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Ohne Worte

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Genre: Shounen Ai / Yaoi

Fandom: Original
 

Disclaimer:

Alle Charaktere dieser Story sind meinem Hirn entsprungen... mein Herz hängt besonders an Julian (übrigens im ,Original' englich ausgesprochen), also seit lieb zu ihm, okay?
 

Widmung:

Ich widme diese Story meinem Onkel und seinem Freund, denn als ich einige Tage bei ihnen war, war das beste Inspiration... Danke ihr beiden, i love you!
 

Kommentar:

Die Geschichte sollte erst TOTAL anders verlaufen und enden, aber so passte es zu den beiden süßen einfach besser.... Ich hab viel mehr geschrieben, als ich vor hatte und ich denke es is mir ganz gut gelungen... zumindest sind sie mir sehr ans Herz gewachsen (wie gesagt besonders Julian *knuddelz*...) Ich hoffe mir ist es gelungen die Story möglichst realistisch werden zu lassen....
 

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SUCH DICH IN MIR...
 

Kapitel 1 ~ Ohne Worte ~
 

„Sag mal, was machst du heute Abend noch so?“

Als erstes überhaupt nehme ich den Arm wahr, der sich bei mir einhakt, danach den leichten Geruch von Parfüm, als sie ihren Kopf an meine Schulter lehnt. Mir wird schlecht davon...

„Ich weiß noch nicht so genau...“, antworte ich, sogleich sicher, dass es die schlechteste Antwort war, die ich hätte geben können.

„Hast du nicht Lust, etwas mit mir zu machen?“

Die Tür zum Fahrstuhl öffnet sich und einige Leute kommen uns entgegen. Sven, ein guter Kollege von mir, lächelt und grüßt, geht dann mit einem anderen Mann, den ich nur vom Sehen kenne, weiter. Kurz schaue ich den beiden hinterher. Sven sieht in diesem Nadelstreifenanzug wirklich gut aus... beneidenswert.

„Also?“

Anne zieht mich in den Fahrstuhl. Was sie mich gefragt hat, habe ich schon ganz wieder vergessen.

Auf meine Nachfrage hin lacht sie nur und wiederholt sich.

„Was denn?“, frage ich, auch wenn ich am besten gleich mit ‚nein’ geantwortet hätte.

„Kino vielleicht?“ Sie sieht mich durch den Spiegel an der Fahrstuhlwand an. Eigentlich hat sie wirklich schöne Augen, aber irgendwie wollen sie einfach nicht in ihr Gesicht passen... finde ich zumindest. „Oder wollen wir was essen gehen?“

Eigentlich will ich noch immer absagen, aber ihr bittender Blick lässt mich auch diesmal wieder weich werden. Irgendwie mag ich sie ja auch...

„Was läuft denn im Kino?“, frage ich stattdessen.

„So eine neue amerikanische Komödie... keine Ahnung, wie die heißt...“

Ich seufze - „Meinetwegen...“ - und sie beginnt zu strahlen.

„Toll!“ Im gleichen Moment öffnet sich die Fahrstuhltür. „Holst du mich gegen halb Acht ab?“, fragt sie.

Wir setzen währenddessen unseren weg fort, verlassen das Gebäude und betreten die Parkplätze, wo sich unsere Wege trennen werden.

„Okay...“, antworte ich widerwillig und bleibe stehen, weiß schon jetzt, dass ich meinen Abend lieber anders verbracht hätte... und wenn es allein vor dem Fernseher gewesen wäre...

„Bis dann!“ Sie streckt sich etwas, drückt mir einen feuchten Kuss auf die Wange. Dann verschwindet sie in der nächsten Reihe parkender Autos.

Wieso habe ich bloß zugesagt?
 

Das Selbe frage ich mich selbst am Abend noch, als ich vor ihrer Wohnungstür stehe.

Wieso gehe ich eigentlich immer wieder auf Verabredungen mit ihr ein? Fast jedes Wochenende will sie etwas mit mir machen und ich kann einfach nicht ‚nein’ sagen.

Natürlich, Anne ist nett und als ich sie vor eineinhalb Jahren kennengelernt habe, überkam mich auch ein Anflug von Verliebtheit, doch das ist längst vergangen. Mittlerweile ist sie eine wirklich nette Kollegin, in gewisser Hinsicht auch Freundin, bei der ich aber überhaupt nicht das Bedürfnis habe, mehr daraus werden zu lassen. Sie allerdings nimmt das wohl ganz anders wahr...

Ich klingele... und nur ein paar Sekunden später wird auch schon die Tür aufgerissen. Zu meiner größten Überraschung steht Anne im Bademantel und mit einem Handtuch auf dem Kopf vor mir... sieht mich entgeistert an.

Eigentlich hatte ich noch nie etwas gegen Unpünktlichkeit, aber jetzt stört es mich irgendwie tierisch.

„Du bist zu früh!“, meint sie hektisch, versucht dann aber auch gleich wieder ein Lächeln... wahrscheinlich um sich ihre Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Sie tritt zur Seite. „Komm rein...“

„Also meine Uhr zeigt fünf vor halb...“, erwidere ich.

„Ähm... na ja...“

Ich versuche es mit einem freundlichen Lächeln wettzumachen und trete dann endlich an ihr vorbei in die Wohnung, die sie allein mit ihrer Katze Aisha bewohnt. Das Tier liegt auf dem Sofa und schreckt hoch, als ich mich niederlasse... Doch kurz darauf schmiegt sie sich auch schon an meine Jeans.

„Ich bin gleich fertig!“ Damit ist Anne verschwunden.

Ehrlich gesagt... Ich habe schon jetzt den letzten Rest Lust auf Kino verloren. Ob ich noch flüchten kann?

Wohl eher nicht...

Seufzend beginne ich damit, Aisha zu kraulen und starre unter dem leisen Schnurren der Katze eine Bleistiftzeichnung an, die mir jedes Mal, wenn ich hier bin, aufs neue ins Auge springt.

Eine Frau und zwei Männern sind darauf zu sehen, wie sie gemeinsam an einem Tisch sitzen... irgendein Café wahrscheinlich. Die Drei scheinen sich freudig zu unterhalten, wobei der Jüngere der beiden, den man nur von der Seite erkennen kann, wirkt, als sei er mit seinen Gedanken ganz weit weg... Nur einzelne Farbpigmente gestalten diese Szenerie, wie zum Beispiel die Lippen der Frau, die leicht rötlich sind, oder die blonden Haare des jungen Mannes.

Ich weiß, dass eine gute Freundin von Anne dieses Bild es gezeichnet hat. Von ihr hängen noch mehrere Bilder in dieser Wohnung, bei denen die häufigsten Motive Menschen in Alltagssituationen oder irgendwelche Landschaften sind... doch dies Bild gefällt mir irgendwie von allen am besten.

Im Hintergrund sind verschwommen Häuser und andere Menschen zu erkennen, auf dem Tisch Gläser, eine offene Zigarettenpackung bei der Frau und ein Teller mit halbgegessenem Kuchen. Und doch lenkt alles nicht von den Gesichtern der drei ab, die scheinen, als würden sie gar nicht bemerken, wie sie gezeichnet werden...

Ich frage mich jedes Mal, ob Sabine es nach Modellen und aus dem Kopf gezeichnet hat.

„Bin fertig!“

Ich schrecke auf. Ich war so ins Betrachten des Bildes vertieft, dass ich nicht mal bemerkt habe, wie Anne ins Zimmer gekommen ist. Nun lächele ich sie an, stehe auf, woraufhin Aisha verwirrt hochsieht, und mustere meine Begleiterin... eigentlich nur, weil es von mir verlangt wird.

Anne trägt eine fast schon zu enge Jeans und dazu eine schwarze Bluse, bei der die obersten Knöpfe geöffnet sind. Außerdem hat sie sich die dunkelbraunen Haare hochgesteckt, was ihr Gesicht noch schmaler wirken lässt, und ihre Augen noch unpassender und größer macht.

„Du siehst toll aus!“, lächle ich und sehe den Rotschimmer, der sich auf ihre Wangen legt.

Kein Wunder, dass sie mich nicht nur als Kollegen sieht... ich gebe ihr ja wirklich genügend Anlass für irgendwelche Illusionen.
 

Der Film, den Anne ausgesucht hat, ist wirklich nicht schlecht, wie ich zu meiner Erleichterung feststelle. Man kann viel lachen und die Liebesgeschichte darin gefällt mir auch, selbst wenn sie teilweise etwas zu übertrieben kitschig ist... na ja, wahrscheinlich ist es auch genau so beabsichtigt.

Anne lehnt sich irgendwann gegen mich und verschwendet den gesamten Film über wohl keinen einzigen Gedanken daran, dass es mich stören könnte. Ein bisschen tut es das wirklich, dennoch gebe ich ihr wohl in keinster Weise dies Gefühl... nein, stattdessen lege ich sogar irgendwann meinen Arm um ihre Schulter...

Als der Film vorbei ist, will ich Anne eigentlich nur noch nach Hause fahren, aber sie bittet mich, noch etwas mit hinaufzukommen. Wieder lehnt ich nicht ab, denn eigentlich ist der Abend nicht so schlecht verlaufen, wie ich gedacht hätte.

Ob das am Kino liegt, wo man nicht zwangsläufig reden muss?

Wenig später jedenfalls wieder auf dem Sofa sitzend und Aisha kraulend, weiß ich, dass ich nun natürlich nicht so schnell wieder verschwinden kann. Warum versperre ich mir bloß selbst immer wieder alle möglichen Fluchtwege?

Anne kommt mit etwas zu Trinken zu mir und setzt sich neben mich.

Ein kleines Gespräch beginnt... über den Film, über unsere Arbeit in der Kanzlei, und ein bisschen Smalltalk...

Währenddessen sitzt Anne fast so dicht neben mir wie im Kino... und weil es zu auffällig wäre, die Katze zu verscheuchen, rücke ich nicht weg. Irgendwie scheint ein Teil von mir immer noch zu hoffen, sie wolle nichts mit mir anfangen und das Ganze hier sei einfach nur freundschaftlich.

Doch dann, als es später wird, ich aufstehe, um mich zu verabschieden, und sie dabei wie gewöhnlich umarmen will, treffen ihre Lippen wie zufällig die meinen.

Hoffnung geplatzt.

Anne scheint dieser kleine Nicht-Zufall nicht im Geringsten zu stören, mehr noch, beginnt sie schnell, meine Verblüfftheit auszunutzen, indem sie mich umarmt und den Kuss intensivier werden lässt, ihrer Zunge zwischen meine Lippen drängt.

Zu meiner Überraschung fühlt es sich tatsächlich gut an, weshalb ich beginne, den Kuss zu erwidern, weshalb ich zulasse, dass Anne mich aufs Sofa hinabzieht, was Aisha fauchend aufspringen lässt... Weshalb ich erst gar nicht merke, wie sie mir immer näher kommt, bis ich plötzlich ihre Hand auf meinem Schritt wahrnehme.

Allein aus dem Schreck heraus werde ich sofort steif... Na wunderbar!

Ich spüre Annes Lächeln gegen meinen Lippen... dann drückt mich ganz aufs Sofa, kniet sich über mich und beendet schließlich den Kuss.

„Ich will mit dir schlafen...“, haucht sie in mein Ohr... und auch wenn es wahnsinnig verführerisch klingt, spüre ich dennoch keine besondere Reaktion auf ihre Worte... außer Panik vielleicht.

Was wenn...

Wieder küsst sie mich und wieder lasse ich es geschehen, lasse ich zu, dass sie den Reisverschluss meiner Jeans aufzieht. Ich schließe die Augen und warte...

Ja, so schlimm es klingen mag, ich warte tatsächlich...

Warte darauf, wie es nun weitergeht, wie es abläuft... ob es klappen wird.

Dazu muss man wohl sagen, dass meine letzte Beziehung schon eine ganze Weile her ist und – egal wie schön sie war – letztendlich des Sexes halber auseinander gegangen ist.

Ich bin scheinbar einfach nicht gut im Bett... was mir auch dies Mal wieder bewiesen wird, denn jetzt, da Anne beginnt, mich intimer zu berühren, sind an meinem Oberkörper hinabküsst und meine Erregung eigentlich ins unermessliche steigen sollte, lässt sie nach.

Ich presse meine Augenlider nur noch fester hinunter und wünsche mir, dass sich neben dem Sofa ein Loch auftut, in dem ich verschwinden kann. Doch natürlich passiert so etwas nur in Filmen... und so spüre ich ihren durchdringenden Blick deutlich auf mir, spüre die Verachtung.

„Ich... das...“ Ihre Stimme ist heiser, klingt traurig, als mache sie sich Vorwürfe.

Ich zwinge mich dazu, meine Augen wieder zu öffnen und in ihr trauriges Gesicht zu sehen. Tatsächlich erkenne ich Tränen und diese bewirken, dass ich mich gleich nur noch schlechter und schuldiger fühle. Wie gerne würde ich jetzt mit ihr schlafen, nur um ihr zu zeigen, dass es nicht ihre Schuld ist.

Und allein für diesem Gedanken habe ich all das schlechte Gewissen in mir drin wohl redlich verdient...

Ich setze mich auf und schließe sie in meine Arme.

„Es liegt nicht an dir!“, flüsterte ich ihr ins Ohr und komme mir dabei so unglaublich dämlich vor.

Wie oft wird dieser Satz täglich gesagt, von so vielen Menschen, und wie oft ist er ernst gemein, oder hilft er überhaupt?!

Wie bitte soll sie mir glauben, dass es nicht an ihr liegt?

Das weiß ich schließlich selber nicht einmal.

Anne reagiert nicht auf meine Worte, vergräbt ihr Gesicht nur ganz tief in meinem Shirt. Ihr Atem geht langsam und fest, als versuche sie, sich zu beruhigen.

Ich will einfach nur weg hier!

Keine Ahnung wie viel Zeit vergangen ist, als sie mich von sich drückt und tatsächlich ein gequältes Lächeln zu Stande bringt.

„Ist schon okay...“, sagt sie leise, doch ihre Augen sprechen eine andere Sprache.

Trotz dieser Erkenntnis nicke ich, streiche ihr durch die Haare und küsse sie.

„Ich glaub, ich sollte jetzt gehen...“

Ich bin so ein Schwein...

An der Tür schmiegt Anne sich nochmals in meine Arme, scheint es zu genießen, dass ich sie festhalte.

Über ein weiteres Treffen fällt kein Wort, wir werden uns am Montag in der Kanzlei wieder sehen.

Ehrlich gesagt fürchte ich mich schon jetzt davor.
 

~ * ~
 

Doch dann, am Montag, ist es als sei nie etwas geschehen... Anne lächelt wie immer, wirkt fröhlich wie immer und scheint, als habe sie den kleinen Zwischenfall schon ganz wieder vergessen.

Natürlich bin ich erleichtert darüber, und doch spüre ich noch immer das Schuldgefühl in mir...

Sie kann doch nicht wirklich, einfach so...

Doch tatsächlich verlaufen die nächsten zwei Wochen ohne besondere Vorfälle.

Ein Mal nur treffe ich mich mit Anne zum Essen, aber davon, zu einem von uns nach Hause zu gehen, ist nicht die Rede. Dafür gewöhnt sie es sich allerdings an, mich nun bei jeder Begrüßung und Verabschiedung auf den Mund zu küssen, zwar nur kurz, aber es ist ein Kuss. Ich lasse es zu, wohl wegen meines schlechten Gewissens, das dadurch jedoch nur immer größer wird.

Gebe ich ihr mit all dem nicht ein Zeichen dafür, dass es nächstes Mal geben wird?
 

~ * ~
 

Auch als ich an diesem Morgen, einem Dienstag, aus dem Fahrstuhl steige, entdecke ich Anne sofort. Sie steht mit einem Mann im Flur und strahlt, als sie mich sieht, winkt mich herbei.

Der Mann dreht sich in meine Richtung, während ich näher komme, und gibt preis, dass er eigentlich noch ziemlich jung ist. Ich habe ihn noch nie gesehen, könnte mich zumindest nicht an ein Treffen erinnern, und doch kommt er mir irgendwie bekannt vor.

Vielleicht ein neuer Praktikant oder so?

Anne küsst mich kurz auf die Lippen, tritt dann wieder einen Schritt zur Seite, deutet auf den jungen Mann, der uns schon fast neugierig ansieht.

„Alexander, das ist Julian, mein kleiner Bruder...“

Sogleich wird mir mit einem höflichen Lächeln die Hand hingestreckt.

Ihr Bruder?

Ich ergreife die Hand, lächele und sehe ihm dabei in die Augen. Tatsächlich... Es sind die gleichen Augen wie bei Anne... allerdings, in dieses Gesicht scheinen sie mysteriöser Weise hervorragend zu passen.

„Freut mich dich kennenzulernen...“, sage ich nun ebenfalls lächelnd, wende mich dann wieder Anne zu. „Es tut mir Leid, aber ich hab eine Besprechung mit einem Mandanten...“

„Schon okay...“ Ein kurzer Kuss noch, dann verschwinde ich fast fluchtartig in meinem Büro.

Seine Augen sehen nicht nur genauso aus, sondern sind auch so durchdringend wie die von Anne...
 

Das Treffen schon vollkommen wieder vergessen, ist es drei Stunden später, als es an der Tür klopft und zu meiner großen Überraschung Julian hereinkommt, fragt, ob er stören würde.

Eigentlich tut er dies wirklich, doch versuche ich es mir nicht anmerken zu lassen, bitte ihn stattdessen, sich zu setzen.

Lächeln kommt er zu meinem Schreibtisch und lässt sich mir gegenüber nieder, während ich ihn etwas genauer betrachte. Er hat kurze, helle Haare, trägt eine alte Jeansjacke und eine Jeanshose, die farblich überhaupt nicht zur Jacke passt... dafür aber ziemlich gut sitzt.

Als ich wieder bei seinem Gesicht ankomme, sehe ich, wie er sich seinerseits in meinem Büro umsieht.

„Störe ich Sie wirklich nicht?“, fragt er und unsere Blicke treffen sich.

„Nun ja, um ehrlich zu sein, ein wenig schon...“ Ich mache eine Pause... irgendwie um zu sehen, wie er reagiert. Gleich wird er aufstehen und gehen, und aus irgendeinem nicht ersichtlichen Grund will ich das nicht. Wahrscheinlich weil er Annes Bruder ist und es gut wäre, mich mit ihm zu verstehen. Schnell spreche ich also doch weiter. „Aber da du schon mal hier bist... möchtest du vielleicht etwas trinken?“

„Nein, danke...“

Seine Antwort erleichtert mich, da mir direkt nach meiner Frage siedendheiß eingefallen ist, dass mein letzter Mandant gerade das letzte saubere Glas in diesem Zimmer benutzt hat... und dann, im nächsten Moment stellt sich mir plötzlich die Frage, wieso Julian überhaupt hier ist...

Doch bevor ich dazu komme, ihn genau das zu fragen, kommt er mir zuvor.

„Sie sind nicht so oft hier, oder?“, fragt er zu meiner Verwunderung.

„Doch, eigentlich schon... Wieso?“

„Naja... Anne redet oft von Ihnen, aber ich habe Sie hier noch nie gesehen, und dabei komm ich eigentlich immer mal wieder vorbei.“

Während er spricht, beginne ich mich zu fragen, wieso er mich siezt... Irgendwie ist mir das unangenehm, denn so viel älter bin ich nun auch wieder nicht... nehme ich zumindest an. Vielleicht weil ich der Freund seiner Schwester bin? Und was soll ich machen? Vorhin habe ich ihn einfach geduzt, aber kann ich das wirklich so einfach tun?

Ein fragender Blick trifft mich.

Mist, er wartet darauf, dass ich etwas sage!

„Ähm... Ich wusste ehrlich gesagt nicht einmal, dass Anne einen Bruder hat... Sie hat nie davon gesprochen...“

Die Worte ausgesprochen, habe ich sogleich das Verlangen, mir auf die Zunge zu beißen. So was sollte man nicht sagen, vielleicht enttäuscht es ihn!

„Ach, das überrascht mich nicht... Wir sind getrennt aufgewachsen und eigentlich verstehen wir uns sehr gut, bis auf die Tatsache, dass ich schwul bin... damit kann sie wohl nicht besonders gut umgehen, selbst wenn sie es schon seit fast vier Jahren weiß... vielleicht erzählt sie deshalb nicht so gerne von mir.“

Mir bleibt der Mund offen stehen.

Was war die zweite Hälfte seines Satzes?

„Wie bitte?“, frage ich perplex... und will mir erneut auf die Zunge beißen.

Herrgott, pass doch auf, was du sagst!

„Sie meinen?“ Julian beginnt zu grinsen, was mich nur noch mehr irritiert.

Wie kann er die Tatsache, dass er schwul ist, einfach so einem Fremden sagen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken? Eine Art Abwehrmechanismus baut sich in mir auf.

„Ist... schon okay...“, stottere ich, verabscheue mich im selben Moment für meinen plötzlich so unterkühlten Tonfall. Das war keine Absicht!

Julian zieht eine Augenbraue in die Höhe, weiter reagiert er nicht.

Und nun? Die Unterhaltung, wenn es überhaupt je eine war, liegt auf Eis und mir will natürlich partout keine Frage einfallen, die ich jetzt stellen könnte. Verflixt, wieso lasse ich mich auch so schnell aus der Fassung bringen? Das passiert mir doch bei meinen Mandanten auch nie!

Aber was soll ich denn jetzt tun? Ich will ihm doch nicht zeigen, dass er mich überrascht, gar schockiert, und dass ich nicht weiß, was ich machen soll. Ich will nicht, dass er mich für untolerant hält...

„Darf ich fragen, wie alt Sie sind?“, frage ich nun stattdessen, komme mir aber irgendwie ziemlich komisch vor.

„Zu jung, um von Ihnen gesiezt zu werden...“ Sein Grinsen, dass kurz etwas verblasst war, taucht wieder auf. „Um genau zu sein, bin ich 22...“

Schon wieder überrascht er mich, denn ehrlich gesagt hätte ich ihn für jünger gehalten... 18 oder so. Dass er aber tatsächlich nur vier Jahre jünger ist als ich...

„Und was arbeitest du?“

„Ich bin Automechaniker... Zwar kein Traumjob, aber es macht Spaß...“ Sein Blick streift die Uhr an meiner Wand. „Naja... ich muss jetzt auch los...“ Er steht auf, und ich habe das Gefühl, ihn doch vergrault zu haben. Ob er gemerkt hat, was ich denke?

„Julian...“

„Ja?“ An der Tür dreht er sich noch mal um.

„Du kannst mich auch duzen, wenn du willst...“

Warum ich ihm dies gerade jetzt anbiete, weiß ich ehrlich gesagt nicht genau. Vielleicht als eine Art Friedensangebot? Oder habe ich die Hoffnung, dass er dann vielleicht... nicht geht?

„Wenn sich dazu noch mal die Gelegenheit ergibt...“

Er lächelt nicht mehr.
 

ENDE Kapitel 1

Freunde

Tom, Martin und Frank kenne ich seit der fünften Klasse und seitdem sind wir die besten Freunde.

Früher waren wir ein unschlagbares Team, haben alles mögliche zusammen gemacht... wir haben geklaut, das erste und zugleich letzte Mal gekifft, zusammen Alkohol ausprobiert, ein ziemlich wackliges und gefährliches Baumhaus gebaut, Gartenzwerge vertauscht und vieles mehr... alles halt, was einem als Kind Spaß machte und zugleich auch ein klein bisschen verboten oder zumindest nicht gerade gern gesehen ist.

Als wir in das Alter kamen, wo man anfing, Mädchen toll zu finden, verbrachten wir unsere Nächte oft bei Tom vor dem Fernseher, schauten uns Pornos an, die er von seinem Vater gestohlen hatte, und holten uns gegenseitig einen runter. Damals war das ein tolles, aufregendes Spiel, doch nachdem Tom seine erste Freundin hatte, hörte es auch schon wieder auf. Schnell war man zu alt dafür geworden... und so sprachen wir auch nie wieder darüber.

Wir anderen Drei hatten bald darauf ebenfalls Freundinnen.

Was mich anging, so war ich schon immer sehr beliebt bei den Mädchen gewesen, auch wenn ich mir nie besonders viel daraus machte. Mädchen waren zwar ganz süß und witzig, aber wirklich Spaß haben konnte man mit ihnen trotzdem nicht, fand ich zumindest. Sie begannen schnell, mich zu nerven, und ich hasste es, dass ich meine Freunde so weniger sah.

Trotzdem hatte ich viele Freundinnen... lange dachte ich wohl, dass ich einfach mal die Richtige finden müsste, doch die kam nie, bis heute nicht.

Mein erstes Mal hatte ich weit hinter den anderen, wofür sie mich immer aufzogen. Ich hatte mehr Freundinnen als sie alle und doch erst mit 17 das erste Mal Sex... das passte nicht so ganz in ihr Weltbild. Mir war es egal, ich hätte auch noch länger warten können... denn irgendwie merkte ich schon damals, dass diese Bettgeschichten einfach nichts für mich waren.

Das spürten natürlich auch meine folgenden Freundinnen, zumindest dann, wenn sie nicht mehr blind vor Liebe waren. Später wurde das zum häufigsten Trennungsgrund meiner Beziehungen, auch wenn ich das Tom, Martin und Frank nie erzählte. Das wäre mit der Zeit einfach doch zu peinlich...
 

