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Zwischen Schatten und Licht
von

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Mit dem Wissen um Wahrheit und Tod - 3

Folge 1

~Teil 3 - Mit dem Wissen um Wahrheit und Tod~
 

Er wiederholt das Ganze und lässt das Video zum Anfangszeitpunkt zurück spulen, als wäre der vorige Versuch nur ein Irrtum gewesen. Wieder ist nichts zu sehen und ich beiße unmerklich die Zähne zusammen. Pastors Schultern versteifen sich und die Anspannung baut sich stetig weiter auf. Er starrt ungläubig auf den Monitor.

„Was zum...“ Er stoppt, bevor er den Fluch aussprechen kann und sieht zu mir. „Spinn ich?“ Eine offensichtlich rhetorische Frage. Ich erkenne die puren Zweifel und reine Irritation in seiner Stimme. „Sie haben es auch gesehen, oder? Da war ein... ein... ein Schatten...“ Sein Zeigefinger drückt sich mehrmals gegen den Bildschirm und jedes Mal kann ich quasi sehen, wie die Pixel unter der Membran schreien. In seinem Gesicht bemerke ich das Wechselspiel aus absoluter Sicherheit und nagendem Zweifel. Seine Augenbrauen sind ein stetiges Kräuseln. Auch sein Mund öffnet und schließt sich im Sekundentakt. So viele Fragen, die einem kontinuierlich durchfluten. Ist es wirklich wahr? Kann man seinen eigenen Augen trauen? Kann man sich jemals sicher sein? Meine Erfahrungen lehren mich, dass es kein Absolut gibt.

Für einen Moment lang glaube ich, dass er einen weiteren Versuch startet, hofft und erwartet, doch dann lehnt er sich zurück und lässt ermattet seine Hände in den Schoß fallen.

„Was ist...was passiert hier?“ Seine Frage ist nur ein Flüstern und ich bin sicher, dass er darauf keine der Antworten will, die ich ihm geben kann. Ruckartig steht er auf, streicht sich energisch durch die Haare und wandert ein paar Schritte durch das kleine Büro. Statt ihm dabei zu zusehen, lasse ich mich auf den freigewordenen Stuhl fallen und spule erneut zurück. Wieder kein Schatten. Ich friere das Bild ein und wandere sorgsam alles mit den Augen ab. Am äußeren Bildrand bleibe ich hängen.

„Ist das einer der Zeugen?“, frage ich und deute auf die schmale Gestalt im Hintergrund. Pastor kommt wieder zurück und beugt sich über meine Schulter hinweg dichter an den Bildschirm heran.

„Laut Bericht wurden nur die Mitarbeiter der Tankstelle als Zeuge befragt. Niemand sonst“, gibt Pastor wieder und starrt fragend auf den Monitor. Seine Augen kneifen sich zusammen, als würde sich damit die Auflösung der Aufnahmen bessern lassen. Er wirkt überrascht. „Lass das Video weiterlaufen“, sagt er und streckt seine Hand nach der Computermouse aus, um es selbst voranzubringen. Nun lehnt er fast auf meiner Schulter. Ich schubse spielerisch seine Hand weg und wir sehen uns augenblicklich stoisch an. Abrupt richtet er sich auf und macht stattdessen eine auffordernde Geste in meine Richtung. Er hat nicht mal gemerkt, dass er mich duzt. Ich hebe amüsiert die linke Augenbraue, drücke kopfschüttelnd auf Play und lasse die Aufnahme weiterlaufen. Diesmal konzentrieren wir uns einzig auf die Geschehnisse im Hintergrund.

Die Person ist, wie erwartet, nicht kaum zu erkennen. Sie trägt einen hellen Pullover oder eine Jacke. Jeans, die etwas zu weit sind. Helle Turnschuhe. Es sind einzig Vermutungen. Es gibt keine Farbe. Nur Schattierungen. Es könnte jeder sein. Die Statur ist eher schmächtig, nicht besonders groß. Mehr die eines Jugendlichen. Oder einer kurzhaarigen Frau. Sie steht vollkommen regungslos da und beobachtet die Geschehnisse an der Tankstelle. Würde ein unbeteiligter Zeuge nicht weglaufen oder sich in irgendeiner Form regen? Gut, in der heutigen Zeit würde man eher eine Handyaufnahme tätigen. Doch die Person macht nichts dergleichen. Erst als die Schüsse fallen und Bakow zu Boden geht, regt sich die Gestalt. Sie läuft ein paar Schritte auf das Auto zu, bückt sich. Unmittelbar danach schreitet sie ruhig und langsam aus dem Bild.

„Was hat er da aufgehoben?“, fragt Pastor. Wieder spulen wir zurück. Durch den Winkel der Kamera ist nicht näher zu erkennen, was es ist, aber kurz, bevor die Schüsse fallen, sieht man, wie es dorthin geworfen wurde. Vielleicht durch den Toten. Wir öffnen die Aufnahmen der Tankstelle erneut und lassen beides parallel ablaufen. Tatsächlich erkennt man kurz vor dem Auftreffen, wie der Tote schwungvoll seine Hand hebt, ehe auf die Polizisten zustürmt. Was er wirft, ist nicht zu erkennen. Hernandez meldet sich zurück und wir bitten ihn darum, die vermerkten Parts in die forensische Abteilung zu geben. Wenn wir Glück haben können sie das Bild schärfen und uns damit Details liefern.
 

Pastor bringt mich zurück zu de Lucias Wohnhaus, wo mein Fahrzeug steht. Schweigend und mit schwerer Luft um uns herum, bleiben wir in seinem Wagen sitzen. Normalerweise schwelge ich allein in dem immer dichter werdenden Dunst der Unwissenheit und stelle mir unendlich viele Fragen, ohne eine Antwort zu finden. Mit jemanden gemeinsam einen solchen Fall zu bearbeiten, ist auch für mich eine Premiere. Ob es nutzbringend ist, kann ich bisher nicht einschätzen. Ich sehe, wie in dem anderen Detective die Rädchen arbeiten und wenn es noch stiller wäre, würde ich sie sogar hören. Obwohl wir angehalten haben, sind Pastors Hände fest um das Lenkrad geschlossen. Seine Kiefer bewegen sich mahlend und beschäftigt übereinander. Er beißt die Zähne zusammen, lässt seinen Mund wieder locker und wiederholt es. Allein dabei zuzusehen, sorgt dafür, dass sich meine Mundpartie schmerzend bemerkbar macht.

