, als er sich auf dem Beifahrersitz schob und den Rucksack mit der Batterie zwischen seinen Füßen abstellte. Der Angesprochene grummelte etwas unverständliches und bedachte Nojiko mit einem knappen Blick im Rückspiegel. Auch dieser Blick sprach Bände, woraufhin sich Nojiko mit zittrigen Fingern anschnallte. Im Nachhinein war sie sich sicher, dass die Leiche zu entsorgen, noch der einfachste Teil gewesen war. Doch anderen Menschen – Menschen, die sie kannte – offen in die Augen sehen zu können, war etwas vollkommen anderes.

„Was macht sie hier?“, fragte Zoro, als er weiterfuhr. Nojiko schaute aus dem Seitenfenster, obwohl sie seine Worte durchaus verstanden hatte. Ace grinste, das konnte sie sehen, als sie einen Blick in den Seitenspiegel warf.

„Erklär’ ich dir später“, erwiderte er im zweideutigen Ton.

Die meiste Zeit der Fahrt war es still. Nur monotone Fahrgeräusche lullten Nojiko ein, dass sie sich fast erschrocken hätte, als Ace’ Stimme wieder erklang.

„Hast du morgen schon was vor?“, fragte er an Zoro gewand.

„Was willst du jetzt wieder?“

„Wieso denkt eigentlich jeder gleich so abwertend von mir?“ Er lachte rau auf, doch Zoros Gesicht blieb genauso ausdruckslos wie zuvor auch. „Ich dachte mir nur, dass du mich morgen wieder hierher zurückfahren könntest, damit ich die Batterie wieder einbauen kann.“ Ace deutete auf den Rucksack und Zoro nickte kaum merklich.
 

Inzwischen flog ein Schild mit ‚Kokosville 3 Meilen’ an ihnen vorbei. Nojiko schluckte. Kokosville bedeutete hintergehen und lügen. Kokosville bedeutete sich dem stellen, was sie getan hatte.

Und wenn man Dinge vermeiden wollte, dann verging die Zeit bekanntlich noch schneller. Minuten waren plötzlich nichts weiter als Sekunden, als die Zeit einem wie Wasser durch die Finger floss. Deshalb fand sich Nojiko kurz darauf vor ihrem Haus wieder und stieg wie benommen aus. Sie sah zu dem zweitstockigen Haus herüber. Es war im viktorianischem Baustil erbaut worden und hatte eine breiten Veranda vor der Eingangstür, doch Nojiko sah es jetzt mit anderen Augen. Es war kein simples Haus mehr, nicht ihr Zuhause, sondern das Schafott, wo ihr Henker auf sie wartete.
 


 

Tbc.
 

V. Zittrige Finger. Eine Lüge. Vergessen.

Das Erste, was Nojiko tat, als sie nach Hause kam, war in Genzos Schlafzimmer zu schleichen, die Glock 17 zurück in den Karton zu legen und danach ins Badezimmer zu schlüpfen, um sich die Zähne zu putzen. Vermutlich war sie jetzt völlig dabei den Verstand zu verlieren, dass sie so eine banale Sache wie diese zur Priorität machte. Aber sie fühlte sich so dreckig, wenn auch psychisch mehr als körperlich.

Sie ließ die Tür angelehnt, um mögliche Schritte vernehmen zu können, da sie vermutete, dass Genzo sich irgendwo im Garten herumtrieb. Dann betrachtete sie sich im Spiegel über dem Waschbecken. Sie sah schrecklich aus. Dunkle Ringe standen unter ihren Augen, sie war blass und ihre Haare waren verzaust, fast so als wäre sie in einen Tornado geraten. Mit zittrigen Fingern löste sie das rote Band, das ihre Haare aus dem Gesicht hielt, legte es am Waschbeckenrand ab, bevor sie nach dem Kamm griff. Wenn man sie so sah, würde man sofort wissen, dass irgendetwas nicht stimmte. Von dort war es nicht weit bis zur Wahrheit. Anderseits...

Das erinnerte sie an Ace’ letzte Worte, bevor sie ins Haus gegangen war. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie er ausgestiegen war. Erst als er neben ihr gestanden und sie zu sich herumgedreht hatte, hatte sie ihn wahrgenommen. Abschätzend hatte er den Blick über die Straße zu den Fenstern ihres Hauses wandern lassen, bevor er sie verschwörerisch angesehen hatte. Seine Hände hatten auf ihren Schultern gelegen, fest, bestimmend. Für einen winzigen Augenblick hatte sie gehofft gehabt, er würde sie küssen. Doch es war kein Kuss, den er ihr gab, sondern einen Ausweg, einen möglichen Plan ihre Haut zu retten. Vielleicht sogar ihrer beider Häute, denn Ace steckte jetzt genauso tief in diesem Schlamassel wie sie. Niemand hatte Verständnis für den Komplizen einer Mörderin. Wirklich keiner. Aber so sollte es auch sein, sonst wäre ein Rechtsystem vollkommen zwecklos.

„Tu so, als ob du was zu verbergen hast“, hatte Ace gesagt und hatte Nojiko damit vollkommen aus dem Konzept gebracht. Sollte man nicht genau das Gegenteil tun? Ungläubig hatte sie ihn angestarrt, den Mund geöffnet, um etwas zu sagen, und ihn doch verständnislos wieder geschlossen.

„Du hast etwas zu verbergen, erinner’ dich.“ Ein Lächeln hatte an seinem linken Mundwinkel gezogen, obwohl sein Gesicht gar nicht so gewirkt hatte, als hätte er es lustig gefunden. Immer wieder war sein Blick an ihrem Kopf vorbei gehuscht, als hätte er geglaubt, jemand würde sie beobachten. In diesem Moment war Nojiko klargeworden, dass er innerlich genauso unruhig sein musste wie sie. Hatte er ihr wirklich nur geholfen, weil er sie als großen Bruder verstehen konnte? Nur deshalb würde er so weit gehen und für sie lügen? „Genzo mag mich nicht. Ich bin schlecht für dich. Aber du kannst die Finger nicht von mir lassen. Um Ärger zu vermeiden, willst du es geheim halten“, war er inzwischen fortgefahren. Nojiko hatte kaum merklich genickt, anschließend aber schwer geschluckt.

„Meinst du, er würde...“, hatte sie angefangen, ohne ihren Gedanken zu Ende geführt zu haben. Anfangs hatte Ace sie verwirrt angestarrt, dann schien er begriffen zu haben. Der Griff um ihre Schultern hatte sich etwas gelockert, war etwas sanfter geworden.

„Denk’ nicht drüber nach“, hatte er dann gesagt und den Kopf geschüttelt. „Versuch’ einfach nicht mehr an all das zu denken.“

„Leichter gesagt als getan“, hatte Nojiko zurückgemurmelt. Sie hatte ihm sagen wollen, wie dreckig sie sich vorkam, dass er jetzt nicht gehen sollte und dass er am besten nie mehr gehen sollte, doch fand sich nur bitter nickend. Dann war sie an ihm vorbeigegangen und hatte ihren Schlüsselbund aus der Hosentasche gezogen.
 

Und jetzt war sie hier und musste so tun, als hätte sie etwas zu verbergen. Das war durchaus leichter gesagt als getan. Sehr leicht sogar. Doch würde das wirklich funktionieren? Machte das überhaupt einen Sinn? Nojiko empfand es als schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Da war wieder diese alles fressende Leere, die an ihrem Verstand nagte. Genauso wie gestern, als sie über Bellamys Körper gestanden hatte, als dessen Blick tot an der sonnengefluteten Decke geklebt hatte. Würde das Gefühl jemals vergehen? Würde sie jemals wieder fähig sein, an etwas anderes zu denken?