Tom ist mittlerweile als einziger von uns verheiratet. Frank und Martin führen noch immer eine Art Lotterleben... Fast so wie ich, und doch anders... freier, genüsslicher, nehme ich an.

Beruflich sieht es so aus, dass Martin und Frank gemeinsam eine gutlaufende Werbeagentur gegründet haben und Tom, der zusammen mit mir Jura studiert hat, wurde Dozent an einer Universität.

Allgemein gesagt, haben wir alle eine Menge zu tun, weshalb unsere Treffen leider auch immer seltener werden. Nur mit Tom telefoniere ich des öfteren und da er bei mir in der Nähe wohnt, sehe ich ihn auch mehr als die anderen beiden. Frank und Martin hingegen sehe ich fast nur noch bei unseren zweiwöchentlichen Treffen zum Badminton, nach denen wir dann noch alle zusammen was trinken gehen... und ein bisschen ist es dann wie in den alten Zeiten, wenn man zusammen in ner Disko saß und über seine neusten Eroberungen sprach...

Eigentlich freue ich mich immer ziemlich auf diese Treffen... nur ab und zu würde ich dem lieber aus dem Weg gehen, denn leider sind Martin und Frank, die viel weniger von meinem Leben mitbekommen als Tom, immer sehr neugierig...

So auch heute Abend...
 

„Und? Wie läuft’s mit Anne?“, werde ich von Martin fragend angesehen... und befinde mich in genau der Zwickmühle, vor der ich mich die ganzen letzten Tage gefürchtet habe.

Mal wieder die Frage: Lügen oder Wahrheit sagen?

„Ach, eigentlich soweit alles bestens... Sie ist echt ne Traumfrau, nur manchmal ein wenig klebrig...“

Eigentlich habe ich es wirklich satt, sie anzulügen oder ständig zu übertreiben und doch mache ich es immer wieder. Ich hasse diesen Geltungsdrang in mir. Ich will nicht, dass sie denken, ich sei ein Langweiler, hätte keine Beziehungen und keinen Spaß am Sex.

Wann habe ich bloß begonnen, bei diesem Thema nicht mehr die Wahrheit zu sagen?

„Du musst sie uns unbedingt mal vorstellen!“ Frank prostet mir zu, grinst übers ganze Gesicht.

Seine momentane Flamme haben wir heute kennengelernt, da sie ihn zum Badminton gefahren hat. Eine Asiatin, etwas jünger als er, und fast als süß zu bezeichnen. Leider weiß man bei ihm nie genau, ob es ihm ernst ist oder nicht.

„Klar werd ich das, sie ist nur im Moment sehr beschäftigt...“

Ich weiß, dass gerade Frank und Martin nie denken würden, dass ich lüge, denn eigentlich waren wir immer ehrlich zueinander... Tom, der mir bei einem Telefongespräch schon ein bisschen mehr der Wahrheit entlockt hat, weiß, dass ich leider nicht immer ganz ehrlich bin...
 

Ich kann nicht genau sagen, wann es angefangen hat, dass sich unsere Quartett in zwei Duos aufgeteilt hat... aber ich denke am meisten hat sich das am Ende der dreizehnten Klasse herauskristallisiert... da, als man sich wirklich mal Gedanken um seine Zukunft machen musste, als wir erst wirklich feststellten, dass es eigentlich zwei sehr unterschiedliche Hauptinteressengebiete bei uns gab: Jura und Medien.

Während Tom und ich also büffelten, um auch bloß ein gutes Abitur abzuliefern, ließen Martin und Frank ihre Noten eher schleifen... sie hatten keine Lust zu studieren, planten stattdessen schon an ihrer eigenen Agentur herum – die allerdings erst vier Jahre später eröffnet wurde.

Jedenfalls denke ich, dass es ungefähr zu der Zeit war, dass ich mehr mit Tom als mit den anderen beiden zu tun hatte... und ich gestand mir lange nicht ein, dass ich dachte, es genau richtig getroffen zu haben, deshalb nämlich, weil Tom ernster und mehr auf meiner Wellenlänge war, weil man mit ihm besser reden konnte als mit den anderen beiden.

Dies ist auch heute noch so, selbst wenn ich immer noch großen Wert auf die Freundschaft mit Frank und Martin lege... sie gehören einfach zu uns dazu.
 

Gegen drei Uhr an diesem Freitagabend mache ich mich zusammen mit Tom auf dem Heimweg. Die letzten zwei Stunden hatten unsere Themen zum Glück nicht mehr so viel mit Frauen zu tun und ich musste nicht noch mehr lügen, was Anne angeht...

„Emilie ist schwanger...“, unterbricht Tom plötzlich meine Gedanken an die zurückliegenden Gespräche. Sofort sehe ich ihn erstaunt an und erkenne das übergroße Grinsen auf seinem Gesicht.

Es ist komisch. Egal wie chaotisch verrückt Tom immer war, gerade was Beziehungen anging, war er schon immer der ernsthafteste von uns gewesen.

„Echt? Und das sagst du erst jetzt!?“ Ich knuffe ihn lachend in die Seite. „Herzlichen Glückwunsch!“

„Wir wissen es noch nicht lange...“ Sein Ton wird sofort wieder etwas ernster. „Sie hatte mit 18 eine Fehlgeburt, und hat nun Angst, dass dies noch mal passiert... darum wollen wir noch etwas warten, bevor wir es allen erzählen... Aber ich musste es einfach loswerden...“ Fast ist es faszinierend, wie ein Mensch gleichzeitig so besorgt und doch glücklich klingen kann... „Weißt du... ich habe Angst, dass sie es verliert... Ich hätte so gern ein Kind mit ihr und ich will, dass es ihr gut geht...“

Ich nicke, bringe ein „Ja“ hervor... und starre vor mir auf die Füße.

Um ehrlich zu sein, habe ich überhaupt keine Ahnung, was ich sagen soll... doch irgendwie weiß ich, dass dies nicht so schlimm ist, dass es ihm nichts ausmacht, eine Weile einfach nur schweigend nebeneinander herzulaufen. Er wollte es einfach nur loswerden... und es freut mich, dass er es gerade mir erzählt hat.

Was mich angeht, so habe ich nie wirklich darüber nachgedacht, ob ich Kinder haben will. Eigentlich würde ich es nur als normal bezeichnen, aber ich weiß wirklich nicht, ob ich bereit bin, ein Kind aufzuziehen, egal wie blöd oder feige sich das vielleicht anhört.

Aber vielleicht muss auch dazu einfach erst die Richtige kommen...

„Sag mal, diese Anne... du liebst sie wirklich nicht, oder?“, fragt Tom wie aufs Stichwort.

Ein bisschen überrascht mich diese Frage, selbst wenn mir noch vor ein paar Stunden klar war, dass er sie mir bestimmt irgendwann stellen würde...

„Ich glaube nicht, nein...“, antworte ich zögernd. Es ist näher an der Antwort, als das übliche ‚Ich weiß nicht’.

Tom nickt nachdenklich.

„Ich frag mich echt, warum du so ein Pech mit Frauen hast, wo du doch am besten von uns allen aussiehst...“

„Ach, spinn nicht rum!“, grinse ich, „Auch mein Topf bekommt irgendwann nen Deckel...“
 

Nur ein paar Minuten später, kommen wir an die Abzweigung, wo wir uns trennen müssen. Wir verabschieden uns, verabreden, in der nächsten Woche zu telefonieren.

Ich sehe ihm nach, als er davongeht.

Gerade zwischen uns beiden gab es nie Geheimnisse... und doch weiß er nicht die ganze Wahrheit über mich und die Frauen. Selbst ihm konnte ich mein Sexproblem nicht beichten, ist es doch einfach zu peinlich.

Solche Peinlichkeiten gab es in unserer Freundschaft zuvor nie... Wir haben uns sogar einmal geküsst.

Damals waren wir dreizehn und Frank und Martin konnten zu einem unserer Videoabende nicht kommen. Das hielt Tom und mich trotzdem nicht von den Pornos ab... und als wir uns an jenem Abend befriedigten, war es inniger als jemals zuvor. Es war fast normal, dass wir uns die ganze Zeit küssten, dass wir nicht nur den Penis des anderen berührten, sondern auch den Rest des fremden Körpers erkundeten. Danach schlief ich in seinen Armen ein, und fühlte mich unglaublich wohl dabei.

Wir haben zwar nie darüber geredet, was ich jener Nacht geschehen war, und auch passierte es nie wieder, doch wir sahen in den Augen des anderen, dass wir uns nicht schämten, und es auch nicht mussten. Es war ein ganz normales Kennenlernen eines fremden Körpers, eine Neugierde auf etwas Ungewohntes.

Drei Monate später kam Tom dann mit Vera zusammen und all diese Abende hatten ein Ende.

War die Enttäuschung in mir darüber auch normal?
 

Ich drehe mich um, gehe zu meiner eigenen Wohnung. Auf meinem Anrufbeantworter sind zwei Nachrichten. Eine von meiner Mutter, die mich daran erinnert, dass ich am Sonntag zum Essen kommen wollte, die andere von Anne. Ich beschließe, sie morgen zurückzurufen, und gehe ins Bett.
 

~ * ~
 

Die letzten Tage dieses Septembers schleichen nur so dahin.

Am Sonntag der Besuch bei meinen Eltern, Dienstagabend noch ein Treffen mit Tom... ansonsten nur Arbeit und das übliche Singleleben...

Und nun ist wieder Freitag... und ich bin mit Anne verabredet.

Raclette wollte sie machen, nun, da das Thermometer sich entschlossen hat, endlich mal unter der 15 zu bleiben...

Eigentlich bin ich ein ziemlicher Fan von Raclette und da es zu deprimierend ist, es für sich allein zu machen, habe ich schon seit bestimmt zwei Jahren keines mehr auch nur gerochen... Ein Grund, die Einladung auf jeden Fall anzunehmen.
 

„Hallo!“, strahlt Anne mich an, als sie die Tür öffnet. Sie küsst mich, bittet mich herein. „Du hast doch nichts dagegen, dass ich noch jemanden eingeladen habe, oder?“

„Natürlich nicht“, antworte ich ganz automatisch, eigentlich sogar ein bisschen erleichtert...

Doch als ich dann Julian im Wohnzimmer erkenne, wird mir klar, dass ich doch etwas dagegen habe. Ich bleibe stehen, entledige mich langsam meines Mantels und betrachte ihn kritisch, wie er da sitzt und sich mit Bea, Annes bester Freundin, unterhält, während Aisha zufrieden auf seinem Schoß liegt und sich kraulen lässt.

Schon fühle ich mich wieder ziemlich verklemmt. Wieso ausgerechnet er?

Im nächsten Moment bemerke ich Annes fragenden Blick. Ich lächle ihr zu und setze mich wieder in Bewegung, betrete das Wohnzimmer und werde erst da von den anderen beiden überhaupt beachtet.

„Hey!“ Julian beginnt sofort bis über beide Ohren zu grinsen. „Ich hätte nicht erwartet, dich so schnell wiederzusehen!“ Er wirkt fröhlich, ich versuche dem ein Lächeln entgegen zu bringen...

Ob er noch an mein komisches Verhalten denkt?

Ich reiße meinen Blick von seinen durchdringenden Augen los und schließe Bea in eine kurze Umarmung. Ganz allgemein gesehen mag ich die zierliche Frau fast lieber als Anne. Sie ist ernster und nicht ganz so impulsiv, zudem eine gute Gesprächspartnerin.

Gerade, als ich mich zögernd auf dem Sofa niedergelassen habe, ruft Anne etwas aus der Küche und Bea steht auf, um ihr zu helfen.

Statt nun aber Julian zu beachten, wende ich Aisha meine Aufmerksamkeit zu, starre das schnurrende Wesen regelrecht an, um beschäftigt zu wirken.

„Aisha gehört eigentlich mir, aber da, wo ich jetzt wohne, konnte ich sie nicht so gut behalten...“, meint er, was mich etwas abwesend die Frage stellen lässt, wo er wohnt. „Ich wohne in ner WG mit zwei anderen Schwulen.“

Hätte ich nicht gesessen, wäre ich nun umgekippt... Stattdessen werde ich wahrscheinlich knallrot.

Wieder dieses Wort.

Ich starre die Katze noch intensiver an, hoffe darauf, dass Bea und Anne gleich zurückkommen.

Da höre ich Julian leise kichern und hebe erst jetzt wieder meinen Blick um ihn fragend anzusehen.

„Du reagierst fast wie Anne, wenn ich so was sage... Darum zieh ich sie manchmal ganz gern mit so was auf...“

Ich spüre, wie ich noch röter werde. „Versteh mich nicht falsch... ich...“

„Keine Sorge, ich verstehe schon...“ An seinen Worten beunruhigt mich nur dieser durchdringende Blick, als wisse er, dass ich etwas verheimliche.

Wir schweigen, ich suche fast verzweifelt nach einer Frage... und will mich zwingen, seinen Augen auszuweichen, was allerdings misslingt.

Dafür fällt mir eine Frage ein: „Was wolltest du eigentlich letzt bei mir?“

„Nun... sagen wir, du warst mir sympathisch...“ Er sieht mir noch fester in die Augen und lächelt.

Erst jetzt schaffe ich es, meinen Kopf abzuwenden... und zu meiner Erleichterung kommen kurz darauf Anne und Bea mit einem Kräuterbutterbaguette und ein paar Schälchen zurück.

„Gleich geht’s los!“, grinst Anne, zwinkert mir zu und dreht sich dann noch mal um, um den Rest zu holen.

Während ich ihr mit meinem Blick folge, fällt meine Aufmerksamkeit auf die Zeichnung neben der Tür.

Plötzlich weiß ich, dass Sabine Modelle hatte... und plötzlich weiß ich, woher mir Julian bekannt vorkam. Nun erkenne ich den blonden, jungen Mann auf dem Bild, nun begreife ich, dass er der Selbe ist, wie der, der mir nun gegenüber sitzt. Aber ich fand den Jungen auf dem Bild immer so faszinierend... und nun, wenn ich nun daran denke, dass er...

„Das hat Bine vor vier Jahren gezeichnet...“ Seine Stimme lässt mich zusammenzucken, die reale Version nun wieder ansehen. „Das eine ist mein Ex, das andere Bines Schwester. Eigentlich gehörte das Bild auch mir, aber es hat Anne so gut gefallen und außerdem fand ich es komisch, den Kerl, der mich betrogen hat, bei mir aufzuhängen...“ Er zuckt mit den Schultern, grinst... und während Bea anfängt zu lachen, etwas von „tollem Wortwitz!“ sagt, fühle ich mich nur noch verklemmter.

Dabei habe ich mich doch eigentlich wirklich auf diesen Abend gefreut...
 

Die restlichen Stunden vergehen allerdings, wiedererwarten, ziemlich schnell und zudem auch sehr lustig. Nach dem Fondue spielen wir noch ein paar Spiele und der Alkohol lässt mich zunehmend lockerer werden. Meine Verkrampfung in Gesprächen mit Julian löst sich und dann schaffe ich es sogar, ihn ganz ehrlich und frei anzulachen.

Ja, eigentlich genieße ich am Ende wirklich jede Minute, bis Bea dann sagt, dass sie nun los müsse und auch Julian beschließt zu gehen.

Kurz spüre ich fast so etwas wie eine Art Enttäuschung in mir, da ich mich eigentlich doch sehr gut mit ihm verstanden habe.

„Ich will das junge Glück ja nicht stören...“, lacht er und zwinkert mir zu, wobei ich wieder das Gefühl habe, als wisse er mehr.

Hat Anne ihm von unserem letzten missglückten Abend erzählt, und macht er sich nun über mich lustig?

Irgendwie macht mich dieser Gedanke wütend.

Julian umarmt seine Schwester, und als er plötzlich auf mich zukommt, mich mit einem selbstverständlichen Grinsen umarmt, werde ich vollkommen starr. Es ist ein komisches Gefühl, von einem anderen Mann als Tom umarmt zu werden, doch es fühlt sich nicht schlecht an.
 

~ * ~
 

Der Oktober dieses Jahres schien unter keinem guten Stern zu stehen...

Jedenfalls kann man sagen, dass eine ganze Menge schief lief in diesen knappen vier Wochen...

Dies begann schon bei meiner Arbeit, die stressig war wie nie... so als hätten sich alle Leute dieser Stadt gegen unsere Kanzlei verschworen. Zu allem Überfluss bekam ich dann auch noch diese dämliche Grippe, von der alle sprachen... und dann stritt ich mich mit Anne, da es beim nächsten Sexversuch wieder nicht klappte – wenigstens vertrug ich mich auch diesmal wieder mit ihr.

Doch die schlimmste Sache dieses Oktobers war wohl das Telefonat, das ich von Tom bekam... und in dem er mir mitteilte, dass Emilie eine Fehlgeburt erlitten hatte.

Viele Abende verbrachte Tom danach bei mir, während Emilie nur ihre Schwester an sich heran ließ. Tom war vollkommen mit den Nerven am Ende, wollte seiner Frau helfen, doch wusste nicht wie, da sie sich nicht helfen ließ.

Unsere langen Gespräche mögen ihm auf lange Hinsicht wohl nicht geholfen haben, aber wenigstens gelang es mir, ihn zeitweise aufzumuntern.

Seit ein paar Tagen erst geht es Emilie endlich wieder etwas besser und sie ließ wieder zu, dass ihr Mann sich um sie kümmerte. Es war deutlich zu sehen, was für eine Last ihm damit von den Schultern genommen worden war.
 

Eine andere Sache, die mir nicht so ganz in meine Planung passte, war, dass ich mich den ganzen Monat über immer mal wieder dabei erwischte, wie ich an Julian dachte, den ich seit diesem Abend bei Anne nicht mehr gesehen habe.

Und seit Tom wieder weg ist, sind die Gedanken nur noch häufiger geworden.

Ich stelle mir immer wieder die Frage, wann ich ihn wohl wieder sehe... oder was er gerade wohl macht.

Ist mir noch zu helfen?
 

ENDE Kapitel 2

Unruhe

Es tutet ein Mal in der Leitung.

Ich weiß noch immer nicht genau, was ich sagen soll.

Ich lege auf.

Zum dritten Mal schon das gleiche Spiel. Ich benehme mich echt wie ein Mädchen!

Eigentlich fällt es mir nie schwer, diese Nummer zu wählen, heute jedoch aus irgendeinem Grund schon. Dabei will ich sie doch nur etwas ganz Einfaches fragen...

Wieder wähle ich ihre Nummer, wieder ein Tuten, und diesmal zwinge ich meinen Finger, nicht zur Auflegtaste zu wandern.

Ein zweites Tuten.

> „Ja?“ Ihre vertraute Stimme.

„Äh... Hallo...“

> „Alex!“, kommt es sogleich erfreut.

Selbst nach der erneuten Pleite vor zwei Wochen scheint sie irgendwie immer noch zu hoffen, dass es doch noch mal klappen könnte zwischen uns.

> „Wie geht’s dir an diesem wunderschönen Samstagnachmittag?“

„Eigentlich ganz gut...“, antworte ich verkrampft. Ich atme tief durch... Am besten gleich fragen! „Meinem Auto allerdings weniger... darum rufe ich auch an...“

> „Aha?“

„Na ja... Julian hat mal gesagt, dass er Automechaniker ist...“

> „Ja, das stimmt...“

„Könntest du mir vielleicht sagen... wo ich ihn-“

> „Klar doch! Hast du was zu schreiben?“

„Ja...“

> „Ich weiß nur leider nicht, ob die noch auf haben... ist ja schon halb vier...“

„Das macht nicht’s, ich probier’s einfach mal... also?“

Schnell erklärt sie mir den Weg zu der Werkstatt.

„Danke, bis bald!“ Damit lege ich auch.

Zu schnell, oder? Ich hätte noch ein bisschen Smalltalk mit ihr führen sollen, oder?

Aber das geht jetzt nicht... mein Herz rast, und das nur aufgrund der kleinen Notizen auf diesem Zettel...
 

Einige Zeit später, als ich mit meinem Auto auf dem Parkplatz der Werkstatt fahre, erkenne ich, dass ich hier schon einmal war. Es ist noch gar nicht so lange her. Wieso habe ich ihn hier nicht gesehen? Oder er ist mir einfach nicht aufgefallen? Warum sollte er das auch, als einer der Mechaniker?

Zögernd steige ich aus, sehe mich um. Alles sieht irgendwie leer aus, fertig fürs Wochenende. Treffe ich ihn wohl nicht mehr hier an...

Fast bin ich erleichtert darüber.

Gerade als ich mich wieder ins Auto setzen will, höre ich das Quietschen einer Tür.

„Hey Alex!“

Mein plötzlich rasendes Herz sackt mir in die Hose. Sofort wünsche ich mich ganz weit weg.

Wie bin ich bloß auf diese bescheuerte Idee gekommen?

Ich drehe mich zu Julian um.

„Hallo...“ Ob mir ein Lächeln gelingt? Ich weiß es nicht.

„Was machst du denn hier?“

Julian kommt auf mich zu, während er sich die Hände an seinem Blaumann abwischt. Seine Haare sind ein bisschen länger geworden in den letzten Wochen, hängen ihm nun wirr ins Gesicht. Außerdem wirkt er irgendwie älter mit den Arbeitsklamotten und dem bisschen Öl im Gesicht.

Doch nicht nur das... irgendwie sieht er so ziemlich se-

„Mein Auto...“, verdränge ich jeglichen meiner angefangenen Gedanken schnell. „Es macht irgendwelche Zicken...“

„Und du wolltest, dass ich es mir mal ansehe?“ Ich nicke, er grinst - „Klar doch!“ – und geht auch schon auf mein Auto zu.

„Ich kann sonst auch Montag wiederkommen, wenn du jetzt Feierabend hast...“, sage ich schnell, komme mir total blöd und unerwünscht vor... und wünsche mir, dass er meinen Vorschlag annimmt.

Ich muss sofort wieder weg hier!

„Sehe ich aus, als habe ich Feierabend?“ Er grinst immer noch, ich schüttle zögernd den Kopf. „Na siehst du! Fahr ihn mir einfach mal in die Halle...“
 

Als ich durch das Tor fahre, das er mir öffnet, bekomme ich plötzlich ein noch schlechteres Gefühl bei der Sache.

Er wird doch sowieso merken, dass es nur ein Vorwand war, dass mein Auto vollkommen in Ordnung ist... Warum sage ich ihm dann nicht gleich die Wahrheit? Warum greife ich zu solch bescheuerten Lügen?

Habe ich das wirklich nötig?

Ja, wahrscheinlich habe ich das...

Julian öffnet die Motorhaube und beginnt mit seiner Arbeit, während ich meinen Blick durch die Halle schweifen lasse. Zwei andere Autos sind noch zu sehen, jede Menge Reifen, verstreutes Werkzeug.

Ich sehe wieder Julian an, der über den Motor gebeugt steht, mir zugewandt, mich aber nicht beachtend.

Die Gedanken von zuvor tauchen wieder auf... dies Mal schaffe ich es nicht, sie zu verdrängen... Denn, verdammt, er sieht wirklich gut aus. Die blonden Haare stehen ihm in dieser Länge richtig gut. Sogar der Blaumann sieht toll an ihm aus. Schon auf der Zeichnung, nach der ich ihn zugegeben nicht erkannt habe, war ich von ihm, seinem Blick fasziniert. Jetzt bin ich es noch mehr, jetzt, da er so dreckig von seiner Arbeit ist, so unordentlich und dadurch irgendwie so anziehend.

Ob er das weiß? Ich vermute schon...

Noch während ich ihn so ansehe, schaut er hoch, begegnet meinem Blick. Er grinst, wischt sich die Hände bestmöglich an einem verschmierten Tuch ab.

„Was genau ist es denn, was uns fehlt?“ Er sieht mich neugierig an.

„Ich...“ Ich schlucke, beschließe gleichzeitig, ihm nichts mehr vorzumachen... Immerhin opfert er gerade seine Arbeitszeit... und außerdem kann ich dann gleich wieder verschwinden! „Ehrlich gesagt bin ich gar nicht wegen des Autos hier...“, gebe ich als zögernd zu und senke meinen Blick.

Kurz darauf höre ich die Motorhaube zuschlagen... und dann steht Julian vor mir.

„Das weiß ich doch!“ Ein Lächeln.

„Bitte?“ Erschrocken sehe ich ihn an, spüre, wie ich rot anlaufe.

„Ich bin nicht blöd... denkst du, ich sehe deine Blicke nicht?“

„Meine... Blicke?“, stottere ich, habe das Gefühl, im Boden zu versinken.

Ein kurzes Nicken. „Du bist verwirrt von den Gefühlen in dir, und hoffst, dass ich dir helfen kann... nicht wahr?... Also stell endlich die Fragen, weshalb du hier bist...“

Er greift nach einer Flasche Wasser, die neben mir auf dem Regal steht, kommt dabei ganz nah an mir vorbei. Während er sie öffnet und trinkt, sieht er mich weiterhin fest an.

Ich will weg hier!, schreit es in mir.

Aber wieso?

Warum bin ich eigentlich so feige?

Wieso nehme ich nicht einfach mal meinen Mut zusammen? Julian wird schon nicht lachen, er ganz bestimmt nicht!