„Sie sagt, Sie seien wegen einer Zeugenbefragung bei de Lucia gewesen. Worum ging es?“, frage ich in die schwere Energie hinein. Ich erreiche, was ich beabsichtige, denn Pastors Schultern entspannen sich und die verkrampften Hände sinken in seinen Schoss.

„Ein Verkehrsunfall mit Fahrerflucht in der Nähe der Synagoge. Laut der Verkehrsüberwachung wurde sein Autokennzeichen zum Zeitpunkt dort aufgenommen.“

„Mhm. Keine direkte Beteiligung?“

„Nein.“ Sackgasse. „Verdammt.“

„Ja.“

„Ja.“, echoe ich und steige nach einem deutlichen Seufzen aus. Ich verabschiede mich mit einem knappen `Man sieht sich` und steuere auf meinen Wagen zu, während ich einen letzten Blick auf das Wohnhaus werfe. Als ich einsteige, kann ich durch die Frontscheibe hindurch erkennen, wie der andere Detective weiterhin hinter dem Steuer verharrt und in seinen eigenen Gedanken gefangen scheint. Nach einem letzten Blick ich denke darüber nach, was ich als nächstes tue. Ich entscheide mich dafür, nicht zurück aufs Revier zu fahren, sondern in meine Wohnung. Noch bevor ich den Motor starte, werfe ich das Notizbuch, welches ich aus de Lucias Wohnung mitgenommen habe, auf den Beifahrersitz und schlagartig fällt mir das Atmen wieder leichter.
 

Unterwegs besorge ich mir eine Kleinigkeit zu Essen beim Vietnamesen an der Kreuzung zu meinem Wohnhaus. Und obwohl Werbeprospekte aus dem Briefkasten mit meinem Namen hervorlugen, ignoriere ich sie. Ich nehme abgelenkt die Treppe nach oben. Das Notizbuch in meiner Hand scheint mit jeder Stufe schwerer zu werden und kurz bevor ich die Wohnungstür erreiche, bleibe ich stehen und betrachtete den Ledereinschlag eingehender. Es fühlt sich ungewöhnlich warm an und im nächsten Augenblick löst sich Rauch von dem braunen Material. Erschrocken stoße ich das Buch von mir und es landet mit einem dumpfen Geräusch auf dem Treppenabsatz. Ein Feuer bildet sich auf dem dunklen Leder und ich sehe dabei zu, wie es inmitten des Buches ein großes deutliches Loch frisst. Dann hört es unvermittelt auf. Nur noch vereinzelte kleine Rauschschwaden heben sich ab und die roten Glutspuren werden grau. Als ich meine Hand ausstrecke, merke ich weiterhin die Hitze, die davon ausgeht und entscheide mich dafür, etwas länger zu warten.

Bevor ich in die Wohnung trete, öffne ich ein paar der Fenster im Aufgang und stoße das Buch vorsichtig mit den Füßen in den Wohnungsflur. Ich betrachte es skeptisch, umrunde das Ding mit Abstand und stelle mein Essen erstmal in der Küche ab, ehe ich wieder zurückkehre. Ich hocke mich davor und halte erneut die Handfläche darüber. Probehalbe murmele ich ein paar unverfängliche Psalme des Neuen Testaments, versuche, was auch immer es ist, zu reißen, doch nichts geschieht. Inzwischen ist es kalt, also sammle ich es auf. Der Ledereinschlag ist mit den ersten Blättern verschmolzen und damit vollkommen hinüber. Ich betrachte es von allen Seiten und bin mir nicht sicher, was das Ganze zu bedeuten hat. Den entstandenen Brandfleck auf dem Treppenabsatz ignoriere ich geflissentlich als ich aufstehe, die Tür hinter mir schließe und auf der Couch Platz nehme.
 

Ich durchblättere das Notizbuch mit allergrößter Vorsicht. Die einzelnen Seiten lösen sich mehr schlecht als recht voneinander und an einigen Stellen reiße ich das Papier weiter ein. Auf den vorderen Absatz steht bloß belangloses Zeug. Hauptsächlich sind es To-Do-Listen und Gedanken, die er niederschrieb, um sich organisieren zu können, für die mir zum Verständnis aber das Hintergrundwissen fehlt. Die Schrift ist klein, dennoch präzise und gut lesbar. Er hat sich Zeit genommen. Jedes Wort ist sorgfältig formuliert und er schmückte nichts aus. Leider kann ich wegen der Beschädigung und den starken Verrußungen nur einen Bruchteil erkennen. Die Seiten tragen ein Datum in unmittelbarer Vergangenheit. Die Notizen sind nicht sehr alt. Ich blättere weiter nach hinten und komme seinen letzten Aufzeichnungen näher. Die Schrift in diesen Tagen ist deutlich aufgeregter und wirkt gehetzt. Er schrieb mit festem Druck auf dem Papier. Endungen fehlen oder verkommen zu einem Einheitsbrei. Stellenweise wechselt er zwischen verschiedenen Sprachen hin und her, was mich immer wieder innehalten lässt. Mein Spanisch ist nicht gerade gut. Dazu kommt, dass die Schrift teilweise unlesbar ist. Ich blättere behutsam weiter und stoße auf Symbole, die im ersten Moment fremdartig aussehen. Bei genauer Betrachtung erkenne ich ein paar der Zeichen. Buchstaben des hebräischen Alphabets. Teils aramäisch. Es verwirrt mich. Ich finde weitere kleinere Zeichnungen und allerhand Gekritzel. Vieles davon wurde wieder übermalt. Die nächsten Seiten sind undatiert und wirken chaotischer. Alles verschwimmt miteinander und oft sind die Textstellen mit größeren Worten überkritzelt. de Lucia hat sich beim Schreiben regelrecht überschlagen. Ab da an waren seine Gedanken vollkommen in Besitz genommen. Ich blättere zurück. Das letzte notierte Datum ist der Mittwoch vor zwei Wochen.

