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Stichflamme

Der Aufstieg des Phönix
von

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Zwischen Heute und Morgen

Minerva hätte gerne gesagt, dass es ihr nichts ausmachte, die Veränderungen in der Winkelgasse zu bemerken. Eine ganze Woche war sie im St. Mungo geblieben, die Hälfte der Zeit ohne Bewusstsein. Aber selbst nach ihrem Erwachen hatte sich alles so ... fern von ihr angefühlt.

Geschützt von den Mauern des Hospitals war jede Nachricht über mysteriöse Tode, neue Unruhen – diesmal seitens der Squibs – oder Eilerlasse des Ministeriums letztlich nur Druckerschwärze auf Papier gewesen. Doch die sonst so beliebte Einkaufsstraße im Herzen Londons war der erste handfeste Beweis für die Auswirkungen von Lord Voldemorts Angriff auf die magische Ordnung.

Trotz ihres inneren Friedens wirkte es für Minerva, als hätte man ihr eine Brille mit beschlagenen Gläsern aufgesetzt, die alle Farben dämpfte. Wo sie auch hinsah, sprangen sie Spuren der Ausschreitungen vor einer Woche an. Stellenweise waren Schaufensterscheiben notdürftig mit Zauberband geflickt, während manch bunte Fassade unter schwarzen Rußspuren verschwand. Läden, vor denen sonst immer randvolle Warenkörbe gestanden hatten, beschränkten sich nun auf den Verkauf über die Theke. Und wo einst Werbeplakate für zaubrische Theateraufführungen, Duelliervereinigungen oder die neusten Wundertränke geprangt hatten, hingen offizielle Fahndungsplakate.

Selbst das sonst so unantastbare Gringotts schien verändert. Auf den Treppen standen zum ersten Mal seit Minervas Gedenken Wächterkobolde, ihre glänzenden Krummsäbel sicher mehr als leere Drohungen.

Auf ihrem Weg zu Madam Malkins’ Umhanggeschäft ließ Elphinstone einige Kommentare über den Kampf in der Winkelgasse fallen – zum Beispiel erwähnt er die Gruppe von Randalierern, die der Inhaber des Kesselladens in seinem größten Familienkessel (für 12 Personen) eingesperrt hatte. Oder jene, die von einem ganzen Schwarm fliegender (und bissiger) Bücher aus Flourish & Blotts vertrieben worden waren. Besonders stolz war er auf seinen Einfall, die mit Vampirzähnen ausgestatteten Gewächse aus dem Herbologiehimmel zu nutzen, um eine Straßensperre zu errichten. Gleich mehrere Angreifer hatte er darin eingefangen (und so entdeckt, dass der Biss dieser Pflanze einen vorübergehend Wurzeln schlagen ließ – im wahrsten Sinne des Wortes).

Aber nicht alle Erzählungen muteten derart lustig an. Auf dem Vorplatz der Bank hatte das erste Mal ein Feuerknaller Elphinstones Umhang in Brand gesteckt und anschließend hätte ihn beinahe eine Horde verfluchter Klatscher von Qualität für Quidditch außer Gefecht gesetzt. Über die angespannten Minuten, die er zusammen mit den Kobolden Gringotts’ Eingangshalle verteidigt hatte, wollte Minerva am liebsten gar nichts hören. Sie war einfach froh, dass Granduk gerade im rechten Moment aufgetaucht war.

Wenn er nicht gewesen wäre ... womöglich hätte Elphinstone dann weitere Verletzungen erlitten. Gefährlichere. Irgendwer hatte laut seinen Schilderungen angefangen, kleine Phiolen voller ätzender Tränke in die Menge zu werfen, just als der Kobold aus dem Nichts erschienen war. Die Flucht davor hinter einen der Bankschalter hatte sie beide unfreiwillig zusammengeführt – und so dafür gesorgt, dass Elphinstone hörte, wie Granduk seinen Kollegen vom Überfall auf das Ministerium berichtete. Einmal mehr erfüllte Minerva Dankbarkeit, dass sich alles – wie von Zauberhand – zu ihren Gunsten gefügt hatte.