„Wie hast du gemerkt, dass du... anders bist...?“

Ich senke meinen Blick, starre auf seine Schuhe. Ich spüre, dass meine Finger zittern.

Ich bin 26, verdammt noch mal, wieso benehme ich mich wie 16?

„Du meinst ‚schwul’, Alex...“ Seine Hand unter meinem Kinn, kein Grinsen auf seinen Lippen. „Keine Angst, man kann es aussprechen, ohne dafür gleich in die Hölle zu kommen...“

Ich nicke vorsichtig, sage jedoch nichts. Er lächelt. Mein Herz beginnt wieder schneller zu schlagen. Dieses Lächeln scheint plötzlich durch meinen ganzen Körper zu ziehen.

„Ich hab es nicht gemerkt, es war einfach so... Ich mochte Jungs schon immer lieber und als ich mit 14 das erste Mal mit einem Jungen schlief, war das ganz normal für mich...“

„Und.... deine Freunde und deine Eltern... wissen sie es?“

„Ja... mit 17 hatte ich einfach keinen Bock mehr drauf, es zu verheimlichen und habe es allen gesagt...“ Er zuckt mit den Schultern als sei es ganz selbstverständlich.

„Wie... haben sie... ich meine...“

„Bei Anne weißt du’s ja... Meine Mum nahm es so ähnlich auf, mein Vater findet es noch immer nicht toll, aber er kann damit leben... und bei meinen Freunden wusste ich halt erst danach, welche ich wirklich Freunde nennen kann...“

Seine Antworten haben irgendwas Beunruhigendes an sich. Er hat nichts Mutmachendes gesagt, sondern einfach die Wahrheit. Ich sehe ihn an, ohne ihn wirklich zu sehen, spüre das fast befremdliche Schlagen meines Herzens.

„Du hast Angst, nicht wahr?“

Ich erwiderte nichts. Was denn auch?

„Du hast Angst, schwul zu sein... und weil es mit Anne nicht klappt-“

Erschrocken sehe ich ihn an. „Hat sie es dir also erzählt!“, stelle ich bitter fest, spüre Wut auf sie und Beschämtheit wegen mir.

„Nein. Man merkt es einfach daran, wie du mit ihr umgehst... Du willst nichts von ihr, doch sie ist zu blöd, das zu merken...“ Ein Seufzen. „Aber was dich angeht, wenn nicht bei ihr, vielleicht klappt’s mit ner anderen... Oder doch mit nem Kerl... Ich kann dir dabei nicht helfen, denn selbst wenn ich dir sage, was ich denke, würde dir das nicht weiterhelfen... Du musst selbst herausfinden, wie du wirklich bist...“

„Aber ich bin doch nicht...“ ... schwul. Ich schaffe einfach nicht, es auszusprechen.

„Sicher?“

„Ich... weiß nicht...“, flüstere ich.

Er ist wirklich zu bewundern. Wie er so offen damit umgeht.

War er schon immer so? So fröhlich und trotzdem ernst, wenn es darauf ankommt? So liebenswürdig, dass man ihn eigentlich nur mögen kann? Gerne wäre ich in seinem Alter so gewesen wie er, gerne wäre ich nun so.

Und wie gerne hätte ich ihn früher kennengelernt.

„Danke“, spreche ich dann leise, als eine Weile lang niemand etwas gesagt hat.

Auch wenn ich das Gefühl habe, dass es mir nicht wirklich geholfen hat, bin ich doch froh, hier gewesen zu sein... Jetzt bei ihm zu sein.

Er nickt nur, kommt einen Schritt auf mich zu, hält meinen Blick mit seinem fest. Auf seinen Lippen liegt ein Lächeln, mehr nicht.

Er hat wirklich wunderschöne Augen. Kein Wunder, dass sie mir schon bei Anne so gefallen haben, doch seine sind noch schöner. So tief, dass man das Gefühl hat, darin zu versinken.

Ein wahnsinniges Kribbeln streift durch meinen Körper, als ich ihn so ansehe, mich allein darin verliere.

Rasch wende ich meine roten Wangen ab, starre gegen seine Brust.

Wie kann das alles sein? All das hier... Was ist das? Er... Ein Junge... So wunderschön. Was macht er hier mit mir? Warum will mein Herz nicht aufhören zu rasen?

Warum treibt er mich so weit, dass ich Angst habe etwas zu sagen, da meine Stimme zittern könnte?

„Ich...“ Und tatsächlich. Ich schlucke. „Ich geh dann wohl mal...“ Ich dränge mich an ihm vorbei auf mein Auto zu, doch bevor ich dies erreichen kann, schließen sich warme Finger um mein Handgelenk.

„Warte doch... du brauchst dir keine Sorgen machen... ich will dich weder verführen, noch dir irgendwas einreden oder aufdrängen... Ich will dir nur helfen. Also, willst du jetzt eine Antwort, oder nicht?“

Ich nicke, starre vor mich hin in die Werkstatt... und bin mir nicht sicher, ob das die richtige Antwort war.

„Dann komm heute Abend mit, und finde es selbst heraus...“

Im ersten Moment will ich antworten ‚Ach, und du versuchst wirklich nicht, mich zu verführen’, doch ich halte es zurück, viel zu peinlich berührt. Ich weiß ja nicht, was er eigentlich vorhat.

Doch ich frage auch nicht danach.

„Okay...“, sage ich stattdessen.

Er lässt mich los und verschwindet mit einem kurzen „Bin gleich zurück!“ hinter einer Tür.

Wieso verwirrt er mich immer mehr?

Ist es wirklich nur, weil ich ihn bewundere, diese Offenheit anderen Leuten gegenüber, was seine Gefühle angeht, oder weil sie mir so vertraut vorkommen?

Will ich auch so sein?
 

Ich parke meinen Wagen hinter seinem in einer kleinen Nebenstraße, in der ich noch nie gewesen bin... Dann folge ich ihn zur Tür eines zweistöckigen Hauses und er erklärt, dass die obere Eigentumswohnung seiner Tante gehört.

„Sie hat neu geheiratet und wohnt nun bei ihrem Mann“, berichtet er weiter, während er die Tür aufschließt. „Da es für eine Person zu groß wäre, sind Sam und Max mit hier eingezogen... Außerdem ist es so viel billiger, ihr das bisschen Miete zu zahlen...“ Er grinst. Ich folge ihm die Treppe hinauf zu einer weiteren Tür „Die untere Wohnung gehört einem älteren Mann... zu uns geht’s hier...“

Als er die Tür öffnet, erwarte ich fast eine alte Wohnung, verfallen so wie der Rest des Hauses, den ich bis jetzt gesehen habe, doch ich werde überrascht. Die Wohnung scheint komplett renoviert worden zu sein... sieht auf den ersten Blick sauber und modern aus... Ein bisschen zu bunt vielleicht, aber trotzdem toll.

Im Flur treffe ich sogleich auf ein riesiges Bild, das an einer schwarzgestrichenen Wand hängt. Es ist ebenso eine Bleistiftzeichnung wie die bei Anne... Zu sehen ist darauf ein großen, altes Haus mit einem riesigen Garten und drei spielenden Kindern. Wieder nur ein paar Farbpigmente, wie das Kleid des einen Mädchens oder einige Blumen.

„Das hat Bine vor kurzem von einem Foto abgezeichnet...“, meint Julian dicht hinter mir, als er meinen Blick bemerkt. „Das ist Anne...“ Er deutet auf eines der beiden Mädchen. „Das andere eine Schulfreundin von ihr und der...“ Er berührt das Glas vorsichtig an der Stelle mit dem kleinen Jungen, der etwas abseits mit ein paar Autos spielt. „Das bin ich...“

Fast erwische ich mich dabei, den drei-, vielleicht vierjährigen Jungen mit ihm vergleichen zu wollen, auch wenn es wahrscheinlich unmöglich gewesen wäre. Schnell wende ich meinen Blick ab. Julian steht noch immer hinter mir, lächelt mich an. Ich spüre, wie ich schon wieder rot werde.

„Du hast gesagt, du hast noch mehr Bilder von Sabine... Darf ich sie sehen?“

„Natürlich...“ Er führt mich ins Wohnzimmer.

Dies ist ein großer, heller Raum mit einer schwarzen Ledergarnitur in der Mitte... und allem möglichen Schnickschnack drum herum. An den jedoch ganz weißen Wänden hängen mehrere Bilder.

„Schau dich ruhig um... ich zieh mir eben was anderes an...“

Hauptsächlich hängen hier Bilder mit Landschaften... nur ein paar zeigen irgendwelche Leute, manchmal auch Anne und Julian, oder zwei, bei denen ich irgendwie vermute, dass es Max und Sam sind.

Am Ende bleibe ich an einem Portrait dicht neben einem Regal hängen.

Es zeigt Julian und die Jahreszahl verrät, dass es vor fünf Jahren entstanden sein muss.

So also sah er mit 17 aus? Blonde Haare bis zum Kinn und den selben Gesichtsausdruck wie immer. Die einzige Farbe in diesem Bild ist ein leuchtendes Blau, das in seine Augen gelegt wurde und das tiefe schwarz der Pupille umrahmt. Dieses nervöse Kribbeln kommt wieder in mir auf.

„Gefällt es dir?“

Plötzlich Arme, die sich von hinten um meinen Körper schlingen, eine Brust, die sich gegen meinen Rücken schmiegt... Noch stärkeres Herzflattern.

Meine Hände werden feucht, mein Mund trocken. Was passiert hier mit mir?

„Ja, es ist schön...“ Ich bin froh, dass es meine Stimme ist, die ich da höre, trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob er mich wirklich verstehen konnte.

Lippen legen sich in meinen Nacken, nur ganz kurz zu einem feuchten Kuss. Wahnsinn... Es fühlt sich toll an...

Dann löst er die Umarmung und geht zur Tür.

Zögernd nur drehe ich mich in diese Richtung um.

„Sorry.... wie du da standest, musste ich dich einfach umarmen...“, lacht er. Ein fast verlegenes Grinsen auf den Lippen, als täte es ihm wirklich leid.

Gott, warum bin ich so nervös?

„Kommst du?“, fragt er, sieht mir in die Augen.

Jetzt erst frage ich mich, was er überhaupt vorhat, da er scheinbar nicht hier bleiben will.
 

Es lief darauf hinaus, dass er mich zunächst irgendwohin zum Essen schleppte, wo wir zwei Stunden verbrachten, danach ab ins Kino, in irgendeinen Film, der mir nicht wirklich gefallen hat... und dann, als wir schließlich um das Kino verlassen, kam sein eigentlicher Plan zum Vorschein:

„So! Und nun auf in meine Stammkneipe!“, waren seine einzigen Worte, als er mich um einige Ecken und schließlich in eine Kneipe zog.

Und hier sitz ich nun, mitten zwischen lauter Schwulen und Lesben und komme mir vor, wie bestellt und nicht abgeholt.

Wie kommt er auf eine solch bescheuerte Idee?

Denkt er, es würde mir gefallen?

Ich sehe mich zögernd immer wieder um. Ab und zu sieht man einige knutschende Pärchen, die meisten unterhalten sich jedoch oder tanzen. Sogar einige sind hier, bei denen ich nicht genau sagten könnte, ob sie männlich oder weiblich sind.

Julian hat einige Bekannte gefunden und beachtet mich so gut wie gar nicht mehr.

Tolle Idee, du Idiot! Und so soll ich mich selbst finden?

„Na? Ganz allein hier?“ Plötzlich eine tiefe Stimme neben mir.

Als ich mich umsehe, erkenne ich einen Mann ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein paar Jahre älter. Er hat ein freundliches Lächeln auf den Lippen, sonst jedoch nichts wirklich schönes oder interessantes an sich. Zumindest nicht auf den ersten Blick.

Auf seine Frage hin zucke ich nur mit den Schultern. Ich komme mir fast noch unbeholfener vor, als Frauen gegenüber, bei denen ich es nun wirklich nicht sein müsste.

Der Mann lächelt und streckt mir seine Hand hin.

„Paul, und du?“

„Christan...“, lüge ich, sehe mich kurz nach Julian um, der einige Meter von mir entfernt mit einem anderen Mann flirtet. Kurz spüre ich ein Stechen in meiner Magengegend, ignoriere es jedoch, sehe wieder Paul an, der ganz sicher auch nicht so heißt...

„Möchtest du noch was trinken?“ Er deutet auf mein leeres Glas und ich nicke zögernd. „Was ist los? Sprichst du nicht gern?“

„Ich fühl mich irgendwie fehl am Platz“, sage ich schneller, als ich überhaupt denken kann. Sofort komme ich mir dämlich vor, nicht irgendwas cooles gesagt zu haben, obwohl ich doch gar keinen Bock auf eine Unterhaltung habe.

„Hm... ich wüsste da so einiges was man machen könnte...“ Er zwinkert, ich laufe rot an.

Dann bestellt er ein Bier für mich.
 

Ob man es glauben kann oder nicht, irgendwie komme ich in den nächsten Minuten sogar mit Paul ins Gespräch, wobei er mir erzählt, dass er sich vor kurzem von seiner Frau scheiden ließ, mit der er zwei Kinder hat. Wäre nie ganz das wahre gewesen und eigentlich mochte er Männer schon immer lieber... wie es denn bei mir wäre?

Ich zucke mit den Schultern, er lächelt.

„Willst du’s ausprobieren?“

Ehe ich noch realisieren kann, was er wohl mit dieser Frage gemeint hat, spüre ich auch schon seinen Mund.

Sofort reiße ich erschrocken die Augen auf und weiche zurück, wobei ich fast vom Stuhl kippe.

Was war das?!

„Tut mir leid...“ Er lächelt schuldbewusst. „Naja... ich muss sowieso los...“

Als er sich umdreht, würde ich ihn am liebsten aufhalten, da es ein doofes Gefühl ist, ihn vergrault zu haben. Doch ich lasse ihn gehen, bin eigentlich doch irgendwie ganz froh darüber.

Sind die hier alle so? So direkt?

„Was war das denn?“

Ich schrecke zusammen, als ich plötzlich Julians Stimme neben mir höre. Dann sehe ich ihn an, sehe sein Grinsen und entscheide mich dagegen, ihm zu antworten.

Entweder hat er alles gesehen oder es soll ihm egal sein!

„Lass uns gehen!“ Ich stehe von meinem Barhocker auf, sehe in sein überraschtes Gesicht. „Zumindest ich gehe!“ Scheiß drauf, ist mir egal, was du machst!

„Moment, ich komme mit...“ Er dreht sich um, läuft zu seinen Freunden und verabschiedet sich von ihnen.

Ich verdrehe die Augen, zahle mein Bier und gehe zum Ausgang.
 

Einige Minuten laufen wir einfach nur schweigend nebeneinander her. Fast tut es mir leid, dass mein Auto noch bei ihm steht, denn irgendwie hab ich überhaupt keinen Bock auf seine Gesellschaft, die mich jetzt schon wieder mehr verwirrt als dieser Kuss.

„Es hat dir wohl nicht besonders gefallen, oder?“, fragt er nach einer Weile in die Dunkelheit hinein. Seine Stimme klingt fast reuevoll, was mich ein bisschen befriedigt.

„Naja... Irgendwie waren die da alle so komisch... ich weiß nicht, wie ich das erklären soll... ich-“

„Vielleicht bist du einfach zu verklemmt!“, fällt er mir ins Wort und kurz ist es fast wie ein Stich ins Herz. Doch das scheint er bemerkt zu haben. „Sorry, war nicht so gemeint!“

Ich spüre seine Hand an meinem Arm und erst will ich mich zurückziehen, lasse es dann aber doch.

Eigentlich mag ich es, wenn er mich berührt....

„Wahrscheinlich hast du recht... aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, so zu sein... so tuntig... oder so sexgeil... das bin ich einfach nicht...“ Ich werde rot, jedoch kann er dies zum Glück nicht sehen. Eigentlich ist es doch gemein so zu sprechen.

„Findest du mich tuntig? Sexgeil? Wenn ja, hab ich wohl irgendwas falsch gemacht...“ Er klingt fast ein wenig bitter, verletzt und sofort tun mir meine Worte wieder leid. Was nehme ich mir das Recht so zu reden?

„Nein..... es tut mir Leid, Julian...“ Ich glaube es ist dass erste Mal, dass ich ihn direkt mit Namen anspreche, und irgendwie hört es sich komisch an... Schon wieder beginnt mein Herz schneller zu schlagen.

Er erwidert nichts, lässt mich los... und den Rest des Weges schweigen wir.

Als wir bei seiner Wohnung angekommen sind, bleiben wir an meinem Auto stehen. Julian lehnt sich dagegen und sieht mich durch das dünne Licht der Straßenlaterne fast forschend an.

Kaum kann ich glauben, dass ich gerade wirklich hier mit ihm stehe, diesem Jungen, der mich so fasziniert, und dabei irgendwie alles ausstrahlt, was ich mir je verboten habe. Dies lässt ihn fast noch anziehender wirken.

„Weißt du, Alex....“ Ich spüre seine Hand, die sich in meine Haare legt, von dort ein Kribbeln auslöst. „Eigentlich kann Schwulsein etwas wunderschönes sein...“ Er legt etwas Druck in seine Hand und ehe ich mich versehe, liegen seine Lippen auf meinen.

Ich reiße meine Augen auf, erschrocken, überrascht, will ihn erst wegdrücken, tue es nicht. Seine Lippen halten mich gefangen, auch wenn sein Griff mich gehen lassen würde. Als ich weder etwas dafür, noch etwas dagegen tue, schließen sich seine Arme um meinen Körper und ziehen mich zu sich.

Ohne darüber nachzudenken, öffne ich meine Lippen für seine Zunge, die sich neugierig vortastet. Und dann erwidere ich diesen warmen Kuss, von dem ich nicht mal wirklich sagen könnte, wie es dazu gekommen ist. Ich erwidere ihn einfach, ohne ihn zu hinterfragen, ohne es gleich für falsch auszulegen. Nichts ist falsch daran.

Im Moment könnte nichts richtiger sein.

Dieser Kuss ist ganz anders, als alle, die ich jemals bekommen habe. Der Mann vorhin, fast habe ich mich geekelt, doch Julian hat nichts ekelhaftes an sich. Die ganzen Mädchen, die ich je geküsst habe, manchmal fand ich es schön, doch alles scheint zu verblassen. Und fester als alle anderen in Erinnerung: Toms Küsse, in jener einen Nacht. Sie waren immer die schönsten von allen gewesen, doch nun... vergesse ich selbst sie.

Da lösen sich Julians Lippen wieder von meinen und er drückt mich von sich. Noch sind seine Augen geschlossen, fast als stille Aufforderung ihn erneut zu küssen, doch dann, als ich dies gerade tun will, sieht er mich an. In seinen Augen liegt eine unbekannte Härte, als er mich zur Seite schiebt.

„Es tut mir leid...“

Ich habe diese Worte heute schon mal gehört, doch nun sind sie so viel wichtiger, entscheidender. Mein Herz beginnt zu schmerzen, aus einem mir unnachvollziehbarem Grund.

„Wirklich?“ Ich höre selbst, wie belegt meine Stimme auf einmal klingt.

„Nein...“ Er dreht sich um, sieht mich wieder an. „Eigentlich nicht... aber dir!“ Er macht eine kurze Pause, bevor er fortfährt. „Und bevor so etwas noch mal passieren kann, musst du unbedingt wissen, was du wirklich willst, sonst bringt es niemandem etwas, sondern tut nur weh...“

Kurz schweigt, wie um seinen Worten Ausdruck zu verleihen... dann hebt er seine Hand, streicht über meine, dreht sich weg und geht.

Und ich lasse ihn gehen.
 

ENDE Kapitel 3

Zweifel

Es vergingen zwei Wochen. Zwei Wochen in denen ich schlecht schlief, in denen ich so lange wie noch nie über einen anderen Mann nachdachte, in denen ich mich einfach selbst nicht mehr verstand. Und mit jedem Tag, der verging, sehnte ich mich mehr nach ihm.

Hatte ich mich etwa, ohne es selbst zu merken, in ihn, einen Mann verliebt?

Ich traute mich kaum darüber nachzudenken, geschweige denn es irgendwie auszusprechen.

Aber vielleicht sollte ich wenigstens beginnen, mir gegenüber ehrlich sein, vielleicht sollte ich mich endlich vollends von Anne trennen, vielleicht sollte ich zu ihm gehen und mit ihm reden... aber zu nichts hatte ich wirklich den Mut.
 

Anne versuchte ich so gut es ging aus dem Weg zu gehen, was aber meist nicht wirklich gelang. Zwar erfand ich nun immer mehr Vorwände, um mich nicht mit ihr treffen zu müssen, doch ab und zu klappte es einfach nicht und so trafen wir uns halt doch.

Ich weiß nicht, ob sie merkt hat, dass etwas mit mir los ist, ob sie merkt, dass ich seit zwei Wochen versuche, ihr etwas zu sagen, jedoch immer wieder einen Rückzieher mache, ob sie merkt, dass ich sie ständig nach Julian frage...
 

Eigentlich habe ich das Bedürfnis, darüber zu reden, mich jemandem mitzuteilen... doch wem? Ich habe nur wenige Menschen, denen ich wirklich vertraue, und selbst bei ihnen fällt es schwer, über dieses Thema zu sprechen, selbst ihnen habe ich noch nie alles von mir offenbart.

Der wohl wichtigste von ihnen ist Tom.

Vor ein paar Tagen, an einem Abend, den ich mit ihm verbrachte und etwas zu viel getrunken hatte, hätte ich es ihm tatsächlich fast gesagt. Es war, weil er nach Anne fragte... Ich antwortete, dass ich im Moment ernsthaft überlegte, die Sache zu beenden und natürlich wollte er wissen, wieso so plötzlich... und für einen Moment war ich wirklich gewillt, es ihm zu sagen, ihm zu sagen, dass diese Überlegung mit meinen merkwürdigen Gefühlen einem Mann gegenüber zusammen hingen...

Doch als ich in seine neugierigen Augen sah, bekam ich wieder Angst.

Wie würde er reagieren, er, der mir meinen ersten Kuss geraubt hatte, und nun glücklich und nach gesellschaftlicher Richtigkeit mit einer Frau zusammenlebt? Was würde er, mein besten Freund sagen, tun, denken?

Würde er sich abwenden?

Und so erfand ein neues Lügengespinst, sagte, dass ich es einfach nicht mehr aushielt, dass ich mir sicher war, mit ihr nie glücklich werden zu können.

Ich denke schon, dass er mir glaubte und nicht merkte, dass ich den wahren Grund nicht sagen wollte... Er ging einfach nicht länger darauf ein und einerseits war ich wirklich froh darüber, anderseits von mir selbst enttäuscht.

So kann es nicht weiter gehen!
 

Ja... das schon, aber was genau empfinde ich für Julian?

Oder noch besser... was empfindet er für mich?

Bringt es überhaupt etwas, über die ganze Sache nachzudenken, oder kann sie eh nie ein gutes Ende nehmen?

Er hat mich geküsst, hat sich an mich gedrückt, ein Kribbeln in mir ausgelöst, und sich anschließend wieder von mir entfernt.

Was empfindet er? Empfindet er überhaupt irgendwas, oder mache ich mich damit zum Affen, darüber nachzudenken, dass er sich freuen könnte, wenn ich wieder zu ihm komme?

Ein Teil von mir glaubt wirklich daran, der andere meldet sich immer öfter in letzter Zeit, sagt mir, dass Julian mich nur aus Spaß geküsst hat, dass ich mir keine Hoffnungen machen soll.

Ich weiß einfach nicht mehr, was ich denken soll.

Der Kuss war so wunderschön gewesen, dieses innige Gefühl der plötzlichen Verbundenheit.

Die ersten Tage habe ich kaum gewagt, darüber nachzudenken, aus Angst jemand könnte mir diese Gefühle ansehen, aber irgendwann ging es nicht mehr, die Gedanken ließen sich nicht mehr verdrängen.

Und nun... Ständig sehe ich ihn vor mir, mit diesen wunderschönen Augen, diesem warmen Lächeln. Ständig wünsche ich ihn mir herbei, ständig kämpfe ich mit dem Gedanken, einfach zu ihm zu gehen.

Doch was würde das bringen?

Gewissheit?

Worüber?

Über seine Gefühle oder über meine?

Ist es nicht erst mal viel wichtiger, mir darüber klar zu werden, was ich selbst fühle? Bevor ich irgendetwas ändere, muss ich nicht erst mal mir selbst sicher sein? Muss ich nicht erst mal wissen, was ich eigentlich wirklich für Julian empfinde...

Liebe ich Männer?

Liebe ich ihn?

Kann ich so ein Leben leben?
 

Schwulsein. In der heutigen Gesellschaft nicht mehr so schlimm wie früher, aber doch anders. Immer noch Leute, die einen schräg ansehen, einem gar aus dem Weg gehen, immer noch das Gefühl der Minderwertigkeit, wenn man mit seinem Freund durch die Stadt gehen würde, und sich dabei irgendwie eindeutig verhält, eventuell sogar küsst.

Ist es nicht genau so?

Würde ich überhaupt je den Mut haben, in der Öffentlichkeit seine Hand zu halten, mich dabei gut fühlen?

Würde ich dazu stehen können?

Oder werde ich den Rest meines Lebens dies Versteckspiel spielen? Mich für die restliche Zeit vor allen und mir selbst verstecken, eine Beziehung mit einer Frau eingehen und Kinder kriegen, nur um zu zeigen, dass ich ja ach so normal bin?