Eine deutliche Eskalation. Er verlor den Bezug zur Realität und wurde wahnhaft und getrieben. Das alles kann ich aus diesen Seiten herauslesen und nicht zum ersten Mal formt sich ein konkreter Begriff in meinem Kopf. Besessenheit. Ich halte inne. Ich sollte dringend einen Schritt zurück machen. Also lege ich das Büchlein geschlossen beiseite und schließe die Augen. Nichts ist prekärer, als einem Bestätigungsfehler zu unterliegen, in dem man nur die Ergebnisse sieht, sucht und findet, die die eigenen Annahmen und Erwartungen bestätigen. Ein häufiges Problem und eine der größten Fehlerquellen. Aber ab einem gewissen Punkt wird man betriebsblind. Für jeden Polizisten ein Frevel. Dennoch erkundige ich mich nach einem schwarzen Loch, wenn ich etwas gedankenverloren verlege und nicht mehr finde, statt mir einzugestehen, dass ich abgelenkt war. Es könnten auch Kobolde sein, aber habe ich bisher keinen Beweis, dass sie existieren.

Ich nehme das Notizbuch wieder zur Hand, blättere noch einmal vor und bleibe auf einer Seite hängen, auf der sich Teile einer Bleistiftzeichnung befinden. Sie ist grob und unfertig. Symbole und Buchstaben ranken sich wahllos um die energisch geführten Linien. Darunter sind auch ein paar Noten. Eine Melodie, womöglich. Nun betrachte ich die Zeichnung genauer. Sie deutet ein rechteckiges Objekt an. Vielleicht ein Kästchen. Eine Art Schatulle. Ich erkenne Teile eines fein ausmodellierten, schwungvollen Fußes. Zusammen mit den Noten könnte es eine Spieluhr sein. Oder es hat nichts miteinander zu tun.

Seufzend lehne ich mich zurück, lege das Notizbuch erneut zur Seite und reibe mir mit beiden Händen über das Gesicht. Mir gehen fünf andere Möglichkeiten durch den Kopf, die diese Skizzenreste darstellen könnten. Eine Aufbewahrung für Schmuck. Gerade antike Schmuckstücke sind häufig Trägerobjekte für Flüche oder Magien. Die Übertragung ist damit ein leichtes. Um den Hals hängen, an den Finger stecken. Fertig. Ob es einer sein kann? Sie können sehr intensiv werden, in hohem Maße zerstörerisch. Das Kästchen hat gegebenenfalls gar nichts damit zu schaffen. Dennoch hole ich die Polizeiakte von de Lucia hervor und suche die Aufnahmen der Wohnung, die nach den Schüssen dort gemacht wurden. Da es sich nicht um den eigentlichen Tatort handelte, sind sie erwartungsgemäß oberflächlich. Keine Detailaufnahmen. Kein genaues Hinsehen. Nirgendwo ist ein Gegenstand zu sehen, der der Zeichnung ähnlich sieht. Was wiederum nichts heißt. Wenn das Objekt mit einer Präsenz besetzt ist, dann würde der Besessene alles tun, um es nicht wieder herzugeben. Doch wie ist es im weiteren Fortgang in Bakows Hände gelangt? Wo ist es jetzt? Unglücklicherweise könnte schon jemand anderes vor sich hinsiechen und kurz davor sein, durchzudrehen. Ich muss herausfinden, was genau es ist, was diese Leute befällt und worin de Lucias und Bakows Verbindung besteht. Da das Essen längst kalt ist, macht es keinen Unterschied, ob ich weiter grübele oder die Beine benutze. Mein Magen knurrt zum Protest, trotzdem ziehe ich mir die Jacke über und greife nach dem Notizbuch. Bevor ich mich zum ersten Tatort aufmache, fertige ich ein paar chinesische Schutztalismane an, mit denen ich sorgfältig um das Buch einschlage. Vorsicht ist besser, als einen verspielten Geist zu erzürnen. In diesem Fall möchte ich nur kein erneutes Entfachen verursachen, denn ich mag meine Jacke.
 

Beim Betreten der fremden Räumlichkeiten spüre ich erneut diesen feinen kalten Schauer, der mich ummantelt, wie Nebel. Doch diesmal ist es weniger intensiv und einzig ein letzter Luftzug. Ich betätige den Lichtschalter und das Gefühl ist verschwunden. Licht beeinflusst die Atmosphäre nachhaltig. Die Räume wirken belebt, so, als würde jeden Moment der Bewohner aus der Küche treten. Seine Kinder rufen. Der Gedanken daran, dass er es nicht mehr tun wird, legt sich schwer auf mein Gemüt.

Diesmal gehe ich bei der Suche systematisch vor. Raum für Raum. Ich starte im Küchenbereich und durchsuche alles nach möglichen Verstecken. Selbst die Cornflakes Packung schüttele ich durch. Das Gefrierfach. Gern als Geldversteck genutzt. Leider habe ich keine konkrete Idee, was ich suche. Wie groß oder klein es ist. Aus welchem Material. Es sind nur Vermutungen in meinem Kopf. Ich wechsele ins Bad und ins Schlafzimmer. Auf dem Bett liegen drei Schlafgarnituren. Die beiden kleinen in Mickey Mouse-Stil sind sorgfältig gefaltet. Nur die linke Hälfte, die Seite des Vaters, ist ungemacht. Zum Glück waren seine Kinder nicht hier gewesen.

Zunächst öffne ich den Kleiderschrank, schiebe ein paar Kleiderbügel beiseite und nehme einige Stapel Pullover heraus, die ich auf dem Bett ablege. Dahinter. Daneben. Nichts. Nichts Ungewöhnliches zu mindestens. Auffällig ist eher, wie ordentlich es ist.