Wenigstens gab es aus Madam Malkins’ Geschäft keine unerfreulichen Geschichten zu berichten. Im Gegenteil, hier schien die Horde überhaupt nicht gewütet zu haben. Die Roben hingen ordentlich aufgereiht entlang der Wände, keine Falte in Sicht. Das einzig Ungewöhnliche war die Leere an einem Samstagvormittag, aber das galt für die ganze Winkelgasse. Dementsprechend motiviert stürzte sich die Verkäuferin auch sogleich auf Minerva.

Binnen Minuten stand sie mit nicht weniger als sieben Umhängen auf einem Podest mitten im Raum. Vielleicht hätte es sogar Spaß gemacht, sie alle anzuprobieren – wenn in der Reflexion des Spiegels vor ihr nicht die zerstörte Apotheke auf der anderen Straßenseite so präsent gewesen wäre. Ein Fluch hatte ein riesiges Loch in das einst malvenfarbene Dach gesprengt und man sah immer noch die Spuren der Leuchtfarbe, mit denen »Squibs enteignen!« auf das Türschild geschmiert worden war.

Als Elphinstone vorschlug, sie solle eine Nacht über ihre Anschaffung schlafen, ergriff Minerva die Chance zur Flucht liebend gerne. Kaum draußen auf dem Pflaster, in dessen Ritzen immer noch vereinzelte Scherben glitzerten, brauchten sie nicht ein Wort wechseln. Sie wollten fort, so viel stand fest. Es überraschte Minerva nur, dass Elphinstone einmal im Tropfenden Kessel angelangt keinen der Reisekamine ansteuerte, sondern die Tür. In die Muggelwelt.

Plötzlich standen sie am Rande einer vielbefahrenen Straße, er in schottischer Tracht, sie in ihrem Umhang. Ein paar neugierige Blicke wurden ihnen zuteil, aber dann hasteten die Menschen schon weiter. Das war der Vorteil an den Muggeln. Sie waren immerzu so beschäftigt, dass keine Zeit für Fragen blieb. Einen Augenblick lang besah Elphinstone sich seinerseits das Chaos, bevor er sie bestimmt nach links zog.

»Ähem ... was machen wir hier, Phin?«

»Einen Einkaufsbummel, was denn sonst? Wir wollten Zerstreuung, wir bekommen Zerstreuung!«

Mit erhobenen Augenbrauen besah Minerva die Geschäfte entlang der Muggelstraße. Eines für Handtücher aller Größen und Farben, eines für überteuerte Küchengeräte mit exakt einem Nutzen, eines für ulkige Teekannen in unhandlichen Formen –

»Guck mal! Ein ganzes Geschäft nur für Regenschirme!« Elphinstone strahlte wie zuletzt bei ihrer Observation in Leeds, als er näher an das besagte Schaufenster pirschte. »Schon praktisch, wie klein die Muggel solche Dinge bekommen«, brummte er, den Blick auf einen Drehständer mit Taschenknirpsen gerichtet. Dann erspähte er die Teekannen nebenan, von denen eine doch tatsächlich aussah wie eine Telefonzelle. »Ooooh ...«

Bevor Minerva etwas sagen konnte, hatte er sie dorthingezogen. Aber das war in Ordnung, genau wie die Musterung der Passanten. Auf dieser Seite des Tropfenden Kessels erinnerte immerhin nichts an die furchtbaren Wochen, die hinter ihnen lagen. Allein das war genug, um sich auf einer belebten Straße mitten in London frei wie in den Highlands zu fühlen.

Lächelnd hakte sie sich bei Elphinstone ein, der jeden Laden voller Interesse unter die Lupe nahm. Es war schön, dass sie ihm mit ihrem Wissen über die Muggelwelt zur Seite stehen konnte – und beim Bezahlen, wenn er mal wieder mit den vielen Münzen durcheinanderkam. (Nicht, dass das noch häufig geschah. Er lernte schnell und mit Begeisterung.)

