In die Zukunft
Auch in den nächsten Tagen warte ich vergeblich auf einen Anruf meiner Eltern. Das Telefon klingelt einige Male, doch jedes Mal werde ich enttäuscht.
Einmal ist es Daniel, mit dessen Anruf ich am wenigsten gerechnet hätte. Er fragt, wie es mir geht und in mir taucht der Gedanke auf, dass er vielleicht mit unseren Eltern geredet hat und daher anruft. Ob er mich umstimmen soll?
Nur kurz überlege ich, dann sage ich auch ihm die Wahrheit. Die sekundenlange Stille, die darauf folgt, zeigt schon, dass er es noch nicht wusste, nicht mit ihnen geredet hat... und seine Worte danach noch mehr: Es ist okay für ihn. Er erkundigt sich sogar genauer über Julian und danach reden wir fast eine halbe Stunde lang wie zwei ganz normale Brüder.
In diesen ganzen Tagen, die ich Zuhause verbringe, da die Kanzlei zwischen den Jahren geschlossen ist, ist Julian fast die ganze Zeit bei mir. Gerade jetzt, nach dem Streit mit meinen Eltern merke ich, wie sehr ich ihn eigentlich brauche, wie sehr meine Seele und mein Körper schon nach ihm verlangen.
Nein, egal wer mich ablehnt oder wie oft ich schief angesehen werde, ich gebe diesen Menschen nie wieder her!
~ * ~
Der Sylvesterabend kommt schließlich schneller als es mir lieb ist.
Ich muss zugeben, dass ich tatsächlich kurz darüber nachgedacht habe, abzusagen, doch ich ließ es sein. Zwar habe ich jetzt noch mehr Angst vor Toms Reaktion als ich es vor dem Gespräch mit meinen Eltern hatte, aber ich muss da schließlich irgendwann durch...
Den ganzen Weg über bis zu Toms Wohnung halte ich Julians Hand und auch wenn ich das Gefühl habe, beobachtet zu werden, lasse ich sie nicht los. Dieser Mann an meiner Seite gehört zu mir, das kann ich doch auch zeigen!
Tom wohnt seit seiner Hochzeit mit Emilie hier, davor lebte er jahrelang in einer Wohngemeinschaft. Nun, da ich die Klingel drücke, muss ich daran denken, wie ich ihm damals geholfen habe, die Wohnung zu renovieren und einzurichten. Es war ein Akt von fast zwei Wochen, doch es hat sich gelohnt. Emilie war total begeistert.
Damals versprach Tom mir, dass er mir auch helfen würde, wenn ich irgendwann mit meiner Frau zusammenziehe... Ob das Angebot auch noch gilt, wenn meine Frau ein Mann ist?
Der Summer ertönt und wir gehen hinein ins Treppenhaus. Ich lasse Julians Hand nicht los, denn ich weiß, dass Tom die Situation auch dann sofort verstehen würde. Er ist nicht auf den Kopf gefallen, sondern wird sofort begreifen, was Sache ist, wenn ich statt wie angekündigt mit meiner Freundin mit einem Mann antanzte, da könnten Julian und ich noch so weit voneinander entfernt sein. Es wird keinen Sinn machen, zu versuchen, ihm etwas vorzulügen, also denke ich auch erst gar nicht daran.
Die Wohnungstür steht einen Spalt breit offen, wie eigentlich immer, wenn ich ihn besuchen komme. Ich gehe hinein, Julian zögert merklich. Ich lächle ihn an, ziehe ihn mit ins Wohnzimmer, wo ich Tom vermute. Allerdings ist der Raum leer, als wir ihn betreten, und gerade als ich mich wieder umdrehen will, höre ich Schritte. Ich bleibe still stehen, verkrampfe mich mit einem Mal ziemlich.
„Hallo Alex...“ Seine Stimme klingt wie immer, was mich die Stirn runzeln lässt. Selbst als ich mich nun doch zu ihm umdrehe, sehe ich nichts außer ein Lächeln auf seinen Lippen.
Was ist hier los? Er muss es doch gesehen haben, noch immer sehen...
„Hallo...“, sage ich zögernd, sehe ihn verwirrt an.
Tom lächelt noch etwas breiter, sieht Julian an. „Du bist dann also Julie?“ Keine Spur Erschrockenheit in seinem Gesicht, nur Freundlichkeit... Ein Lachen.
„Äh... ja... irgendwie schon...“ Julian wirkt ebenfalls etwas verwirrt, nervös. „Ich bin Julian...“ Er streckt Tom die Hand hin und dieser ergreift sie ohne das kleinste Zögern.
Ich beobachte genau seine Miene dabei, doch sie zeigt mir nichts, was ich wissen müsste.