Welches Leben wäre leichter zu leben? Welcher Weg besser zu gehen?

Und kann ich so eine Entscheidung überhaupt treffen?
 

~ * ~
 

Als ich an diesem Novemberabend Anne abhole, um mit ihr Essen zu gehen, habe ich noch immer keine Entscheidung getroffen.

Was soll ich tun? Soll ich es ihr heute sagen? Heute ehrlich mit ihr und mir selbst sein?

Diese Gefühle, diese Sehnsucht, die ich nach ihrem Bruder verspüre, es will einfach nicht aufhören, mich nicht loslassen. Eigentlich will ich mit ihm unterwegs sein, eigentlich will ich ihn küssen, eigentlich will ich, dass er meine Hand hält.

Eigentlich will ich es ihr endlich sagen, allein schon, um auch ihr nicht noch mehr weh zu tun.
 

Nun sitzt sie mir im Restaurant gegenüber, sieht mich, während sie isst, immer wieder mit ihren liebevollen Augen an, die mich geraumer Zeit nur noch an ihn erinnern.

„Anne...“ Ich schlucke, sehe auf meinen Teller hinab. „Ich muss mit dir reden...“

Der erste Schritt ist getan, doch zu heißen hat das nichts. Wie oft habe ich es in den vergangen Tagen versucht, und jedes Mal habe ich einen Rückzieher gemacht. Auch dies Mal wieder sieht sie mich interessiert an, wartet darauf, dass ich ihr etwas sage. Ich will mir gar nicht ihren Blick vorstellen, wenn sie es wirklich erfährt...

Gerade, als ich etwas sagen will, klingelt ihr Handy. Sofort wird sie knallrot, zerrt das kleine Ding aus ihrer Handtasche und meldet sich.

„Ja?... nein, ich sitz grad mit Alex beim Italiener... nein.... ja... okay, mache ich.... bis dann... tschüss.“ Sie lächelt, packt das Handy wieder weg und wirft einen peinlich berührten Blick im Restaurant herum. Dann sieht sie mich an. „Das war Julian, ich soll dich grüßen...“

Ich spüre, wie mein Lächeln verschwindet, meinem Gesicht wahrscheinlich alle gesunde Farbe entweicht. Meine Hände beginnen zu zittern.

Noch immer sehe ich in ihre Augen, wie fröhlich sie gerade gewirkt haben, als sie mit ihrem Bruder telefoniert hat.

Wird es auch noch so sein, wenn sie die Wahrheit über mich weiß? Wenn ich gar, wie in meinen wildesten Träumen, mit ihm zusammen käme? Wird das nicht alles zerstören, was die beiden füreinander sind, was er für sie ist? Was wird sie tun, wenn ihr Ex mit ihrem Bruder glücklich ist?

Kann ich das wirklich tun... sie so verletzen?

„Was hast du, Alex? Ist dir nicht gut?“

Ich starre hinab auf meinen Teller, auf dem noch fast alle Tortellini zu finden sind. Der Koch wird sie wegkippen müssen, dabei sind sie wirklich lecker gewesen...

„Anne... ich muss dir etwas sagen....“
 

ENDE Kapitel 4

Die ganze Wahrheit

„Verdammt, jetzt mach schon die verdammte Tür auf!“ Zum dritten Mal drücke ich fluchend die Klingel.

Als die Tür dann endlich geöffnet wird, starre ich in ein fremdes Gesicht. Sam? Max? Wer auch immer! Ich will an ihm vorbei in die Wohnung drängen, doch er hält mich fest.

„Moment mal Süßer... zu wem willst du?“

„Julian... ist er da?“, frage ich genervt. Wieso diese verdammten Förmlichkeiten?

„Ähm... naja...“ Ein Blick in Richtung einer Tür, was mir bestens zeigt, wo ich hin muss. „Julie ist schon da, aber...“ Ich tauche unter seinem Arm hindurch. „...ich würde da jetzt nicht reing-!“

Zu spät.

Als ich die Tür aufreiße, ist das Erste, was ich sehe, ein blanker Hintern. Wie angewurzelt bleibe ich stehen, mit offenem Mund, und dem Gefühl, mein Herz hätte aufgehört zu schlagen.

Das ist nicht wahr!

„Ich hab doch gesagt, du sollst da nicht reingehen!“ Das Kichern hinter mir. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und ihm mitten ins Gesicht geschlagen, doch ich bin wie erstarrt von der Szene, die sich mir bietet.

„Alex... du...!“ Julians Stimme reißt mich in die Wirklichkeit zurück. Sofort fahre ich herum, stürzte an dem Kerl vorbei zur Wohnungstür.

„Verdammt!“ Wieder Julian, einige andere Geräusche, dann schnelle Schritte.

Mit tränen in den Augen reiße ich die Wohnungstür auf, knalle sie hinter mir zu.

Weg hier, einfach nur weg!

Die Treppe falle ich fast herunter, kann mich nur mit Not festhalten. Wieder dieser Klang von bloßen Füßen hinter mir... An der Haustür holen sie mich ein.

Julians Hand klammert sich wie ein Schraubstock um mein Handgelenk. Blind vor Wut drehe ich mich um, viel zu schnell als dass er meiner Faust hätte ausweichen können. Er stolpert zurück und nur der weiterhin feste Griff um meinen Arm hält ihn auf den Füßen. Ich versuche mich loszureißen, schaffe es nicht.

„Lass mich los!“, fauche ich wie eine hilflose Katze, doch er lässt mich nicht los.

Ich gebe auf, als ich Tränen über meine Wangen laufen spüre. Beschämt wische ich sie weg, starre zur Seite. In den Augenwinkeln erkenne ich seine nackten Hüften. Ich will das jetzt nicht sehen, presse die Augenlider hinunter.

„Verdammt Alex!“ Noch immer hält er mich fest, lockert seinen Griff nur ein klein wenig. „Komm mit rauf, okay?“ Seine Stimme ist zärtlich...

„Wozu?“ Blanker Schmerz spricht aus meinen Worten, Hass.

„Lass uns reden... Bitte!“ Fast könnte man denken, er wolle es wirklich, fast könnte man denken, es täte ihm wirklich leid... aber nur fast!

Ich schüttle den Kopf, gebe ihm sonst keine Reaktion preis. Immer größer wird die Wut in mir, immer größer dieser brennende Schmerz. Ich versuche das Bild aus meinem Kopf zu verscheuchen, versuche nicht daran zu denken, doch es ist wie eingebrannt.

„Alex! Du verstehst das vollkommen falsch!“

Ich muss lachen und es klingt höhnisch.

Die größte Ausrede der Menschheit! Ich hätte nicht gedacht, dass ich schon so bald damit konfrontiert werde!

„Was gibt es da falsch zu verstehen?!“ Ich starre ihn wuterfüllt an, spucke ihm die Worte förmlich ins Gesicht. „Du hast diesem Kerl den Schwanz gelutscht wie eine dreckige Schwuchtel!“

Diesmal ist es mein Kopf, der zur Seite geschleudert wird, wenn auch mit weitaus weniger Wucht. Meine Wange beginnt zu brennen, ich starre ihn aus geweiteten Augen erschrocken an.

„Vielleicht bin ich ja auch eine dreckige Schwuchtel!“ Seine Augen sind zu Schlitzen verzogen, als er mir diese Worte entgegenzischt. „Vielleicht bin ich das wirklich, aber diese Schwuchtel versucht dir gerade etwas zu erklären! Aber okay, wenn es dich nicht interessiert und du dich nicht mit mir abgeben willst, dann verschwinde! Dann will ich dich nie wieder sehen!“ Er lässt seine Arme sinken, lässt mich frei.

„Gut!“ Mein Mund ist trocken.

„Gut!“

Ich drehe mich um, greife nach der Klinke der Haustür und ziehe diese auf.

Das soll es also gewesen sein? Ich will nicht, dass es so endet, bevor es nicht mal begonnen hat...

Mitten auf der Steintreppe bleibe ich stehen. Ich schließe die Augen und versuche mein Zittern unter Kontrolle zu bekommen.

War es das jetzt wirklich?

„Kommst du jetzt wieder mit rauf?“, höre ich seine Stimme hinter mir. Sie klingt so zärtlich.

Langsam drehe ich mich um, sehe ihn an, wie er dort im Treppenhaus steht, vollkommen nackt, leicht von der Kälte zitternd.

Er ist überhaupt nicht dreckig oder ekelhaft, nicht mehr als ich.

Ich bleibe mit meinen Blicken an seinem Gesicht hängen, auf dem ein liebevolles Lächeln liegt. Es überredet mich, ihm diese Chance zu geben. Ich will sie ihm geben!

Ich gehe wieder in das Haus hinein, schließe die Tür hinter mir. Er nickt, lächelt noch etwas mehr. Zusammen gehen wir wieder nach oben. Als wir an der Küche vorbeikommen, erkenne ich den Mann, der mir die Tür geöffnet hat, und diesen anderen...

Julian bleibt stehen, wendet sich an ihn: „Felix, ich glaub du solltest jetzt gehen.“

Der junge Mann steht auf und geht dicht an mir vorbei aus der Küche. Nur kurz treffen sich unsere Blicke, dann sieht er sofort weg. Er weiß nicht, wer ich bin, ich weiß nicht, wer er ist, aber wir haben wohl mehr über den jeweils anderen erfahren, als wir wissen wollten.

Auch ich senke meinen Blick, trotte hinter Julian her in sein Zimmer. An der Wand neben der Tür bleibe ich stehe, beobachte diesen Felix aus den Augenwinkeln, wie er Pullover und Hose zusammenkramt.

„Sieht man sich mal?“ Er steht ganz dicht vor Julian, sieht ihn bittend an.

„Ich denke nicht“, ist die unterkühlte Antwort.

Gesenkten Blickes geht Felix an mir vorbei und gleich darauf hört man die Wohnungstür ins Schloss fallen... Und genau in dem Moment komme ich mir mit einem Mal unglaublich schlecht vor.

Wieso führe ich mich überhaupt so auf? Eigentlich darf Julian doch machen, was er will!

„Setz dich bitte...“, sagt Julian leise, als er sich eine Boxershorts angezogen hat, und auf die Bettdecke neben sich klopft.

Noch immer habe ich dieses Bild vor Augen, das ich hier gerade gesehen habe. Zögernd setze ich mich, den Blick weiterhin auf den Boden gerichtet.

„Es tut mir leid, dass du das gesehen hast...“, spricht Julian nach einigen Sekunden des Schweigens.

Sofort zieht sich in mir alles wieder zusammen. Zögernd nicke ich.

Eigentlich hatte ich überhaupt kein Recht dazu, irgendwie über ihn zu urteilen!

„Wieso... hast du das getan?“, stelle ich die Frage, die in meinem Kopf herumschwirrt, dennoch... komme mir aber augenblicklich noch blöder vor.

Als dürfte ich ihn so etwas fragen, als dürfte ich überhaupt eine Antwort verlangen! Ich habe noch nicht mal das Recht, ihm überhaupt das Gefühl zu geben, etwas falsch gemacht zu haben!

„Na ja, ich habe Felix vorhin in einer Bar kennengelernt und mich sehr gut mit ihm verstanden... und da er mir halt irgendwie gefallen hat, hab ich ihn mitgenommen... und wenn man es mal so sieht, eigentlich bin ich doch frei, oder nicht?“

Ich spüre, wie er mich ansieht, wage nicht meinen Blick zu heben. Etwas beschäftigt mich noch mehr, als seine Frage.

„Und was ist... mit mir?“, fragte ich flüsternd. „Habe ich dir nicht gefallen... oder-“

„Warte Alex!“, unterbricht er mich mit sanfter Stimme. Er legt seine Finger unter mein Kinn, sodass ich ihn ansehen muss. Seine Augen strahlen etwas liebevolles aus. „Versteh mich richtig... Wenn mir jemand gefällt und ich nicht gebunden bin, gehe ich mit ihm ins Bett, aber bei dir ist es anders. Dich mag ich, Alex... und daher wollte ich dich nicht einfach nur verführen... verstehst du was ich meine?“

Er sieht mir tief in die Augen, doch ich wage nicht, auch nur zu versuchen, irgendwelche Schlüsse daraus zu ziehen. Darum schüttle ich langsam den Kopf.

„Das heißt, dass ich dich sehr gerne habe... viel lieber, als irgendeine Bettgeschichte...“ Er kommt mir näher. Will er mich küssen? „Ich glaube sogar, dass da noch viel mehr ist...“

Ich weiche zurück.

„Wieso hast du dann mit Felix-“

Er unterbricht mich abermals. „Alex... wie soll es denn für mich aussehen, wenn du dich so lange nicht meldest, und ich dann erfahre, dass du immer noch mit meiner Schwester ausgehst? Das heißt doch so gut wie, dass du nicht an mir interessiert bist, findest du nicht?“

„Ich war... verwirrt...“, gebe ich leise zu, wage kaum noch, seinem Blick standzuhalten.

Wieso macht er mich so schwach?

„Und jetzt hast du eine Antwort?“, fragt er mit einem fast neugierigen Unterton. Noch immer ist sein Gesicht dem meinem so nahe...

Ich zucke verlegen mit den Schultern. „Na ja, ich hab Anne gesagt, dass ich mich in jemand anders verliebt habe...“ Ich sehe seine Augen sich verändern, noch weicher werden. „...in einen Mann...“

Mein Herz schlägt wie verrückt in meiner Brust, als er mir noch ein bisschen näher kommt.

„Und was hat sie gesagt?“, fragt er, nur unweit von meinen Lippen entfernt.

„Erst mal gar nichts... und dann hat sie geweint und gesagt, ich hätte es ihr früh-“

Lippen auf den meinen hindern mich am Weitersprechen und bevor noch irgendetwas anderes geschehen kann, gehe ich schon auf den Kuss ein, schlinge meine Arme um seinen nackten Oberkörper, als habe ich nur darauf gewartet.

Ehrlich gesagt habe ich das auch.

Er fühlt sich unglaublich weich und warm an, fühlt sich in dieser Umarmung so an, als hätte ich nie etwas anderes tun sollen. Es ist ganz anders als bei Anne. Wenn ich sie umarme, habe ich das Gefühl, ich tue es aus Höflichkeit, doch ihn will ich am liebsten gar nicht mehr loslassen.

Kann es also auch so sein?
 

Später, nach unendlich vielen Küssen, nach zärtlichen und wunderschönen Berührungen, bei denen mein Pullover und meine Hose irgendwo in seiner Unordnung verschwanden, liegen wir nur noch in Boxershorts bekleidet auf seinem Bett. Er hat seinen Kopf auf meine Brust gelegt und ich spiele gedankenverloren mit seinen Haaren. Es ist still, nur seinen Atem höre ich, und ab und zu ein Auto, das sich in diese Seitenstraße verirrt hat. Diese Scheinwerfer sind mittlerweile neben dem dünnen Licht der Laternen auch das einzige, das sein kleines Zimmer dann und wann erhellt. Ich starre schon seit geraumer Zeit gegen die dunkle Decke und versuche an gar nichts zu denken, nur an diesen Augenblick.

„Willst du heute Nacht hier bleiben?“, unterbricht Julian irgendwann flüsternd die angenehme Stille.

„Das würde ich gerne...“, antworte ich ebenso leise.

Er drückt mir einen Kuss auf die Brust und befreit sich aus meiner Umarmung, geht aus dem Zimmer. Nachdem ich irgendwo aus dem Haus die Klospülung wahrgenommen habe, kommt er zurück, beruhigt so das Gefühl in mir, irgendetwas falsch gemacht zu haben. Er zieht die Vorhänge vor dem kleinen Fenster zu, kommt wieder zurück zum Bett...

Zögernd erhebe ich mich ein Stück, als er die Bettdecke unter mir hervorzieht. Ich will etwas sagen, doch ich weiß nicht was. Irgendwie bin plötzlich unglaublich nervös.

Julian legt sich zu mir und zieht die Decke über uns. Seine Schulter berührt die meine... Seine Haut ist ganz warm und angenehm.

Einen Moment lang liegen wir still so da, starr, fast ängstlich, uns zu bewegen. Gerade war es nicht schwer, einander festzuhalten, nun scheint es jedoch fast unmöglich, diesen Kontakt wieder herzustellen.

Doch nach einer Weile spüre ich endlich seine Finger an meinem Arm und sofort greife ich danach, halte sie fest.

„Weiß Anne, dass ich es bin?“, fragt er in die Dunkelheit hinein, sein Atem kitzelt meine Schulter.

„Nein...“

„Wieso nicht?“

„Ich wollte nicht, dass sie sauer auf dich ist... Schließlich wusste ich ja auch nicht, wie du darüber denkst...“ Ein bisschen kommt auch jetzt wieder Angst in mir auf.

„Ich denke...“ Er macht eine Pause. Sein Daumen streicht leicht über meinen Handrücken. Man hört, dass er lächelt, als er weiterspricht. „Ich denke, dass sie lernen muss, damit umzugehen, denn ich habe keine Lust ihr zu verheimlichen, dass ich nun so einen wundervollen Freund habe...“

Sofort, als diese Worte gesprochen sind, spüre ich, wie nicht nur ich mich verkrampfe.

Freund!, hallt es in meinem Kopf wieder und ich verstärke den Druck um seine Hand ein wenig.

„Du... du bist doch jetzt mein Freund, oder?“, kommt es schließlich ganz leise und so unsicher, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.

„Das wäre ich sehr gerne...“

„Gut.“ Ein erleichtertes Seufzen und auch seine Griff festigt sich ein wenig, während er noch etwas näher zu mir heran rutscht, soweit das überhaupt möglich ist.

„Aber...“, zögernd drehe ich meinen Kopf ein Stück, selbst wenn ich weiß, dass ich ihn so immer noch nicht sehen kann.

Wieso spüre ich immer noch diese Unruhe in mir?

„Ja?“ Noch viel unsicherer.

Kurz zögere ich. „Bitte lass mir Zeit...“, spreche ich dann ganz leise, unglaublich schüchtern, komme mir mit einem Mal wie ein verklemmtes Mädchen vor. „Ich habe noch nie mit einem Mann-“

„Soviel du brauchst!“, unterbricht er mich und tatsächlich lässt das unruhige Gefühl in mir ein wenig nach.

„Danke!“ Ich hebe seine Hand an meine Lippen, küsse sie.

Ich glaube, ich liebe dich!

Doch diese Worte spreche ich nur in meinen Gedanken... Ich habe Angst davor, wie sie klingen könnten. Außerdem ist es wohl noch viel zu früh für dieses Gefühl, nicht wahr?

Und dennoch weiß ich, dass sie nicht falsch wären.
 

~ * ~
 

Als ich am nächsten Morgen aufwache, liege ich in Julians Armen. Einen Moment lang ist es schwer, die Orientierung zu bekommen, das Zimmer zu erkennen und sich darüber klar zu werden, was eigentlich geschehen ist... dann, im nächsten Moment, bin ich unglaublich glücklich.

Ich schließe meine Augen wieder, streichle mit meinen Fingern über die Hand auf meiner Brust.

Ich glaub’s nicht, ich bin tatsächlich hier, hier in seinen Armen!

Ein paar Minuten lang schaffe ich es, still liegen zu bleiben, doch dann kann ich nicht anders als mich ein bisschen zu bewegen, mich in eine bessere Lage zu bringen... doch sogleich spüre ich etwas gegen meinen Oberschenkel drücken.

Alles hält an, für einen Moment. Ich ziehe erschrocken die Luft ein, als mir klar wird, was ich da gerade spüre... und doch verleitet es mich schließlich zu einem Lächeln. Es ist ein komisches Gefühl, die morgendliche Erektion eines anderen Mannes so dicht am eigenen Körper zu spüren... und doch kann ich mir gerade nicht erotischeres vorstellen.

Und erst da, in dem Moment bemerke ich, dass auch ich erregt bin. Kaum merklich versteift sich mein Körper erneut. Wie peinlich!

Sekunden später nehme ich plötzlich ein leichtes Streicheln auf meiner Brust wahr. Sofort zieht sich eine riesige, aber angenehme Gänsehaut über mich, in meinem Bauch beginnt es zu kribbeln.

Seit wann er wohl wach ist?

Das Nächste, was ich spüre, sind zwei zärtliche Küsse, die Julian auf meinen Schulterblättern absetzt.

Ob ich etwas sagen soll... oder tun?

Als ich spüre, wie seine Hand zögerlich tiefer wandert, entscheide ich mich sofort dagegen.

Angespannt warte ich darauf, was er nun wohl tun wird. Traut er sich das, was ich mir plötzlich so sehr wünsche, oder muss ich ihm ein Zeichen geben? Aber das kann ich doch nicht, das wäre so...

Noch nie zuvor hatte ich solche Angst, dabei ist es doch nicht so, als sei ich gänzlich unerfahren, zumindest nicht, was diese Sachen angeht...

Er streicht zärtlich meinen Bauch hinab, bis hin zum Bund meiner Boxershorts. Immer größer wird die Erregung in mir, immer sehnlicher wünsche ich mir, dass er mich dort berührt. Der Gedanke fühlt sich auf einmal so richtig und normal an als hätte ich mich nie nach etwas anderem gesehnt, nie etwas anderes getan. Und dann wagt er tatsächlich auch den letzten Schritt.

Ich halte die Luft an, spüre sein ehrliches Zögern, als er einen Finger unter den Bund schiebt. Und dann berührt er mich. Ich stöhne auf, kneife die Augen zusammen.

Oh Gott, wie peinlich!

Seine Lippen legen sich auf meine Schulter, streichen sacht hinüber, weiter in meinen Nacken, wo er vorsichtig zu saugen beginnt, während sein Körper sich fester gegen mich schmiegt, sich ganz leicht zu bewegen beginnt. Auch Julians Atem wird schneller, auch er beginnt und stöhnen, während seine Hand bei mir etwas vollführt, das ich mir nicht mal im Traum so wundervoll vorgestellt habe, und ja verdammt, ich habe von Julian geträumt! Doch dies hier ist so viel besser, als all die Male, die ich mir nach solch Träumen mit schuldbewussten Gefühlen selbst einen runtergeholt habe!

Als ich schließlich fast gleichzeitig mit ihm zum Höhepunkt komme, scheint für ein paar kurze Augenblicke die Welt stehenzubleiben.

Mein erster Gedanke: Dass es wirklich so toll mit jemand anderem sein kann!

Mein zweiter: Und jetzt?

Ich spüre meine eigene klebrige Flüssigkeit an meiner Haut, spüre, wie er seine Hand aus meiner Shorts zurückzieht... er streckt sich ein wenig hinter mir, greift über mich hinweg nach einem Taschentuch auf seinem Nachtschränkchen, säubert seine Hand und wie ich leicht spüre auch eine andere Gegend hinter mir...

Ich schließe meine Augen für diesen kurzen Moment, versuche noch, meine Gedanken zu ordnen.

Wenn ich ehrlich sein sollte, erschreckt mich am meisten, dass ich überhaupt kein Problem damit habe, so etwas mit einem Mann getan zu haben. Stattdessen ist es, als wäre es vollkommen normal...

„Guten Morgen“, flüstert er zärtlich in mein Ohr, als er sich wieder richtig hinlegt, den Arm wieder um meine Brust schlingt.

Und erst jetzt, da diese ersten Worte gefallen sind, finde ich den Mut, mich etwas zu ihm zu drehen. Nach so etwas den richtigen Anfang finden ist wohl doch das Schwierigste...

„Guten Morgen“, erwidere ich... und es ist nicht schwer, ihm in die Augen zu sehen, selbst wenn ich weiß, dass ich knallrot bin.

Ein Lächeln trifft mich, dass ich nur zu gerne verdecken will... also drehe ich mich ganz herum, raube ihm einen Kuss, lasse mich darin fallen. Es ist fast als wäre es nie anders gewesen, als hätte es alle Gedanken, die je gegen so etwas sprachen, nie gegeben.

Julian sieht mich zärtlich an, als wir den Kuss beendet haben, streicht mir dann ein paar Mal leicht durch die Haare.

„Ich habe die letzten Wochen jeden Tag darauf gewartet, dass du vorbei kommst...“, flüstert er und sein Atem streift über meine Wange. „Ich hab mich nach dir gesehnt...“

Ich greife nach der Hand in meinen Haaren, führe sie zu meinem Mund und küsse jeden seinen Finger.

„Manchmal war ich kurz davor, einfach hier aufzutauchen, aber dann hatte ich doch nicht den Mut dazu...“

„Ich bin froh, dass du den Mut doch noch gefunden hast...“

„Ich auch.“

Julian lächelt und beugt sich mir entgegen. Seine Lippen sind warm. Ich erwidere den Kuss, lasse seine Hand los und ziehe ihn stattdessen an der Schulter näher an mich heran. Es ist ein wunderschönes Gefühl bei ihm zu sein.

„Danke, dass du auf mich gewartet hast.“

Ein plötzliches Klopfen an der Tür hindert ihn vor jeglicher Antwort. Es folgt ein leises Knarren und als ich mich umdrehe, erkenne ich den Kerl von gestern, von dem ich noch immer nicht weiß, wer er ist.

„Sorry der Störung!“ Er grinst uns breit an, verlässt den Raum allerdings nicht, sondern kommt stattdessen ganz rein und schließt die Tür hinter sich.