Den Kamm wieder in den Korb schmeißend, griff sie nach der Zahnbürste und Zahnpasta. Eigentlich hatte sie überhaupt nichts anderes verdient, als an dieser Tat zu Grunde zu gehen, an dieser Erinnerung zu verzweifeln. Es wäre nur gerecht, wenn-

„Da bist du ja!“, rief Genzo aus, als er die Badezimmertür sachte aufschob. Die Zahnpasta glitt ihr aus den Fingern wie Seife und knallte auf den Kachelboden. Genzo und Nojiko starrten sich erschrocken an.

„G-Genzo...“, war alles, was sie herausbrachte. Dieser bückte sich, um die Zahnpasta wieder aufzuheben und sie auf den Rand des Waschbeckens abzulegen.

„Ich wollte dich nicht erschrecken...“, erklärte er und betrachtete Nojiko, wie sie erstarrt mit der Zahnbürste in der Hand dastand. Sie sah aus, als hätte sie gerade einen Geist gesehen. Scheinbar hatte sie ihn wirklich nicht die Treppe heraufkommen hören.

„Wo hast du gesteckt?“

„Ich hatte Besorgungen zu tätigen“, erwiderte sie ohne, dass sie groß darüber nachdenken musste. Die Worte waren ihr ganz einfach über die Lippen gekommen. Gleichzeitig wunderte sie sich, ob sie vielleicht doch besser im Lügen war, als sie angenommen hatte.

„Du meinst das Fleisch für das Barbecue, richtig?“

„Ja, nein,... also-“ So viel dazu, sich auffällig zu verhalten. Da brauchte sie wirklich nichts tun, das schaffte sie auch so sehr gut. Sie wedelte kaum merklich mit der Zahnbürste. „Ich meine, das besorg’ ich noch rechtzeitig, Genzo.“

Dieser nickte zunächst wortlos und senkte den Blick.

„Ich weiß, wie du dich fühlst, Nojiko“, sagte er dann und zupfte sich beinahe verlegen an dem schwarzen Schnurrbart. „Das mit Nami... geht an mir auch nicht spurlos vorbei.“ Als sich ihre Blicke begegneten, lächelte Genzo grimmig. Nojiko, die ihn schon seit ihrem fünften Lebensjahr kannte, war sich jedoch bewusst, dass es aufmunternd gedacht war. Sie erwiderte es zögerlich und ließ endlich die Zahnbürste sinken.

„Übrigens hat sie nach dir gefragt“, fügte Genzo inzwischen noch hinzu, bevor er sich umdrehte und wieder die Treppe hinunterging. „Und das nächste Mal, wenn dieser Scheißtyp auch nur ein falsches Wort sagt, dann wird er mich kennen lernen“, konnte sie seine sich entfernende Stimme meckern hören. Nojiko lächelte traurig.

Dann begann sie ihre Zähne zu putzen, während sie den starren Blick ihres Spiegelbildes erwiderte. Sie sah ängstlich aus, verletzt irgendwie. Ganz so, als wäre sie anstelle dieses Mistkerls die Treppe heruntergestürzt. Vielleicht war sie es im gewissem Sinne auch.

Und da war auch noch die Sache mit der Grillparty. Die hatte sie vollkommen vergessen gehabt. Verdammt! Dabei wollte sie gar nichts weiter tun, außer in ihr Bett kriechen, sich Decke über den Kopf ziehen und nie mehr herauskommen.
 

Das Barbecue sollte um vier Uhr beginnen, was Nojiko noch viel Zeit ließ, mit dem Truck in die Stadt zu fahren. Diese war ungefähr fünfzehn Minuten von ihrem Haus entfernt, da sie am äußersten Rand von Kokosville lebten. Das Haus lag schon seit Generationen in der Familie. Als Bellemere bei einer Schiesserei in der Bar, in der sie gearbeitet hatte, vor ungefähr vier Jahren erschossen worden war, hatte sie es Genzo und ihren Töchtern vermacht. Seitdem hatte sich eine Menge geändert. Das Einkommen war weniger und die Schäden am Haus summierten sich. Außerdem war Unwissenheit zu bitterer Gewissheit geworden: Kriminelle machten leider nicht vor Kokosville halt. Mörder lebten auch hier - wie wahr.
 

Das tiefe Brummen ihres Trucks, als sie später der langen Straßen folgte, die sich verloren durch die unbebaute Landschaft schlängelte, beruhigte den Tumult in ihrem Kopf. Die Angst, entdeckt und weggesperrt zu werden, wurde die Kontrolle entrissen, um sie ihren rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben. Genau so wie es auch sein sollte. Nojiko atmete tief durch, während sie in Gedanken wieder zu Ace zurückkehrte. Was er wohl gerade tat? Einen Augenblick stellte sie sich ihn vor, wie er die Tür zur Polizeistation aufriss, um den Deputies, Yosaku und Johnny, alles zu beichten und ihnen zu sagen, wo sich die Leiche befand. Doch sie wusste, dass Ace das nicht tun würde. Nicht nur, weil er mitten drin steckte, sondern vielmehr, weil sie ihm blind vertraute. Es war einfach, Ace zu vertrauen. Bei ihm war eigentlich alles ganz einfach. Manchmal beneidete Nojiko ihn darum. Allerdings... war jetzt nicht die Zeit, irgendjemanden zu beneiden. Sie schaltete das Radio ein und änderte den Kanal, als Countrymusik aus dem Lautsprecher dudelte.
 


 

Tbc.
 

VI. Das Barbecue. Gedanken. Ein Geständnis.

Das Barbecue war nach so vielen Jahren schon zu einer festen Tradition in Kokosville geworden. Es wurde jeden Frühling abgehalten, dass die gesamte Nachbarschaft den Beginn der warmen Jahreszeiten begrüßen konnte. Es war ein Vorwand, um draußen im Garten zu sitzen, zu grillen und zu tratschen und einfach die Arbeit liegen zu lassen und sich zu entspannen. Gerade dieses Jahr lag die Grillparty auf einem besonders guten Tag. Der Himmel war blau mit Schäfchenwolken hier und da und auch die Temperaturen lagen bei 78 Fahrenheit.

Die meistens Bewohner von Kokosville hielten nur kurz bei sich zu Hause, bevor sie zu Genzo, Nojiko und Nami fuhren. Deswegen war die Auffahrt und der Straßenrand schon um kurz nach vier Uhr mit Wagen aller Arten zugeparkt und auch in dem riesigen Garten hinter dem Haus wimmelte es von Menschen.

Alle schienen heiter und ausgelassen, wie Nojiko abschätzend durch das Fenster in ihrem Zimmer beobachtete. Sie konnte Genzo sehen, der bei dem Grill, der ein halbes Vermögen gekostet hatte, stand und sich mit einigen Männern aus der Nachbarschaft unterhielt. Wahrscheinlich redeten sie über Politik, das war immerhin eines von Genzos Lieblingsthemen. Auch Ace war anwesend, denn selbst wenn Genzo ihn nicht leiden konnte, war er ein Teil von Kokosville. Er machte da einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Menschen Genzo und dem Sheriff Genzo, weshalb er zwar alle einlud, obwohl er eigentlich nicht alle auf seinem Grundstück haben wollte. Das war eine der vielen Seiten an Genzo, die Nojiko schätzte. Früher hatte sie das nicht verstanden, aber mit dem Alter kam bekanntlich die Weißheit.