Im Nachtschrank der Kinderseite finde ein paar Bücher, kleinere Spielzeuge. Stofftiere. Ein paar Dinge behalte ich länger in der Hand, doch ich spüre nichts. Ich wechsele die Seite. Auch hier durchsuche ich das Nachtschränkchen. Es befinden sich nur ein paar Notizzettel darin, die lose in der Schublade liegen. Ich blättere sie durch und erkenne auf einigen von ihnen Symbole, die er mehrfach in sein Buch gekritzelt hat. Auf einem Zettel sind Noten abgebildet und ich halte unwillkürlich inne. Ich kann sie nicht lesen und werde nicht mutmaßen, da es mich nur auf die falsche Fährte bringt. Ich ziehe mein Handy hervor und mache ein Foto. Dieses schicke ich einem Bekannten zu, der ein Geschäft für alte Musikinstrumente und Memorialien führt.

-Kannst du damit etwas anfangen?-, tippe ich eine Nachricht und öffne die Taschenlampen-App. Ich knie mich vor das Bett und schaue auch darunter nach. Ich sehe vor allem Staub. In der rechten Ecke liegt ein Werkzeugkasten, eine Dose mit Schrauben und Dübeln direkt daneben. Links befindet sich ein in Stoff eingewickelter Pappkarton, welcher mein Interesse weckt. Aus einem Impuls heraus greife ich danach und ziehe ihn hervor. Der Karton ist mit einem dünnen Tuch abgedeckt und als ich dieses berühre, fühlt es sich an, als würde ein leichter Blitz durch meine Finger strömen. Da es kein durchgängig negatives Echo ist, bin ich zunächst irritiert. Ich lege den Kartoninhalt frei und mir wird klar wieso. Die Kiste ist gefüllt mit Erinnerungen. Fotos von Geburtstagsfeiern, undefinierbaren Knetfiguren und bemalten Steinen. Etwas, was völlig heraussticht. Ich ergreife es und der anhaftende Schatten versetzt mir einen leichten Schlag, der mich trotzdem zusammenfahren lässt. Als hätte ich gegen einen Elektrozaun gefasst. Echt unangenehm.

Ich drehe das handflächengroßes Holzkästchen, das Ähnlichkeit mit der Zeichnung hat, hin und her und entdecke auf der rechten Seite ein kleines, händisch gebohrtes Loch. Es ist möglich, dass es zur Befestigung der Kurbel diente, die den Mechanismus einer Spieluhr in Gang setzt. Es gibt feine Abnutzungsspuren. Kratzer und Schrammen. Es fühlt sich zu leicht an. Als ich die Schatulle öffne, ist sie, wie erwartet leer. Könnte es das sein, was ich suche? Die Überlegungen werden unterbrochen, als mein Telefon zu klingelt. Mit der linken Hand ziehe ich es aus der Jackentasche und starre auf eine unbekannte Nummer.

„Ja?“, entgegne ich.

„Ich habe die Verbindung...“ Danach folgt eine blitzschnell aufgesagte Adresse und Pastor legt auf. Ich schaue irritiert auf das Display meines Handys, welches eben die unbekannte Nummer anzeigte und murmele einen ironischen Plaudermonolog vor mich hin, bis es wieder schwarz wird. Vielleicht belle ich ihn nachher einfach nur an, wenn er meint, mich ranpfeifen zu können wie ein Hund. Ich notiere die Adresse auf einem Block, der auf dem Nachttisch liegt, bevor ich es vergesse und sehe auf die Uhr. Ich stecke das Kästchen in die Jackentasche und verlasse die Wohnung.
 

Ich brauche fast 30 Minuten, bis ich bei der Adresse ankomme und einen Parkplatz gefunden habe. Noch weitere 10 Minuten, bis ich seine Wohnungstür finde, da sie keine namentliche Beschriftung trägt.

„Flohmarkt!“, schmettert er mir entgegen, als sich nach dem Klopfen die Tür öffnet. Sofort dreht sich Pastor wieder um und ist verschwunden. Ich folge ihm in die eher spärlich eingerichtete Wohnung, als ich keine weitere Erklärung oder Einladung zum Eintreten erhalte. Mutmaßlich wohnt er noch nicht lange hier, das würde auch den fehlenden Namen an der Klingel begründen. Ich lasse meinen Blick wandern, nachdem ich bei ihm im Wohnzimmer ankomme. In einer Ecke stapeln sich Umzugskartons mit verschiedensten Aufschriften. Küche. Bad. Schlafzimmer. Ein paar der Kisten stehen geöffnet im Raum und Pastor umschlängelt sie gekonnt, um an seinen Schreibtisch zu gelangen. Vermutung bestätigt.

„Ein paar Möbel würden nicht schaden.“, sage ich nach einem letzten Blick und beziehe meinen Kommentar auf den offerierten Flohmarkt. Pastor sieht verdattert auf und wechselt an den großen Esstisch, der über und über mit Akten bedeckt ist. Zielstrebig schiebt er einen enormen Stapel zur Seite und beginnt, in einem Kleineren zu suchen.

„Das Jugendzentrum veranstaltet am letzten Wochenende jeden ungraden Monats ein Flohmarkt für die Gemeinde.“, berichtet er und ignoriert meinen Ausspruch geschickt. Wieder folgt eine Pause, in der er eifrig in einem der Papierstapel blättert. „Dort treffen auch etliche Vereine und Missionen zusammen.“

„Der letzte war also vor drei Wochen?“

„Ja.“ Erneut entsteht Stille, in der das Geräusch von raschelndem Papier die füllende Konstante gibt. Pastor wirkt unleidlich, aber ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann.

„Soll ich später wiederkommen?“, frage ich foppend, weil ich nicht glaube, dass er sich in diesem Chaos zurechtfinden wird und weil mir danach ist, ihn zu ärgern. Wuff.

„Ich habs ja es gleich…“, kommentiert er, ohne auf meine kleine Provokation einzugehen. Ich hebe eine Augenbraue und sehe mich seufzend ausführlicher um.