„Mhm...“, macht Julian etwas mürrisch und setzt sich etwas auf. „Ist irgendwas?“

„Deine Sis ist da und-“

„Was?“ Sofort sitzt Julian senkrecht im Bett. „Oh Gott! Versuch sie abzuwimmeln, irgendwie!“ Er klingt panisch, fuchtelt mit den Händen herum.

„Ich glaube das geht nicht, sorry...“

„Was will sie denn?“ Mit vollkommen überforderten Blick greift er sich in die Haare während sich in mir alles zusammenzieht.

„Na ja, sie heult sich die Augen aus... Ich konnte sie wenigstens erst mal in die Küche locken, wusste ja nicht, ob du noch schläfst...“

„Oh mein Gott!“ Julian schlägt die Hände vors Gesicht. „Danke Max, du weißt gar nicht, wie gut das war! Einer von uns würde sonst sicher nicht mehr leben...“ Er streift sich fest durch die Haare, taucht wieder hinter seinen Händen hervor, deutet auf mich. „Er ist ihr Ex...“

Augenblicklich habe ich das Bedürfnis mich unter der Decke zu verkriechen. Verlegen starre ich auf Julians nackte Brust.

Was der Kerl jetzt wohl von mir denkt...

„Soll ich ihr sagen, dass es nicht geht?“, kommt es plötzlich richtig nachdenklich... doch zu meinem Schreck schüttelt Julian den Kopf.

„Früher oder später muss sie es eh erfahren...“ Er seufzt und steht auf. „Sag ihr, ich komme gleich...“

Max nickt und verlässt dann das Zimmer. Sekundelang starre ich nun die geschlossene Tür an, während ich im Augenwinkel wahrnehme, wie Julian sich anzieht.

„Du hast doch nicht vor, ihr die Wahrheit zu sagen, oder?“, frage ich fast ängstlich, sehe ihn an.

Als er sich zu mir umdreht, grinst er, auch wenn man genau sieht, dass ihm eigentlich gar nicht danach zu Mute ist.

„Hast du eine bessere Erklärung warum du hier bist?“ Er kommt auf mich zu, setzt sich, nun angezogen, wieder aufs Bett. „Natürlich kannst du auch drei Stunden hier warten bis sie sich ausgeheult hat und dann endlich verschwindet...“

Ich seufze, senke den Kopf. „Scheiße...“

„Na ja...“ Seine Stimme klingt wieder etwas ernster. „Wie ich schon gesagt habe... früher oder später muss sie es eh erfahren... komm, zieh dich an, da müssen wir jetzt durch.“

Als ich langsam aufstehe, um mich anzuziehen, fällt mein Blick auf die Digitaluhr auf seinem Schreibtisch.

„Erst halb Acht?!“

„Tja, so ist sie... und mich missbraucht sie nun mal manchmal gerne als Kummerkasten, hatte genug Zeit mich daran zu gewöhnen... Komisch eigentlich, dass sie nicht schon gestern aufgetaucht ist...“ Seine Arme schlingen sich um meinen Körper.

„Ein Glück dass nicht!“ Ich schließe den Reisverschluss meiner Jeans, lasse dann meine Arme sinken.

„Ja.“ Ein Kuss in meinen Nacken folgt. „Naja, diesmal werd ich ihr wohl kaum helfen können...“

Ich seufze und nicke, drehe mich dann zu ihm herum.

„Danke...“, flüstere ich, auch wenn ich in diesem Moment eigentlich gerne etwas anderes gesagt hätte. Aber Gott, dafür ist es wirklich noch reichlich früh!

„Bedank dich erst, wenn du gleich noch lebst!“ Ein Zwinkern. „Und außerdem mache ich das vor allem für mich, denn ich bin es nicht gewohnt, mich zu verstecken... Eigentlich sollte ich eher dich fragen, ob es okay für dich ist, immerhin arbeitest du mit ihr...“ Ein vorsichtig prüfender Blick trifft mich.

„Sie hasst mich eh schon“, seufze ich.

„Leider nicht, mein Lieber, dafür liebt sie dich wohl zu sehr... aber vielleicht lässt das ja gleich nach, wenn sie hört, dass sie da nicht die einzige ist...“ Ein gequälter Blick, dann ein Kuss. „So, und nun aber auf in die Höhle des Löwen...“

Ich bleibe stehen, als er mich loslässt, ziehe zögernd mein Hemd an, als er es mir reicht.

Ob das jetzt wirklich richtig ist?

Aber sie ist seine Schwester, er muss selbst wissen, was er tut...

An der Tür halte ich ihn dennoch auf.

„Hältst du es wirklich für richt-“

„Hör auf dir so viele Gedanken zu machen!“ Er greift nach meiner Hand und zieht mich mit sich.
 

Jeden Schritt den wir der Küche näher kommen, sackt mein Herz weiter in meine Hose. Am liebsten würde ich flüchten.

Sie wird uns hassen, sie wird uns umbringen, sie...

Zunächst sitzt sie mit dem Rücken zu uns.

Max bemerkt uns als erstes, wirft Julian einen aufmunternden Blick zu und steht dann auf, um die Küche zu verlassen. Da erst scheint auch Anne uns zu bemerken.

Im ersten Moment, als sie sich umdreht, sehe ich nur ihr tränenüberströmtes Gesicht, dann, als sie mich zu erkennen scheint, verändert sich ihre Miene von traurig zu schockiert. Ein unverständlicher Laut kommt über ihre Lippen, als sie von ihrem Stuhl aufspringt und dieser klappernd zu Boden fällt.

Sie weicht einen Schritt zurück, steht mit aufgerissenen Augen vor uns... und starrt auf unsere Hände.

„Ich fass es nicht!“ Schockiert presst sie sich die Hände vor den Mund.

Ich will mich jetzt augenblicklich in Luft auflösen, bitte!

„Anne, das-“ Julian tritt einen Schritt auf sie zu, streckt eine Hand nach ihr aus. Ich sehe seine Finger zittern.

„FASS mich nicht an!“, zischt sie, tritt noch weiter zurück, wobei sie gegen den Tisch stößt. Klirrend fällt eine Tasse zu Boden. „Was soll der Mist?“

Ich bin es, den sie anspricht, den sie mit diesem Killerblick ansieht. Kaum kann ich dem standhalten. Mein Griff um Julians Hand wird fester.

„Ich-“

„Er ist mein Freund“, fällt Julian mir ins Wort und irgendwie bin ich froh darüber, selbst wenn ich seine Worte zu hart finde.

Aber ist gerade nicht eigentlich alles zu hart, was man sagen könnte?

Ihre Augen zittern zwischen uns hin und her. Sie scheint nicht zu wissen, was sie tun soll.

„Ach echt?!“, flüstert sie... und dann, als hätte sie erst testen müssen, wie diese Worte klingen, spuckt sie sie uns förmlich ins Gesicht. „Verdammte Scheiße, denkst du, das sehe ich nicht?!“ Sie krallt sich am Tisch fest, als suche sie einen Halt. Einen Moment habe ich das gemeine Bedürfnis, sie zu umarmen. „Seit wann geht das schon so?“, schreit sie mich an. Ihre Stimme ist brüchig und dünn. „Seit wann fickst du meinen Bruder?“

„Das...“

„Erst seit gestern...“, ist es wieder Julian, der antwortet, während ich kaum wage, sie weiterhin anzusehen... doch ich spüre, dass gerade das jetzt sehr wichtig ist.

Ihre Augen werden zu Schlitzen, als sie nun wieder ihren Bruder ansieht. „Du!“ Sie faucht wie eine Katze, die ihm am liebsten die Augen auskratzen will. „Du verfluchte Schwuchtel spannst mir einfach so den Freund aus! Dass du so tief sinken kannst!“ Sie tritt einen Schritt vor, sieht ihn verächtlich an. „Du bist so widerwärtig!“

Ein kurzer klatschender Laut, dann stürmt sie an mir vorbei aus der Küche. Die Wohnungstür fällt ins Schloss, kurz darauf die Haustür. Keiner von uns macht Anstalten ihr zu folgen.

Julian steht vor mir, mit gesenktem Kopf und glühender linken Wange. Er zittert am ganzen Körper.

Vorsichtig löse ich meine Hand aus seiner und schließe meine Arme um ihn, nicht sicher, ob das jetzt richtig oder falsch ist. Zu meiner Erleichterung lehnt er sich gegen mich, lässt sich halten... und als er seinen Kopf in meiner Halsbeuge vergräbt, spüre ich etwas nasses auf meiner Haut.

Wut kommt in mir auf, Wut auf sie... doch vor allem auf mich.

Wie bloß konnte ich es so weit kommen lassen? Wie konnte ich sie bloß so weit an mich binden, dass sie ihn sogar zum weinen bringt?

Aber ich wusste nicht, dass sie mich wirklich so sehr liebt... Hat sie tatsächlich so sehr an mir gehangen?

„Es tut mir leid...“, flüstere ich in Julians Ohr, doch er reagiert nicht darauf.
 

Eine ganze Weile stehen wir schweigend in der Küche, bis Julian sich langsam von mir löst. Seine Augen sind gerötet als er mich ansieht, ein Lächeln versucht, das misslingt.

„Ich will duschen“, meint er und geht an mir vorbei, bleibt allerdings direkt hinter der Tür stehen. „Komm mit...“, flüstert er seine leise Bitte

Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. „Gern.“

Als wir kurz darauf unter der Dusche stehen und das heiße Wasser über unsere nackten Körper fließt, habe ich das Gefühl, es würde alles von uns abwaschen und nur uns selbst und unsere Gefühle zurücklassen.

Wir küssen uns die ganze Zeit, halten uns aneinander fest oder streicheln uns am ganzen Körper. Alle Bewegungen sind langsam und zärtlich, wirken unglaublich vertraut, als kennen wir uns schon ewig. Selbst als er vorsichtig mein Glied berührt, mich leise stöhnend zum Höhepunkt bringt, kann ich ihm dabei noch immer in die Augen sehen, als sei das alles das normalste der Welt, als sei das mit Anne nie passiert. Und ihm gelingt ein Lächeln, das fast seinem üblichen gleich kommt, als sein Körper in meinen Armen unter meinen Berührungen erzittert.

„Ich bin froh, dass du bei mir bist...“, flüstert er danach, als wir uns einfach nur aneinander festhalten.

„Ich bin froh, dass du mich bei dir sein lässt...“, antworte ich genauso leise, spreche damit meine Ängste aus.

„Hör auf, dir Vorwürfe zu machen...“ Er sieht mich zärtlich an. „Ich habe mir dich ausgesucht, ich bin selbst schuld daran... und ich bin froh, dass ich so gewählt habe.“

Sein Kuss ist mehr als nur ein Versprechen, und ich antworte genauso darauf.
 

ENDE Kapitel 5

Ich, du und die Liebe

Irgendwie ist es immer schwieriger, über glückliche Zeiten zu erzählen als über schwierige.

Wieso ist das wohl so? Zwar kann man ausschweifen ohne Ende, und dennoch würde man wohl immer nur das selbe sagen... und zwar, dass es einfach nur wunderschön ist.

Denn das ist es... denn so sind die nächsten Wochen meines Lebens. Wunderschön wie nie.

Ich habe in den Jahren, in denen meine ganzen Beziehungen den Bach runter gingen, immer wieder gedacht, dass ich einfach nur nicht fähig für so etwas sei, dass ich nicht mit einem Menschen zusammen sein kann, dass ich für Zweisamkeit nicht geschaffen bin.

Doch Julian schaffte es in kürzester Zeit mir zu zeigen, dass es nicht so ist... dass es nicht nervig, sondern wunderschön sein kann, eine Beziehung zu führen, sich ständig nach dem Partner zu sehnen. Und das tue ich, wann immer ich die Gelegenheit dazu habe – und das ist fast immer, wenn ich gerade nicht mit ihm zusammen bin.

Tatsächlich vermisse ich ihn ständig... und jede Minute, die ich mit ihm verbringe, zeigt mir neue Dinge, die ich das nächste Mal vermissen kann.

Er hat so viele Kleinigkeiten, die ich mag. So viele Macken, die unglaublich niedlich sind, und ebenso viele wunderschöne Seiten, die man einfach nur lieben kann. Und er zeigt sie mir alle, in den nächsten Wochen, zeigt mir all seine schlechten und guten Angewohnheiten, zeigt mir Sachen aus seinem Leben, die er mag, die er gerne tut... Kein Tag vergeht, an dem ich nicht etwas neues von ihm lerne, ihn nicht ein kleines Stück mehr kennen und lieben lerne.
 

Wenn ich ehrlich sein soll, muss ich sagen, dass ich nie daran geglaubt hätte, einen Menschen wirklich lieben zu können. Allein dieses Wort „Liebe“ enthielt für mich immer so viele Mysterien, fast so viele wie unser Universum.

Liebe, was ist das schon? Ein Gefühl, eine Art, sich Gedanken über jemanden zu machen... eine Angewohnheit?

Nein, es ist mehr als das... und doch kann ich es ebenso schlecht in Worte fassen, wie alle Personen, die ich je gefragt habe. Man kann sie einfach nicht beschreiben, denn man muss sie erleben... die Liebe.

Dass es Liebe ist, die ich für Julian empfinde, daran zweifle ich schon lange nicht mehr... wenn ich es überhaupt je so richtig getan habe. Das einzige Problem, das ich mit dieser Sache habe, ist, es auszusprechen.

Und dabei sind es doch gerade mal drei Worte.

Ich liebe dich

So einfach und doch so schwer, dass ich sie bis zum heutigen Tage nicht geschafft habe, ihm zu sagen.

Doch wieso nicht? So vielen Frauen habe ich es schon gesagt, auch wenn es nie stimmte, warum schaffe ich es dann nicht, wenn es wahr ist?

Weil es wahr ist?

Im Gegensatz zu mir hat Julian keine Probleme damit, die Worte auszusprechen. Es ist irgendwann, knapp zwei Wochen nachdem wir ein Paar wurden, als er sie mir das erste Mal sagte.

Ob er auf eine Erwiderung wartete?

Bestimmt, doch er bekam sie nicht. Ich erschrak mich selbst davor, dass meine Lippen einfach nicht auseinander gehen wollten, dass ich nichts weiter schaffte, als glücklich zu lächeln und mich gleichzeitig schlecht zu fühlen.

Dabei war ich mir schon vor jenem Tag im Klaren darüber, dass ich ihn auch liebe.

Wieso also schaffte ich es nicht, ihm genau das zu sagen?

Julian überspielte die Situation irgendwie... und sagte mir später, dass es okay für ihn wäre, wenn ich noch warten will, er wollte es mir einfach nur mitteilen.

Seit dem hat er nur ein paar mal die berühmten drei Worte gesagt, nur dann, wenn es ihm scheinbar besonders wichtig war... und nie wartete er mehr auf eine Erwiderung, zumindest auf keine mit Worten...

Ich habe einen anderen Weg gefunden, um ihm von meiner Liebe zu erzählen. Ich sage es ihm mit Gesten, Berührungen und darum schweifenden Wörtern, doch mehr schaffte ich bislang einfach noch nicht. Manchmal, wenn wir uns lieben und einander danach in den Armen liegen, bin ich zwar kurz davor, doch dann schweige ich wieder. Ist es nicht zu heuchlerisch es nach dem Sex zu sagen, dann wenn man seine Lust befriedigt hat? Klingt es dann nicht billig, abgestanden, gelogen?

Das wäre einfach nicht der richtige Zeitpunkt... doch gibt es den überhaupt?

Warte ich nicht auf etwas, was nie kommen wird, da ich mir den Augenblick selbst erschaffen muss?
 

Doch das mit der Liebe, ist ohnehin so eine Sache für sich...

Dass ich Julian liebe, er ist nicht der Winzige, dem ich das noch nicht gesagt habe. Da sind auch noch so viele andere Personen...
 

Es beginnt schon mit Anne, wobei ich mir sicher bin, dass sie es gar nicht hören will. Nach dem Geständnis in Julians Wohnung habe ich sie nicht mehr oft gesehen. Um genau zu sein, kann man fast an zwei Händen abzählen, wie oft sie in diesen knapp fünf Wochen mehr als zehn Sekunden mit mir im selben Raum blieb. Wann immer ich ihr so über den Weg lief, machte sie einen riesigen Bogen um mich, ließ mir Nachrichten überbringen, wenn es nicht anders ging, und wechselte selbst nie ein Wort mit mir.

So schlimm es klingen mag, habe ich mich doch daran gewöhnt. Was soll ich auch anderes tun, außer es akzeptieren? Ich kann sie nicht zwingen, mit mir zu sprechen, mir zu verzeihen und – noch viel wichtiger – vor allem Julian zu verzeihen, der natürlich weitaus mehr unter ihrer Wut und Enttäuschung leidet. Ein paar Mal hat er versucht, sie anzurufen, doch sie legte jedes Mal auf... und als er einmal bei ihr in der Kanzlei vorbeiging, tat sie, als gäbe es ihn nicht...

Doch selbst er hat langsam begonnen, sich damit abzufinden.
 

Eine weitere Person, der ich es bisher nicht geschafft habe, von meinem neuen Leben zu erzählen, ist Tom... und wenn er es nicht weiß, wissen es natürlich auch Frank und Martin nicht.

Alles was ich Tom gegenüber erwähnt habe, ist, dass ich nichts mehr mit Anne habe... und dass ich nun in einer neuen Beziehung stecke. Und in dem Moment, als sich die Gelegenheit bot, die Wahrheit zu sagen, machte ich einen Rückzieher und antwortete auf die Frage, wie meine Freundin den hieße, mit „Julie“.

Ja, ich bereue es, gerade zu ihm nicht ehrlich gewesen zu sein... doch den Mut, die Lüge aufzuklären, fand ich dennoch bis heute nicht. Zwar versprach ich ihm und den anderen beiden, Julie demnächst mal mitzubringen, nannte jedoch keinen genaueren Zeitpunkt.

Ich habe einfach Angst vor dem Tag, an dem meine wichtigsten Freunde die Wahrheit über mich erfahren werden...
 

Was das angeht, so hat Julian natürlich weitaus weniger Probleme... beziehungsweise gar keine. Fast alle Personen in seinem Umfeld wissen von seiner sexuellen Orientierung und nicht selten beneide ich ihn darum... oder die anderen Schwulen, die ich durch ihn kennengelernt habe, und von denen die meisten ebenso offen leben, wie er.

Da wären allein schon Sam und Max, die beinahe damit prahlten, schwul zu sein... und dann natürlich seine Freunde, die er damals in der Schwulenkneipe getroffen hat.

Diese lernte ich auch genau dort kennen, als er es bereits nach zwei Wochen schaffte, mich mitzuschleifen. Zwar stellte ich auch dieses Mal fest, dass diese Art von Kneipe einfach nichts für mich ist – auch nicht, wenn ich mich jetzt wohl als einer von ihnen bezeichnen kann – aber auch merkte ich zu meiner Erleichterung schnell, dass Julians Freunde nicht in das Schema passten, in das ich sie damals gesteckt hätte.

Im Gegenteil, eigentlich verstand ich mich sogar mit fast allen auf Anhieb ziemlich gut und am meisten freute es Julian wohl, als er sah, wie ich mich mit seinem besten Freund Marius bestimmt eine Stunde lang unterhielt.

Dabei war wohl eher ich es, der froh war... denn zuvor hatte ich tatsächlich Angst davor gehabt, dass Julians Freunden mich nicht mögen und ihn gar zum Zweifeln bringen könnten. Doch diese Sorgen waren zum Glück vollkommen unbegründet.
 

Als wir an jenem „Kennlernabend“ nach Hause gingen, meinte Julian zu mir, dass ich nun fast alle wichtigen Leute seines Lebens kennen würde, außer... ja, außer seiner Eltern.

Ich muss zugeben, dass mich diese Aussage ziemlich erschreckte, in jenem Moment. Zwar war es einerseits toll, zu hören, dass ihm schon nach so kurzer Zeit, die wir nun zusammen waren, wichtig war, dass ich all seine wichtigen Personen kennenlernte... und doch, verdammt, warum ausgerechnet seine Eltern?

Julian schien meine Scheu vor ihnen schnell zu bemerken, lachte, umarmte mich und sagte, dass ich mir keine Sorgen machen bräuchte, durch die räumliche Distanz sehe er seine Eltern nur selten und das nächste Treffen sei erst für Weihnachten geplant. Ich schämte mich dafür, dass es mich erleichterte, doch auch das schien ihn nicht zu stören.

Dies war auch der Moment, in dem er mir seine Liebe gestand.
 

Doch das Thema Eltern ist nicht nur dann ein Problem, wenn es um seine geht, sondern besonders dann, wenn es meine eigenen betrifft... denn sie gehören zu letzten und wohl wichtigsten Gruppe der mir wichtigen Personen, die nicht die Wahrheit über mich kennen.

Wie um Himmels Willen soll ich denn bitteschön meinen Eltern sagen, dass ihr Sohn auf Männer steht, ohne dass sie gleich einen Herzinfarkt davontragen?
 

Tatsächlich habe ich es bis jetzt sehr gut geschafft, nicht über das Thema nachzudenken, doch lange wird das wohl nicht mehr gehen... was mir bewusst wurde, als meine Mutter vor ein paar Tagen anrief...

Dann nämlich, als sie mich fragte, wann ich denn am Heiligabend bei ihnen wäre. Ich wollte gerade antworten, als mir etwas bewusst wurde. Daraufhin sagte ich, dass ich es noch nicht so genau wisse, und beendete das Gespräch.

Julian merkte sofort, dass etwas nicht stimmte... und als das Wort „Weihnachten“ über meine Lippen kam, fand er mein kleines, großes Problem sofort.

Ein wichtiger Tag... zwei Einladungen.

Warum habe ich eigentlich nicht schon eher darüber nachgedacht?

Zuvor, wenn wir von Heiligabend gesprochen haben, war es immer der Tag gewesen, an dem ich seine Eltern kennenlernen werde... aber hallo, Alexander, aufgewacht, du hast auch noch eigene Eltern, die dich an dem Tag sehen wollen!

Die größte Frage, die sich nun also stellte, war: Würden wir Weihnachten nicht zusammen verbringen können?

Meine Antwort darauf: Kommt nicht in Frage!

Selbst wenn wir zugegebenermaßen noch nicht so lange ein Paar waren, sondern erst seit etwas mehr als einem Monat, würde ich es nicht einsehen, den Tag ohne ihn zu verbringen!

Aber... was nun tun?
 

Am nächsten Tag rief ich meine Eltern an und teilte ihnen meine Entscheidung mit: Ich werde den Heiligabend woanders verbringen.

Wo? Um diese Antwort redete ich mich mit Mühe und Not herum...

Warum? Weil ich Angst habe... weil ich ihnen nicht gerade den Heiligabend verderben und weil ich trotz allem nicht lügen will.

Traurig beließ es meine Mutter schließlich dabei und nahm mir das Versprechen ab, wenigstens am ersten oder zweiten Weihnachtsfeiertag bei ihnen vorbeizukommen.

Ich stimmte zu, legte auf... und fühlte mich unglaublich elend.

Seit 26 Jahren wird es das erste Mal sein, dass ich Weihnachten nicht zusammen mit meiner Familie verbringe... und das, weil ich einfach nur zu feige bin, ihnen die Wahrheit über mich zu erzählen...
 

An diesem Abend schaffte Julian es nur sehr schwer, mich wieder aufzumuntern.
 

ENDE Kapitel 6

Friedliche Tage

Ich starre auf die Fahrbahn vor mir, blinke, überhole einen dunkelroten Van, wechsle wieder auf den rechten Streifen...

Ich habe darauf bestanden zu fahren, sonst würde ich noch nervöser als ich es vor diesem Treffen ohnehin schon bin... so habe ich wenigstens Abwechslung!

Julian sitzt neben mir und singt leise zu einem amerikanischen Weihnachtslied im Radio: Last Christmas! In den ersten Tagen mag ich das Lied eigentlich immer noch recht gerne, doch wenn du kaum irgendwo hinschalten kannst, ohne es wieder und wieder zu hören, geht es schnell auf die Nerven... So kann ich es auch jetzt schon nicht mehr hören. Julian hingegen liebt den Song, weshalb ich ihn mir zu den üblichen Malen im Radio nun auch ein paar Mal auf CD anhören musste...

Ich blicke kurz zu ihm, dann wieder zurück zur Fahrbahn. Er wirkt so unglaublich fröhlich, was ich ehrlich gesagt nicht im Geringsten nachvollziehen kann... naja, aber seine Eltern wissen ja auch, was los ist.

Ich dagegen bin unglaublich nervös... habe meine kleine Tasche drei Mal ein- und ausgepackt, was ich sonst nur von meinen Freundinnen gewohnt war. Über alles Mögliche machte ich mir Gedanke, über jedes winzige, noch so unwichtige Detail...

Was, wenn irgendetwas schief geht?

Was, wenn sie mich nicht ausstehen können?

Was... wenn gar ich sie nicht leiden kann?

Doch um ganz ehrlich zu sein, gibt es noch einen anderen, vorherrschenden Punkt, der ziemlich extrem zu meiner Nervosität beiträgt: Anne.

Nicht nur würde ich heute Abend zum ersten Mal auf Julians Eltern treffen... nein, ich würde auch noch der Frau gegenüber stehen, der ich das Herz gebrochen habe, die ihren Bruder und mich hasst... und das ganz sicher auch zur Schau stellen wird.