Trotzdem kam sie sich jetzt vor, als habe sie alles in den Dreck gezogen, wofür Genzo stand. Hatte sie doch auch, nicht? Schließlich war er nicht für Selbstjustiz, sondern dafür, dass man zu ihm kam und er als Sheriff für Gerechtigkeit sorgte – doch sie hatte es alleine in die Hand genommen, anstatt zu ihm zu gehen. Schlimmer, sie hatte es vermasselt, schlichtweg versagt. Und nun stand sie hier an ihrem Fenster und spürte Nervosität in ihrem Inneren aufwallen, sobald sie auch nur ans Heruntergehen dachte. Plötzlich wünschte sie sich, Nami wäre hier und nicht noch im Krankenhaus. Nami war die Mutige von ihnen. Sie war die, die sich durchsetzte und Nojiko dazu brachte, Sachen zu tun, die sie sonst nicht tun würde. Zum Beispiel, bei Namis Freund mit einer Knarre auftauchen und ihm androhen, dass wenn er nicht seine beschissenen Finger von ihrer Schwester ließ, sie ihm eine Kugel durch den Schädel jagen würde.

Mit dem Gedanken an Nami, strich sie sich ihr grünes Top glatt, das sie zu einer schwarzen Leggins trug, durchquerte das Zimmer und stieg bedächtig die Stufen herunter. Denn trotz allem,... sie bereute nicht, was sie getan hatte. Bellamy war ein Mistkerl gewesen. Er hatte Hand gegen ihre kleine Schwester erhoben!
 

Als sie auf die Veranda hinter dem Haus trat, die auf eine riesige Wiese herunterführte, an dessen Rand Orangenbäume standen, ließ sie ihren Blick über die Bewohner von Kokosville gleiten. Kinder saßen mit Decken im Gras und spielten. Ihre Eltern saßen mit Essen und Trinken an den aufgebauten Tischen daneben und unterhielten sich. Zwei blaue Sonnenschirme waren aufgestellt worden und Genzo drehte gerade das Fleisch auf dem Grill um. Stimmengewirr lag in der Luft, vermischte sich mit Vogelgezwitscher. Gegen ihren Willen lauschten ihre Ohren nach bestimmten Stichworten, die mit Bellamy oder seinem Mord zu tun hatten. Die Unterhaltungen um sie herum waren jedoch von vollkommen unschuldiger Natur. Sanji, der im Imbiss keine zwei Meilen von hier arbeitete, flirtete mit seiner Vorgesetzten und ein Kind bettelte seine Mutter nach Schokolade an. Nojiko fand sich schwach grinsend, als ihre Augen auf Ace hängen blieben und sie zu Genzo herüberging. Ace saß an einem der Tische mit Ruffy, Zoro, Yosaku und Johnny. Ihr Lachen konnte sie trotz der Entfernung und der anderen Stimmen vernehmen. Sie unterhielten sich lautstark und machten sich gleichzeitig über ihre Teller her.

„- die Kriminalitätsrate ist deutlich zurückgegangen“, riss es sie aus ihren Gedanken. Nojikos Kopf ruckte in Genzos Richtung, noch bevor sie den Zusammenhang der Worte verstanden hatte. Keine Ahnung, warum sie darauf reagierte, doch plötzlich raste ihr Herz. Panik stieg hoch, genauso wie etwas, das sie nicht benennen konnte.

„Ja, laut der Statistik“, erwiderte einer der Männer, mit denen Genzo die Konversation führte. „Aber der kann man auch nicht immer vertrauen. Es gibt genug Fälle, die nicht gemeldet oder berechnet werden.“

Inzwischen stand Nojiko auch weiterhin hinter Genzo, als wäre sie zur Salzsäule erstarrt, während ihr Magen sich umdrehte. Vergessen waren alle guten Zusprüche und Gedanken, die sie vor einer Sekunde noch gehabt hatte. Zurück waren Schuld und... diese alles fressende Leere.

„Alles in Ordnung?“, wurde sie von einem der Männer angesprochen und auch Genzo wandte sich zu ihr herum.

„Du bist leichenblass, Nojiko“, stellte er fest und Nojiko spürte, wie ihr schlecht wurde. Sich eine Hand auf den Mund pressend, drehte sie sich um, ging ein paar Schritte und übergab sich in die Rosenbüsche vor der Veranda. Die Kommentare von Nahestehenden hörte sie nicht, sie hustete lediglich, um den Rest herauszubekommen und wischte sich mit einer Hand die Tränen aus den Augenwinkeln.

Eine Hand begann beruhigend ihren Rücken zu streicheln und schob ihr ein paar kurze Haarsträhnen aus dem Gesicht. Es war Genzo, wie sie aus dem Augenwinkel bemerkte – und wenn sie noch mehr im Magen gehabt hätte, hätte sie sich noch einmal übergeben, da war sie sich sicher. Aber so spürte sie nur noch mehr Tränen aus ihren Augen in die Freiheit springen.
 

Als Nojiko eine halbe Stunde später und zweimaligen Zähneputzen an einem Tisch im Garten saß, war wieder alles beim Alten. Das Spektakel war vorüber und es war Ruhe eingekehrt. Auch in ihr selbst, so komisch wie es sich anhören mochte. Alles in ihr war müde und kaputt, dass sie nur dasaß und auf einen Punkt starrte. Sie wusste gar nicht, wie lange. Irgendwann jedoch wandte sie ihren Blick wieder zu Ace und den Jungs, die noch immer einige Tische weiter saßen. Sie könnte Ace stundenlang beobachten, ohne dass es ihr langweilig wurde. Jetzt bemerkte sie es noch nicht einmal, weshalb es sie überraschte, als er ihren Blick nach einer Weile erwiderte. Er war ausdruckslos, zumindest konnte sie ihn nicht lesen. Sicherlich hatte er ihren kümmerlichen Zusammenbruch miterlebt. Wie könnte er auch nicht? Jeder gottverdammte Bewohner in Kokosville hatte es schließlich gesehen und fragte sich jetzt garantiert, was ihr Problem war. Jetzt bereute es Ace sicher, dass er ihr geholfen hatte. In Nojikos Tempo musste morgen schon die ganze Welt wissen, was sie getan hatten. Dann würden sie Zellennachbarn in der örtlichen Polizeistation werden, wo Johnny und Yosaku ihnen ein Scheibchen Brot zum Frühstück bringen würden.

Anderseits konnte sie immer noch sagen, dass sie es alles alleine getan hatte. Dass Ace nichts mit der ganzen Sachen zu tun hatte. Nojiko wusste nämlich nicht, ob sie damit leben könnte, noch ein Leben zu zerstören. Ace’ Leben zu zerstören.
 

„Nojiko...“, brachte sie Genzo wieder auf den Boden der Realität zurück, ehe er ihrem Blick folgte und mit den Zähnen knirschte. Sagen tat er jedoch nichts dazu. Stattdessen schob er ihr ein Glas Wasser über den Tisch und ließ sich seufzend auf der anderen Seite nieder.

„Geht’s dir besser?“

„Ja, mir geht’s gut“, erwiderte sie, senkte die Lider, um Genzo nicht in die Augen schauen zu müssen und nahm einen Schluck. „Mach’ dir keine Sorgen. Ich hab’ bestimmt nur was falsches gegessen.“ Sie versuchte zu lächeln, war sich aber sicher, dass es in einer bemitleidenswerten Grimasse endete.

„Du weißt, dass ich hier bin, wenn du reden willst, oder?“, hakte er nach. Daraufhin schaute Nojiko auf, sah ihn eine Weile einfach nur an. Wusste er etwas? Ahnte er zumindest, dass etwas nicht stimmte? Oder bildete sie sich das alles nur ein? Sie konnte es nicht sagen, gab auch relativ schnell auf und senkte ihre Augen auf das Glas in ihren Händen.

„Wir sind vielleicht nicht blutsverwandt, aber du kannst mir alles sagen, Nojiko. Nami und du,... ihr... seid meine Töchter“, fügte er hinzu und Nojiko konnte hören, dass es ihm nicht leicht über die Lippen ging. „Bellemere würde mir andernfalls den Kopf abreißen.“ Sie teilten ein trauriges, gleichzeitig amüsiertes Lächeln. Die Zeit heilte Wunden, sogar die, die Bellemeres Tod verursacht hatte. Ob sie auch die unendliche Leere heilen würde, die entstanden war, als Nojiko Bellamy tot auf dem Boden liegen gesehen hatte?