Es ist kaum Persönliches in den Räumen auszumachen. Am Eingang zur Küche lehnen ein paar gerahmte Bilder an der Wand, die scheinbar aus der Ermangelung an Hammer, Nägel und Zeit am Boden stehen. Oder an Geschick? Ich gehe darauf zu, um sie mir besser anschauen zu können. Es sind landschaftliche Motive voll satter Farbe und eminenter Intensität. Ein Feld aus Mohnblumen im Mittsommer und das saftige Grün eines vermoosten Waldes im Schatten uralter Bäume. Ich sehe zu dem jungen Detective und frage mich, ob er sie ausgewählt hat. Er wirkt nicht wie ein Naturbursche, der seine freien Tage damit verbringt, Bäumchen zu umarmen. Aber was weiß ich schon. Ich kenne ihn überhaupt nicht und bin selbst oft Opfer überstürzter erster Eindrücke. Auf der Anrichte zur Küche steht die gerahmte Fotografie eines älteren Paares. Sie ist vergilbt und hat deutliche Gebrauchsspuren. Ich vermute, dass es seine Eltern sind oder die Großeltern. Im Hintergrund erkenne ich Zypressen und sanfte Hügel. Sie lächeln.

„Mist, ich weiß nicht mehr, wo ich ihn hingelegt habe...“, durchbricht Pastor fluchend die Stille. Er knurrt leise auf und seufzt laut. Danach zieht er resigniert die Arme hoch und verschränkt sie locker hinter seinem Kopf. Endlich erfolgt die Erklärung. „Es gibt einen Zeitungsausschnitt, den ich vor kurzem gelesen habe, in dem von dem Flohmarkt berichtet wurde. Darin gab es eine Momentaufnahme und ich bin mir sicher, dass darauf die beiden Toten abgebildet waren. Das heißt...“

„... dies wäre ein Aufeinandertreffen.“ Ein erstes, zweites oder drittes Treffen. Egal, was es ist, es ist ein Anfang.

„Richtig!“, bestätigt er enthusiastisch, „Ich erinnere mich auch, dass darin stand, dass es an dem Tag zu Streitigkeiten kam. In dem Artikel bezeichneten sie es als engagiertes Diskutieren, aber ich habe durch ein Gemeindemitglied der Kirche erfahren, dass sie sich fast geprügelt haben. Normalerweise passiert dort sowas nicht.“

„De Lucia und Bakow?“ Ein auffälliger Zufall.

„Vielleicht. Möglich, sie nannte mir keine Namen und es waren noch ein paar mehr involviert. Einer der Stände war wohl heiß begehrt. Es war Nachlass einer älteren Dame, die Unmengen an kleinen Kunstgegenständen besaß. Echte Raritäten zum Teil. Der Nachlassverwalter wollte so Schulden begleichen, die sie bei Gläubigern hatte.“ Seine Ausführung lässt mich aufhorchen. Antiquitäten. Nachlass. Negativ aufgeladene Objekte können dafür sorgen, dass sich darin befindliches Unheil auf die umgebenen Seelen überträgt. Das dadurch hervorgerufene atypische Verhalten könnte einer Besessenheit geschuldet sein und besessene Personen werden oft durch eigenartiges, sonderbares und von der sonstigen Norm abweichendes Benehmen beschrieben. Und das nicht ohne Grund. Die unnatürlichen Energien beeinflussen nicht nur Menschen, sondern auch die Umgebung. Mal offensichtlich, wie mit flackernden Lichtern oder Türen, die aufgehen oder zu schlagen. Mal ist es dezent. So, als würde die Luft um einen herum kälter werden und fühlt sich an, als berührte einen der eisige Hauch des Unheils im Nacken. In meinem Fall materialisieren sich die Schatten. Dunkle Umrisse und Schemen. Von den meisten werden diese Ereignisse gar nicht wahrgenommen und bleiben den dafür Sensiblen vorbehalten. Es ist kein Geschenk, es zu wissen oder zu spüren. Es ist beängstigend.

„Kunstgegenstände. Wie Spieluhren?“, hake ich interessiert nach.

„Was weiß ich. Gut möglich.“, erwidert er skeptisch,spart sich die Frage nach dem Wieso.

„Gab es andere ungewöhnliche Vorkommnisse an dem Tag?“, erkundige ich mich weiter, als sich Pastor seufzend auf seinen Schreibtischstuhl fallen lässt.

„Vorkommnisse?“ Ferner gleiten seine Augen suchend über den vollgestellten Tisch.

„Ja, sowas wie... der Strom fiel aus. Stapel fielen um oder die Toiletten waren plötzlich überschwemmt.“ Während meiner Aufzählung wandert Pastors Augenbraue in die Höhe. Doch er lässt seiner Skepsis nicht die Oberhand. Er denkt einen Moment lang darüber nach und schüttelt verneinend den Kopf.

„Nein. Sowas stand da nicht.“, äußert er ablehnend, „Aber...“ Die Hoffnung kehrt zurück.

„Aber was?“

„Ich meine, dass auf der Aufnahme etwas komisch war...“

„Was genau?“, hake ich energisch nach.

„Darf ich ausreden?“, pariert er ad hoc. Ich presse die Lippen aufeinander und vollführe eine höfliche, auffordernde Geste in seine Richtung. „Für gewöhnlich kann man doch davon ausgehen, dass Fotos für solche Artikel professionell gemacht werden. Nicht wahr?“ Ich erwidere nichts. Er erwartet es nicht. „Bei den Bildern fiel mir auf, dass es an einer Stelle überbelichtet war. Der Bereich war seltsam verschwommen und undeutlich. Sowas würde man doch normalerweise nicht für etwas Offizielles auswählen.“

„Es sei denn, es ist auf allen Bildern. Vielleicht war die Kamera defekt.“

„Sie fragten mich nach ungewöhnlichen Dingen und jetzt belehren Sie mich schon wieder mit logischen Erklärungen? Darauf wäre ich von allein gekommen.“ Den letzten Teil bellt er mir regelrecht zu. Ich hebe abwehrend die Hände.

„Ist ja gut!“, wehre ich ab. Ich glaube, mich zu verhören, aber er gibt daraufhin ein grantiges Knurren von sich.

„Woran denken Sie? Spucken Sie es endlich aus.“, fordert er mich auf. Pastors Stirn legt sich in Falten, sodass der Ernst seiner Frage praktisch in seinem Gesicht zu erlesen ist. Verbissen oder nicht, ich bin mir nicht sicher, wie bereit er dafür ist, meine Annahmen zu hören. Doch mir bleibt nichts anderes übrig.

