Kleine Geheimnisse
4. Kleine Geheimnisse
Tagelang ging mir das Gespräch mit Shin nicht aus dem Kopf. Was war nur los
mit mir??? Wenn ich so genau darüber nachdachte, sah er ja ganz niedlich
aus... Ach, Quatsch!!! Was sollte ich mit so 'nem Typen?!
Oder besser gesagt: was sollte so ein Kerl wie Shin schon von mir wollen...
Miss Universum war ich mit dem Strubbelkopf sicherlich nicht!
Die Tage zogen sich elendig langsam dahin und mich überkam das Gefühl, dass
es noch eine Ewigkeit bis zu meinem 18ten Geburtstag war... Sara sprach kaum
noch mit mir. Ich hatte sie wohl zu sehr erschreckt. Die anderen Mädchen
machten auch einen Bogen um mich. Die hatten gut reden! Wegen welcher
Scheiße waren sie denn hier?! Sicher nicht wegen besonders lieben Verhalten.
Ne, das konnten sie mir nicht erzählen!!! Die hatten doch ihre eigenen
Leichen im Keller! Die Jungs rückten mir gar nicht mehr von der Pelle.
Meine, im wahrsten Sinne des Wortes, schlagkräftige Art schien sie irgendwie
zu beeindrucken. Alle, außer Shin.
Ich traf mich manchmal nachmittags mit ihm im hinteren Teil des Hofes, da wo
kaum jemand vorbeikommt. Wir redeten über allen möglichen Mist, bloß nicht
darüber wieso ich Ryo verprügelt hatte. Das war meine Sache und Shin
akzeptierte das. Im Laufe der Zeit wurden wir richtig gute Kumpels, ganz
egal wie viele Gerüchte es um uns gab. Die Kinder hier wussten auch nicht,
was sie wollten: einerseits sagten sie, ich hätte was mit Shin, andererseits
sollte er ja angeblich schwul sein!!! Shin hatte außer mir keine Freunde im
Heim, also war ich für ihn da und er half mir. Zum Beispiel in Mathe.
"Du Shin?" "Ja?" "Wie lange bist du eigentlich
schon hier?" Er setzte sich neben mich auf mein Bett. Frau Mizuka
würde einen Anfall bekommen, wenn sie ihn hier erwischen würde. Diese Frau
dachte immer um mindestens drei Ecken. "Schon lange." "Wie
lange genau, du Dummkopf?" "4 Jahre." Ich schluckte. Das
war hart. 4 Jahre! Ganz allein! Ohne Freunde! "Hat dich deine Tante
denn nie besucht?" "Die??? Eher würde sie sich sonst was
abreißen!" "Shin? Darf ich dich noch was fragen?"
"Du gibst doch sowieso keine Ruhe." Er grinste mich an.
Irgendwie mochte ich sein Lächeln. "Warum hast du, bevor du hierher
gekommen bist, bei deiner Tante gelebt?" Sein Gesicht wurde ernst -
ernst und traurig. "Meine Eltern sind gestorben, als ich 12 war. Sie
sind bei einem Brand umgekommen. Unser Haus ist bis auf die Grundmauern
abgebrannt. Mein Vater hat mich rausgeschleppt, ist dann aber noch mal
zurück um meine Mutter zu holen.... sie haben es nicht geschafft."
"Wie schrecklich..." Ich rückte ein Stück näher an ihn heran und
legte meinen Arm um ihn. Für Fremde sah das bestimmt aus als wären wir ein
Paar, aber das stimmte nicht. Ich versuchte nur ihn zu trösten. Shin
lächelte leicht. "Ist schon in Ordnung. Es ist ja nun schon 5 Jahre
her. Ich hatte es fast vergessen..." "Und ich hab dich wieder
daran erinnert. Tut mir leid." Er schüttelte den Kopf. "Das
brauch dir nicht leid zu tun, Sakura-chan. Du hast es ja nicht bös
gemeint."
Jetzt sah er mir direkt in die Augen. Klar... nur Freunde... aber sein Blick
machte mich doch trotzdem immer nervös. Ich zog meinen Arm zurück und sah
mich verzweifelt im Zimmer um. Irgendwie musste ich mich ablenken, bevor ich
noch rot wurde. Mein Blick fiel auf den kleinen Kalender an der Wand.
"Schau mal! Nächste Woche ist Halloween! Na wie wär's? Hast du Lust
irgend jemanden zu erschrecken?" "Du bist voll kindisch!"
"Na und?" "Mal sehen...Ich muss jetzt los, sonst erwischt
mich die Mizuka und dann bin ich fällig." Er stand auf und verließ das
Zimmer. Bevor Shin die Tür schloss, drehte er sich noch mal um. "Die
Mizuka würd ich schon mal gern schocken!" "Und ich den
Morida." Shin grinste und ging.
Ich atmete auf. Verdammt! Was war bloß mit mir los? Wenn Shin da war, benahm
ich mich nie wie ich selbst. Oder doch? War vielleicht der Rest gespielt?
Warum? Warum, zum Geier, brachte mich der Typ jedes mal so aus der Fassung?
Wir waren echt nur Freunde!!! Das hatte ich ihm eindeutig gesagt! Freunde,
und nicht mehr!
Ich schmiss mich auf mein Bett. Ein kurzer Blick fiel auf den Schreibtisch,
wo meine Hausaufgaben lagen. Och nö, bloß das nicht!!! Dafür hatte ich jetzt
echt nicht die Nerven. Sollten doch Tazeka, Morida, Yoshihara, Hiko und wie
unsere lieben Lehrer alle hießen, doch von mir aus an die Decke gehen. War
mir doch egal!
Was mich beschäftigte war, wie ich Sara dazu bringen konnte wieder mit mir
zu reden. Ich mochte die Kleine echt gern und wenn sie immer so ein
trauriges Gesicht machte, tat mir das wirklich leid. Ich hatte sie nicht
erschrecken wollen. Vielleicht würde sie wieder mit mir reden, wenn ich ihr
die Sache mit Ryo erklären würde?
Ich musste grinsen. Sicher nicht! Das würde sie nur noch mehr verschrecken.
Nein, das war mein Geheimnis und dabei sollte es auch bleiben!!!
Aber mit ihr reden musste ich trotzdem. Ihr Schweigen machte mich nämlich
total fertig.
Ich drehte mich auf die Seite. Es war fast 10 Uhr. Gleich würde die Mizuka
zur Nachtrunde vorbeikommen und gucken, ob ich schon schlafe. Shin hatte
noch gerade so die Kurve gekriegt.
Morgen würde ich mit dem kleinen Engel reden. So konnte es ja nicht ewig
weitergehen.