„Ich will mit Ace zusammen sein“, sagte sie zusammenhanglos, dass Genzo sie ziemlich überrumpelt anschaute. „Ich weiß, du magst ihn nicht, aber ich will, dass du ihn kennen lernst. Im Gegensatz zu Bellamy behandelt er mich gleichwertig. Er ist ein guter Kerl, Genzo.“ Zwar hatte Genzo ihr niemals den Umgang mit Ace verboten, aber sie hatte durchaus bemerkt gehabt, dass er es am liebsten getan hätte. Besonders, nachdem Ace schon ziemlich oft von ihm aufgegabelt worden war, weil er mit hundertachtzig Sachen die Straße heruntergebrettwert war und dabei fast das Hausschwein einer alten Dame in der Nachbarschaft mitgenommen hätte. Aber er hatte Nojikos Beziehung mit Ace trotzdem mit grimmigem Gesichtsausdruck und einem Zähneknirschen hingenommen. Kein Wunder, schließlich erinnerte er Nami und Nojiko immer wieder daran, dass sie ganz nach ihrer Mutter kamen. Sie hatten einen Willen, der sich nicht biegen oder einschränken ließ. Doch ehrlich gesagt war sich Nojiko da nicht so sicher. Nami schon, aber sie selbst?

„Dann würde ich an deiner Stelle jetzt rübergehen und es ihm sagen, bevor dem Jungen noch die Augen aus dem Kopf fallen“, erwiderte Genzo schief grinsend und zupfte an seinem Schnurbart. „Und danach könnt’ ihr Nami einen Besuch abstatten, bevor sie sich noch aus Langeweile selbst aus dem Krankenhaus entlässt.“

„Geht klar, Genzo.“ Nojiko legte ihre Hand kurzzeitig auf die ihres Stiefvaters, ehe sie sich erhob und zu Ace und seinen Freunden herüberging.

Es fühlte sich seltsam, aber durchaus richtig an. Egal, ob das mit Bellamy herauskam oder nicht, ob diese Leere in ihr verschwand oder nicht, mit Ace zusammen wäre alles erträglicher. Sie hätte schon viel früher zur Vernunft kommen sollen. Was wäre, wenn diese Sache nie passiert wäre? Hätte sie es dann nie begriffen?

„Ich geh’ Nami besuchen“, erklärte sie, als sie an ihrem Tisch ankam und die Jungs zu ihr aufschauten. „Du könntest mich begleiten, Ace.“

Dieser erhob sich wortlos, aber mit angenehmer Überraschung im Gesicht.

„Dann bis später, Jungs“, verabschiedete er sich. Danach folgte er Nojiko, die sich schon wieder auf den Weg ins Haus gemacht hatte. Auf halben Weg hatte er sie eingeholt und sie griff nach seiner Hand.

„Ich hab’ Genzo das mit uns erzählt...“, erklärte sie sich, als Ace sie von der Seite her ansah. Er verschränkte ihre Finger in einander und drückte Nojikos Hand.
 


 

Tbc.
 

VII. Krankenhaus. Zwei Schwestern. Zu offensichtlich.

„So, wir sind zusammen.“ Es war eine simple Feststellung, doch trotz des Amüsement in Ace’ Stimme, konnte Nojiko die Frage dahinter vernehmen, was sie schmunzeln hatte. Verübeln konnte sie es ihm dagegen nicht. Nein, an seiner Stelle hätte sie ebenfalls noch einmal nachgefragt, ob sie es richtig verstanden hätte.

„Bei uns hat’s gefunkt“, erwiderte sie, als Ace’ Dodge auf den überfüllten Krankenhausparkplatz auffuhr. „So, ja, wir sind zusammen.“ Daraufhin nickte Ace und beide grinsten unabhängig von einander.

Erst als Ace den Dodge in eine Parklücke fuhr und den Motor ausstellte, drehte er sich zu Nojiko herum.

„Warum hat Nami überhaupt was mit Bellamy angefangen?“ Nojiko, die schon mit halben Fuß auf dem Asphalt stand, hielt inne und begegnete Ace’ Blick über ihre Schulter hinweg. „Ich meine, es ist kein Geheimnis, dass er nicht ganz richtig tickt. Jeder wusste, was er für ein Schwein ist.“

„Du kennst doch Nami...“ Ihren Fuß zurückziehend, schloss sie die Autotür wieder. Das war nichts, was sich in zwei Worten abhandeln ließ. Es war auch nichts, was sie mit möglichen Zuhörern besprechen wollte. Dafür war ihr das Thema zu heikel. Dieser Ort war ein Dorf, wo schon der kleinste, aufgeschnappte Wortfetzen sich wie ein Laubfeuer verbreitete. „Das Designercollege in Ohara, das Nami besucht, ist eines der teuersten überhaupt. Obwohl sie ein Stipendium und einen Job hat, reicht es nicht, um die Kosten zu tragen. Natürlich steuert selbst Genzo etwas dazu, aber als Sheriff macht er auch kein Vermögen. Das muss ich dir wohl nicht sagen.“

Nojiko lächelte zu ihm herüber, was Ace mit einem Grinsen erwiderte. „Aber Nami will ihm auch gar nicht auf der Tasche liegen.“ Ihr Blick streifte durch die Frontscheibe des Dodge über den Parkplatz und sie beobachtete die Menschen und Autos, die kamen und gingen.

„Dann war sie nur hinter seinem Geld her?“ Ace lachte beinahe lautlos auf, als er sich wieder tiefer in den Sitz sinken ließ. „Ganz schön fies.“

„Sie wusste ja, dass Bellamy sie als seine Freundin haben wollte.“

„Wohl eher Vorzeigefreundin“, warf Ace ein, das faule Grinsen noch immer am Mundwinkel.

„Ja, und so haben beide bekommen, was sie wollten. Nami wollte ihn in den Wind schießen, sobald sie das Studium in der Tasche hat.“

„Das hat sich ja jetzt erledigt...“, erwiderte der Schwarzhaarige, woraufhin Nojiko sich auf die Unterlippe biss und kurz darauf kommentarlos ausstieg. Wahrscheinlich sollte sie froh sein, dass es sich erledigt hatte, dass das Thema jetzt vom Tisch war, aber das fiel ihr schwer. Das Bild von Bellamy, wie er da leblos auf dem Teppich lag und an die Decke geschaut hatte, wollte nicht verschwinden.

„Nojiko, hey“, entwich es Ace, der ebenfalls ausgestiegen war und sie nun einholte. Er packte sie sanft an der Schulter, zwang sie in ihrem Schritt innezuhalten. „Sorry.“

„Schon gut“, murmelte sie und lächelte aufgesetzt. Ace schien es zu bemerken, denn er legte die Arme um ihre Schultern und zog sie an sich - und es tat so gut seinen Körper an ihrem zu spüren. Es war ein bisschen wie früher, obwohl sie wusste, dass es nie mehr wie früher werden würde. Früher war gestern, bevor sie den Anruf aus dem Krankenhaus bekommen hatte. Jetzt war Zukunft, die nicht so zuversichtlich aussah, wie sie sein sollte. Sie war falsch abgebogen auf der Straße des Lebens und konnte nicht umdrehen, weil es sich als eine Einbahnstraße herausgestellt hatte. Da gab es kein Zurück, keine Entschuldigung, die alles rechtfertigte. Ihr Arme schlossen sich um Ace’ Hüfte, während sie ihre brennenden Augen schloss.
 