„Schon mal etwas von Besessenheit gehört?“

„So... wie... in.... der... Exorzist?“ Mit Vorsicht betont er jedes einzelne Wort, um den letzten Teil förmlich auszuspucken. Im gleichen Moment pressen sich seine Lippen aufeinander, so wie ich es vorgemacht habe.

„Theoretisch ja. Praktisch nein. Es ist wesentlich breitgefächerter und in der heutigen Zeit durch etliche medizinisch anerkannten Krankheitsbilder erweitert. Es ist auch kein rein christliches Phänomen, wie es in dem Film rüberkommt. So ziemlich alle Kulturen sprechen von Arten der Besessenheit, die sich in sehr unterschiedlichen Formen manifestieren können.“

„Okay.“ Vorsichtig und langgezogen. Meinen Redeschwall stoppt es nicht.

„Es kann permanent oder temporär sein. Es gibt sogar Dualitäten und Symbiosen“, zähle ich zu begeistert auf, wie mir Pastors entgeisterter Gesichtsausdruck mitteilt.

„Besessenheit?“, wiederholt er und seine Augen verengen sich, so, als würde er dadurch durch den Schleier des Wahnsinns hindurchblicken, der mich in diesem Moment umgibt. Er ist zu dicht, als dass er das je könnte. Ich seufze und ziehe das kleine Kästchen aus meiner Jackentasche, dass ich in de Lucias Wohnung gefunden habe. Mit der flachen Hand strecke ich es ihm entgegen.

„Was ist das?“, erkundigt er sich, sieht zu der Box und zurück zu mir.

„Ich vermute, es war eine Spieluhr. Der Mechanismus fehlt aber und ich weiß nicht, ob das damit zusammenhängt oder ob er schon länger abhandengekommen ist.“

„Also Sie denken, die beiden waren von einer Spieluhr besessen?“ Es muss eine Meisterleistung sein, es nicht höhnend klingen zu lassen. Es gelingt ihm.

„Nicht die Uhr selbst. Das, was in der Spieluhr war, hat sie in Besitz genommen. Sehen Sie das hier?“ Ich strecke ihm die Hand entgegen, deute auf eine Stelle und rede erst weiter, als er sich dichter zu mir heran beugt. „Das sind Reste von weißem Siegelwachs.“ Ich drehe das Kästchen und zeige ihm, dass alle sechs Seiten derartige Spuren aufweisen. Gut zu erkennen sind ebenfalls die leichten Rußreste, die vermutlich von einem Reinigungsritual stammen. Auch die deute ich ihm an „Ich bin sicher, dass hierin etwas durch ein Ritual gebannt war und die Tatsache, dass es geöffnet und vielleicht sogar abgespielt wurde, hat es wieder freigesetzt.“

„Und was bitte?“

„Einen Geist. Dämon... Einhorn. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass de Lucia zuletzt seltsame Symboliken in sein Notizbuch gekritzelt hat. Und diese waren eine interessante Mischung aus früh alttestamentarischen Zeichen und Kabbala. Außerdem hat er dieses Kästchen gemalt, mehrfach und er hat dazu eine Melodie notiert. Das passt zu einer Spieluhr.“ Logisch deduziert. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass das eine klare Fixierung andeutet. „Ich weiß nur nicht, was es für eine Melodie ist, aber das erfahre ich noch.“

„Sie haben sein Notizbuch?“

„Ja, ich fand es in der Wohnung unter der Couch.“ Auch dieses hole ich hervor und entferne vorsichtig die Talismane, ehe ich es Pastor reiche. Sein Blick fällt augenblicklich auf das prägnante Loch inmitten des Buches und wechselt zu den mit chinesischen Schriftzeichen versehenden länglichen Papierstücken, die ich beiseitegelegt habe. Er schaut mich verwirrt an, doch ich winke nur ab. Mehr meiner kryptischen Erklärungen verträgt er nicht. Mit einem seltsamen Raunen schlägt er das Buch auf und durchblättert ein paar der Seiten. Ich helfe ihm auf die Seite mit der Zeichnung zu gelangen und deute auf die vereinzelten Noten. Meine Quelle hat mir bisher nicht geantwortet und wenn wir Pech haben, wird es etwas dauern.

„Okay,“, setzt Pastor an, “...ähm... nehmen wir mal an... dass das tatsächlich eine ...“ Er unterbricht seine Ausführung und sucht nach einem geeigneten Wort. Dabei beginnt sich die Hand, die nicht das Notizbuch hält, leicht zu drehen und zu schwenken. Ein paar gequälte Laute fliehen über seine Lippen und ich warte geduldig, um nicht erneut eine Rüge zu kassieren, weil ich dazwischenrede. „... plausible Möglichkeit wäre.“, endet er und wirkt zufrieden, „Was wären die nächsten Schritte?“ Angenommen? Plausibel? Er hätte genauso gut erfragen können, wann ich aus der Klapse entkam. Wenigstens ist er höflich. Ich schenke ihm trotzdem einen vielsagenden Blick.

„Die Frage ist, ob sie wirklich beide damit in Berührung gekommen sind und was genau da drin gewesen sein könnte“, führe ich aus.

„Also, ob es wirklich das diabolische Einhorn ist...“ Er steckt in der Phase des Lächerlich machens. Damit kann ich umgehen.

„Jein, ich meine eigentlich das konkrete Objekt. Erinnern Sie sich an die Aufnahme? Am Ende schien Bakow irgendwas zu werfen. Es wirkte klein, handlich... Der Mechanismus der Spieluhr vielleicht oder Schmuck. Eine Münze. Was auch immer. Viel wesentlicher ist, dass es jetzt jemand anderes haben könnte.“

„Wenn es wirklich das war, was geworfen wurde.“

„Ja, es könnte auch ein Stein gewesen sein“, gebe ich zu, „Vielleicht sollten wir noch mal dorthin fahren und suchen.“ Ich sehe aufs Handy. Die Gefahr, dass es in andere Hände geraten ist, ist groß und bereitet mir Sorgen. Auch Pastor schaut auf die Uhr und erst jetzt scheint ihm aufzufallen, wie spät es ist. Statt mir zu antworten, sieht er erneut zu seinem Schreibtisch und auf den Berg von Akten. Er seufzt und schließt für einen Moment die Augen.

