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Ein Wort des Dankes

Nachdem sie aus Clow weitergereist waren, war die Gruppe wie gewohnt durch eine Vielzahl neuer und alter Welten gekommen. Einige waren unbewohnt gewesen, andere hatten eine rein tierische Bevölkerung gehabt (Fye lachte noch Dimensionen später über den Anblick von Kurogane in einer wild schnatternden Pinguin-Kolonie), wieder andere verfügten über Städte oder Ortschaften, in denen sie wenigstens für eine befristete Zeit bleiben und arbeiten konnten.

Den Aspekt des Geldverdienens durften sie nie außer Acht lassen. In fast allen von Menschen bevölkerten Welten gab es immer eine Art von Zahlungsmittel und wenn sie nicht genug davon hatten, standen sie mitunter ziemlich dumm da. Man durfte Kurogane nicht an die Welt erinnern, die praktisch über und über mit Gold gepflastert gewesen war. In diesem Land hatten sie sich nicht einmal eine Scheibe Brot (Blattgoldbrot – das musste man sich einmal vorstellen!) leisten können und der Ninja war alles andere als begeistert gewesen, als jemand ihnen Fye hatte abkaufen wollen. Sein Tobsuchtsanfall war sogar noch schlimmer gewesen als der damals in Matrisis, als einige der magischen Wächterinnen, die fasziniert davon waren, dass ein Mann Zauberkräfte besaß, ihnen gebrauchte Kleidung vorbeigebracht hatten und Fye in ein Kleid hatten stecken wollen.

Er sieht bestimmt super hübsch darin aus!“

NEIN!“

„Dann will ich ihn mal in diesem Pullover sehen. Der sieht bestimmt super hübsch an ihm au-“

„ER IST DOCH KEINE ANZIEHPUPPE!!“

(Fye hatte sich im Übrigen schlussendlich für den Pullover entschieden. Und anhand Kuroganes errötender Reaktion hatte man ablesen können, dass er wahrhaftig super hübsch darin ausgesehen hatte.)

Kurzum: Das Geld war oft knapp und die Arbeitssuche meistens schwierig. Daher nahmen die Reisenden auch Jobs an, die sie mit den Zähnen knirschen ließen. In der vorigen Welt war ein Dorf von einer Fledermausplage heimgesucht worden – doch Fledermäuse galten dort als heilig und niemand, der mit ihnen in Berührung kam, durfte ins Dorf zurückkehren. Obendrauf hieß es dann noch, dass die Fledermäuse (sollte man sie verärgern) einen in einen Vampir verwandeln konnten. Fye hatte an dieser Stelle eine gequälte Miene gezogen und „Nein, danke“ gesagt. Allerdings hatte Shaolan nach einer gezielten Recherche herausgefunden, dass die Vampirgeschichte nur ein Aberglaube war und ihr mittlerweile chronisch gewordener Geldmangel hatte sie die Aufgabe, die Fledermäuse umzusiedeln, annehmen lassen (ein gewisser Blondschopf war – verständlicherweise – alles andere als begeistert darüber gewesen. Man konnte doch nie mit Sicherheit sagen, ob nicht doch etwas an der Vampirsache dran war).

Mit Biegen und Brechen und einer deutlichen Schnappatmung seitens Fye hatten sie die Arbeit erledigt und die Bezahlung aus der Entfernung zugeworfen bekommen. Sie waren vollkommen erledigt gewesen und hatten dennoch nicht ins Dorf zurückkehren dürfen. Es war ihnen nur die Weiterreise in die nächste Dimension geblieben.

Jedoch -

War dies nach dieser Welt vielleicht nicht die beste Entscheidung gewesen.

Das jedenfalls dämmerte jedem Einzelnen von ihnen, als sie sich nach ihrer Ankunft umblickten und einer nach dem anderen mit Entsetzen feststellte, wo sie gelandet waren.

Die Ruinen der ehemaligen Wolkenkratzer waren noch deutlich weiter in sich zusammengefallen, als sie es in Erinnerung hatten. Der Asphalt war kaum noch vorhanden und ein karger, wüstenähnlicher Sandboden breitete sich mehr und mehr aus. Es hätte den einsetzenden, die Haut verbrennenden Regen gar nicht gebraucht, um ihnen Gewissheit zu geben.