Kurz darauf betraten beide das Krankenhaus durch die Notaufnahme und ließen sich von der Schwester in der Anmeldung Namis Zimmernummer geben. Obwohl es sich um ihre Schwester handelte, spürte Nojiko Aufregung einen Knoten aus ihren Gedärmen binden. Die Hand, die sie zum Klopfen hob, gefror auf halben Weg. Sie hatte Nami bisher noch nicht gesehen, nicht gesehen, was Bellamy mit ihr gemacht hatte. Nein, sie war ohne Zögern zu Genzos Schrank gegangen, hatte die Glock geholt und hatte sich auf den Weg zu seinem Haus gemacht. Da war kein Nachdenken und Planen gewesen, sondern nur ein instinktives Reagieren.

Ace’ Finger, die sich um ihr Handgelenk schlossen, rissen sie aus ihren Gedanken, brachten sie wieder auf den Boden der Realität zurück. Verwundert sah sie ihn an, doch auf seinen Lippen lag nur sein übliches Schmunzeln. Es war fast so, als kannte er jeden noch so winzigen Gedanken, der ihr durch den Kopf ging – und als akzeptierte er sie alle. Das hatte sie ebenfalls schmunzelnd. Wortlos beugte sie sich zu ihm herüber, die freie Hand in seinen Nacken legend, um ihn zu küssen. Dann klopfte sie an und trat nach einem raschen „Herein“ gefolgt von Ace ins Zimmer.

Nami lag auf dem Bett, ein Stofftuch, das sich Decke schimpfte, war bis zu ihrer Hüfte hochgezogen. Das gelbe T-Shirt, das sie trug, war blutbefleckt, ein Auge zugeschwollen und ein Verband war um ihren Kopf gewickelt. Bei dem Anblick ihrer kleinen Schwester war jegliches Schuldgefühl wie weggewischt. Dieser Mistkerl hatte tatsächlich Hand gegen Nami angelegt! Verdammt noch mal! Wie hatte er es wagen können?

„Nojiko...“, entrann es Nami, dass die Angesprochene ein paar Mal blinzelte, als hatte sie etwas im Auge. Anschließend umrundete sie das Bett und griff nach Namis Hand.

„Wie fühlst du dich?“, fragte sie. „Alles in Ordnung? Was haben die Ärzte gesagt?“

„Mir geht’s gut, wirklich“, erwiderte Nami und grinste schief. „Wenn’s nach mir ging, würde ich längst zu Hause sein, aber dieser Arzt will mich noch bis morgen hier behalten. Von wegen Gehirnerschütterung, Schwellung oder so was. Totaler Mist, wenn du mich fragst.“

„Ihr geht’s eindeutig gut“, warf Ace heiter ein, der sich den Stuhl vor dem Fenster herumdrehte und sich verkehrt herum darauf niederließ, die Arme locker auf der Lehne abstützend.

„Hab’ ich was verpasst?“ Nami hob die Augenbraue des gesunden Auges, als sie Ace musterte. „Was machst du hier?“

„Dich besuchen?“, erwiderte er und zuckte amüsiert mit den Schultern.

„Nojiko?“, wandte sich die Orangehaarige an ihre Schwester. Diese grinste verlegen. Sie öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder, ohne das ein Laut ihrer Kehle entwich.

Verstehe“, erwiderte Nami mit einem Grinsen und drückte Nojikos Hand, woraufhin diese ihre Wangen leicht brennen spürte. Sie starrte auf ihre Hände herunter und mied den Blick in Ace’ Richtung, der nur leise im Hintergrund lachte.

„Hörst du, Nojiko“, entwich es ihm. „Sie versteht. Das klingt, als hätten wir grad dreckigen Sex irgendwo auf einer billigen Raststätte gehabt.“

„Hattet ihr nicht?“, feixte Nami. „Ihr enttäuscht mich!“ Unwillkürlich schlich sich ein Grinsen auf Nojikos Lippen.
 

Als sie eine knappe Stunde später Kaffee vom Automaten im Gang holte, hatten sich ihre Nerven wieder beruhigt. Nami ging es trotz ihrer äußerlichen Erscheinung gut und das war letztendlich alles, was zählte. Die Last auf Nojikos Schultern fühlte sich gleich viel leichter an – und obwohl sie noch immer da war, vergaß sie Bellamy und sein Grab im Wald für einen winzigen Moment. Die Krankenschwester, die vorbeilief, lächelte sie an und Nojiko erwiderte es, als sie zwei Kaffeebecher füllte. Der Automat befand sich am Ende des Ganges, in dem auch Namis Zimmer lag. Auf dem Rückweg dorthin spähte sie in die offenen oder angelehnten Türen, konnte hier und dort ein Gesicht ausmachen, das ihren Blick manchmal sogar erwiderte.

Wenn Nojiko ehrlich sein sollte, mochte sie keine Krankenhäuser. Nein, sie stellten ihr die Nackenhaare auf mit dem ständigen Geruch nach Desinfektionsmittel. Abgesehen davon, dass ihr Instinkt ihr sagte, reißaus zu nehmen, weil hier mehr Menschen starben als lebten. Ihr rationaler Verstand wusste, dass das Unsinn war, dass eine Menge Leben gerettet wurden. Zumindest Namis, wenn schon nicht Bellemeres. Obwohl es vier Jahre her war, konnte sich Nojiko daran erinnern, als wäre es gestern geschehen. Sie konnte sich haargenau daran erinnern, wie blass Genzo geworden war, als er den Anruf aus dem Krankenhaus bekommen hatte. Man hatte versucht die Blutung zu stoppen, doch die Kugel hatte zu viel Schaden angerichtet. Eine Kugel hatte Bellemere getötet, weshalb Nojiko auch niemals abgedrückt hätte. Doch wie sich herausstellte, brauchte es nicht einmal eine Kugel, um das Leben eines anderen Menschen zu nehmen. Das schlimmste an diesem Gedanken war, dass...

„Nojiko!“

Erschrocken fuhr die Angesprochene herum, hätte beinahe die Kaffeebecher fallen gelassen. Mit geweiteten Augen sah sie zu, wie Genzo mit Johnny im Schlepptau auf sie zutrat. Was machten sie hier? Beide waren in zivil gekleidet, aber Nojiko konnte es in Genzos vernarbtem Gesicht ablesen, dass es Business war, das ihn hierher führte. Bellamy! Nojiko schluckte hart.

„Genzo, solltest du nicht bei deiner Grillparty sein?“, fragte sie, als sie keine sechs Meter von Namis Zimmer im Gang standen.

„Erinner’ mich bloß nicht daran...“ Ziemlich angepisst verzog er das Gesicht und kratzte sich an der Schläfe. „Marietta ist vorbeigekommen, kurz nachdem ihr gegangen seid und hat einen ganz schönen Aufruhr veranstaltet.“ Ganz nebenbei hob Johnny die Hand und grinste zu Nojiko herüber, die ihn ebenfalls stumm begrüßte. Allerdings hing sie förmlich an Genzos Lippen und sie spürte, wie ihr Magen sich erneut umdrehte.

„Marietta?“, wiederholte sie. „B-Bellamys Putzfrau? Was hat sie denn gesagt?“

„Sie war außer sich!“, informierte sie Johnny, der seine Sonnenbrille richtete. „Du hättest sie sehen sollen! Sie ist felsenfest der Meinung, Bellamy ist irgendwas zugestoßen.“

Das war der Punkt, an dem sich Nojiko abermals übergeben hätte, wenn sie noch etwas im Magen gehabt hätte. Sie starrte mit einem Kloß im Hals von Johnny zu Genzo herüber.