Erst nachdem sie ein Fachgeschäft für Elektrogeräte erreichten, war ihr Latein am Ende. Von überall flimmerte und brummte es. Der Geruch in der Luft erinnerte an Detective Hammonds Muggelmagie. Ein bisschen roch der Elektrosmog nach verbrannter Zauberenergie, aber der Duft – oder eher Gestank – des kalten Kaffees dazu fehlte.

Inmitten dieser technischen Wunder fühlte Minerva sich ausgerechnet an ihren ersten Besuch in der Winkelgasse erinnert. Die Muggelgeräte verzauberten sie ebenso wie damals der Anblick eines Besenfachgeschäfts. Im Alter von elf Jahren hatte sie mit großen Augen beobachtet, wie in Qualität für Quidditch die Bremszauber an einem Sauberwisch erneuert wurden, dieses Mal erstaunte sie der geöffnete Fernsehapparat, an dem der Verkäufer hinter der Ladentheke schraubte. Es war ihr unbegreiflich, wie all die Bauteile funktionierten, doch genau diese Wissenslücke reizte sie. Nur ihre Würde verhinderte, dass sie jeden Knopf an den Ausstellungsstücken derart unverhohlen ausprobierte wie Elphinstone.

»Was meinst du«, fragte dieser halblaut, »verträgt sich so ein Fernseher mit Magie?« Er bog eine lange Antenne zur Seite, die umgehend wieder in Position schnappte.

Sie starrte ihn mit verschränkten Armen an. »Das Ding kostet 500 Pfund! Das sind ... viele Galleonen. Willst du es nicht lieber beim Angucken belassen?«

Erneut ließ Elphinstone die Antenne schnalzen. »Nun, wenn mich die letzten Wochen eines gelehrt haben, dann, dass wir magisch Begabten diese Welt nicht unterschätzen sollten. Welch besseren Weg gibt es, sie im Auge zu behalten, als so eine kleine Flimmerkiste? Da bekommt man jeden Tag neue Nachrichten frei Haus geliefert. Ich hab mich informiert.«

»Dir ist das ernst!«

»Natürlich.« Elphinstone wackelte stärker an der Antenne des Anschauungsmodells, sodass der Bildschirm im Sekundentakt zwischen einem Film und schwarz-weißem Ameisengewirr hin und her wechselte. »Tatsächlich überlege ich schon seit Leeds darauf herum. Ich will nicht dieser Reinblüter sein, der komplett in seiner eigenen Welt lebt. Ich dachte, ich wäre schon anders, aber ... neben dir fühle ich mich ziemlich unbeholfen.«

»Du musst das nicht für mich tun –«

»Tue ich auch nicht. Ich tue es für mich. Weil ich besser sein möchte. Und weil ich wirklich gerne noch mal diese Sendung mit der Notrufzelle sehen würde. Also, glaubst du, das verträgt sich mit der Magie in meiner Wohnung?«

Sie wusste es nicht. Von daher gab es nur eine Option – einen Feldversuch. Zum Glück lag dem Gerät eine Bedienungsanleitung bei, wie der Verkäufer mehrmals betonte. Dabei warf er ihnen Blicke zu, die besagten, dass er Zweifel daran hatte, ob das ausreichte. Aber natürlich kam es nicht in Frage, den Installationsservice in Anspruch zu nehmen, egal wie lebhaft der Mann dieses Angebot bewarb.

Einmal in Elphinstones Wohnung angelangt, stellte sich allerdings heraus, dass jene Anleitung, dick wie eine Enzyklopädie, eine Menge Begriffe voraussetzte, mit denen sich Minerva noch nie herumgeschlagen hatte. Und überhaupt lagen dem Kasten reichlich viele Kabel bei, die alle seltsame Enden hatten ...