„Okay. Besser als sinnlos weiter zu grübeln.“, bestätigt er zu guter Letzt und steht auf. Ich stecke die leere Schatulle zurück in meine Jackentasche und nehme ihm das Notizbuch aus der Hand. Sorgsam verpacke ich es wieder in die Schutztalismanen, murmele ein paar präventive Formeln und ignoriere Pastors skeptischen Blick.

Ich warte im Flur auf ihn. Als er endlich fertig ist, hat er eine dicke Akte in der Hand und deutet mir an, vorzugehen. Wir steigen in mein Auto und fahren eine Weile, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Pastor durchsucht die Zettellagen, obwohl er kaum etwas sehen kann. Das unstete Aufblitzen der Straßenlaternen bietet keine nutzbringende Lichtquelle.

„Bakow und de Lucia müssen neben dem Flohmarkt noch ein weiteres Mal aufeinandergetroffen sein, weil...“, beginne ich.

„Weil der eine die Schatulle und der andere das Was-auch-immer-Ding hatte?“, führt Pastor meine Gedanken fort. Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.

„Ja.“

„Aber wie sollen wir das jemals nachvollziehen können? Es ist zu beliebig. Es könnte sonst wo gewesen sein und sonst wann.“ Berechtigter Einwand. So ist das Leben.

„Wenn sie auf dem Flohmarkt damit in Berührung gekommen sind, dann wird der Effekt sich auf beide ausgebreitet haben. Sie wurden von dem Objekt angezogen und werden sicher versucht haben, es sich abzunehmen.“

„Hätten sie sich dann nicht gegenseitig die Köpfe eingeschlagen?“, wirft er berechtigterweise ein, „Es lagen gut acht Tage zwischen den Vorfällen. Das spricht für ein Nacheinander.“ Er hat Recht. Was immer es war, es ist gesprungen. Von einem Körper zum anderen. Doch, wieso ist es bei keinem der beiden Männer geblieben? Warum hat es sie getötet?

„Zwischenwirte“, murmele ich mehr zu mir selbst als zu dem Detective, „Was auch immer es war, es wollte jemand anderen.“

„Heißt was?“

„Die beiden waren nicht die Richtigen.“ Diesmal bekomme ich nur ein schweres Raunen als Antwort. Ich werfe einen Blick zur Seite. Pastor schaut aus dem Seitenfenster und trommelt mit zwei Fingern auf der Akte herum, die auf seinem Schoss liegt. Er schlägt sie wieder auf und beginnt einen weiteren Versuch, das zu finden, was er sucht.
 

Auf einem Mal ist die Gestalt mitten auf der Straße. Mein Fuß prescht auf die Bremse und wir kommen unsanft zum Stehen. Irgendetwas vom Rücksitz prallt geräuschvoll gegen den Fahrersitz und fällt zu Boden.

„Vermaledeit!“, ertönt es neben mir. Pastor schafft es noch, zwei oder drei Blätter festzuhalten, der Rest der vollgepackten Akte rutscht in den schmalen Raum zu seinen Füßen. Doch das ist mir egal. Der Grund des plötzlichen Manövers hat meine volle Aufmerksamkeit. Ein lauter Seufzer ertönt vom Beifahrersitz.

„Hast du deinen Führerschein aus dem Kaugummiautomaten?“ Detective Pastor beugt sich leise mosernd nach vorn und beginnt, die Blätter aufzuklauben.

„Pastor…“, sage ich ruhig, um ihn auf den jungen Mann aufmerksam zu machen, der vor dem Auto aufgetaucht ist. Die schmale Gestalt ist eingehüllt in blutbespritzte Kleidung und starrt ausdruckslos geradeaus. Er nimmt uns nicht wahr. Ich taste schwungvoll nach dem Arm meines Beifahrers, klopfe gegen seine Schulter und dem Schulterblatt. Doch mein Kollege ist mit dem Einsammeln der gelösten Blätter beschäftigt, dass er meine Hand nur abschüttelt.

„Fahr weiter! Ich habs gleich… Letzte Woche hatte ich den Artikel definitiv noch in der Hand“, versichert er mir zum wiederholten Male. Es spielt keine Rolle.

„Ist mir gerade scheißegal!“, erwidere ich absichtlich harsch.

„Wie bitte?“ Pastor schaut auf. Erst zu mir. Doch ich schaue direkt nach vorn. Er folgt meinem Blick und trifft sofort auf die Gestalt, die regungslos vor dem Wagen steht. Die Akte gleitet aus seiner Hand und wieder flattern etliche Papiere in den Fußraum des Beifahrersitzes.

„Izan…“, entflieht ihm der Name des Jungen. Laut genug, dass es scheinbar auch nach draußen dringt. Denn der Jugendliche erwacht in diesem Moment aus seiner Starre. Pastor öffnet die Tür und mit nur wenigen Schritten erreicht er den unvermittelt zitternden Körper. Ich folge ihnen nach draußen, aber mit mehr Ruhe und bedachten Blicken in die Umgebung. Es ist menschenleer. Ungewöhnlich für einen späten Nachmittag. Nichts ist zu hören. Nur die Stimmen der Natur und der Stadt. Ich habe keine Ahnung, wo der Heranwachsende hergekommen ist und was er in dieser Gegend verloren hat. In dem Viertel ist es gefährlich.

Als ich näher an den Jungen herantrete, wird das Ausmaß der blutigen Spuren deutlicher. Die Unmengen an Spritzer, die an seiner Kleidung und an seinen Händen haften, sprechen für eine große Menge Blut. Aber er scheint nicht verletzt.

„Luis…ich habe…“, flüstert der Junge. Seine Stimme begleitet ein angsterfülltes Zittern und dann bricht er vollends in Tränen aus.