Dann kommt Tom auf mich zu und ich lasse Julians Hand los, erwidere die freundschaftliche Umarmung.
„Das ist echt ne Überraschung“, grinst Tom mich an. „Ich muss sagen... damit hätte ich dann doch nicht gerechnet...“
Ich bin noch immer sprachlos, starre ihn aus großen Augen an.
Wie kann das sein? Wieso fängt er nicht an zu schreien, toben, oder ähnliches?
„Und... du... das macht dir nichts aus?“, frage ich zögernd, selbst wenn ich nicht weiß, ob ich die Antwort wirklich hören will.
„Ach komm, Alex... ich bin seit über zwanzig Jahren dein bester Freund... glaubst du wirklich, dass ich dir wegen so ner Sache die Freundschaft kündigen würde? Du enttäuschst mich!“
Ich grinse schuldbewusst. „Na ja, irgendwie hatte ich schon Angst davor... andere würden es nämlich tun...“
„Von denen hast du aber auch nicht deinen ersten Kuss bekommen...“ Er zwinkert mir lachend zu und ich spüre, wie ich rot werde. „Wahrscheinlich war ich auch noch schuld dran...“
„Überschätz dich mal nicht!“ Nun muss auch ich lachen, wobei mir ein riesiger Stein vom Herzen fällt. Ich greife wieder nach Julians Hand, streiche ein paar Mal mit meinem Daumen über seinen Handrücken... ein kleines Zeichen dafür, dass es mir gut geht.
„Aber nun kommt... Emilie will dich bestimmt auch kennenlernen!“, meint Tom an Julian gewand, dreht sich um und lässt uns ihm in die Küche folgen.
Emilie reagiert ungefähr so wie ihr Mann. Zwar sagt sie kurz lachend, nun könne sie es sich wohl abschminken, dass meine Erstgeborene ihren Namen tragen würde, aber das ließe sich gerade so verkraften...
Erleichtert durch diese positiven Reaktionen fällt es auch nicht schwer, Tom von dem Besuch bei meinen Eltern zu erzählen. Auch er wirkt erschüttert, gibt dann aber zu, dass die Reaktion leider wirklich zu ihnen passt...
Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich darüber bin, dass Tom es so positiv aufgenommen hat... Ehrlich gesagt habe ich nicht wirklich daran geglaubt, aber manchmal geschehen noch Zeichen und Wunder... Zum Beispiel scheinen Julian und Emilie ineinander einen idealen Gesprächspartner zu sehen. Sie unterhalten sich die ganze Zeit während ich mit Tom noch ein paar Kleinigkeiten vorbereitete und ihm dabei erzählen muss, wie ich Julian kennengelernt habe.
Leider reagieren bekanntlich nicht alle Menschen gleich, auch nicht, wenn sie sich meine Freunde nennen...
Als wir gegen acht Uhr am Strand ankommen, sind fast alle schon da, und durch Toms Reaktion Mut gefasst, trete ich ihnen auch mit etwas mehr Selbstvertrauen entgegen.
Frank, der übrigens immer noch mit seiner Asiatin zusammen ist, ist ziemlich geschockt, als er mich an der Hand eines Mannes sieht. Zwar sagt er nicht groß etwas dazu und versucht auch den ganzen Abend normal mit mir umzugehen, doch wirklich gelingen will es ihm nicht. Man merkt deutlich, dass ein Schwuler nicht gerade in seinen idealen Freundeskreis passt, doch trotzdem bin ich ihm irgendwie dankbar, dass er wenigstens versucht, damit umzugehen.
Bei Martin war ist das allerdings anders. Er reagierte zwar nicht ganz so heftig wie meine Eltern, aber eindeutig genug. Die Worte ‚das ist ja ekelhaft’ lassen in mir alles zu Eis gefrieren. Manchmal ist es verwunderlich, wie man sich in einen Menschen täuschen kann, denn ich habe ihn zum Beispiel toleranter eingeschätzt als Frank. Zumindest scheint meine Freundschaft zu Martin nun fürs erste zur Vergangenheit zu gehören... Vielleicht wird er es ja noch anders überlegen, aber man kann ihn schließlich nicht zwingen... Wenn das seine Meinung ist, werde ich wohl oder übel damit leben müssen, und verdammt, das halte ich auch noch aus!
Auch Tom scheint ziemlich enttäuscht über Martins Reaktion und fast wütender darüber zu sein als ich. Die beiden streiten sich eine ganze Weile, was mir ein ziemlich schlechtes Gewissen einjagt, da ich immerhin der Grund für diesen Streit bin...
Irgendwann, als es später wird, schaffen Julian und ich es, uns von der größten Gruppe abzuseilen. Es ist nun kurz nach halb Eins und man kann überall noch Sylvesterraketen aufgehen sehen. Ohne zu übertreiben kann ich sagen, dass sie mir noch nie so schön vorgekommen sind...