„Wir sind in ...“, begann Shaolan stimmlos.

„... Tokyo“, schloss Fye für ihn gleichermaßen schockiert.

„Was machen wir?“, fragte Kurogane pragmatisch, während er Mokona musterte. Das magische Wesen hockte ziemlich schlapp aussehend auf Shaolans Schulter. Der Junge deckte sie mit der Mütze, die er trug ab und nahm sie in seine Arme.

„Mokona ist müde“, fiepste sie bekümmert.

„Dann los. Dahinten ist diese Stadtverwaltung oder wie das heißt.“ Kurogane gab sowohl Shaolan als auch Fye einen kleinen Schubs, damit sie sich in Bewegung setzten. Erst kurz vor dem Eingang zur Stadtverwaltung setzte er sich an die Spitze der Gruppe und signalisierte ihnen, hinter ihm zu bleiben. Mit Bedacht machte er einen weiteren Schritt in das Gebäude. Der Anblick war dem von damals nicht unähnlich. Die Leichen, die sie seinerzeit dort liegen gesehen hatten, waren mittlerweile nur noch Skelette – und trotzdem noch an Ort und Stelle. Es war dem Ninja bereits bei ihrem ersten Erscheinen in dieser düsteren Welt klar gewesen: Die erschossenen Leichname lagen dort zur Abschreckung. Anhand ihres Verwesungsgrades konnte er erkennen, dass nur wenige neue Opfer hinzugekommen waren. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

Kuroganes wachsame, rote Augen schnellten zu dem Geräusch, das nur er wahrgenommen hatte. Seine fahrige Bewegung hatte allerdings auch die drei anderen aufgeschreckt. Unverzüglich schob sich Fye vor Shaolan und schirmte ihn ab.

Die Reisenden trauten sich kaum zu atmen, während sie in die Stille horchten. Nur wenige Sekunden vergingen, ehe aus dem Schatten rechts und links von ihnen je zwei in Umhänge verhüllte Personen traten, die ihre gespannten Armbrüste auf sie gerichtet hatten.

Die Zeit war ein weiteres Problem, dem sie auf ihrer Reise immer und immer wieder begegneten. Genauer gesagt: Die Unterschiede im Fluss der Zeit. Vor ein paar Welten (Kurogane konnte sich ehrlich nicht mehr daran erinnern, wie viele Welten es her war), waren sie in ein Dorf gelangt, das ihnen sofort bekannt vorgekommen war. Doch die Bewohner hatten sie nicht erkannt und waren bereits argwöhnisch geworden, bis eine Frau herbeigelaufen gekommen war und nach einer kurzen Musterung ihrer Personen Shaolan um den Hals gefallen war. Erst als die Frau danach gefragt hatte, wo sie Gottes geliebte Tochter gelassen hätten, war bei ihnen der Groschen gefallen. Die Frau war Chunyan gewesen.

Es war also durchaus möglich, dass in Tokyo vielleicht niemand mehr übrig war, der sie erkannte – was ein Problem wäre. Als wäre nicht alles sowieso schon kompliziert und verrückt genug. Kurogane stöhnte innerlich, ohne dies nach außen hin zu zeigen. Er musste ruhig bleiben, durfte nicht zu früh nach seinem Schwert greifen, denn wann immer es ging, wollte er Kämpfe vermeiden, um die drei anderen nicht in Gefahr zu bringen.

„Ist das wirklich möglich? Können sie das wirklich sein?“, sagte eine der verhüllten Gestalten und Shaolan spitzte die Ohren. Zusammen mit Mokona, die seine Mütze aus ihrem Gesicht geschoben hatte, lugte er vorsichtig hinter Fye hervor.

„Ahhhh~!“ Ein entzücktes Quietschen entfuhr der Gestalt neben der, die zuerst das Wort ergriffen hatte. Sie senkte ihre Armbrust ab und warf die Kapuze von ihrem Kopf, sodass das Gesicht eines jungen Mannes mit rötlichen Haaren zum Vorschein kam. „Sie sind es! Sie sind es!“ Er bekam sich fast nicht mehr ein und hopste jubilierend auf die Gruppe zu.