„Scheißkerlen wie dem passiert nichts. Nicht mal das Gesetz.“ Genzo schnaubte verärgert. „Na ja, wie auch immer. Bevor die vierundzwanzig Stunden um sind, können wir sowieso nichts machen. Bis dahin wird er wohl wieder aufgetaucht sein. Wenn nicht, dann wird Marietta wohl eine Vermisstenanzeige aufgeben müssen, wenn sie ihn wiederhaben will.“

„Schon traurig, wenn die Putze die Einzige ist, die einen vermisst.“ Johnny grinste schief und Nojiko lächelte gekünstelt.

„Alles klar, Nojiko?“ Eine Hand auf ihre Schulter legend, musterte Genzo sie genau. „Du siehst schon wieder so blass aus.“

„Nein,... es ist alles in Ordnung“, lenkte sie ab, wollte abwehrend die Hände hebend, bis ihr einfiel, dass sie noch immer den Kaffee trug. „Warum seid ihr dann hier, wenn ihr in Bellamys Fall noch nichts tun könnt?“

„Ich hatte gehofft, dass wenn wir beide noch mal auf Nami einreden, sie sich zu einer Anzeige überreden lässt“, gab Genzo zähnknirschend von sich und Nojiko begriff, dass er genauso über Bellamy dachte, wie sie selbst. Nur konnte er sich nicht über das Gesetz erheben, weil er das Gesetz in Kokosville war und als Vorbild aller galt.

„Glaubst du wirklich, du kannst Nami umstimmen?“, entwich es Nojiko, worauf Genzo hilflos mit den Schultern zuckte.
 

Als sie das Zimmer betraten, saß Ace mittlerweile auf dem Bett und Nami hatte einen Block und einen Stift zur Hand genommen.

„Da ist doch ganz bestimmt irgendwo ein N drin“, sagte Ace heiter und studierte den hingehaltenen Block.

„Kein N“, erwiderte Nami, drehte ihn herum und kritzelte auf dem Papier herum. „Nur noch ein Ärmchen fehlt, dann hast du verloren, Ace.“ Sie grinste verschlagen, richtete dann aber ihre Aufmerksamkeit zur Tür. „Hast du schon wieder Sehnsucht nach mir, Genzo? Ging ja schnell.“

Nojiko trat ans Bett heran und gab einen der Becher mit zittriger Hand an Ace weiter, der ihn wortlos entgegen nahm. Inzwischen ließ sich Genzo auf dem Stuhl nieder, auf dem Ace zuvor gesessen hatte und unterbreitete Nami erneut sein Anliegen. Dieser reagierte wie abzuwarten war.

„Ich hab’ doch gesagt, dass ich keine Anzeige machen werde.“

„Aber Nami, du kannst diesen Mistkerl damit nicht durchkommen lassen!“, beharrte Genzo.

„Es ist meine Entscheidung und ich werd’ schon daraus meine Konsequenzen ziehen“, erwiderte sie, worauf das Thema offensichtlich für sie vom Tisch war, denn sie starrte stur auf ihren Block. Nojiko war sich sicher, dass Genzo gewusst hatte, dass es so ausgehen würde. Er sah nämlich angepisst, aber nicht sehr überrascht aus. Ihre Gene kamen nun mal von Bellemere, die sich auch nie in etwas hatte hineinreden lassen. Nami war da nicht anders und sie klärte nun mal die Sachen gerne für sich, ohne, dass sich andere einmischten.

Seufzend erhob sich Genzo, hielt auf halben Weg zur Tür aber noch einmal inne und drehte sich nachdenklich um.

„Hast du eine Ahnung, wo Bellamy steckt?“ Nami sah auf, fragend, verwirrt.

„Nein, keine Ahnung. Warum?“

„Seine Putzfrau sucht ihn. Heute war scheinbar Zahltag und er fängt sie immer bei sich zu Hause ab, wenn sie da am Putzen ist, um ihr den Check zu geben. Keine Spur von ihm und ich da-“

Der Kaffeebecher rutschte aus Nojikos Hand, verteilte seinen Inhalt mit einem dumpfen Geräusch auf dem Parkettfussboden. Sofort hockte sie sich hin, stellte den Becher auf, während sich die braune Flüssigkeit ausbreitete wie Schlamm. Panisch schaute sie zu Nami und Genzo herüber.

„Mir... geht’s wohl doch noch nicht so gut“, entrann es ihr hilflos. Sie hätte sich ohrfeigen können. Wie dumm konnte man sich eigentlich anstellen...?

„Schon gut, Nojiko.“ Sie am Arm packend, zog Ace sie auf die Beine und drückte ihr seinen Becher in die Hand. „Ich kümmer’ mich darum.“ Das Zimmer verlassend, fragte er die Schwester nach etwas zum Aufwischen. Unterdessen starrte Nojiko auf dem Becher in ihren Händen, dröhnte die Stille unangenehm in ihrem Kopf. Diesmal hatte sie es wirklich in den Sand gesetzt. Wie sehr, wurde ihr erst klar, als sie abermals aufschaute, in Genzos Gesicht blickte. Sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er ein schlauer Mann war. Um zu wissen, dass er etwas wusste, als er sich umdrehte und aus dem Zimmer verschwand. Verzweifelt sah Nojiko ihm nach, während Panik in ihr aufstieg. Was würde er jetzt unternehmen? Aber vor allem,... was dachte er jetzt? Über sie?

„Nojiko...“, konnte sie Nami sagen hören. „D-Du hast doch... nicht was zu tun damit? Nojiko? Oder?“ Da war Fassungslosigkeit in der Stimme ihrer kleinen Schwester, die ihr Tränen in die Augen trieb. Sie zusammenkneifend, presste sie sich eine Hand auf den Mund. Sie konnte aber auch gar nichts richtig machen. Gar nichts. Absolut überhaupt nichts! Als Nami sich aus dem Bett schälte und sie umarmte, konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten.
 

Tbc.

VIII. Konsequenzen. Die Mitwisser. Lebenslang.

Nojiko kehrte an diesem Abend nicht nach Hause zurück. Auf Namis Angebot hin übernachtete sie bei ihr im Krankenhaus. Eigentlich war es nicht erlaubt, doch die Krankenschwester war eine von Nojikos Stammkunden und drückte ausnahmsweise ein Auge zu. Kein Wunder, immerhin waren die Orangen, die sie auf dem Markt verkaufte, die Besten in der ganzen Gegend.

Obwohl Nojiko es nicht sagte, wusste Nami wohl, dass sie nur darauf wartete, dass Genzo mit ein Paar Handschellen zurückkehrte. Zumindest, nachdem sie Nami eingeweiht hatte. Jedes Geräusch ließ sie aufschrecken und Richtung Tür sehen, doch auch am nächsten Morgen waren weder Sheriff noch Deputies aufgetaucht. Sie wusste nicht, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war.

Auch als sie am späten Vormittag nach Hause kam, war da noch immer diese Angst in ihr, die sie schon nachts kein Auge zu tun gelassen hatte. Und als sie Genzo im Wohnzimmer mit einem Buch in der Hand sitzen sah, war ihr, als würde sie einen Herzstillstand erleiden. Leider war dem nicht so...

Es war totenstill im Haus, das einzige Geräusch, das dumpfe Zuklappen von Genzos Buch. Er legte es wortlos beiseite und richtete dann den grimmigen Blick auf Nojiko, die noch immer wie angewurzelt in der Eingangshalle des kleinen Hauses stand.

„Ich hab’ auf dich gewartet“, sagte er, deutete dann mit dem Kopf auf das braune Sofa, das dem Sessel, auf dem er saß, und dem Mahagonitisch gegenüber stand. Die Angesprochene setzte sich, mied jedoch jeden weiteren Blick in Genzos Richtung. Irgendwann hätte es zu diesem Gespräch kommen müssen, das war wohl unvermeintlich gewesen.

„Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll...“, gestand Genzo nach einer ganzen Weile seufzend. Er lehnte sich nach vorne, stützte die Arme auf die Knie ab und schaute auf den Holzoden zu seinen Füßen. Nojiko wollte etwas sagen, doch Genzo hob die Hand, brachte sie somit zum Schweigen. „Ich stell’ dir jetzt ein paar Fragen, Nojiko“, erklärte er langsam, wog jedes Wort aufs Genauste ab, „und du beantwortest sie mit einem Ja oder einem Nein. Nichts weiter, verstanden?“

„Ja.“

„Hast du mit Bellamys Verschwinden zu tun?“, fragte Genzo und Nojiko nickte, ehe sie bejahte. Die Rollos an den Fenstern, die zur Veranda herauszeigten, waren halb heruntergelassen, sperrten teilweise die Sonne aus und tauchten das Zimmer ins Halbdunkle. Die Standuhr gongte leise zur vollen Stunde und Vogelgezwitscher schalte durch ein offenes Fenster aus dem Garten hinein. Und im Wohnzimmer herrschte abermals Schweigen. Genzo sah sie nicht an, aber sie konnte auch so die Zahnräder hinter seiner Stirn arbeiten sehen.

„Ist er... tot?“, fragte er dann. Daraufhin senkte Nojiko den Blick auf ihre Hände, wo die Knöchel weiß hervorstanden, so stark wie sie sie zu Fäusten ballte. Was sollte sie sagen? Sollte sie lügen?

„Ja“, murmelte sie leise und presste die Augen zusammen. Sie konnte vermutlich jeden anlügen, aber doch nicht Genzo, nicht ihre Familie! Sogar mit geschlossenen Augen, konnte sie seinen Blick kurzzeitig auf sich liegen spüren.

„Weiß Nami davon?“

„Ich hab’s ihr gestern erzählt“, erwiderte Nojiko, erinnerte sich dann, was Genzo gesagt hatte. „Ja“, korrigierte sie rasch.

„Wer weiß noch davon?“

„Ace“, gestand Nojiko mit brennenden Augen. „Eventuell auch Zoro.“ Wissen tat er nichts, aber er hatte sie abgeholt. Auch wenn Ace’ Kumpel manchmal nicht der hellste war, konnte sie nicht sagen, ob er nicht doch eins und eins zusammenzählen könnte, wenn er von Bellamys Verschwinden erfuhr.

„Okay.“ Damit erhob sich Genzo mit knackenden Knien und schlenderte aus dem Wohnzimmer zur Küche.

„Genzo?“ Verwirrt sprang Nojiko auf, folgte ihm. „W-Was...?“

Als er abrupt innehielt, wäre sie beinahe in ihn hineingerannt. Er drehte sich zu ihr herum und sah sie ernst an.

„Du wirst niemanden davon erzählen, Nojiko. Nicht einmal mir“, sagte er und anhand seines Gesichtsausdrucks wurde ihr klar, dass er es genauso meinte, wie er es sagte. „Das hier, das ist nie passiert. Ich hab’ geholfen, euch aufzuziehen, ich hab’ euch aufwachsen sehen und weiß, dass Nami und du zwei verdammt schlaue und gerissene Mädchen seid. Was auch immer du angestellt hast mit ihm, du hast es... beseitig.“ Dann zog er Nojiko in seine Arme, sein Mund dicht an ihrem Ohr. „Heute morgen hat Marietta eine Vermisstenanzeige in der Polizeistation beantragt. Ich hab’ schon mit Nami am Telefon gesprochen. Sie weiß, dass Bellamy verschwinden wollte, nachdem er sie geschlagen hat, weil er sich über die Konsequenzen im Klaren ist. Um den Rest werde ich mich kümmern.“

„Nami?“, entwich es Nojiko verwirrt. Sie drückte Genzo leicht von sich, um ihn anzuschauen. „Das hat sie nicht gesagt.“

„Ich hab’ sie drum gebeten. Ich wollte das mit dir klären.“

„Aber warum...?“

„Ihr seid meine Töchter“, sagte er. „Bellamy ist ein Mistkerl, der Frauen schlägt. Es ist die richtige Entscheidung.“ Nojiko wusste nicht, was sie sagen sollte, weshalb sie Genzo diesmal von sich aus umarmte.
 

Nachdem Genzo gegangen war, wanderte Nojiko beinahe verloren durch das Haus. Sie konnte das alles immer noch nicht glauben. Sie wusste auch gar nicht, was sie dazu sagen oder darüber denken sollte. Vor zwei Tagen war ihr Leben noch vollkommen in Ordnung gewesen und nun hatte ihre Familie eine Leiche im Keller begraben, die sie nie mehr loswerden würde. Wie konnte sie Genzo und Nami so etwas zumuten? Sie hatten doch überhaupt nichts mit der Sache zu tun. Es war ihr Tun gewesen. Ihres ganz alleine!

Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Sie fischte das Mobiltelefon aus der Tasche, starrte auf das Display und beantwortete ungeduldig den Anruf.

„Na, schon gefrühstückt?“

„Kommt drauf an, was du mit dieser Frage bezwecken willst, Ace“, erwiderte sie und schmunzelte unwillkürlich.

„Guck’ aus dem Fenster“, erwiderte er heiter. Verwundert trat sie ans Küchenfenster und spähte hinaus auf die Straße. Der rote Dodge Viper auf der anderen Straßenseite fiel ihr dabei sofort ins Auge. Genauso wie in den guten, alten Zeiten - nur die Brottüte, die Ace aus dem offenen Seitenfenster hielt, war neu.

„Ich bin gleich da.“ Damit beendete sie das Gespräch und schnappte sich grinsend ihre Schlüssel.
 

Das Frühstück bestand aus Brötchen, eine Packung Schmelzkäse und einem Karton Orangensaft auf der Motorhaube des Dodge Viper. Die Sonne stand hoch über ihnen am wolkenlosen Himmel und das Gras um sie herum tanzte unter der unsichtbaren Hand des Windes. Die einsame Wiese inmitten des Waldstücks war ihr persönliches, kleines Versteck. Man gelangte über einen beinahe zugewachsenen Feldweg zu ihr, doch kaum jemand verirrte sich hierhin. Nur Ace und Nojiko, schon seit ihrer ersten Verabredung.

„Genzo will lügen. Für mich.“ Ihre Stimme war fest, obgleich sie noch immer verwirrt war. Nachdenklich nahm sie die letzte Brothälfte vom Papier zwischen ihnen und beschmierte sie mit dem Messer, das Ace mitgebracht hatte.

„Er liebt dich“, erwiderte Ace schulternzuckend, nahm im nächsten Augenblick einen kräftigen Schluck aus dem Orangensaftkarton. „Das ist nicht so ungewöhnlich, wie du vielleicht glaubst.“

„Was?“ Nojikos Augenbraue zuckte amüsiert in die Höhe, als sie zu ihrem Freund herübersah. „Dass man mich liebt oder dass er es vertuschen will?“

„Beides“, gestand Ace mit einem faulen Grinsen am Mundwinkel.

„Aber ich weiß nicht,... ob ich mit der Schuld leben kann.“ Und das war letztendlich doch das Ausschlagebene, oder? Schließlich musste sie die Schuld ein Leben lang auf ihren Schultern tragen. Wie sollte sie das machen?

„Wirst du wohl...“, entwich es Ace. Er stellte den Karton auf das Autodach, genauso wie er das Brotpapier dort ablegte, dann rutschte er vorsichtig näher an Nojiko heran. „Weil du willst nicht, dass dein Vater, Nami und ich in den Bau müssen, richtig? Deswegen wirst du schweigen, genauso wie wir schweigen, weil wir nicht wollen, dass dir etwas passiert.“ Er legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie sachte an sich. Nachdenklich ließ sie ihren Blick über die sonnengeflutete Wiese wandern. Irgendwie war ihr der Appetit nach dem Brötchen vergangen.

