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Juli 1970

Pathologie eines Philologen
von

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Keine halben Sachen

Donnerstag, 9.7.1970
 

Michael warf einen flüchtigen Blick auf die Nachmittagspost, die seine Frau auf den Gartentisch gelegt hatte. Anna schenkte sich eine Tasse Tee ein und sagte: "Da ist auch eine Karte von Greta dabei."
 

Tatsächlich lag oben auf dem kleinen Stapel eine Postkarte mit dem Panorama einer Ruinenlandschaft. 'L'Antique Carthage' hieß es darunter und auf der Rückseite klebte eine farbenprächtige tunesische Briefmarke.
 

'Lieber Papa, die allerbesten Grüße von uns allen dreien. Gestern haben wir uns die Ausgrabungsstätten angeschaut. Sie sind wirklich sehr eindrucksvoll. Grüße bitte auch ganz herzlich Andreas von uns, wenn Du ihn besuchst. Die schönsten Grüße und bis bald, Deine Tochter Greta, Paul und EVA.'
 

Michaels Enkelin hatte offensichtlich selbst mitunterschrieben. Er legte die Karte beiseite. Die Telefonrechnung war das nächste auf dem verbliebenen Stapel, darunter ein Brief vom Institut, einer vom Verlag und einer vom Philologenverband.
 

Anna hatte ihre hübsche, korrigierte Nase im Hohenheimer Tageblatt vergraben, und die ganzseitige Anzeige der Eidgenössischen Betriebe Baden Oberrhein auf der Rückseite wurde von der Sonne angestahlt. Michael fragte sich, woher die, angesichts ihrer angeblich noch immer prekären Finanzlage, das Geld dafür hatten. Er schüttelte darüber - und über die Tatsache, daß er nach fünf Jahren nun seiner Gattin wieder gegenübersaß - den Kopf. Tatsächlich hatten er und Anna sich seit ihrer Rückkehr nur wenig zu sagen gehabt und Michael fragte sich zum wiederholten Male, wie er sie nur je hatte vermissen können. Ja, er hatte in den vergangenen Jahren sogar von ihr geträumt, sich ihre Rückkehr erträumt, da er glaubte, sie als Muse zu brauchen. Doch mit Cassandras Erscheinen hatte sich die ganze Situation geändert und seine jahrelange Schaffenskrise war behoben. Seine Phantasie war geradezu überschäumend und einige seiner Ideen schienen ihm bisweilen wirklicher als die Realität.
 

Diese Gedanken hatten seine grazile Muse herbeigewünscht, und Cassandra umarmte Michael von hinten, küßte ihn auf die neuerdings bärtige Wange. "Nimm mich mit", raunte sie ihrem Dichter ins Ohr, obwohl Anna sie ohnehin weder hören noch sehen konnte.
 

"Wohin?" fragte Michael leise zurück.
 

"Na, nach Merburg, zum Kongress." Sie schmiegte sich eng an seinen Rücken und tippte, an ihm vorbei, auf den noch ungeöffneten Brief vom Philologenverband.
 

Michael hatte sich im Frühjahr zum Kongress 'Phantastische Literatur der Romantik' angemeldet, in dem Brief mußte sich die Bestätigung dafür befinden. Michael öffnete den Umschlag und fand darin tatsächlich das Vermutete. Mit sechzehn war er einmal in Merburg gewesen, das mußte im Sommer 1928 gewesen sein.
 

Woher hatte Cassandra von den Tagungsunterlagen gewußt? Aber diese Frage war müßig, denn sie teilte ja seine Gedanken. Michael hauchte seiner Muse einen Kuß auf den samtigen Oberarm, der ihn noch umfangen hielt. "Du bist herzlich dazu eingeladen."
 

"Sagtest du etwas?" fragte Anna hinter ihrer Zeitung. Sie ließ sie sogar sinken und spähte über den Rand. Auch sie brauchte inzwischen eine Lesebrille, stellte Michael mit Genugtuung fest, aber natürlich trug sie ein Designermodell.
 