Da auch die anderen in der Zwischenzeit ihre Waffen abgesenkt hatten, fiel ein Teil der Anspannung von Kurogane und Fye ab und sie ließen ihn näherkommen. Anscheinend erkannte man sie – oder zumindest Mokona, denn der junge Mann quietschte erneut, als er sie in ihre Bäckchen kniff.

„Ka-kazuki??“ Shaolan starrte entgeistert zu ihm hin. Der kleine Junge von einst war inzwischen größer als er.

„Ihr seid es also in der Tat.“ Derjenige, der neben Kazuki gestanden hatte, zog ebenso seine Kapuze von seinem Kopf. Es war Nataku. „Wo ist das Mädchen? Und warum seid ihr in der ganzen Zeit nicht gealtert?“ Man konnte ihm nicht übelnehmen, dass er misstrauisch klang.

„Das liegt an den unterschiedlichen Flüssen der Zeit“, antwortete eine der Personen, die auf der anderen Seite standen. Ihre Stimme allein verriet, dass es Arashi war. Sie und Sorata zogen gleichermaßen ihre Kapuzen von ihren Köpfen. „Bei uns sind fast fünfzehn Jahre vergangen, doch bei ihnen könnte ihre Abreise genauso gut erst zwei Monate her sein.“

„Ein bisschen länger ist es schon her“, warf Fye lächelnd ein. „Aber keine fünfzehn Jahre, so viel ist sicher.“

„Wir sollten Meldung machen, dass keine Gefahr vorliegt“, schlug Sorata vor und machte sich gleich mit Arashi auf den Weg ins Innere des Gebäudes.

Kurogane blickte ihnen skeptisch hinterher. „Ihr habt euch also mit den Leuten aus dem Tower arrangiert?“

„Ja, wir verstehen uns gut. Es ist viel besser als früher“, erwiderte Kazuki, der mittlerweile Mokona freudestrahlend in den Armen hielt (und Mokona die Aufmerksamkeit sichtlich genoss).

„Das ist schön zu hören“, entgegnete Shaolan und schreckte zusammen, als er Natakus strengen Blick auf sich spürte.

„Ihr habt meine Frage nicht beantwortet. Was ist mit dem Mädchen, das bei euch war? Wo ist Sakura?“

„Sie ...“ Shaolan stockte. Das Mädchen, das damals in Tokyo gewesen war, war 'Sakura', seine Mutter, gewesen. Seine Mutter war praktisch nirgends. Es gab keinen Weg, das jemandem zu erklären.

„Das ist eine wirklich lange Geschichte“, kam Fye ihm zu Hilfe. „Aber Sakura-chan geht es gut. Sie reist nur nicht mehr mit uns.“

Natakus Blick bohrte sich geradezu in Fye, was dem Blondschopf das Lächeln gefrieren ließ. Kurogane wollte bereits dazwischengehen, als sie mehrere Leute hastig heraneilten hörten.

„Das ist unglaublich! Sie sind es!“ Kusanagi war der Erste, der bei ihnen ankam. „Oh Mann, Satsuki, das musst du dir ansehen!“

Entgeistert blieb die besagte Frau vor ihnen stehen und starrte unverhohlen auf Fye. „Wie-wie kann das denn sein?!“

Ah~, dämmerte es den Reisenden. Deswegen kassierte der Magier so ungläubige Blicke.

„Ist-ist dein Auge nachgewachsen??“ Satsuki schüttelte ihre Fassungslosigkeit ab, marschierte schnurstracks auf Fye zu und machte erst wenige Zentimeter vor seinem Gesicht halt. Das war ein bisschen nah. Ein bisschen zu nah. Fye machte einen verlegenen Schritt zurück.

„Nein, es ist nicht nachgewachsen. Das ist mein Auge. Es … wurde mir zurückgegeben.“

„Zurückgegeben?“ Satsukis Kinnlade klappte nach unten. „So etwas ist möglich?“

Greifbarer Schwermut legte sich auf Fyes Gesicht. „Ja. Leider, könnte man sa-“

„Okay, das reicht“, warf Kurogane missmutig ein. „Es hat jetzt jeder gesehen, dass der Spinner zwei Augen hat und alle können damit aufhören, ihn anzustarren. So viel gibt es da eh nicht zu sehen.“

„Autsch, Kuro-rin! Das hättest du auch anders ausdrücken können!“ Der Magier klang wieder heiterer.