Julian kuschelt sich in meine Arme, legt den Kopf auf meiner Schulter. Ich streiche ihm immer wieder durchs Haar, lausche den entfernten Stimmen und Geräuschen. Ich fühle mich wohl, zufrieden wie lange nicht mehr. Selbst wenn all meine Freunde dagegen gewesen wären, wäre es egal, denn die wichtigste Person habe ich hier, bei mir. Ihn einfach nur bei mir zu haben, ihn in meinen Armen zu spüren, gibt mir ein solches Gefühl der Sicherheit, dass ich nichts anderes mehr brauche...
Irgendwann reißt mich das Klingeln meines Handys aus meinen Gedanken hervor.
Wer kann das sein? Alle Personen, die ich mir vorstellen kann, wissen, dass ich ganz in ihrer Nähe bin, wer also dann?
Die Nummer auf dem Display verrät mir Sekunden drauf, dass es meine Mutter ist. Mein Herz setzt einen Moment aus.
„Ja?“, frage ich in das Gerät, spüre es aufgrund meiner Hand an meinem Ohr zittern. Ich verkrampfe meine andere Hand in Julians Jacke.
„Hallo Schatz... ich bin’s...“, kommt ihre Stimme leise zurück, während Julian seine Hand auf meine legt.
Ich schweige, weiß nicht, was ich dazu sagen soll.
„Ich... wir wünschen dir ein frohes neues Jahr...“, spricht sie dann merklich zögernd weiter und ich erwidere den Gruß ebenso.
Dann ist es wieder still.
Ich lasse meinen Kopf ein Stück zur Seite sinken, berühre mit meiner Stirn Julians Haar und ziehe ihren Geruch ein, versuche mich darauf zu konzentrieren und nicht auf mein nervöses Herz.
Sag etwas, verdammt, irgendwas, bitte!
Sag, dass es okay ist, dass du mir verzeihen wirst, egal wie blöd das klingt...
„Bist du... ist dieser Kerl... bei dir...?“
Ich verdrehe die Augen bei diesen Worten, seufze tief.
Vergiss es, Alex, allein diese Tonlage zeigt dir doch, dass sie deinen Wunsch nicht erfüllen wird.
„Ja, ist er“, antworte ich und versuche meine Stimme fest klingen zu lassen.
„Aha...“ Sie macht eine kurze Pause. „Hör zu, mein Junge... dein Vater und ich denken, es sei das Beste, wenn-“
„Mutter, es ist mir egal, was ihr darüber denkt!“ Ich drücke Julian etwas näher an mich, hebe den Kopf wieder und sehe zum Feuerwerk hinüber. „Ich bin glücklich mit ihm.“
Wieder einen Moment der Stille. Die wütende Stimme meines Vaters im Hintergrund. Wahrscheinlich hört er per Lautsprecher alles mit an.
Das Licht der Raketen verschwimmt vor meinen Augen...
„Alexander... wir lieben dich und wir wollen doch nur, dass du noch mal gen-“
Wieder unterbreche ich sie. „Es ist okay, Mama... vergesst es... ich lasse mir das nicht von euch zerstören, dazu habt ihr kein Recht...“ Kurz lausche ich, doch es bleibt still. Ich sehe zu Julian, dessen Kopf noch immer mit geschlossenen Augen auf meiner Schulter ruht. „Ich liebe euch auch... Tschüss...“
Ich lege auf. Danach starre ich das kleine Ding in meiner Hand eine Weile lang an, bis ich es schließlich in meiner Jackentasche verschwinden lasse.
Als ich meinen zweiten Arm nun um Julian schlinge, sieht er mich liebevoll an und ich küsse ihn fest.
Ich bin so froh, dass ich dich kennengelernt habe und dass du jetzt bei mir bist.
ENDE - SUCH DICH IN MIR...
~ Rohfassung: 16.Oktober 2003~ Überarbeitung: Dezember 2006
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Kommentar:
Ich hoffe sehr, dass euch diese Geschichte gefallen hat! Immer wieder, wenn ich ein Stück lese, merke ich, wie sehr mein Herz an Alex und vor allem Julian hängt und ich hoffe, ich konnte ein kleines Stück meiner Liebe zu ihnen an euch weitertragen ^__^
Wer gerne wissen würde, wie es mit Alex und Julian weiter geht, dem empfehle ich meine andere Story
Bicontrolled. Hier treten Alex und Julian als Nebencharaktere auf, da ich sie einfach noch nicht ganz aus meiner Gedankenwelt verschwinden lassen wollte. Die Geschichte spielt ein paar Jahre nach "Such dich in mir..."Es würde mich sehr freuen, wenn ihr sie lest ^^
> http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/132878/
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