Michael versteckte sein Grinsen hinter der zum Mund gehobenen Teetasse. "Nein, nichts. Die Telefonrechnung ist nur unverschämt hoch."
 

Anna bekundete mit einem damenhaften kleinen Grunzen ihre Zufriedenheit mit der Antwort und las weiter. Die Zeitung wurde umgewendet und die EBBO-Werbung abgelöst von der Weltpolitik mit einem reich bebilderten Artikel zur Dreißig-Jahr-Feier des Bundes-Sieges über Sachsen.
 

'Oh, Anna, Anna! Hast du dich so verändert oder bin ich es?' dachte Michael wehmütig. Immerhin war es ein heißblütiger Streit gewesen, der Annas plötzlichem Weggang vorausgegangen war. Damals hatten sie sich noch etwas zu sagen gehabt. Und bis zu Cassandras Erscheinen hatte ihn jeder Gedanke an die Lücke, die Annas Verschwinden in sein Leben gerissen hatte, Schmerzen bereitet. Nicht eine Zeile hatte er in den fünf Jahren ohne Muse geschrieben... aber seinen zaghaften Versuch vor einigen Tagen, seiner Frau von der merkwürdigen Begegnung zu berichten, die ihn wieder zum literarischen Schaffen veranlaßte, hatte sie durch ihr geradezu unverschämt offensichtliches Desinteresse abgeschmettert. Und auch ihr Bericht über die fünf Jahre Italien, als Designerin von Accessoires für ein Florentiner Modehaus, war sehr knapp ausgefallen. Ja, er wußte nicht einmal, warum sie so plötzlich wiedergekommen war, sogar - in gewisser Weise - sein Bett teilte. Vor sechs Tagen hatte sie plötzlich im Hausflur gestanden, in dem für sie typischen hellen Reisemantel, die Quittung des Taxis, das sie vom Basler Flughafen nach Hohenheim gebracht hatte, noch in der Hand.
 

Anna war freundlich, aber völlig unverbindlich und - bei Lichte betrachtet - nach seinen vielen geträumten Annas eine furchtbare Enttäuschung.
 

Seine Muse strich ihm übers Haar. "Sei nicht traurig", tröstete sie ihn. "Ich werde mich nie ändern."
 

Und das glaubte Michael sogar.
 

Cassandra ging ins Haus, ihr 'Taschentier', das zahme Streifenhörnchen namens Casus Belli, folgte ihr in kleinen Sprüngen.
 

"Sag mal, Anna..."
 

"Hmm??"
 

"...wieso bist du denn wieder hier?" Bisher hatte er nicht gewagt, seine Angetraute so geradeheraus zur Rede zu stellen.
 

Anna ließ die Zeitung sinken, legte sie auf den Tisch. "Was denkst du denn?" fragte sie zurück. Über den Rand ihrer Lesebrille sah sie ihn scharf an.
 

"Wenn ich eine Vorstellung hätte, würde ich nicht fragen", antwortete Michael ein wenig giftig.
 

"Es kommt dir also nicht in den Sinn, daß es vielleicht deinetwegen sein könnte?" "Willst du eine ehrliche Antwort?"
 

Anna ignorierte die Spitze und sagte: "Andreas behauptete, du würdest mich vermissen. Ich muß allerdings sagen, daß es auf mich ganz und gar nicht diesen Eindruck macht."
 

"Du warst also bei ihm."
 

"Er ist schließlich auch mein Sohn. Und nach dem, was er mir erzählte, sind dir die fünfzig Kilometer nach Basel ja offenbar zu weit und zu beschwerlich."
 

"Sagt er das? Nun, bei dieser Hitze ist das allerdings so. Hattest du in den vergangenen Jahren häufiger zu ihm Kontakt?" Michael stellte die Frage ganz beiläufig.
 