„¿Izan, estas herido? Izan! Atme! Sieh mich an. Bist du verletzt?“ Es folgt ein ruckartiges Kopfschütteln, als der Jugendliche die Frage nach eigenen Wunden verneint. Die Tränen hinterlassen blasse Spuren auf seinen verschmutzten Wangen. Ein Wimmern flieht über seine verkrusteten Lippen. Ein Schluchzen folgt und erstickt. Ich greife nach seinem Arm, berühre ihn nur minimal und zucke sofort zurück. Für den Bruchteil einer Sekunde färbt sich alles um ihn herum schwarz. Mein Puls beschleunigt sich und dieses ganz bestimmte Gefühl bricht hervor. Es sitzt tief und augenblicklich schaltet sich alles in mir auf Obacht. Es folgen ein paar Worte auf Spanisch, die mich zurück aus der Dunkelheit holen. Ich vernehme sie nur dumpf, aber es reicht aus. Pastor zieht den jungen Mann endlich zur Seite und von der Fahrbahn. Weitere Träne malen bizarre Muster in seinem Gesicht, während der Kollege beruhigend auf ihn einredet. Im Moment ist er mehr Freund und nicht Polizist. Es ist nicht hilfreich, denn ich spüre unentwegt, wie sich die Härchen in meinem Nacken aufrichten und wie meine Ohrläppchen zu kribbeln beginnen. Etwas stimmt nicht.
 

Ich beobachte Izans gequältes Gesicht, der stotternd zu erklären versucht, was passiert ist. Wortfetzen jagen Phrasen. Nur unnützes Zeug verlässt seinen Mund, was zu dem von Tränen, Schluchzen und unverständlichem Nichts unterbrochen wird. Ich tippe Pastor auf die Schulter und suche seine Konzentration. Sein Blick huscht kurz zu mir und sofort zurück zu dem Jungen. Dennoch hat er verstanden. Er greift nach dessen Händen, um ihn besser zu fokussieren. Sie sind dreckig, doch ich erkenne nicht nur Blut, sondern ebenso getrockneten Schlamm und Erde daran. Die Adern an den Fingergliedern treten deutlich hervor und sind ungewöhnlich dunkel. Izan entfliehen weitere spanische Gebetsphrasen und er lässt seine Augen geschlossen. Mittlerweile hat es angefangen zu nieseln.

„Izan, bitte... du musst uns sagen, was passiert ist. Verstehst du? Izan?“, versucht Pastor es erneut. Er muss auf den Punkt kommen. Irgendwoher ist das Blut hergekommen und diese Person liegt sterbend am Boden. Wenn sie nicht schon tot ist.

„Hey, konzentriere dich. Wo kommt das Blut her?“, mische ich mich ein und packe ihn an den schmalen Schultern. Der Körper des Jungen versteift sich in meiner Berührung. Izans Blick bleibt starr auf Pastor gerichtet und nur langsam schaut er zu mir. Wieder durchdringt mich ein inneres Beben, doch ich lasse ihn nicht los. Da ist ein Flackern und für einen Atemzug wird das dunkle Braun seiner linken Iris blau. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Eine einseitige Verfärbung der Iris, echot es durch meinen Kopf mit aufblitzenden Erinnerungen. Leider kriege ich den Funken nicht gefasst.

„Izan, bitte, wir müssen wissen, von wem das Blut ist“, versucht es Pastor mit sanftmütiger Stimme weiter.

„Pablo…“, antwortet er flüsternd. Ich schaue zu dem anderen Detective und sehe ihn verstehend nicken. Er weiß, von wem er spricht. Wer ist Pablo? Kurz sieht er zu mir, weil ich ihm meinen fragenden Blick förmlich aufzwinge.

„Ein Hund“, sagt er schlicht und ich atme hörbar aus. Nicht schön, aber immerhin kein toter Jugendlicher. Izan streckt seine Hand aus und deutet ohne ein weiteres Wort in den Hinterhof eine der Baracken.

„Bleibt hier. Ich gehe allein“, sage ich und der zweite Teil klingt wie eine Anweisung.

„Warte...“, sagt Pastor und hält mich zurück, „Vielleicht sollten wir... Verstärkung holen!“

„Und mit welcher Begründung?“ Für einen toten Hund? Einen gruseligen und verdreckten Jungen? Ich spare mir jeden Kommentar. Ich habe mir abgewöhnt, in solchen Situationen über die üblichen Polizeivorschriften nachzudenken. Okay, hier sind zwei Polizisten in einer unangenehmen Lage, aber Verstärkung brächte nur weitere Menschen in Gefahr, was ich unbedingt vermeiden möchte, wenn hier etwas von den Varianten passiert, an die ich denke. Mehr Personen bringen hier leider keinen Vorteil.

Pastor schluckt seinen Protest runter. Er tastet unruhig nach seinem Handy und legt dabei seine Dienstwaffe frei. Doch bevor er es benutzen kann, springt der Junge hastig auf, knurrt und schlägt das Telefon mit einer schnellen Bewegung aus Pastors Händen. Es klirrt und das Gerät zersplittert auf der Straße.

„Was zum...“, entflieht es Pastor erschrocken. Doch er schafft es nicht, gegen die energetische Welle anzukommen, die uns plötzlich trifft. Mit einem Ruck wird er ohne körperliches Zutun über den Boden geschoben und endet an einer der nicht funktionierenden Straßenlaternen. Ein schriller Laut entkommt der Kehle des Jungen. Seine Augen färben sich komplett schwarz und ich gehe in Deckung, ehe eine Mülltonne in meine Richtung fliegt. Sie kollidiert mit der Hauswand. Der Krach ist enorm. Plastik splittert. Scharniere bersten. Eines der Räder rollt über den Bürgersteig und kommt neben dem Auto zum Liegen. Die Kräfte, die eben wirkten, sind gewaltig gewesen und das gigantische Dunkel trübt augenblicklich meine Sinne. Es ist wie ein beißender Schmerz und ein summender Schatten, der sich meiner kurzzeitig bemächtigt. Ich halte mich geduckt und kann nur aus dem Augenwinkel heraus sehen, wie der Junge in den Hinterhof verschwindet. Der Schatten begleitet ihn.
 

~Fortsetzung folgt~



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  chaos-kao
2024-01-12T22:05:18+00:00 12.01.2024 23:05
Super spannend! Und Pastor reagiert überraschend ... gefasst? Ich freue mich gerade sehr, dass das nächste Kapitel schon online ist. Ist ein fieser Cliffhanger! :D


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