„Aber... wie lebst du so einfach damit?“, fragte sie und sah zu Ace auf, der sie daraufhin küsste. Sanft und verführerisch und als habe er alle Zeit der Welt.

„Wenn mir Zweifel kommen, küss’ ich dich einfach“, meinte er schmunzelnd, als er wieder Abstand zwischen ihre Lippen brachte. Inzwischen stahl sich eine Hand unter ihr Top, was sie grinsen hatte. „Weil dann weiß ich sofort wieder, dass es das Richtige ist. Es war ein dummer Unfall, Nojiko. Der macht dich nicht zu einem schlechten Menschen. Verdammt, du hast es aus Liebe getan. Um Nami zu beschützen. Das weiß Genzo. Das weiß Nami, ich weiß das auch. Deswegen halten wir alle den Mund – ich werd’ dich jeden Tag daran erinnern, wenn es sein muss. Du bist ein guter Mensch, Nojiko.“

„Du auch, Ace.“ Eine Hand in seinen Nacken legend, zog sie ihn in einen weiteren Kuss. Das Zirpen der Grillen überall im Gras um sie herum, war das einzige Geräusch für Meilen und Meilen in Kokosville.
 

End.



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Kommentare zu dieser Fanfic (21)
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Von:  Yinchan
2011-03-08T02:08:36+00:00 08.03.2011 03:08
ich habs mir jetz durchgelesen D:
und ich finds toll <3
ich mag deinen schreibstil >< und der storyverlauf ist echt interessant X3
ich fand es toll wie du die gefühle beschrieben hast und ich mag das ende
dieser zusammenhalt von allen 8D und ace und noji <3 ich liebe das pair so abartig Dx
solltest du nochmal was über die beiden schreiben sag mir bescheid *_* ich werde es wieder lesen!

mfg Yin
Von:  PurplePassion
2011-03-03T20:22:19+00:00 03.03.2011 21:22
ooh... es ist schon schade "end" statt "tbc" am schluß zu sehen, mir hat die ff nämlich sehr gefallen! ich hab mich immer gefreut wenn ein neues kap rauskam. :)
das ist echt süß was sie für nojiko tun, ich frage mich wie lange das wohl geht? :/
naja, jedenfalls ist es zwar schade, dass es vorbei ist, aber die ff ist dir super gelungen, wirklich! du schreibst sehr schön und beschreiberisch, dass es diese southern atmosphere hatte fand ich sowieso am tollsten, weil ich da richtig sehnsucht kriege, aber das erwähnte ich bereits am anfang der ff, dass ich das mag. :)

hmm.. du scheinst zwar nicht so viel über die zwei zu schreiben, aber ich würde mich sicherlich darüber freuen mehr von dir zu lesen (wollte ich nur mal so gesagt haben... :P)! ;)
mach's gut!
Von:  Raven
2011-03-03T11:10:35+00:00 03.03.2011 12:10
Das nenne ich mal Familienzusammenhalt! Gelungene FF. Das Ende hat mir sehr gefallen :)

LG Raven
Von:  Raven
2011-02-28T11:46:31+00:00 28.02.2011 12:46
Oh je, Nojiko kann schlecht ihre kleine Schwester anlügen. Ob sie jetzt alles sagt? ich bin gespannt. :)
Das Ace so zu ihr hält und ihr hilft obwohl sie sich ja scheinbar vorher getrennt hatten ist unglaublich. Die beiden sind so süß.

freue mich schon auf die Fortsetzung

LG Raven
Von:  PurplePassion
2011-02-28T01:04:18+00:00 28.02.2011 02:04
ach du liebe güte diese geschichte ist echt sooo toll!!!
es fasziniert mich einfach nur immer wieder wie du sachen aus one piece in diese welt deiner ff reinbringst. bellemeres tod und ohara zum beispiel. richtig cool! ;)
dass ace und nojiko total süß zusammen sind brauche ich ja garnicht sagen und zum schluß hat man total mitleid mit nojiko, die umarmung war echt mitreißend.
wie immer freue ich mich aufs nächste! ;)
Von:  PurplePassion
2011-01-14T18:15:32+00:00 14.01.2011 19:15
:D schon wieder so was tolles! und es ging diesmal so schön schnell! ich bin allerdings etwas verwirrt.. das mit "ich hab genzo das mit uns erzählt" tut sie das, weil sie echt zusammen sind oder ist es halt das mit dem "plan" den sie haben um nicht aufzufallen? ich meine, dass sie ihn liebt das bemerkt man ja, aber diese eine sache ist mir nunmal nicht klar. jedenfalls freue ich mich schon auf ein neues! :))

pp
Von: abgemeldet
2011-01-12T21:21:43+00:00 12.01.2011 22:21
als ich den titel gelesen habe dachte ich schon, jetzt wäre die ff vorbei. aber es kam dann ja zu einem ganz anderen geständnis. einem viel erfreulicherem ... *awr*
aber hab ich das jetzt richtig verstanden, dass bellemere in deiner ff die leibliche mutter von nami und nojiko ist?
Von:  PurplePassion
2011-01-04T21:29:05+00:00 04.01.2011 22:29
es ist echt spaßig zu sehen, was du aus den charas machst und wie ihre geschichten an die heuteige zeit angepasst werden. das mit bellemeres tod fand ich sehr originell, auch die kriminalität in "kokosville" war einfallsreich fand ich, da könnte man sich arlong i-wo dazudenken. und das zorros kumpels deputies sind fand ich lustig. ^^
ich freue mich wie immer auf die fortsetzung!
Von:  Wintersoldier
2010-12-06T15:37:59+00:00 06.12.2010 16:37
Ich hab ja versprochen, wenn ein Kommentar kommt, kommt der nächste gleich hinterher, also... mir gefällt ja der Satz sehr schön: „Ganz einfach“, sagte Ace und grinste verschmitzt, dass es Nojiko __blauwarm__ den Rücken herunter lief. ;P

Ich mochte die Traumsequenz am Anfang. Du stellst Nojikos Zweifel sehr nachvollziehbar da und ich bin mir fast schon sicher, dass sie nicht lange mit dieser Schuld rumlaufen kann, so wie sie sich darüber den Kopf zerbricht. Da würde man ja fast schon gerne wissen, wie Ace darüber so denkt. Der scheint so locker drauf zu sein, als sei gar nichts gewesen...

Zoros kleiner Auftritt war auch sehr schön. Bei "Ace' Kumpel" hab ich zwar irgendwie an Marcus gedacht und nicht an Zoro, aber egal. Es ist eigentlich immer gut, wenn Zoro auftaucht. ^^

So, mehr hab ich auch schon wieder nicht zu sagen. Abgesehen davon, dass ich mich schon auf das nächste Kapitel freue. ♥
Von:  Wintersoldier
2010-12-06T15:26:21+00:00 06.12.2010 16:26
So, jetzt kommt endlich auch mal der Kommentar von mir. Eigentlich hätte ich ja gedacht, wenn ich schon so lange brauch und daher auch solange darüber nachdenken kann, würde mir noch irgendwas sinnvolles einfallen, was ich zu dem Kapitel sagen könnte, aber irgendwie... finde ich einfach nichts zum Kritisieren.

Deine Charakterdarstellung ist toll, du verstehst es, die Atmosphäre richtig aufzubauen, und am den Verlauf kann man bisher auch nicht rummäkeln. Ich liebe die Interaktion zwischen Ace und Nojiko. Und der Punkt, an dem du aufhörst mit dem Kapitel, ist gut gewählt, weil immer noch alles, aber auch wirklich so gut wie alles noch passieren kann. Und gerade das macht es ja spannend. :D


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