„Wir müssen euch leider sagen, dass wir euch die Feder noch nicht zurückgeben können.“ Yuto trat aus der eingetroffenen Gruppe hervor. „Seit kurzem macht der Regen immer mal wieder längere Pausen, aber noch brauchen wir den Schutz der Feder.“

„Die Feder?“ Shaolan war bei seinen Worten ganz blass geworden.

„Moment, was soll der Scheiß? Wieso ist hier immer noch eine Feder?“ Kurogane war sicht- und hörbar sauer.

„Mokona spürt nichts. … Aber da war ja auch so ein Ding von Fuma um Sakuras Feder, also kann Mokona sie gar nicht spüren.“

„Hm.“ Fye legte nachdenklich eine Hand an sein Kinn. „Es macht Sinn, dass die Feder jetzt noch hier ist.“

„SINN?!“ Kurogane war außer sich. „Die verdammten Dinger müssten doch alle weg sein-“

„Mit-den-ken, Kuro-Hirni.“

„Fye-san hat Recht.“ Bei Shaolans bedrückt klingendem Einwand fragte der Ninja sich, ob alle den Verstand verloren hätten. „Wir werden erst in der Zukunft die letzte Feder aus den Ruinen holen. Und gerade sind wir … in der Vergangenheit dieser Zukunft.“

„Häh?“ Dem Dunkelhaarigen schwirrte merklich der Kopf. Hatte er nicht eben noch gedacht, dass eh schon alles kompliziert und verrückt war? Jetzt sollte es noch komplizierter und verrückter werden?

„Um euch alle zu beruhigen“, Fye legte eine Hand auf eine Schulter Shaolans, „ich halte es für ausgeschlossen, dass die Feder noch irgendetwas anrichten kann, außer dieses Gebäude zu beschützen. Der ursprüngliche Grund, warum die Federn verteilt wurden, existiert nicht mehr. Zu keiner Zeit. Es ist praktisch nur der Geist einer Feder, wenn man es so will.“

Shaolan atmete aus. „Entschuldige, das hätte mir eigentlich auch klar sein müssen.“

„Shaolan wird immer so traurig, wenn jemand 'Feder' sagt“, stellte Mokona besorgt fest. „Darum sollten wir lieber von etwas Schönerem reden!“

„Oh, ich hätte eine Frage“, meldete sich Yuzuriha aus dem Hintergrund zu Wort. „Was meintest du mit Ruinen und der Vergangenheit der Zukunft?“

Der arme Junge wurde noch blasser. Wie sollten sie das denn erklären??

„Uhm“, warf Fye abermals ein, „wäre es möglich, dass wir uns wenigstens kurz hier ausruhen könnten? Wir sind wirklich sehr erschöpft.“

„Ihr gebt uns sehr wenige Antworten und wollt nun auch noch dem Gespräch ausweichen“, entgegnete Kakyou mitleidslos. „Das ist ziemlich unhöflich von euch. Aber ich will darüber hinwegsehen. Was wichtiger ist: Der Grund eurer Reise hat sich also geändert?“

„Ja“, antwortete Shaolan.

„Die Feder kann hier bleiben?“

Er nickte.

„Das ist alles, was wir wissen müssen und sollten. Seid unsere Gäste. Allerdings ist die Stadtverwaltung ziemlich voll. Wir können euch nur ein Zimmer anbieten.“

 

Kakyou hätte genauso gut das Zimmer sagen können, ächzte Kurogane innerlich, als er den Weg wiedererkannte, den sie entlang geführt wurden.

„Vielleicht kommt es euch wie ein dummer Aberglaube vor“, erklärte Nataku kurz vor dem Ziel und die Gedanken der Besucher erratend. „Aber wenn an einem Ort sehr schlimme Dinge geschehen sind, meiden wir diesen Ort lieber. Wir benutzen ihn nur gelegentlich, falls wir einen Raum für Quarantänen oder Ähnliches benötigen.“

„Ja ja, schon gut“, brummte Kurogane. Das Konzept gab es so ähnlich in Nihon und er respektierte es, aber er hielt es für schwachsinnig. Schlimme Dinge passierten halt. Deswegen musste man nichts absperren oder mit Unmengen Salz überschütten. Sie brauchten einen Platz zum Ausruhen und wenn dieses verfluchte Zimmer, das ihn manchmal in seinen Albträumen heimsuchte, der einzige Platz war, dann war es eben so. Er musste nur dafür Sorge tragen, den bedrückten Bengel, den bleich gewordenen Magier und das bibbernde, die Ohren hängen lassende Wollknäuel die nächsten Stunden heil überstehen zu lassen.