Um ehrlich zu sein dachte ich schon ein Mal mehr darüber nach, ob ich wirklich mitkommen soll, als mir zum ersten Mal bewusste geworden war, dass sie natürlich auch da sein wird. Doch Julian verdrängte diese Zweifel sofort wieder, sagte mir, dass ich es auf keinen Fall davon abhängig machen sollte. Früher oder später würden wir uns sowieso aussprechen müssen, daran führe kein Weg vorbei...

Und leider hat er ja auch Recht mit dem, was er sagte.
 

„Hey... versuch wenigstens so zu tun, als würdest du dich auf die Straße konzentrieren!“ Julian piekt mir kurz in die Seite, grinst.

„Keine Sorge, ich hab alles im Griff“, antworte ich, zugegeben etwas steif.

„Gut... dann lach mal ein bisschen mehr!“

„Geht schlecht, wenn man in den Gerichtssaal geführt wird!“, entgegne ich trocken, weil ich mich genau so fühle. „Schuldig im Sinne der Anklage...“

„Ach quatsch! Sie werden dich lieben!“

„Dass Anne das noch tut, kann natürlich gut sein... und deine Eltern werden mich garantiert ausquetschen, außer sie nehmen das Ganze sowieso nicht ernst und ignorieren mich stattdessen...“ Ich seufze.

„Red nicht so nen Scheiß... klar hätten sie dich wahrscheinlich lieber an Annes Seite gesehen, aber wenn sie dich nicht leiden können, dann bestimmt nicht deswegen, weil du mein Freund bist!“

„Was für ne Aussicht... sie werden mich also so oder so nicht mögen...“

„Du weißt, dass ich das so nicht gemeint habe!“

„Ja...“ Ich versuche ein Lächeln, greife nach seiner Hand und drücke sie.

Irgendwie tut es ja wirklich gut zu wissen, dass es ihm wichtig ist, mich seinen Eltern vorzustellen... und wahrscheinlich ist es durchaus auch normal, so nervös zu sein. Trotzdem...
 

Als wir knappe zwanzig Minuten später die Auffahrt hochfahren und ich den Wagen im Schnee zum Stehen bringe, klopft mein Herz fast unerträglich hart gegen meinen Brustkorb. Einige Sekunden lang bleibe ich einfach nur sitzen, atme tief durch, versuche, mich zu beruhigen.

So schlimm wird es schon nicht werden!

Meine Tür wird geöffnet, dann spüre ich seine Hand an meiner, welche er nun vom Lenkrad löst.

„Na komm schon...“ Ich sehe zu ihm auf in sein aufmunterndes Lächeln, das mich zugegebenermaßen tatsächlich ein bisschen aufbaut.

Ich stehe auf, erwidere den Druck seiner Hand, fühle mich gut, als er sich vorbeugt, um mich zu küssen.

Dann werde ich mit zur Tür gezogen, die Klingel wird betätigt.

„Sei einfach du selbst, dann haben sie keine andere Wahl als dich zu mögen...“

Die Tür wird geöffnet noch ehe ich den sarkastischen Spruch, der mir auf den Lippen lag, aussprechen kann... und dann bleibt er mir auch schon im Halse stecken.

„Hallo!“ Eine Frau mittleren Alters - wie ich weiß 42 - steht vor uns und wischt sich die Hände an ihrer Schürze ab. „Nimm bitte eben den Topf vom Herd!“, schreit sie zurück in die Wohnung, dreht ihren Blick dann wieder uns zu. „Schön, dass ihr da seid!“ Ihre Stimme ist herzlich, als sie ihren Sohn in die Arme schließt, fest an sich drückt.

Danach sieht sie mich an.

„Und du bist also Alexander!“ Sie streckt mir ihre Hand entgegen. Keine Spur von Missfallen, als ich sie ergreife, stattdessen lächelt sie freundlich an.

„Schön, sie kennenzulernen, Frau Teuber“, sage ich förmlich, doch sofort schüttelt sie heftig den Kopf. Mein Herz rutscht augenblicklich Richtung Hose.

„Quatsch! Nenn mich Barbara! Und jetzt kommt doch erst mal rein!“ Damit dreht sie sich auch schon wieder um und verschwindet mit den Worten „Ich muss mal schnell nach dem Essen gucken!“ durch eine Tür, welche ich als Küchentür vermute.

Julian lacht, zieht mich am Arm mit hinein. Er nimmt mir die Jacke ab, während ich unbeholfen herumstehe, mich verstohlen umschaue.

„Komm schon... fühl dich einfach wie zu Hause, okay?“ Seine Augen strahlen mich voller Freude an und tragen dabei einen Glanz, den ich noch nicht kenne. Er gefällt mir.

Ich lächle und nicke, mache mir selbst die besten Vorsätze... und bekomme ungewöhnliches Herzflattern, als er mich an sich zieht und seine Lippen auf meine drückt.

Ein Räuspern.

Sofort schrecke ich zurück, sehe erschrocken den Herrn an, der in der Tür steht. Zu meiner Überraschung und tiefsten Erleichterung lächelt er uns an.

„Ich weiß, ich bin vielleicht nicht ganz dein Typ... aber willst du mich deswegen gar nicht begrüßen?“, zwinkert er Julian zu und dann umarmen sich die beiden.

Zögernd gehe ich zwei Schritte auf diese Szenerie zu... und ein Blick trifft mich. Ich weiß, dass es weder abweisend noch missfallend gemeint ist, doch merke ich trotzdem, dass Julians Vater kurz zögert, bevor er mir die Hand hinstreckt. Er lächelt immer noch und es wirkt ehrlich, wenn auch leicht unsicher.

So also reagiert ein Vater auf den Freund seines Sohnes?

„Ich bin Bernhard... schön, dass du mitgekommen bist.“ Es ist eine ehrlich gemeinte Begrüßung.

Da ich nicht weiß, was ich darauf sagen soll, nicke ich nur dankbar lächelnd.
 

Nur ein paar Worten schaffen wir zu wechseln, bevor Bernhard von seiner Frau in die Küche gerufen wird. Julian entscheidet sofort, mir ein bisschen das Haus zu zeigen. Wir beginnen direkt mit seinem alten Kinderzimmer, in dem er bis vor vier Jahren gelebt hat. Es wurde mittlerweile zu einem Gästezimmer umfunktioniert, enthält aber immer noch viele seiner Möbel... Das Bett zum Beispiel, auf dem er sich mit einem zufriedenen Lächeln niederlässt.

Von Anne gibt es kein Zimmer. Den Grund dafür erfuhr ich schon vor ein paar Wochen:

Anne wurde geboren, als ihre Mutter gerade mal sechszehn Jahre alt war, kurz vor dem Abschluss stand und sich noch viel zu jung fühlte, um ein Kind großzuziehen. So war es Barbaras Mutter, die sich hauptsächlich um das kleine Mädchen kümmerte.

Vier Jahre später, als Barbara mit Bernhard zusammen kam und Julian geboren wurde, hatte sich die kleine Anne schon so an ihre Großmutter gewöhnt, dass sie beschlossen, es sei das Beste, Anne bei ihr zu lassen.

Noch eine größere Trennung von der Tochter kam, als Bernhard zwei Jahre später ein besserer Job angeboten wurde und die kleine Familie umzog...

Julian meinte, dass seine Mutter in den späteren Jahren oft erwähnt hatte, wie leid ihr die Entscheidung, Anne nicht mitzunehmen, getan hatte, was sie für ein unheimlich schlechtes Gewissen hatte... doch vielleicht war es trotzdem die richtige Entscheidung gewesen, denn Anne hatte ebenso eine schöne Kindheit wie ihr Bruder...

Leider bekamen die beiden so nur nie eine Möglichkeit, wirklich eine geschwisterliche Beziehung zueinander aufzubauen, und erst als Julian für seine Ausbildung zurück in seine Geburtsstadt zog, bekamen die Geschwister die Gelegenheit, sich wirklich kennenzulernen und mehr Zeit miteinander zu verbringen als nur an ein paar kleinen Familienfesten...

Und jetzt?

Jetzt sind sie wieder getrennt... nicht wirklich räumlich, aber durch mich, der ich wohl viel zu spät merkte, was mit mir los war.

Ist es also nicht auch an mir, die Sache zu klären?
 

Als wir nach einiger Zeit wieder im Erdgeschoss ankommen, führt Julian mich in die Küche. Barbara steht am Herd und ist vollkommen in ihrer Arbeit versunken. Julian geht zu ihr und drückt ihr einen Kuss auf die Wange, bevor er weiter ins Wohnzimmer geht, das letzte Zimmer, das ich noch nicht gesehen habe.

In der hinteren Ecke des großen Raumes steht ein Tannenbaum, leuchtend von all dem Schmuck und elektrischen Kerzen. Darunter liegen ein paar Geschenke, zu denen Julian nun unsere legt.

Ich lasse meinen Blick weiter schweifen, über die Sitzgarnitur, die Esszimmerecke, bis hin zur Terrasse... und hier fährt es mir ganz tief in den Magen, denn hier entdecke ich Anne. Unsere Blicke begegnen sich nur kurz, dann wendet sie sich sofort ab. Ich sehe zu Julian, der sich mit seinem Vater unterhält und nicht bemerkt, wie ich zur Terrasse gehe.

„Hallo...“, sage ich zaghaft, als ich hinaustrete

Keine Antwort... Sie schaut einfach weiter in die entgegengesetzte Richtung. Zögernd stelle ich mich neben sie, sehe sie von der Seite an und fühle mich plötzlich wie ein Eindringling in dieser Familie.

„Es tut mir leid, dass es so weit gekommen ist...“, spreche ich etwas aus, das mir schon lange auf dem Herzen lag, und mustere das bisschen Gesichtshälfte, das ich erkennen kann, genau.

Was um Himmelswillen sagt man in einer solchen Situation am besten?

„Ich wollte dir nie wehtun... ich habe einfach nicht gemerkt, was mit mir los ist...“ Nun wende ich meinen Blick ab, sehe in die Dunkelheit, die ein Stück des Gartens verschlingt. „Ich wollte wohl einfach nicht wahrhaben, dass ich schwul bin. Vielleicht wäre es auch ewig so weiter gegangen, wenn nicht Julian-“

„Wieso ausgerechnet er?“, fällt sie mir ins Wort. Ihre Stimme ist traurig und dünn.

„Ich weiß es nicht. Es ist einfach so passiert... Ich hab mich Hals über Kopf in ihn verliebt.“

Ich sehe aus den Augenwinkeln, wie sie sich bewegt, wie sie sich ein wenig in meine Richtung dreht. Zögernd wage ich, auch meinen Kopf wieder zu drehen, ihrem Blick zu begegnen, der traurig ist und auch ein wenig an eine giftige Schlange erinnert.

„Und was war ich für dich?“, kommt es leise. „Ein nerviger Zeitvertreib?“

„Nein!“, schüttle ich fest den Kopf und sehe sie ernst an. „Du warst eine Freundin, eine gute Freundin... aber nie mehr.“

„Und wieso hast du es dann nicht schon eher... beendet?“

„Weil ich dachte, dass es vielleicht doch mehr werden könnte... weil ich dich mochte und hoffte, dass ich damit doch glücklich werden kann, weil ich-“ Ich breche ab, als sie den Blick senkt. Wie weh müssen ihr all meine Worte wohl tun? „Es... es tut mir wirklich leid, Anne, aber bitte... bitte versuche, deinen Bruder nicht mehr zu ignorieren... es tut ihm auch leid und er kann noch weniger dazu als ich.“

„Er wusste, dass du mein Freund bist!“, zischt sie.

„Ja, aber man kann sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebt. Er hat es sich nicht ausgesucht!“

Einen Moment bleibt es still. Anne hält ihren Blick gesenkt und auch ich starre auf ihre Finger, die nervös miteinander spielen.

Was soll ich denn noch sagen?

Wahrscheinlich gäbe es da eine ganze Menge, aber ich weiß einfach nicht, was.

„Ich hätte nie gedacht, dass er mal einen richtigen Freund finden würde...“, beginnt sie schließlich zu sprechen. „Julian war nie für etwas Ernsthaftes zu haben, hatte nie eine Beziehung... und jetzt... jetzt ist er mit dir zusammen und plötzlich scheint es ihm wirklich ernst zu sein... er bringt dich sogar mit hierher...“

„Er liebt mich.“

„Ja, das tut er...“ Sie sieht mich wieder an und in ihren Augen sind Tränen zu erkennen.

„Und ich liebe ihn.“

„Bist du... dir sicher?“

„Mehr als je zuvor.“

Ihre Hand greift nach meiner, was mich erschrocken zusammenzucken lässt... und im nächsten Moment ist sie mir ganz nah und ihre Lippen berühren die meinen. Erstaunt lasse ich es zu, dann ist der Kuss auch schon wieder vorbei.

„Tu ihm nicht weh, ja?“, spricht sie bittend und der Griff um meine Hand wird fester.

„Das habe ich nicht vor.“

„Er... er hat es verdient...“ Das Weitersprechen fällt ihr schwer, weshalb ich es ihr abnehme.

„Danke“, sage ich leise und drücke ihre Hand zärtlich. „Und keine Sorge, ich werde gut auf ihn aufpassen...“

Ein Nicken, welches das Gespräch beendet und mir das Gefühl gibt, dass nun alles wieder ein klein bisschen mehr in Ordnung ist.
 

~ * ~
 

Es wird ein schöner, ruhiger Weihnachtsabend, der mir den Eindruck verleiht, doch ein wenig hierher zu gehören... und als wir später in Julians alten Kinderzimmer liegen, weiß ich, dass es eine gute Entscheidung war, mitzukommen.

Es war schön, ihn im Kreis seiner Familie zu erleben, es war schön, zu sehen, wie er zu strahlen begann, als selbst Anne ein paar Worte mit ihm wechselte... es war schön, ihn immer noch ein klein bisschen besser kennenzulernen.
 

Dass ich Julian nämlich noch längst nicht kenne, habe ich spätestens daran gemerkt, als es darum ging, ihm ein Weihnachtsgeschenk zu kaufen.

Ich habe Max und Sam gefragt, ich habe Marius gefragt, aber keiner wusste etwas, keiner konnte mir wirklich sagen, was Julian sich wünscht. Letztendlich kam ich durch Tom auf die Idee, als er mir sagte, er würde Emilie Ohrringe kaufen. Ohrringe waren wohl kaum das Richtige, aber mit Schmuck an sich würde ich hoffentlich nicht ganz so falsch liegen. Und so entschied ich mich für eine Halskette aus Leder mit einem silbernen Anhänger daran... und wurde mit jedem Tag, den Weihnachten näher rückte, nervöser. Was, wenn es doch nicht richtig war?

Meine Sorge war unbegründet, wie ich feststellen durfte... denn als er das kleine Päckchen öffnete und zu strahlen begann, wusste ich sofort, dass er sich wirklich freute. Er küsste mich, was mir irgendwie unangenehm vor seinen Eltern war, doch diese schien es nicht zu stören... Zumindest anmerken ließen sie es sich nicht. Und Anne sah einfach zur Seite, ihr Blick war traurig, und es tat mir einmal mehr leid, ihr wehgetan zu haben.

Was ich wohl von Julian bekommen würde, war die zweite Sache, über die ich viel gedacht hatte in den letzten Tagen. Ich war wahnsinnig gespannt, wie seit Jahren nicht mehr.

Das Erste, was ich auspackte, war eine kleine, verzierte Schatulle, die mit rotem Samt ausgekleidet war. Julian sagte, er wisse selbst nicht, warum er sie mir gekauft habe, sie hätte ihm einfach gefallen. Ich konnte dem nur zustimmen, denn selbst wenn das Ding kitschig und alt war, hatte es doch etwas Schönes an sich.

In der Schatulle lag ein Umschlag... und darin war eine Art Gutschein. Ein Gutschein für das Bild mit dem Haus und den Kindern im Garten, das ich von Anfang an einfach nur wunderschön gefunden hatte... ein herrliches Geschenk, doch noch mehr die Worte, die er mir ins Ohr flüsterte:

„Vielleicht hängt es ja bald irgendwo, wo wir es uns beide immer wieder ansehen können...“ Er sah mir dabei ganz tief in die Augen und es war das schönste Versprechen, das er mir hätte geben können.
 

Ich streiche immer wieder zärtlich Julians Rücken hinab, selbst wenn ich weiß, dass er es nicht mitbekommt. Er ist mittlerweile eingeschlafen, nachdem er mir zuvor noch ein paar kleine Geschichten aus seiner Kindheit erzählt hat, dabei so wahnsinnig enthusiastisch klang, als wolle er am liebsten dahin zurückkehren.

Schon oft habe ich gemerkt, dass Julian zwei Seiten hat... Manchmal kann er noch ganz süß kindisch sein und dann wieder habe ich das Gefühl, als sei eigentlich er der ältere von uns beiden. Ich komme mir nicht immer wie 26 vor, sondern oft jünger, unerfahrener als er.

Am ehesten war das wohl der Fall, als sich in meinen Gedanken noch vieles um das allererste Mal Sex mit ihm drehte. Mittlerweile weiß ich, wie wunderschön es ist, weiß ich, wo seine empfindlichen Stellen sind, ich weiß, was er gern hat.... Doch bevor wir das erste Mal miteinander schliefen, hatte ich unglaublichen Schiss davor.

Ich kannte nur Sex mit Frauen, was mir nie wirklich gefallen hatte... Er hingegen hatte schon so viele Erfahrungen mit Männern, dass ich Angst hatte, ihn nicht befriedigen zu können. Ja, ich hatte sogar ziemliche Angst davor, dass ich etwas falsch machen könnte, etwas, das ihn abstoßen würde. Ich wollte ihn nicht verdrängen, nicht verlieren, so wie es oft bei Frauen der Fall gewesen war. Was, wenn es ihm keinen Spaß machte, wenn er meine Angst merken und darüber lachen würde?

Er war mir so verdammt wichtig, dass ich mich immer weiter in diese Sorgen hineinsteigerte... doch am Ende waren eigentlich alle umsonst gewesen.

An jenem kalten Herbstabend, an dem wir in seinem Bett lagen und uns gegenseitig wärmten, geschah es wie von selbst. Kein Wenn und Aber, keine störenden Gedanken... Sie alle stellte er mit Hilfe seiner zärtlichen Küssen und Berührungen ganz einfach ab. Er hatte gemerkt, dass ich Angst hatte, doch er ließ sich nicht davon abstoßen, sondern ließ sie ganz sacht verschwinden. Immer wieder flüsterte er mir liebevolle Worte ins Ohr, bis ich mich beruhigt, vollkommen entspannt hatte. Und dann liebten wir uns das erste Mal.

Es war so viel schöner als ich gewagt hätte, zu träumen.
 

Ich drehe mich ein wenig in dem kleinen Bett, schlinge meine Arme um den schlafenden Körper neben mir... Julian hat einen ziemlich gesunden Schlaf, schafft es, schon nach ein paar Minuten einfach so wegzudösen, wenn ich mich noch hellwach fühle...

Am Anfang, wenn ich in seinem Zimmer lag und im Gegensatz zu ihm nicht schlafen konnte, fühlte ich mich einsam, auch wenn ich nicht wusste, wieso. Mittlerweile finde ich es schön, still neben ihm liegen und seinem ruhigen Atem lauschen zu können. Es hat so etwas wunderbar Vertrautes an sich.

Ohnehin ist „vertraut“ ein Wort, das ich gerne benutze. Noch nie zuvor hatte ich das Gefühl, mich einem Menschen so offenbaren zu können, ihm alles von mir sagen und zeigen zu können... Es ist, als kennen wir uns schon ein Leben lang, selbst wenn es so viele Dinge gibt, die wir noch nicht übereinander wissen.
 

Etwas nicht über eine andere Person wissen...

Ja, auch und besonders an diesem Abend musste ich immer wieder darüber nachdenken, kam mir immer wieder der Gedanke, dass es zu viele Menschen gibt, die nicht die Wahrheit über mich wissen. Immer wieder musste ich an meine Eltern denken.

Wie geht es ihnen wohl heute, an Weihnachten? Ich habe zwar einen Bruder, aber dieser lebt mittlerweile in Australien und meldet sich nur selten... so also sind sie tatsächlich ganz allein dieses Jahr. Normalerweise bin ich zu Weihnachten immer bei ihnen, doch ausgerechnet jetzt, wo ich glücklicher bin als je zuvor, traue ich mich nicht zu ihnen, weil ich Angst habe, ihnen von meinen Gefühlen zu erzählen. Ich habe es vorgezogen, zu lügen und zu flüchten, statt sie von Julian wissen zu lassen...

Doch nicht nur meine Eltern haben ein Recht auf die Wahrheit, sondern auch er. Ihn verheimliche ich vor ihnen, nur weil ich zu feige bin, zu ihm zu stehen.

Natürlich... irgendwann werde ich es ihnen bestimmt sagen, irgendwann werde ich in der Öffentlichkeit zeigen, dass ich anders bin, dass ich mit ihm glücklich bin... irgendwann werde ich wie Julian sagen, dass er mir wichtiger ist als die Meinung der Leute... Irgendwann wird es ganz sicher so weit kommen, doch ist es dann nicht schon zu spät? Darf ich ihn so lange einschränken, hinter Lügen verstecken? Habe ich wirklich das Recht dazu? Was, wenn dieses Lügen auf Dauer sogar unsere Liebe ruiniert?
 

Ich seufze, drehe mich auf den Rücken und ziehe ihn ein Stück mit mir. Er murrt ein bisschen, blinzelt mich verschlafen an.

„Hm... Was’n los?“ Seine Stimme ist belegt vom Schlafen.

„Nichts...“ Ich versuche ein Lächeln, das er eh nicht sehen kann, küsse ihn auf die Stirn. „Schlaf weiter.“

Es wird wieder still, doch auch nach einigen Minuten verrät mir sein Atem, dass er nicht wieder eingeschlafen ist. Vorsichtig streiche ich ihm über den Rücken, lasse meine Hände an seinen Schultern liegen.

„Ich... habe darüber nachgedacht, wie es weitergehen soll...“, flüstere ich schließlich.

„Hör auf, dir immer so viele Gedanken zu machen”, kommt es prompt, dann streckt er sich und küsst mich. „Es kommt schon alles so, wie es soll...“

Nach diesem Kuss schlinge ich meine Arme nur noch fester um ihn, drücke seinen warmen Körper an meinen, sage nichts mehr.

Wenn du wüsstest, wie nur ein paar kurze Worte von dir, mir helfen können, klarer zu sehen.

Ja, es kommt schon alles so, wie es kommen soll... doch manchmal muss man es in die richtige Richtung schieben... und das Gefühl, dass du mich nicht in diese Richtung drängst, zeigt mir, dass ich dennoch bald in sie gehen sollte...

Damit wir endlich frei sein können...

Damit ich ganz zu dir gehören kann...

Damit uns nie wieder etwas trennt.

Denn weißt du, Julian... selbst wenn ich dich erst seit ein paar Wochen kenne und noch so vieles über dich lernen muss, habe ich schon jetzt Angst davor, dich jemals wieder hergeben zu müssen.

Sag mir, wie kann man für einen einzelnen Menschen so viel empfinden? Und wie ist es überhaupt möglich, dass diese Gefühle von dir ebenso erwidert werden?

Noch nie zuvor habe ich so etwas empfunden, fühlte mich so glücklich dabei, und zugleich hatte ich noch nie eine solche Angst vor der Intensität meiner eigenen Gefühle.
 

ENDE Kapitel 7

Weil ich dich liebe...

An diesem Abend in seinem Kinderzimmer bin ich zu einem Entschluss gekommen:

Ich werde zu ihm stehen, es ihnen allen sagen.
 

Als ich wieder zu Hause war, rief ich allererst Tom an.

Seit mindestens acht Jahren verbringen wir jedes Sylvester zusammen, Tom, Frank, Martin und ich. Jedes Jahr woanders, meist an irgendeinem Küstenort oder einem See in der Nähe. Immer wird eine riesige Party daraus, da wir nie nur zu viert waren, sondern jeder seine aktuelle Freundin mitbrachte, dazu noch ein paar andere Bekannte. Jahr für Jahr war es eines der besten Ereignisse des Jahres und so gut wie jedes Mal hatte auch ich eine Freundin dabei, selbst wenn alle wussten, dass es nicht lange halten würde...

Dies Jahr ist es anders, dies Jahr werde ich einen Menschen mitbringen, der mir wichtig ist, den ich liebe, und es wird kein Mädchen sein.

Ich fragte Tom über die diesjährigen Pläne aus und erwähnte fast beiläufig, dass ich wieder jemanden mitbringen würde... und dass es die Person sein wird, die ich auch in den nächsten Jahren immer dabei haben will. Ich nannte wieder den Namen Julie und sagte, er solle sich einfach überraschen lassen.

Wir verabredeten, dass ich am Sylvesterabend erst zu ihm kommen würde. Ich will erst mit ihm reden, bevor ich auf die anderen treffe, will erst seine Zustimmung oder Ablehnung, denn sie ist mir viel wichtiger als die der anderen. Sollte er mich verurteilen, brauche ich erst gar nicht zu der Party zu gehen.

Julian ist einverstanden und ich glaube er ist auch neugierig auf meine Freunde, die ich ihm so lange vorenthalten habe.
 