"Soll das jetzt ein Verhör werden?!" Sie blitzte ihn aus ihren blauen Augen an. "Natürlich wußte Andreas, wo ich bin - wie Greta auch. Aber du hast ja gar keine Anstalten gemacht, mich ausfindig zu machen. Und jetzt, wo ich wieder in deinem Haus bin, scheint es dir lieber zu sein, wenn ich schnellstens wieder verschwinde. Ganz offensichtlich bin ich ja überflüssig... hast du wieder ein Verhältnis mit einer deiner Studentinnen, das du vor Greta bisher geheim halten konntest? Oder wie kommst du zur Zeit zu deinem Stich?"
 

Soetwas mußte ja kommen, aber Michael versuchte, sich seine Verärgerung nicht anmerken zu lassen. Demonstrativ seufzte er tief. "Ich will doch einfach nur wissen, was dich nach fünf Jahren dazu bewegt hat, wieder den Weg nach Hohenheim zu finden. Das rekordverdächtige Sommerwetter wird es allein ja wohl nicht sein."
 

Der Trick hatte Erfolg, Anna beruhigte sich schlagartig. "Es ist ganz banal. Ich habe meinen ersten richtigen Urlaub seit fünf Jahren, und ich dachte, daß ich ihn dafür nutzen sollte, unseren... embarras zu bereinigen."
 

"So, dachtest du", wiederholte Michael leise. Er erinnerte sich lebhaft daran, wie Anna - die die gelegentlichen kurzlebigen Affären in seinen Mittvierzigern damals stets ohne ein Wort hingenommen hatte - ihm an jenem denkwürdigen Abend vor fünf Jahren plötzlich vorwarf, er unterdrücke und bevormunde sie, lasse ihr keinen Raum zur Entfaltung, zum Ausleben ihrer eigenen Kreativität. Den Raum wolle sie sich nun schaffen und im übrigen werde er von ihrem Anwalt hören. Doch es war nie auch nur zum ersten Schritt in Richtung Scheidung gekommen. "Vielleicht sollten wir den embarras einfach durch eine Scheidung beenden", schlug Michael vor.
 

"Ich hätte nie gedacht, soetwas mal von dir zu hören!"
 

"Du bist also doch gegen eine Scheidung", schloß Michael daraus.
 

"Überhaupt nicht... nicht grundsätzlich zumindest. Aber ich dachte, ich sollte uns noch einmal eine Chance geben."
 

Michael schüttelte den Kopf. "Du siehst doch, es hat gar keinen Sinn. Wir haben uns auseinander gelebt, haben uns ja kaum noch etwas zu sagen. Andreas hat recht: ich hatte die ganzen fünf Jahre Sehnsucht nach dir, aber diese Sehnsucht kannst du in leibhaftiger Form gar nicht befriedigen. Ich sehne mich nach der Anna, die ich mir in den vergangenen fünf Jahren erträumt habe. Und ich denke, dir muß es ähnlich gehen."
 

Anna musterte ihren Mann nachdenklich. "Möglicherweise hast du recht. Und ich glaube, das war schon so, bevor wir uns trennten. Aber wir brauchten wohl die fünf Jahre Pause voneinander, um es endlich zu begreifen."
 

Nun, eigentlich hatte es für Michael dazu des Auftauchens einer anderen Muse bedurft. "Also lassen wir uns scheiden?"
 

Anna hob beide Hände zur Verteidigung. "Nicht so schnell. Wir sollten nichts überstürzen. Ich wollte noch ein Weilchen hier in der Gegend bleiben, auch mal meine Schwester wieder besuchen. Aber wenn es dir unangenehm ist, mich und nicht deine geträumte Anna in unmittelbarer Nähe zu haben, gehe ich in ein Hotel."
 

"Du kannst doch auch in das Gästezimmer."
 

"Oh, nein! Keine halben Sachen", verlangte Anna bestimmt.
 

* * *
 



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