„Sagt Bescheid, wenn ihr etwas braucht.“ Kazuki übergab Mokona wieder in Shaolans Arme und er und Nataku verabschiedeten sich.

Wie bestellt und nicht abgeholt standen sie nun in demselben Zimmer, das ihnen damals gegeben worden war. Fye ließ seine Augen durch den Raum wandern und sein Blick blieb an ein paar Blutflecken auf dem Boden kleben, die allem Anschein nach sämtlichen Entfernungsversuchen hartnäckig standgehalten hatten. Es konnte seines sein, es konnte Shaolans sein, es konnte Kuroganes sein. Immerhin gehörte es nicht zu Sakura oder Mokona und das war das einzig Positive, was er daran finden konnte. Er hob seine Augen wieder und spürte, wie sein Magen sich zusammenzog, als er das Loch wiedererkannte, das Kurogane in die Wand geschlagen hatte. Hier war nichts, woran er erinnert werden wollte.

'Fump!'

Fye schreckte aus seinen grausamen Erinnerungen, als Kurogane die Decke, die sie ihnen mitgegeben hatten, auf das Bett fallen ließ. Ihre Blicke trafen sich nur für einen flüchtigen Moment, bevor der Schwarzhaarige wortlos die Decke auf dem Laken ausbreitete. Fye spürte die Tränen, die sich in seinen Augen formten, während er den Anderen anstarrte.

„Fye ...“, jaulte Mokona leise und holte damit auch Shaolan aus seiner Schockstarre. Bis eben hatte er Mokonas Rücken angestarrt und keinen Mucks machen wollen. Die Atmosphäre war so angespannt, dass er Angst hatte, etwas zu sagen. Durch Mokonas jammervollen Laut schnellte sein Blick alarmiert zu dem Magier, der sich mit einem Ärmel die Tränen wegwischte.

Sie trugen ihm nichts nach. Das hatten sie beide bereits mehrmals gesagt. Und Shaolan glaubte ihnen das auch. Sie kümmerten sich so liebevoll um ihn, um ihn, der ihnen so viel Leid verursacht hatte. In Tokyo hatten sie sich zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden und damals hatte es ihn gewundert, wie die Sache für ihn ausgegangen war. Es war doch seine Schuld gewesen, durch die Fye beinahe sein Leben und Kurogane beinahe jemanden, den er liebte, verloren hätte. Sie beide und Mokona hatten an jenem Tag den Jungen verloren, der ihnen so ans Herz gewachsen war.

Shaolan biss sich – ohne es selbst zu merken – mit voller Wucht auf die Unterlippe und erschrak von neuem, als er Kuroganes Blick nun auf sich spürte.

Der Ninja legte den Kopf in den Nacken und seufzte lautstark. „Versucht, euch auszuruhen. Sobald der Klops sich fit genug fühlt, hauen wir aus dieser Welt ab.“

„Kuro-sama“, Fye gab den Kampf gegen seine Tränen auf und atmete durch. „Du stehst zwar oft auf dem Schlauch -“

„Häh?!“

„- und du bist nur ein drittklassiger Schwertkämpfer-“

„HÄH?!“

„- aber ...“ Der Magier ging auf ihn zu und legte seine Arme um ihn. Zu Shaolans Überraschung erwiderte Kurogane sogar die Umarmung. Normalerweise ließ er, wenn er dabei war, nicht so viel Nähe zu. „Aber ohne dich hätten wir es nie so weit geschafft. Du hast unsere auseinanderfallende Gruppe zusammengehalten, obwohl du selbst so gelitten hast. Obwohl wir dich mit deinem Schmerz ganz alleine gelassen haben. Ich habe dir nie ausreichend dafür gedankt. Bitte verzeih.“ Fyes Stimme bebte und war mit jedem seiner Worte brüchiger geworden. Letztendlich vergrub er sein tränennasses Gesicht in der Schulter des größeren Mannes.

