Einsamkeit
3. Einsamkeit
Ich erwachte zum ersten mal in meinem neuen Bett. Zuerst wusste ich gar
nicht, wo ich war, doch dann fiel es mir beim Anblick des 7 m² großen
Zimmers wieder ein. Was für eine Ernüchterung am Morgen, nachdem man so
schön geträumt hatte...
Beim Frühstück war scheinbar alles wieder normal, bloß Shin fehlte. Frau
Mizuka schaute ernst auf die Uhr. Er schien nicht das erste Mal zu fehlen.
"Du, Saku?" "Mhh?" "Warum hast du Shin gestern
in Schutz genommen?" Von jedem hätte ich dies Frage erwartet, nur
nicht von Sara! "Hätte ich etwa zulassen sollen, dass Miko ihn ohne
Grund runterputzt?! Er hat mir doch gar nichts getan!" Die Kleine
schaute etwas verlegen drein. "Gomen nasai, Sakura-san! Ich wollte
dich nicht verärgern." "Ist schon gut." Mann-oh-mann, die
Kleine war echt klasse!
"Warum bist du eigentlich hier, Sara?" "Darüber möchte ich
nicht reden. Vielleicht später mal." "Okay, dann halt mal
später." Irgendwie sah sie jetzt sehr traurig aus...
Als schon alle im Klassenzimmer saßen, schleppte Frau Mizuka endlich Shin
an. Er schien nicht gerade glücklich. Kein Wunder, denn kaum hatte er den
Raum betreten, erhob sich um mich herum ein Riesen-Getuschel. Shin setzte
sich in die letzte Reihe ans Fenster und sah hinaus.
Mit 13 Minuten Verspätung betrat nun auch endlich der Mathelehrer das
Zimmer. "Ohayo gozaimasu, Kinder!" "Ohayo gozaimasu, Herr
Morida!" antworteten alle 8 Schüler außer mir und Shin. Wie sollte ich
auch seinen Namen wissen. Niemand hatte ihn mir gesagt. Herr Morida nahm
mich durch seine Hornbrille hindurch ins Visier. "Ah, eine neue
Schülerin! Wie heißt du?" Etwas gelangweilt erhob ich mich.
"Sakura Tojokaze." "Wie alt bist du?" "16
Jahre." "Warum bist du hier?" "Das steht in ihren
Akten." War ich hier zufälligerweise in einem Verhör gelandet? Herrn
Moridas Augen verengten sich wütend. "Dann bist du also Tojokaze, die
ihren Mitschüler krankenhausreif geprügelt hat!" Die Klasse drehte
sich erschrocken zu mir um. Sara war so geschockt, dass ich schon fast
dachte, dass sie anfangen würde zu weinen. Was fiel dem Kerl ein??? Wollte
er mich als Schwerverbrecher hinstellen, oder was?!!! Ruhig bleiben! - das
war hier die Devise. "Ja, die bin ich! Warum fragen sie, wenn sie es
doch sowieso schon wissen?" Ich bemerkte, wie Shin hinter mir grinsen
musste. Herr Morida war etwas überrascht - und wütend. Vermutlich hatte er
erwartet, dass ich heulend aus dem Zimmer stürmen würde oder so was in der
Art. Trotzdem erwiderte er nichts. "Haben sie sonst noch
Fragen?" "Nein, setz dich! Und du Okumura, hör auf zu grinsen
und komm gleich mal an die Tafel!" Shin trottete vor, schrieb die
Aufgabe, die ihn Morida diktierte an, löste sie ohne Fehler und ging an
seinen Platz zurück. Ich war schwer beeindruckt.
Moridas Unterricht war die Hölle!!! Ich war sowieso kein Mathe-Ass und bei
dem Tempo qualmte mir nur der Schädel. Nach 30 Minuten ertönte endlich das
erlösende Pausenklingeln. Doch Morida ließ uns nicht gehen ohne nicht eine
dreiseitige Hausaufgabe aufzugeben. Plötzlich schien ich für alle um mich
herum Luft zu sein. Was denn? Sie wussten doch gar nicht, warum ich Ryo
verprügelt hatte! Und außerdem: Wegen was waren sie denn schließlich
hier???!
An diesem Tag folgte noch Physik, Biologie, 2 mal Geschichte, Geographie und
Musik. Danach war endlich Schluss. Sara hatte seit dem Mathe-Unterricht kein
Wort mehr mit mir geredet. Hatte sie etwa plötzlich Angst vor mir? Ich hatte
keine Lust mich vor einem Haufen durchgedrehter Weiber zu rechtfertigen.
Sollten sie doch denken, was sie wollten!
Beim Spazieren gehen auf dem Gelände hatte ich einen wunderbaren kleinen Ort
gefunden, wo ich meine vollkommene Ruhe hatte.
"Na, wie fühlt man sich als Außenseiter von Außenseitern?" Schon
wieder zu früh gefreut, hinter mir stand Shin. "Tja, wie soll man sich
schon fühlen? Diese Hühner hören einem doch sowieso nicht zu..." Er
lächelte. "Wow, du kannst ja lachen!" "Ich habe leider
nicht oft Anlass dazu." "Kann ich verstehen...Ziemlich öde hier,
oder? Was hast du verbrochen, dass man dich hierher gesteckt hat?"
"Hat Miko dir das nicht erzählt?" Er sah mir direkt in die Augen
und ich merkte wie ich knallrot anlief. Schnell drehte ich den Kopf weg.
"Ist das alles? Das ist doch kein Grund jemanden hierher zu
schicken." "Für meine Tante schon. Sie ist sehr... konservativ.
Die letzte Schule an der ich war, war ein katholisches Jungeninternat. Da
ist so was eben tödlich, ganz egal ob man was dafür kann, oder
nicht..." "Wie meinst du das?" "Wenn dich jemand
dort loswerden will, dann hängt er dir halt irgendetwas an..." Sein
Gesicht verfinsterte sich. Ich war immer noch ratlos. Von was redete der
nur? Shin bemerkte, dass ich ihm nicht folgen konnte. Er seufzte. "Ich
meine das so, dass Shinohara und seine Kumpels dieses Gerücht frei erfunden
haben. An so einem Internat ist das Grund genug jemanden
rauszuwerfen." "Heißt das, dass du gar nicht..." Shin
lachte, es klang verzweifelt. "Nein, ich bin nicht schwul, aber dank
dieser Typen denken das jetzt alle. Meine Tante fand mich widerlich und
wollte mich loswerden. Deshalb bin ich hier." "Warum haben die
dich nur so gehasst? Und warum hast du deiner Tante und den Lehrern nicht
die Wahrheit erzählt?" "Ich war der Einzige, der sich nicht von
ihnen rumkommandieren ließ. Dass Shinohara das alles eingefädelt hat, hätte
mir doch sowieso keiner geglaubt, wenn die Aussagen eines angesehenen
Oberschülers und seiner Freunde gegen die eines aufmüpfigen Loosers
stehen." "Also für einen Looser halte ich dich nicht! Nicht
nach der Mathestunde heute morgen! Aber warum sagst du den Mädchen nicht,
was wirklich los war? Sie würden dir sicherlich glauben." "Und
warum erzählst du ihnen dann nicht, warum du diesen Typen verprügelt
hast?" Ich wurde knallrot. Er hatte ja recht. Ich sollte keine weisen
Ratschläge geben, wenn ich mich selbst nicht daran hielt. Ich sah Shin an.
Da waren wir also: zwei Kinder denen niemand zuhört, wenn sie was wichtiges
zu sagen haben...