Als ich nun also diesen Punkt geplant und somit fürs erste abgehakt hatte, hielt mich nichts mehr davon ab, über meine Eltern nachzudenken... Meiner Mutter hatte ich versprochen, spätestens am zweiten Weihnachtsfeiertag vorbeizuschauen, und nun, da ich mich entschlossen hatte, es allen zu sagen, dachte ich gar nicht erst daran, alleine hinzufahren. Sie sollen endlich wissen, wer ich wirklich bin, mich als diese Person lieben oder hassen.
 

Meine Mutter hat mich erst spät bekommen, genauer gesagt erst mit 34... und mein Vater ist noch fünf Jahre älter als sie. Vielleicht bereitet mir gerade das die meiste Sorge, denn, wenn man es genau nimmt, sind sie nicht nur aus einer ganz anderen Generation wie Julian und ich, sondern auch wie seine Eltern. Sie sind in der Zeit aufgewachsen, wo Homosexualität ein Tabuthema war und als abstoßend galt. Wohl nicht zuletzt deshalb wurde ich meine gesamte Kindheit über nicht einmal mit dem Thema konfrontiert. Eigentlich weiß ich überhaupt nicht wie meine Eltern darüber denken. Vielleicht haben sie ja auch gar nichts dagegen und ich mache mir umsonst Sorgen...
 

Als ich Julian von meinem Entschluss erzählte, wollte er erst nicht mitkommen. Er sagte, er wolle mich nicht drängen und ohne ihn könne ich mich entweder doch noch dagegen entscheiden oder es ihnen mit mehr Ruhe erklären. Doch das will ich nicht. Ich weiß, dass ich ohne ihn wieder einen Rückzieher machen, wieder den Schwanz einziehen würde... und das will ich nicht. Ich habe mich dazu entschlossen, es ihnen zu sagen, also werde ich es tun, und bei der Gelegenheit sollen sie auch gleich meinen Freund kennenlernen, wer weiß, ob sie es danach überhaupt noch wollen...
 

~ * ~
 

Trotz meines feststehenden Entschlusses werde ich nun, da wir meinem Elternhaus immer näher kommen, zunehmend nervöser... und als wir schließlich die Autobahn verlassen und in das kleine Dorf abbiegen, in dem ich 19 Jahre lang gelebt habe, würde ich am liebsten wieder umdrehen.

Was soll ich denn bitte sagen? „Mum, Dad, ich bin schwul“? Oder besser „Das ist mein Freund, nein, nicht so Freund, wie ihr denkt... ich habe Sex mit ihm.“?

Seufzend lasse ich den Kopf sinken. Sowohl das eine, als auch das andere kann ich doch nie im Leben sagen... Aber gibt es überhaupt Worte, die es ihnen unmissverständlich klar machen und sie dem Herzinfarkt nicht etwas näher bringen?

Ich sehe Julian an, der still neben mir sitzt und interessiert all die kleinen Häuser ansieht, die mir so vertraut sind...

26 Jahre lang habe ich mich nie wirklich mit dem Gedanken beschäftigt, vielleicht schwul zu sein. Dabei bin ich es wohl schon immer gewesen. Im Nachhinein ist das so leicht zu erkennen... war ich also wirklich so blind?

Wieso habe ich nie darüber nachgedacht, dass ich einen männlichen Körper viel anziehender fand als den blanken Busen einer Frau... oder dass ich in meiner Schulzeit lieber den Jungen nachsah, als den beliebtesten Mädchen? Wieso hat es mich nie gewundert, wieso hat es mich nie zu einer so offenliegenden Tatsache gebracht?

Hatte ich einfach Angst? Habe ich mich deshalb vor mir selbst verleugnet und bin wieder und wieder Beziehungen eingegangen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen waren?

Es hat mich ja noch nicht mal gewundert, dass mich der Sex mit einer Frau nie wirklich befriedigte...

Vielleicht dachte ich auch so sei es normal und habe deshalb den Gedanken einfach verdrängt, die Worte, die immer in meinem Kopf hätten sein müssen: Ich bin schwul!

26 Jahre lang habe ich es einfach nicht gesehen.

Ich greife nach Julians Hand, genieße ihren erwidernden Druck einen Moment lang. Für ein paar Sekunden sehe ich in seine Augen, sehe sie lächeln.

Wie habe ich nur so lange ohne ihn leben können?

An einer roten Ampel beuge mich kurzentschlossen zu ihm hinüber, küsse ihn. Als ich mich wieder von ihm löse, erkenne ich im Auto auf dem Nebenstreifen zwei jüngere Frauen. Sie sehen uns breitgrinsend an. Ich erwidere das Grinsen, küsse Julian provokant noch ein zweites Mal und fühle mich gut dabei.

Muss es nicht genau so sein?
 

~ * ~
 

Ich habe in den sieben Jahren, die ich nicht mehr zu Hause wohne, weil ich aufgrund meines Studiums weggezogen bin, nicht ein Mal eine Freundin mit nach Hause gebracht. Ab und zu, wenn ich mit meiner Mutter telefonierte oder sie alle paar Wochen mal besuchen fuhr, habe ich ihr von irgendeinem Mädchen erzählt. Meist war es beim nächsten Mal schon wieder eine ganz andere.

Anne war die Letzte, von der ich ihr erzählt habe... von „Julie“ habe ich nichts gesagt.

Mein Vater hat sich nie für mein Liebesleben interessiert. Arbeit war ihm schon immer viel wichtiger, denn Beziehungen seien in meinem Alter reinste Zeitverschwendung. Jahrelang habe ich seine Ansicht sogar irgendwie geteilt, doch jetzt tue ich es nicht mehr. Wie könnte ich auch die Zeit mit Julian, die ich so sehr genieße, als Zeitverschwendung ansehen?
 

Ich schließe die Tür zu dem großen Haus auf, das nun, da mein Bruder Daniel und ich nicht mehr hier wohnen, eigentlich viel zu groß für zwei Personen ist. Aus der Küche hört man leise die Musik des Radios... seit Jahr und Tag immer der gleiche Sender.

Alles ist so vertraut und doch weiß ich, dass ab heute wohl alles anders sein wird. Am liebsten würde ich auch jetzt noch umdrehen und gehen, doch was würde es bringen, wieder zu flüchten, weiter zu lügen?

Julian bleibt einige Schritte hinter mir. Auch er scheint jetzt nervös zu sein.

„Hi Ma...“ Ich betrete die Küche, und bleibe mitten im Raum stehen.

Sofort dreht sich die kleine, rundliche Frau um und strahlt mich mit ihren Lachfältchen an.

„Hallo mein Junge!“

Sie kommt auf mich zu und umarmt mich, doch im nächsten Moment versteift sich ihr Körper in meinen Armen. Ich schließe die Augen und atme einmal tief durch.

„Oh...“ Sie befreit sich aus meinem Griff und es bleibt mir keine andere Wahl als sie anzusehen. „Du hast einen Freund mitgebracht!?“ Sie klingt nicht mal misstrauisch, nur überrascht.

„Das ist Julian“, antworte ich knapp. „Wo ist Dad?“

„Im Arbeitszimmer...“ Sie sieht Julian an, mustert ihn von oben bis unten ohne ihn zu begrüßen.

Julian selbst ist blass und kein Wort scheint seine sonst so gesprächigen Lippen verlassen zu wollen. Er sieht mich an und ich spüre wie hilflos er sich fühlt. So habe ich ihn noch nie gesehen.

Zögernd gehe ich an ihm vorbei, greife dabei nach seiner Hand und ziehe ihn mit mir. Auch wenn ich es nicht sehen kann, weiß ich um den erschrockenen Blick im Gesicht meiner Mutter, weiß ich, dass sie uns bis zu Vaters Arbeitszimmer hinterher dackelt und dabei die ganze Zeit auf unsere Hände starrt.

Immer mehr Angst steigt in mir auf.

Ich lasse Julians Hand wieder los, klopfe an die alte Eichentür und drücke die Klinke hinunter. Sofort steigt mir der bekannte Geruch von Staub und Zigaretten in die Nase. Als kleiner Junge habe ich es geliebt, hier bei meinem Vater zu sein und ihm bei der Arbeit zuzusehen, nun wünsche ich mir plötzlich es könnte noch immer so sein... doch wir haben uns schon vor Jahren voneinander entfremdet.

„Hallo...“, sage ich verkrampft, als ich auf den mittlerweile ergrauten Hinterkopf sehe. Er hebt kurz die Hand, als wolle er sagen ‚Einen Moment bitte’... eine oft von ihm verwendete Geste.

Ich erkenne Julian neben mir, wie er verstohlen den Blick durch das mit Büchern und Ordnern vollgestellte Zimmer schweifen lässt...

Noch könnte ich meine Gefühle und damit mich selbst verleugnen, noch könnte ich ihn verleugnen und sagen, der Handgriff war nur eine unüberlegte Geste, noch könnte ich ihnen Julian als einen Freund vorstellen, so wie es Tom immer war. Ihn haben sie geliebt wie ihren eigenen Sohn.

Theoretisch könnte ich es, doch praktisch?

Kann ich wirklich meine Gefühle noch weiterhin zurückstellen... seine Gefühle, nur um meinen Eltern das Gefühl zu geben, einen normalen Sohn zu haben?

Aber bin ich denn nicht normal?

Mein Vater dreht sich zu uns herum und auf seinen Lippen liegt ein leichtes Lächeln. Dies ist die Sekunde der Entscheidung. Wahrheit oder Lüge, Alles oder Nichts...

Ich greife nach Julians Hand und halte sie fest.

Wie auch meine Mutter zuvor sieht mein Vater mich und Julian überrascht an als würde oder wolle er einfach nicht verstehen. Vielleicht tun sie es auch wirklich nicht...

In den Stunden Fahrt hatte ich viele verschiedene Möglichkeiten um ihnen es zu erklären, doch nun verlässt kein Wort meine Lippen.

„Was hat das zu bedeuten?“ Mein Vater sieht mich direkt an, misstrauisch.

„Das...“ Ich schlucke, suche die richtigen Worte, drücke Julians Hand noch etwas fester, als bräuchte ich einen Beweis, dass er wirklich bei mir ist. Mein Kopf ist leer. „Vater... das ist Julian...“, spreche ich, weil mir nichts anderes einfällt.

„Mich interessiert nicht wer das ist, ich will wissen, wieso du...“ Er deutet auf unsere Hände.

Julians Hand ist eisig und feucht. Gerne würde ich ihn ansehen, um zu wissen was er denkt, doch ich wage nicht, den Blick von meinem Vater zu lösen.

„Er... er ist mein Freund... und...“ Ich krame in meinem Kopf nach den richtigen Worten. Sie und diese Situation scheinen mir aus den Fingern zu gleiten. „...und wir lieben uns.“

Damit ist es heraus, doch ich fühle mich kein bisschen besser. Wahrscheinlich sollte ich das, doch der sich verändernde Blick meines Vaters lässt es nicht zu. Er springt auf und knallt mir eine. Mein Kopf fliegt gegen den Türrahmen, alles scheint sich zu drehen.

Julians erschrockene Stimme hallt in meinem Kopf wie ein Echo, ganz weit weg...

Ich klammere mich an seine Hand, kämpfe gegen den Drang an, meinen zitternden Knien nachzugeben und zu Boden zu sinken. Vor mir steht mein Vater. Er war schon immer etwas größer als ich, doch nun wirkt er riesig und bedrohlich. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen, seine Augen nur noch Schlitze. Alles was ich je als Wut oder Hass in ihm gedeutet hätte, verschwindet aus meinen Erinnerungen.

„Johann... bitte...“ Es ist die zitternde Stimme meiner Mutter hinter mir.

„Was?“ Er schreit nicht, klingt nur, als wolle er am liebsten ein weiteres Mal zuschlagen.

Plötzlich frage ich mich, ob er jemals Hand an meine Mutter gelegt hat.

Hatte sie schon mal Angst vor ihm? Ich habe sie jetzt!

„Bitte... wir... wir können doch darüber reden...“ Ich höre, dass sie weint. „Er kommt bestimmt wieder zur Vernunft...“

In dem Moment, als ich diese Worte höre, hätte am liebsten ich sie geschlagen.

Wieder zur Vernunft kommen? Darüber reden?

„Scheiße, es ist mir verdammt ernst damit!“, schreie ich, selbst überrascht über die Härte in meiner Stimme. Ich spüre die Hand meiner Mutter an meinem Arm, schüttle sie sofort wieder ab. „Ihr glaubt das doch selbst nicht! Verdammt, ich bin 26, ich weiß, was ich fühle!“

„Das weißt du nicht! Dieser Kerl hat dir das eingeredet!“

„War doch klar, dass so was kommt! Das ist doch immer so! Immer sind andere Schuld! In eurer heilen Familie kann so was natürlich nicht passieren! Was wenn ich aber wirklich so fühle!?“ Ich spüre Tränen wie Säure in meinen Augen, spüre sie meine Wangen hinunter fließen. Ich wusste doch, dass es so kommen würde!

„Du bist ganz bestimmt nicht so! Du wirst bald ein Mädchen finden!“ Mein Vater spricht, als wolle er mich hypnotisieren. Seine Stimme ist kalt und ganz ruhig, treibt mich schier in den Wahnsinn.

Ich sehe zu Julian, der mich erschrocken ansieht, sehe auch in seinen Augen Tränen. „Nein!“, schreie ich, sehe dabei ihn an, weil ich seinen Blick als einzigen ertrage... „Ich liebe ihn und das ist verdammt gut so! Oder wollt ihr, dass ich unglücklich werde?“

„Du kannst das alles nicht ernst meinen!“ Meine Mutter, ihre Stimme ist fast hysterisch.

Ich habe das Gefühl in einem Brunnen zu sitzen, in den alle möglichen Leute hineinschreien, einem mit aller Kraft etwas einreden wollen, und man hat gar keine anderer Wahl, als ihnen zuzuhören egal wie sehr der Kopf dröhnt.

„Doch, das meine ich! Akzeptiert es, verdammt noch mal!“

„Aber was haben wir denn falsch gemacht?“ Durch all die Tränen versagt ihr fast die Stimme. Ich traue mich noch immer nicht, sie anzusehen.

„Du bist keine Schwuchtel! Mein Sohn ist so was nicht!“ Nun schreit er wieder, verzweifelt, als habe er wirklich Angst, mich zu verlieren. Warum stellt er mich dann vor so eine Wahl, die er nur verlieren kann?

„Wie kann man nur so verkorkst sein?“

Ich drehe mich um und ziehe Julian hinter mir her. Kurz scheint er mich aufhalten zu wollen, dann tut er es nicht. Ich höre meinen Vater etwas schreien, doch ignoriere seine Worte. Tränen fließen meine Wangen hinunter, als ich in der Tür meines Elternhauses stehe und mir nichts sehnliche wünsche, als dass mir einer von ihnen nachkommt, um mich aufzuhalten, mich doch so zu akzeptieren. Keiner von beiden kommt, nur Julian ist da und im Hintergrund das Geschreie meiner Eltern.

Ich sehe ihn durch Tränenschleier an. „Bring mich weg von hier!“
 

~ * ~
 

Ich liege in meinem Bett, fest in eine Decke vergraben. Immer noch kann ich die Tränen nicht stoppen, so sehr ich es auch versuche. Immer wieder hallen ihre Worte in meinen Ohren, immer wieder dieser Hass, diese Wut. Wieso muss gerade ich Eltern haben, die es nicht akzeptieren, damit nicht umgehen können?

Seit wir wieder hier sind, wünsche ich mir, das Telefon würde klingeln und Mutter würde am anderen Ende darauf warten, dass ich abnehme... doch der Apparat bleibt tot. Die ganze Fahrt über habe ich geschwiegen, aus dem Fenster hinaus in die verschneite Landschaft gestarrt und mir gewünscht, es wäre alles nie passiert. Ich habe mich zurück in unser Ferienhaus an der Ostseeküste gewünscht, in dem wir so oft Sommer als auch Winter verbracht haben. Damals war ich ein kleiner Junge, damals habe ich noch nicht an Jungen oder Mädchen gedacht, damals war ich unschuldig, ohne diese abscheulichen Gedanken. Mein Vater hat mich geliebt, meine Mutter mit mir und Daniel gespielt, und die Welt war in Ordnung.

Nun, mehr als fünfzehn Jahre später hat sich alles verändert. Daniel ist in Australien, ich bin schwul und meine Eltern hassen mich...

Wieso geht es so leicht eine völlig normale Familie zu zerstören?

Es sind drei Worte, es ist ein Gefühl, es ist eigentlich nur ein kleiner Gedanke, den meine Eltern meinetwegen ganz hinten in ihrem Kopf vergraben können. Ich habe nicht vor, ständig bei ihnen knutschend mit Julian zu sitzen oder ihnen von meinen Sexspielchen zu erzählen, nichts von alledem käme mir je in den Sinn, wieso also machen sie so ein Drama daraus?

Ist Schwulsein denn wirklich so schlimm?

Es kann ja auch nicht wegen Enkeln sein. Daniel ist seit fünf Jahren mit einer Australierin verheiratet und sie haben einen gemeinsamen Sohn. Es kann also nicht an dem verständlichen Grund, Oma und Opa werden zu wollen, liegen. Wieso also dann?

Wieso können sie nicht damit leben, dass ich schwul bin?

Eine Tür fällt leise ins Schloss. Schritte.

„Alex...“

Julian hat mich ins Bett gebracht und hat mich dann für einige Minuten alleine gelassen. Fast habe ich vergessen, dass er überhaupt da ist, fast habe ich es verdrängt. Nun ist seine Stimme ruhig und zärtlich wie immer. In mir zieht sich alles zusammen, als ich sein Gesicht vor meinem geistigen Auge sehe.

„Darf ich zu dir kommen?“ Es ist das erste Mal, dass er mich dies fragt... und es ist das erste Mal, dass ich daran denke, es nicht zuzulassen.

Er hebt die Decke etwas an, um darunter zu krabbeln. Ich kneife meine Augen noch mehr zusammen, versteife meinen Körper. Obwohl ich mir im Moment nichts sehnlicher wünsche als seine Nähe, stößt mich der Gedanke gleichzeitig ab. Ich will alleine sein, alleine nachdenken und weinen, und ich will ihn bei mir spüren, festhalten und mit ihm schlafen, um zu wissen, dass ich noch lebe.

Doch das darf nicht sein.

Er ist ein Mann, und ich bin einer. Sex zu haben ist dreckig und pervers! Diese Worte schreiben sich förmlich mit der Stimme meines Vaters in meinen Kopf.

Dreckig! Pervers!

Schwuchtel!

„Geh weg!“, schreie ich halblaut unter der Decke hervor, gerade als sich die Matratze etwas senkt. Er ist ekelhaft, er darf dich nicht anfassen, nicht weiter beschmutzen! „Lass mich in Ruhe!“

Ich spüre, wie er stockt, sich nicht zu bewegen wagt. Ich zittere am ganzen Körper, kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Einerseits hasse ich mich dafür, dass ich ihn nun abweise, andererseits muss es doch genauso sein, wenn man normal ist!

Er hat dich nur verführt! Er hat dich nur verzaubert! Wach endlich auf!!

Ich schlinge die Decke enger um mich, eine abwehrende Geste.

„Alex... bitte... ich will dir doch helfen...“

Lügner! Bleib weg von mir, fass mich nicht an!

„Ich brauche dich nicht!“ Ich bin ungerecht, ich bin gemein, ich darf so nicht sein... Nein, verdammt, es ist genau richtig so! „Lass mich in Ruhe!“, wiederhole ich mit Nachdruck, Tränen verzogener Stimme.

Ich spüre zwei Hände, die mich packen, schütteln. Ich habe die Augen zusammengekniffen, schlage mit beiden Händen um mich.

Perverses Schwein, nimm deine dreckigen Pfoten von mir! Ich hasse dich!!

„Pack mich nicht an, du Schwuchtel!!“ Meine eigene Stimme ist es, die ich da höre, die diese Worte spricht, aber ich begreife es kaum.

Im nächsten Moment spüre ich einen knallenden Druck auf meiner Wange. Mein Kopf wird in die Kissen geschleudert... dann liege ich ganz still da. Meine Augen sind geweitet, starren vor sich hin, ohne bestimmten Punkt.

Was war das gerade? Was ist da gerade mit mir passiert?

Ich habe ihn angeschrieen, von mir geschickt, beschimpft. Ich habe den Menschen, den ich am meisten liebe, versucht, mit aller Kraft auf Abstand zu halten, ich hätte ihn in meinem Wahn wahrscheinlich sogar geschlagen.

Ich... ich...

Immer noch rinnen Tränen meine Wangen hinab, doch nun sind sie anders als zuvor...

Ich drehe den Kopf ein wenig, sehe Julian an, der auf mir sitzt. Seine Augen blicken zurück, und anders als ich erwartet hätte, sehe ich nicht Wut oder gar Hass darin, sondern nur Sorge und Liebe. Ich kämpfe mich aus den Kissen hoch, schlinge meine Arme um seinen Körper. Zugleich habe ich Angst, dass er mich nun wegstößt. Diese Angst ist größer als alle Enttäuschung wegen meiner Eltern.

„Es tut mir leid...“ Ich schluchze an seiner nackten Schulter, vergrabe mein Gesicht daran. „Es tut mir so leid!“

Seine Arme legen sich um mich und er drückt mich gegen sich. Unendliche Erleichterung steigt in mir auf.

„Es ist okay...“, flüstert er in mein Ohr, seine Stimme nicht wütend, sondern beruhigend, wenn auch ein wenig zittrig. „Ich liebe dich doch...“

„Ich liebe dich auch... verdammt, und wie ich dich liebe...“ Zum ersten Mal spreche ich es aus.

Ich presse meine Lippen gegen seine und er geht auf den verlangenden Kuss ein. Es scheint als nehme er diese Last von meinen Schultern, lässt diese Stimmen aus meinem Kopf verschwinden. Ich gehöre zu ihm, mehr nicht.

Als der Kuss vorüber ist, sehen wir uns tief in die Augen. Er lächelt schief und sein Blick ist so klar und warm, zeigt mir immer wieder diese tiefen Gefühle, die auch ich verspüre. Er ist es, der jetzt bei mir ist, der mich tröstet und mich mit all meinen Macken als den akzeptiert und liebt, der ich bin. Er sollte mir wichtiger sein, als alles andere, und eigentlich ist er es auch. Wie konnte ich auch nur eine Sekunde daran zweifeln?

Er zieht die Decke unter uns hervor, drückt mich auf die Matratze zurück und deckt uns zu. Ich umschlinge seinen heißen Körper als sei er ein Rettungsanker und ich kurz vor dem Ertrinken.

Halt mich fest, beschütze mich, lass mich nie wieder los!
 

ENDE Kapitel 8

In die Zukunft

Auch in den nächsten Tagen warte ich vergeblich auf einen Anruf meiner Eltern. Das Telefon klingelt einige Male, doch jedes Mal werde ich enttäuscht.

Einmal ist es Daniel, mit dessen Anruf ich am wenigsten gerechnet hätte. Er fragt, wie es mir geht und in mir taucht der Gedanke auf, dass er vielleicht mit unseren Eltern geredet hat und daher anruft. Ob er mich umstimmen soll?

Nur kurz überlege ich, dann sage ich auch ihm die Wahrheit. Die sekundenlange Stille, die darauf folgt, zeigt schon, dass er es noch nicht wusste, nicht mit ihnen geredet hat... und seine Worte danach noch mehr: Es ist okay für ihn. Er erkundigt sich sogar genauer über Julian und danach reden wir fast eine halbe Stunde lang wie zwei ganz normale Brüder.
 

In diesen ganzen Tagen, die ich Zuhause verbringe, da die Kanzlei zwischen den Jahren geschlossen ist, ist Julian fast die ganze Zeit bei mir. Gerade jetzt, nach dem Streit mit meinen Eltern merke ich, wie sehr ich ihn eigentlich brauche, wie sehr meine Seele und mein Körper schon nach ihm verlangen.

Nein, egal wer mich ablehnt oder wie oft ich schief angesehen werde, ich gebe diesen Menschen nie wieder her!
 

~ * ~
 

Der Sylvesterabend kommt schließlich schneller als es mir lieb ist.

Ich muss zugeben, dass ich tatsächlich kurz darüber nachgedacht habe, abzusagen, doch ich ließ es sein. Zwar habe ich jetzt noch mehr Angst vor Toms Reaktion als ich es vor dem Gespräch mit meinen Eltern hatte, aber ich muss da schließlich irgendwann durch...
 

Den ganzen Weg über bis zu Toms Wohnung halte ich Julians Hand und auch wenn ich das Gefühl habe, beobachtet zu werden, lasse ich sie nicht los. Dieser Mann an meiner Seite gehört zu mir, das kann ich doch auch zeigen!

Tom wohnt seit seiner Hochzeit mit Emilie hier, davor lebte er jahrelang in einer Wohngemeinschaft. Nun, da ich die Klingel drücke, muss ich daran denken, wie ich ihm damals geholfen habe, die Wohnung zu renovieren und einzurichten. Es war ein Akt von fast zwei Wochen, doch es hat sich gelohnt. Emilie war total begeistert.

Damals versprach Tom mir, dass er mir auch helfen würde, wenn ich irgendwann mit meiner Frau zusammenziehe... Ob das Angebot auch noch gilt, wenn meine Frau ein Mann ist?