Kurogane strich ihm sanft über den Rücken, sprach aber gleichzeitig herzlich unsanft: „Hey, interessiert mich der Schnee von gestern? Nein. Das solltest du eigentlich wissen. Ich weiß es zu schätzen, aber hör auf zu heulen.“ Er spürte ein schwaches Nicken gegen seine durchnässte Schulter.

„Fye-san hat Recht. Ohne dich wäre damals bereits hier alles zu Ende gewesen. Und du hast nicht nur alles ertragen, Kurogane-san, du warst auch für uns alle da.“

„Fang du nicht auch noch a-“ Kurogane stöhnte. Dem Bengel kullerten schon dicke Tränen die Wangen hinab.

„Du … du sollst wissen“, Shaolan entwich gegen seinen Willen ein Schluchzen, „du sollst wissen, wie viel es mir bedeutet, dass du für mich da bist, Kurogane-san.“

„Hört auf, alle beide … alle drei!“ Er funkelte kopfschüttelnd Mokona an, der Sturzbäche aus den Augen liefen.

„Shaolan und Fye haben Recht! Mokona weiß noch ganz genau, wie traurig und verzweifelt Kurogane damals war und dass er das ganz lange war!“

„KLAPPE JETZT!“

Mokona sprang aus Shaolans Armen auf die andere Schulter des Ninjas und drückte sich gegen die Seite seines Gesichts.

Natürlich hatte er sich Sorgen gemacht, dass die Erinnerungen an Tokyo die drei anderen überwältigen könnten – aber er hatte nicht damit gerechnet, dass das passieren würde. Gegen so eine Übermacht an Sentimentalität kam er nicht an. Nachdem der Klops ihnen viel zu viel seiner Gefühlswelt offenbart hatte, krallten sich die Finger des blonden Trottels in seinen Rücken.

Es war nicht ihre Schuld.

Wenn sie die Kinder längst zurückgebracht hätten, wären sie nicht noch einmal hier gelandet und würden nicht von den Geschehnissen heimgesucht. Es ließ sich nur schwer mit der Vergangenheit abschließen, wenn man von ihr verfolgt wurde. Er selbst war gut darin, nach vorne zu blicken, doch der Idiot und der Bengel waren anders als er. Das war meistens gut und in manchen, seltenen Fällen wie diesem hier überaus schlecht.

„Schluss jetzt mit der Gefühlsduselei. Ich habe getan, was getan werden musste und das war alles. Ich bin jetzt nicht traurig und was anderes interessiert mich nicht. Verstehen wir uns da?“

„Entschuldige“, sagte Shaolan kleinlaut und schniefte, „das muss dir furchtbar unangenehm sein.“

„Gibt Schlimmeres.“ Er streckte eine Hand aus und wuschelte dem Jungen durch die Haare. Die andere legte er auf Fyes Kopf ab und wuschelte dort deutlich grober, sodass dieser empört von ihm abließ.

„Auauau, Kuro-sama, womit habe ich das denn verdient?“

„Das fragst du noch?“ Kuroganes Grinsen hatte etwas erstaunlich Mildes an sich. Seine Hand fuhr von Fyes Kopf seine langen Haare hinab und zur Überraschung des Magiers verweilte eine Strähne recht lange in der großen Hand. Das machte Kurogane in letzter Zeit immer öfter. Nun sogar schon vor Shaolan. Es war eine merkwürdig liebevolle Geste von ihm.

„Aw~“, machte die kleine Kreatur auf seiner Schulter entzückt. „Papa hat Mama sehr lieb.“

„Ich werd dich gleich gernhaben!!“ Der Dunkelhaarige schnappte nach Mokona, die gekonnt entkam und ihm bei ihrer Flucht sogar noch einen Schmatzer auf die Wange geben konnte.

„Ha ha!“ Das Wollknäuel hüpfte zurück zu Shaolan und hielt dort verwundert inne. „Bedrückt dich noch etwas?“

Shaolan hatte gerade einmal Gelegenheit verdattert zu blinzeln, ehe Kurogane erneut ächzte.