Der Summer ertönt und wir gehen hinein ins Treppenhaus. Ich lasse Julians Hand nicht los, denn ich weiß, dass Tom die Situation auch dann sofort verstehen würde. Er ist nicht auf den Kopf gefallen, sondern wird sofort begreifen, was Sache ist, wenn ich statt wie angekündigt mit meiner Freundin mit einem Mann antanzte, da könnten Julian und ich noch so weit voneinander entfernt sein. Es wird keinen Sinn machen, zu versuchen, ihm etwas vorzulügen, also denke ich auch erst gar nicht daran.

Die Wohnungstür steht einen Spalt breit offen, wie eigentlich immer, wenn ich ihn besuchen komme. Ich gehe hinein, Julian zögert merklich. Ich lächle ihn an, ziehe ihn mit ins Wohnzimmer, wo ich Tom vermute. Allerdings ist der Raum leer, als wir ihn betreten, und gerade als ich mich wieder umdrehen will, höre ich Schritte. Ich bleibe still stehen, verkrampfe mich mit einem Mal ziemlich.

„Hallo Alex...“ Seine Stimme klingt wie immer, was mich die Stirn runzeln lässt. Selbst als ich mich nun doch zu ihm umdrehe, sehe ich nichts außer ein Lächeln auf seinen Lippen.

Was ist hier los? Er muss es doch gesehen haben, noch immer sehen...

„Hallo...“, sage ich zögernd, sehe ihn verwirrt an.

Tom lächelt noch etwas breiter, sieht Julian an. „Du bist dann also Julie?“ Keine Spur Erschrockenheit in seinem Gesicht, nur Freundlichkeit... Ein Lachen.

„Äh... ja... irgendwie schon...“ Julian wirkt ebenfalls etwas verwirrt, nervös. „Ich bin Julian...“ Er streckt Tom die Hand hin und dieser ergreift sie ohne das kleinste Zögern.

Ich beobachte genau seine Miene dabei, doch sie zeigt mir nichts, was ich wissen müsste.

Dann kommt Tom auf mich zu und ich lasse Julians Hand los, erwidere die freundschaftliche Umarmung.

„Das ist echt ne Überraschung“, grinst Tom mich an. „Ich muss sagen... damit hätte ich dann doch nicht gerechnet...“

Ich bin noch immer sprachlos, starre ihn aus großen Augen an.

Wie kann das sein? Wieso fängt er nicht an zu schreien, toben, oder ähnliches?

„Und... du... das macht dir nichts aus?“, frage ich zögernd, selbst wenn ich nicht weiß, ob ich die Antwort wirklich hören will.

„Ach komm, Alex... ich bin seit über zwanzig Jahren dein bester Freund... glaubst du wirklich, dass ich dir wegen so ner Sache die Freundschaft kündigen würde? Du enttäuschst mich!“

Ich grinse schuldbewusst. „Na ja, irgendwie hatte ich schon Angst davor... andere würden es nämlich tun...“

„Von denen hast du aber auch nicht deinen ersten Kuss bekommen...“ Er zwinkert mir lachend zu und ich spüre, wie ich rot werde. „Wahrscheinlich war ich auch noch schuld dran...“

„Überschätz dich mal nicht!“ Nun muss auch ich lachen, wobei mir ein riesiger Stein vom Herzen fällt. Ich greife wieder nach Julians Hand, streiche ein paar Mal mit meinem Daumen über seinen Handrücken... ein kleines Zeichen dafür, dass es mir gut geht.

„Aber nun kommt... Emilie will dich bestimmt auch kennenlernen!“, meint Tom an Julian gewand, dreht sich um und lässt uns ihm in die Küche folgen.
 

Emilie reagiert ungefähr so wie ihr Mann. Zwar sagt sie kurz lachend, nun könne sie es sich wohl abschminken, dass meine Erstgeborene ihren Namen tragen würde, aber das ließe sich gerade so verkraften...

Erleichtert durch diese positiven Reaktionen fällt es auch nicht schwer, Tom von dem Besuch bei meinen Eltern zu erzählen. Auch er wirkt erschüttert, gibt dann aber zu, dass die Reaktion leider wirklich zu ihnen passt...

Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich darüber bin, dass Tom es so positiv aufgenommen hat... Ehrlich gesagt habe ich nicht wirklich daran geglaubt, aber manchmal geschehen noch Zeichen und Wunder... Zum Beispiel scheinen Julian und Emilie ineinander einen idealen Gesprächspartner zu sehen. Sie unterhalten sich die ganze Zeit während ich mit Tom noch ein paar Kleinigkeiten vorbereitete und ihm dabei erzählen muss, wie ich Julian kennengelernt habe.
 

Leider reagieren bekanntlich nicht alle Menschen gleich, auch nicht, wenn sie sich meine Freunde nennen...

Als wir gegen acht Uhr am Strand ankommen, sind fast alle schon da, und durch Toms Reaktion Mut gefasst, trete ich ihnen auch mit etwas mehr Selbstvertrauen entgegen.

Frank, der übrigens immer noch mit seiner Asiatin zusammen ist, ist ziemlich geschockt, als er mich an der Hand eines Mannes sieht. Zwar sagt er nicht groß etwas dazu und versucht auch den ganzen Abend normal mit mir umzugehen, doch wirklich gelingen will es ihm nicht. Man merkt deutlich, dass ein Schwuler nicht gerade in seinen idealen Freundeskreis passt, doch trotzdem bin ich ihm irgendwie dankbar, dass er wenigstens versucht, damit umzugehen.

Bei Martin war ist das allerdings anders. Er reagierte zwar nicht ganz so heftig wie meine Eltern, aber eindeutig genug. Die Worte ‚das ist ja ekelhaft’ lassen in mir alles zu Eis gefrieren. Manchmal ist es verwunderlich, wie man sich in einen Menschen täuschen kann, denn ich habe ihn zum Beispiel toleranter eingeschätzt als Frank. Zumindest scheint meine Freundschaft zu Martin nun fürs erste zur Vergangenheit zu gehören... Vielleicht wird er es ja noch anders überlegen, aber man kann ihn schließlich nicht zwingen... Wenn das seine Meinung ist, werde ich wohl oder übel damit leben müssen, und verdammt, das halte ich auch noch aus!

Auch Tom scheint ziemlich enttäuscht über Martins Reaktion und fast wütender darüber zu sein als ich. Die beiden streiten sich eine ganze Weile, was mir ein ziemlich schlechtes Gewissen einjagt, da ich immerhin der Grund für diesen Streit bin...
 

Irgendwann, als es später wird, schaffen Julian und ich es, uns von der größten Gruppe abzuseilen. Es ist nun kurz nach halb Eins und man kann überall noch Sylvesterraketen aufgehen sehen. Ohne zu übertreiben kann ich sagen, dass sie mir noch nie so schön vorgekommen sind...

Julian kuschelt sich in meine Arme, legt den Kopf auf meiner Schulter. Ich streiche ihm immer wieder durchs Haar, lausche den entfernten Stimmen und Geräuschen. Ich fühle mich wohl, zufrieden wie lange nicht mehr. Selbst wenn all meine Freunde dagegen gewesen wären, wäre es egal, denn die wichtigste Person habe ich hier, bei mir. Ihn einfach nur bei mir zu haben, ihn in meinen Armen zu spüren, gibt mir ein solches Gefühl der Sicherheit, dass ich nichts anderes mehr brauche...

Irgendwann reißt mich das Klingeln meines Handys aus meinen Gedanken hervor.

Wer kann das sein? Alle Personen, die ich mir vorstellen kann, wissen, dass ich ganz in ihrer Nähe bin, wer also dann?

Die Nummer auf dem Display verrät mir Sekunden drauf, dass es meine Mutter ist. Mein Herz setzt einen Moment aus.

„Ja?“, frage ich in das Gerät, spüre es aufgrund meiner Hand an meinem Ohr zittern. Ich verkrampfe meine andere Hand in Julians Jacke.

„Hallo Schatz... ich bin’s...“, kommt ihre Stimme leise zurück, während Julian seine Hand auf meine legt.

Ich schweige, weiß nicht, was ich dazu sagen soll.

„Ich... wir wünschen dir ein frohes neues Jahr...“, spricht sie dann merklich zögernd weiter und ich erwidere den Gruß ebenso.

Dann ist es wieder still.

Ich lasse meinen Kopf ein Stück zur Seite sinken, berühre mit meiner Stirn Julians Haar und ziehe ihren Geruch ein, versuche mich darauf zu konzentrieren und nicht auf mein nervöses Herz.

Sag etwas, verdammt, irgendwas, bitte!

Sag, dass es okay ist, dass du mir verzeihen wirst, egal wie blöd das klingt...

„Bist du... ist dieser Kerl... bei dir...?“

Ich verdrehe die Augen bei diesen Worten, seufze tief.

Vergiss es, Alex, allein diese Tonlage zeigt dir doch, dass sie deinen Wunsch nicht erfüllen wird.

„Ja, ist er“, antworte ich und versuche meine Stimme fest klingen zu lassen.

„Aha...“ Sie macht eine kurze Pause. „Hör zu, mein Junge... dein Vater und ich denken, es sei das Beste, wenn-“

„Mutter, es ist mir egal, was ihr darüber denkt!“ Ich drücke Julian etwas näher an mich, hebe den Kopf wieder und sehe zum Feuerwerk hinüber. „Ich bin glücklich mit ihm.“

Wieder einen Moment der Stille. Die wütende Stimme meines Vaters im Hintergrund. Wahrscheinlich hört er per Lautsprecher alles mit an.

Das Licht der Raketen verschwimmt vor meinen Augen...

„Alexander... wir lieben dich und wir wollen doch nur, dass du noch mal gen-“

Wieder unterbreche ich sie. „Es ist okay, Mama... vergesst es... ich lasse mir das nicht von euch zerstören, dazu habt ihr kein Recht...“ Kurz lausche ich, doch es bleibt still. Ich sehe zu Julian, dessen Kopf noch immer mit geschlossenen Augen auf meiner Schulter ruht. „Ich liebe euch auch... Tschüss...“

Ich lege auf. Danach starre ich das kleine Ding in meiner Hand eine Weile lang an, bis ich es schließlich in meiner Jackentasche verschwinden lasse.

Als ich meinen zweiten Arm nun um Julian schlinge, sieht er mich liebevoll an und ich küsse ihn fest.

Ich bin so froh, dass ich dich kennengelernt habe und dass du jetzt bei mir bist.
 

ENDE - SUCH DICH IN MIR...
 

~ Rohfassung: 16.Oktober 2003

~ Überarbeitung: Dezember 2006
 

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Kommentar:

Ich hoffe sehr, dass euch diese Geschichte gefallen hat! Immer wieder, wenn ich ein Stück lese, merke ich, wie sehr mein Herz an Alex und vor allem Julian hängt und ich hoffe, ich konnte ein kleines Stück meiner Liebe zu ihnen an euch weitertragen ^__^

Wer gerne wissen würde, wie es mit Alex und Julian weiter geht, dem empfehle ich meine andere Story Bicontrolled. Hier treten Alex und Julian als Nebencharaktere auf, da ich sie einfach noch nicht ganz aus meiner Gedankenwelt verschwinden lassen wollte. Die Geschichte spielt ein paar Jahre nach "Such dich in mir..."

Es würde mich sehr freuen, wenn ihr sie lest ^^

> http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/132878/
 

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Von:  trinithy
2012-03-31T15:05:39+00:00 31.03.2012 17:05
Da die Geschichte nun zu Ende ist, gibt es einen großen zusammenfassenden Kommentar, wie angekündigt.

►Rechtschreibung
Also mir sind so gut wie keine Fehler aufgefallen, ich glaub mal ein Buchstabendreher und was Groß- und Kleinschreibung irgendwo, aber selbst da bin ich mir jetzt am Ende nicht mehr so sicher, weil ich das ja nicht notiert habe. Aber bei so einer langen Geschichte kann sich ja auch einiges einschleichen. Wahrscheinlich habe ich hier mehr Tippfehler in meinem Kommentar :) Lange Rede kurzer Sinn, hierfür keine Minuspunkte.

► Handlung/Thema
Ich liebe es, wie vielschichtig du das Thema Coming-out und Beziehung in deiner Geschichte verarbeitet hast. Also darüber brauchen wir gar nicht groß zu diskutieren, die Wettbewerbs Voraussetzungen sind schlicht weg mehr als erfüllt :)
Besonders gut fand ich wie bereits erwähnt, eben die Vielschichtigkeit. Dass sich Alex erst selbst finden und quasi sich selbst gegenüber outen musste, dann Julian, der mehr wusste als er selbst über sich, dann das Outing gegenüber seiner bis dato Freundin Anne, das Zusammentreffen mit Julian Eltern, das schwere und dramatisch verlaufene Outing bei seinen eigenen Eltern und dann schließlich bei seinen Freunden.
Auch schön war zum Beispiel, dass Alex nicht direkt die Worte „Ich liebe dich“ aussprechen konnte. Da hat man eben doch noch einmal die verschiedenen Welten gesehen, aus denen Alex und Julian kommen, denn letzterer hat ja immer schon offen gelebt.

►Charaktere
So, fangen wir mal mit der Kritik an:
Die Charaktere waren mir im Schnitt zwei, drei Jahre zu jung. Zumindest für die Berufe, für die du sie ausgewählt hast. Alex zum Beispiel ist ja Rechtsanwalt, aber erst 26. Irgendwie wirkte er in seinem Beruf auch nicht, als wenn er da noch der Neuling und erst vor wenigen Wochen von der Uni kommend wäre. Jura ist aber ja ein recht langes Studium und da kenn ich Leute, die mit 26 grade frisch den Abschluss gemacht haben.
Gut mag sein, dann das auch alles schneller geht, ich kenne mich in dem Jura-Bereich jetzt nicht soo dolle aus, aber rein nach meinem Empfinden, hätte es besser gepasst wenn er (und in Folge seine Schuldfreunde dann auch) einfach ein wenig älter gewesen wären.
Aber das ist nur ein kleiner Punkt, denn in der Geschichte selber, wurde sein Alter ja kaum erwähnt, sodass ich ihn in meinem Kopf eigentlich immer älter gemacht habe ^^“

Jetzt das wirklich Gute:
Die Entwicklung die Alex im Verlauf der Geschichte durchmacht, die hast du sehr schön eingefangen. Seine Gesten und Taten, seine Gedanken und auch dein Stil mit dem du ihn entwickelt hast, machen es wirklich einfach sich in ihn hinein zu versetzen und das alles nachzuvollziehen.
Aber nicht nur der Protagonist ist schön ausgearbeitet, sondern auch alle anderen Charaktere, wie Julian, Anne, aber auch kleinere Parts wie Tom und Alex Eltern. Über alle weiß man genau so viel, dass ihre Handlungen und Reaktionen absolut plausibel erscheinen und man sie verstehen kann im Kontext des jeweiligen Charakters. Hut ab!

►Stil
Dein Stil ist toll. Er lässt sich einfach und flüssig lesen, ohne anspruchslos zu sein. Er passt sich der Gefühlswelt an, die du vermitteln willst und ich finde du hast die richtige Mischung zwischen kurzen knappen und langen Komma lastigen Sätzen gefunden. Eben einfach etwas, das sich gut lesen lässt.
Ein einziges, kleines Manko habe ich allerdings. Und das besteht aus drei Pünktchen…
Ich gebe dir Recht, wenn man aus der Ersten-Person schreibt, dann ist das ein beliebtes und gutes Mittel Sachen anzuzeigen wie längeres Nachdenken oder Zögern. Für meinen ganz persönlichen Geschmack hast du an manchen Stellen allerdings ein wenig übertrieben. Da hätte man auch gut ein Komma oder einen einzigen Punkt setzen können, die Handlung wäre genauso rüber gekommen, aber die Optik des Satzes wäre verbessert worden.
Aber das ist nur ein kleiner Punkt (oder eher drei^^)
Ach ja, noch etwas. Es kann sein, dass ich einfach zwischenzeitig verwirrt war, aber ich hatte den Eindruck, dass du manchmal zwischen zwei Zeiten hin und her springst. Vieles ist Absicht, das habe ich wohl erkannt, aber manches Mal war ich mir nicht sicher ob da nicht Gegenwart und Vergangenheit als Tempus durcheinander geworfen wurden :)

►Persönlicher Eindruck
Ich denke man hat schon vorher gemerkt, dass mir die Geschichte sehr gut gefallen hat. Ich hoffe zumindest, dass es schon rüber kam.^^
Denn nur das bleibt noch zu sagen :)

Ausdrucksvermögen/Stil 9,5
Handlung/ Thema 10
Charaktere 9
Vollständigkeit 10
Persönlicher Eindruck 10

Macht also zusammen 48,5 Punkte.

Von:  trinithy
2012-03-31T15:05:13+00:00 31.03.2012 17:05
>> Er springt auf und knallt mir eine.<<
Wow, das ist echt heftig….

>> Ich sehe ihn durch Tränenschleier an. „Bring mich weg von hier!“<<
Der arme, er tat mir nach dieser Szene richtig, richtig Leid. Seine Eltern haben es ja echt nicht nur schlecht, sondern miserabel aufgenommen.

>>„Pack mich nicht an, du Schwuchtel!!“<<
Das muss auch gesessen haben, wie ein Schlag ins Gesicht.
Ich kann verstehen, weshalb Alex in Selbstzweifel verfällt, denn das Wort der eigenen Eltern hat, auch wenn man es manchmal verleugnet, viel Gewicht bei einem selber.
Doch Julian tut mir verdammt Leid -.-

Das Kapitel war sehr deprimierend, Aber das Ende gab einem wieder Mut.

Von:  trinithy
2012-03-31T15:04:51+00:00 31.03.2012 17:04
>> Eine Frau mittleren Alters - wie ich weiß 42<<
Whups, die war aber dann noch echt jung, als sie das erste Mal schwanger wurde.
Wird aber ja später nochmal ausführlich erklärt.

>>Tu ihm nicht weh, ja?“, spricht sie bittend und der Griff um meine Hand
wird fester. <<
Wow, Respekt, das muss sie eine Menge Überwindung gekostet haben, wenn man bedenkt, dass sie ja anscheinend auch wirklich in Alex verguckt war

Von:  trinithy
2012-03-31T15:04:38+00:00 31.03.2012 17:04
>> Ist es nicht zu heuchlerisch es nach dem Sex zu sagen, dann wenn man seine Lust befriedigt hat? Klingt es dann nicht billig, abgestanden, gelogen? <<
Ja, vielleicht hat Alex insoweit recht, dass man nicht unbedingt das erste Mal „ich liebe dich“ nach dem Sex sagen sollte, abber grundsätzlich finde ich nichts daran geheuchelt auch nach Sex diese berühmten drei Wörtchen auszusprechen.

>> Dass ich Julian liebe, er ist nicht der Winzige, dem ich das noch nicht gesagt habe.<<
Haha, das ist mal ein lustiger Schreibfehler…ich denke er ist nicht winzig, sondern vielmehr der Einzige :)

Von:  trinithy
2012-03-31T15:04:18+00:00 31.03.2012 17:04
>>„Du hast diesem Kerl den Schwanz
gelutscht wie eine dreckige Schwuchtel!“<<
Das hat gesessen, sage ich dazu nur.

>>„Du... du bist doch jetzt mein Freund, oder?“<<
Oh Gott! -.-
Tut mir Leid, aber dieser Satz hatte was von pubertärem Teenager- „Willst du mein Freund sein?“-Zettel mit Ankreuzmöglichkeiten.
Das war meine erste Reaktion. Beim Zweiten Lesen ist es nicht merh so schlimm, aber dennoch, irgendwie ging das jetzt ein wenig flott und ich denke es hätte fast noch besser zu Julian gepasst, wenn er Alex zumindest nicht noch in derselben Nacht mit dieser Frage konfrontiert hätte.


>>…, kann ich ihm dabei noch immer in die Augen sehen, als sei das alles das normalste der Welt,…<<
Ich finde es an der Stelle mal wieder besonders schön, wie du diesen Kontrast bei Alex beschreibst. Dass er sich bei Anne immer so unnormal gefühlt hat, weil alles nicht klappt und wie er richtig befreit ist mit Julian. Und natürlich auch die Charakterentwicklung, die ebenfalls dahinter steckt.

Von:  trinithy
2012-03-31T15:03:44+00:00 31.03.2012 17:03
>>„Keine Angst, man kann es aussprechen, ohne dafür gleich in die Hölle zu kommen...“ <<
xD Wieso musste ich da direkt an den Spruch „Angst vor einem Namen macht nur noch mehr Angst vor der Sache selbst“ denken?
Aber irgendwie passend^^

>>„Wahrscheinlich hast du recht... aber ich kann mir einfach nicht vorstellen,so zu sein... so tuntig... oder so sexgeil... das bin ich einfach nicht...“<<
Wahrscheinlich war es wirklich nicht die beste Idee ihn mit in eine Schwulenkneipe zu schleppen, denn Alex ist ja offensichtlich noch ein wenig mit Vorurteilen belastet und so jemand sieht dann ja auch nur DAS was, was er sich in seinem Kopf ausmalt. Das es in jedem anderem Nachtclub, oder jeder Bar genauso zugeht, dass da gebaggert, abgeschleppt und rumgefummelt wird um die Wette, das vergisst man dann immer sehr schnell.

Von:  trinithy
2012-03-31T15:03:27+00:00 31.03.2012 17:03
>>Ich hatte mehr Freundinnen als sie alle und doch erst mit 17 das erste Mal Sex<<
Das ist das einzige, was ich manches Mal etwas komisch finde in Geschichten, wenn es immer als „spät“ bezeichnet wird, wenn man sein erstes Mal erst mit 16 oder 17 erlebt. Mag ja sein, dass der Trend mittlerweile in die Richtung der niedrigen Zahlen geht, aber so unglaublich spät ist 17 jetzt gar nicht. Also da kenn ich aber andere Extreme :)

>> Eigentlich würde ich es nur als normal bezeichnen, aber ich weiß
wirklich nicht, ob ich bereit bin, ein Kind aufzuziehen, egal wie blöd oder
feige sich das vielleicht anhört. <<
Also, in deiner Charakterbeschreibung steht ja, dass er erst 26 ist, ich denke da sind viele noch nicht bereit ein Kind großzuziehen.

>>Nach dem Fondue spielen wir noch ein paar Spiele und der Alkohol lässt mich zunehmend lockerer werden<<
Ein paar Absätze weiter oben sollte es noch Raclette sein ^^“

Von:  trinithy
2012-03-31T15:03:00+00:00 31.03.2012 17:03
Zuerst möchte ich mich einmal herzlich für deine Teilnahme an meinem Wettbewerb bedanken:)
Ich werde zu jedem Kapitel kurz das hinterlassen, was mir eventuell beim Lesen aufgefallen ist, bzw was ich loswerden will. Dann, unter dem letzten Kapitel wird einen zusammenfassenden Kommentar geben der meinen Eindruck und meine Meinung nach Kategorien gegliedert zusammenfast.

>>Allein aus dem Schreck heraus werde ich sofort steif... Na wunderbar!<<
Haha, ich musste so lachen als ich das das erste Mal gelesen habe :)

>> Was war die zweite Hälfte seines Satzes?<<
Bei „schwul“ hat er wahrscheinlich aufgehört zuzuhören, da er unbewusst sensibel auf das Wort reagiert :)

>>„Wenn sich dazu noch mal die Gelegenheit ergibt...“
Er lächelt nicht mehr.<<
Ein wenig geheimnisvoll das Ende, da man unbedingt wissen möchte wie es denn weiter geht. Und natürlich genau weiß, es wird noch eine Gelegenheit geben :)

Von:  MaiRaike
2009-09-29T22:42:11+00:00 30.09.2009 00:42
Wunderschön geschrieben.
Und was für bescheuerte Eltern.
Ich habe leider keine Zeit für einen langen Kommi, muss die Fortsetzung lesen ;)

Ps.: Es wäre vielleicht gut, wenn du in die Beschreibung der beiden Fanfics schreiben würdest, welches der erste und welches der zweite Teil ist...
Von:  Tali
2009-09-27T18:10:14+00:00 27.09.2009 20:10
Schöne Geschichte. Sehr gut geschildert und realistisch geschrieben. Wie kriegst du es bloß jedes mal hin, dass deine Figuren so glaubhaft rüber kommen? Es ist nichts gezwungen sondern fließt wie Wasser. Eigendlich handeln deine ganzen Geschichten ja um das eine Thema. Aber du kriegst es jedesmal hin, dass sich nichts wiederholt, dass Überaschungen entstehen und das jeder Charakter nach seinem Ermessen handelt. Und obwohl du verschiedene Menschen enstehen lässt mit verschiedenen Wegen, so führen diese doch immer zum Happy End. Ich bin wirklich froh, dass ich über dich als Autorin gestolpert bin. Du bedienst dich gar nicht den typischen Dingen, die in fast jeder shonen-ai Geschichte auftauchen. Deine Figuren sind keine Teenager sondern Erwachsene Menschen, sie haben Namen, die ich aussprechen kann *lacht*. Gut fast jede deiner Erzählungen hat etwas mit dem Erleben der ersten homosexuelenen Neigungen zu tun. Aber du schaffst es jedes Mal, dass es glaubhaft rüberkommt.
Daumenhoch dafür und für diese tolle, wunderbare Erzählung!


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