„Sofort raus damit, sonst kommen wir heute nie mehr zur Ruhe.“

„Ähm“, er zuckte zusammen, „ich dachte nur daran, na ja … dass die Leute in Tokyo nicht wissen, was irgendwann aus ihrem Land werden wird und ...“

„Und was?“, unterbrach Kurogane ihn. „Das Volk im Land Clow ist doch glücklich, oder?“

„Ja, schon ...“

„Wo ist dann das Problem?“

„Ähm ...“

„Richtig, es gibt keins.“

Fye lachte plötzlich. „Jetzt bist du aber richtig in Fahrt, Kuro-rin. Ich wette, du würdest jedes Problem, das man dir nennt, im Handumdrehen lösen.“

„Übung macht den Meister“, gab er zurück, stutzte kurz und schubste daraufhin den blonden Mann auf das Bett. „Im Stehen schläft es sich schlecht“, war alles, was er dazu sagte, bevor er Shaolan andeutete, sich ebenso hinzulegen. So löste er das Problem, wie er die anderen endlich dazu bringen konnte, sich auszuruhen statt in unschönen Erinnerungen zu versinken.

„Bitte, nimm du das Bett. Ich kann auf dem Boden-“ Shaolan brach ab, als Kuroganes zorniger Blick auf ihm landete. Ruckzuck kletterte der Junge gehorsam mit Mokona auf das Bett.

„Papa greift heute aber hart durch“, gluckste Fye und hob eine Hand in Richtung des Ninjas. „Wenn wir zusammenrücken, ist genug Platz für alle.“

„Oh ja!“, freute sich Mokona und zappelte in Shaolans Armen, um ihm zu signalisieren, an Fye heranzurücken. Noch auf dem Bett kniend, ließ er das Wesen los, damit es zu dem Blonden hopsen konnte, doch Mokona machte deutlich, was sie wollte. Mit ihrer winzigen Pfote zog sie an ihm.

„Ich …“ Shaolans Teint wurde leicht rosé. „Nicht, Mokona.“

„Aber das würde Shaolan doch glücklich machen.“

Ertappt zuckte er zusammen und starrte mit hochrotem Kopf die Bettdecke an.

„Ach, so ist das ...“, machte Fye, die Situation endlich verstehend. Er lachte. „Na dann!“ Der Magier öffnete seine Arme und blickte erwartungsvoll zu dem zaudernden Jüngeren.

„Ist das … wirklich in Ordnung?“, fragte Shaolan verlegen und zögerlich den Kopf hebend.

„Mehr als in Ordnung.“

Shaolan schaute zu Kurogane, als würde er auch dessen Einverständnis einholen wollen.

„Mach.“

Zaghaft nickte der Brünette daraufhin und kroch mit knallrotem Kopf und mit Mokona zusammen in Fyes Arme.

„Awww~“, quietschte das Wollknäuel zufrieden, „das ist schön! Fehlt nur noch Papa!“

Über Shaolans Kopf hinweg sah Fye zu Kurogane und erhaschte einen seltenen Anblick: Der sonst so grummelige Ninja lächelte selig – für einen flüchtigen Moment zumindest, denn er bemerkte Fyes Blick auf sich und stellte das Lächeln umgehend ein. Es war schon irgendwie süß, wie er seine so offensichtlich vorhandene, weiche Seite nie nach außen scheinen lassen wollte.

Kurogane räusperte sich und legte sich wortlos zu ihnen, einen Arm bis zum Magier hin ausstreckend.

„Jetzt ist Ruhe“, brummte er lediglich und warf dem daraufhin kichernden Blonden einen bösen Blick zu. Doch das Lächeln, das er in diesem Gesicht erblickte, war kein schelmisches. Fye wirkte ganz und gar gelöst und zufrieden.

„Ich bin nun wirklich kein Experte für familiäre Beziehungen“, flüsterte der blonde Mann leise, „aber du bist wahrhaftig ein Vater.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich denke Tokyo Revelations gehört zu den besten Animes, die je gemacht worden sind – und dass Kurogane nie genügend Anerkennung bekommt, für das, was er dort leistet. Er ist derjenige, der am wenigsten versteht, was überhaupt los ist und gleichzeitig derjenige, der am meisten tut, um die Gruppe zusammenzuhalten. Da musste ich die anderen mal sagen lassen, wie dankbar sie ihm dafür sind. Komplett anzeigen

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