Dass es ihnen nach einigen Anläufen tatsächlich gelang, das Ding an den Strom anzuschließen (den es in Elphinstones überwiegend nicht-magischem Wohnhaus zum Glück gab) grenzte an ein Wunder, erfüllte sie dank diverser, kreativer Zauberkniffe jedoch ebenso mit Stolz.

Beinahe so andächtig wie Elphinstone saß sie nun auf dem Parkett und sah einem gezeichneten, pinken Panther dabei zu, wie er eine Art weißen Cartoon-Mann ärgerte. Immer wieder übertrumpfte das Tier den Menschen mit einer absurden Aktion nach der anderen. Aber das war nicht alles. Auf den übrigen Sendern gab es viel mehr zu entdecken. Sport, Nachrichten, Filme voller Fantasie ... Mit einem Klick auf die Fernbedienung – die fast wie ein kleiner Zauberstab war – eröffneten sich immer neue Welten.

Eine ganze Weile hockten sie so vor dem Schemel, auf dem der Fernseher neben Bücherregalen und Kamin thronte. Erst als sich der Protest ihrer Knie nicht mehr ignorieren ließ, zogen sie vom harten Boden auf die bequeme Couch um. In eine Decke gewickelt, Tee und Kekse neben sich, versanken sie ganz in der Faszination der Muggelfantasie.

Besonders eindrücklich war eine Serie über die Abenteuer eines Raumschiffs und seiner Besatzung, die – so der Einleitungstext – in Galaxien vordrangen, welche nie ein Mensch zuvor gesehen hatte. Das Erforschen neuer Planeten gestaltete sich keineswegs ungefährlich und doch schafften die Crewmitglieder es immer wieder, Probleme friedlich zu lösen.

»Glaubst du, die Muggel werden es eines Tages wirklich so weit bringen? Oder ... wir?«, fragte Elphinstone am Ende einer Folge leise.

Minerva zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, wenn wir zusammenarbeiten würden ...«

Zustimmend brummte er. »Nun, aber das steht im Moment wohl außer Frage. Schade eigentlich. Ich wüsste gerne, welche Geheimnisse das Universum so bereithält.«

Die Sonne war schließlich lange untergegangen, da wünschte ihnen die Nachrichtensprecherin eine gute Nacht und bat sie, auch morgen wieder einzuschalten. Darauf folgte nicht etwa das nächste Programm, sondern ein anhaltender, durchdringender Piepton, der nicht verschwinden wollte. Anstatt eines Bildes gab es nur noch komische bunte Kästchen zu sehen.

»Das ist dann wohl ein Zeichen«, meinte Elphinstone. Gähnend streckte er sich, sodass Minervas gemütliche Position in Schieflage geriet.

Unsicher richtete sie sich auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie mit dem Kopf fast auf seinem Schoß gelegen hatte. Vermutlich wäre sie ohnehin bald eingeschlafen, hätte es nicht dieses unsanfte Ende gegeben.

»Bei Merlin, es ist schon zehn ...«, stellte Elphinstone mit Blick zur Uhr fest. »Wo ist die Zeit nur hin? Haben wir wirklich den ganzen Tag vertrödelt?«

Sie verbarg die warmen Wangen in der Decke über ihren Schultern, während sie sich daran machte, ihre derangierte Frisur zu richten. »Ich finde Zeit mit dir nicht verschwendet.«

»Oh Merlin bewahre, ich doch auch nicht! Aber jetzt hast du keinen neuen Umhang bekommen.«

»Halb so schlimm, das kann man nachholen.«

»Oh und wie! Das schwöre ich dir bei Salazar Slyth- oder meinetwegen auch Godric Gryffindor. Ich lasse es mir nicht nehmen, dein Shoppingbegleiter zu sein. Also, soll ich dir die Couch im Arbeitszimmer in ein Bett verwandeln? Oder machst du das lieber selber?«

»Ah ...« Eine Haarnadel zwischen die Zähne geklemmt, hielt Minerva inne. »Du willst ... dass ich bleibe?«

»... ja? Es ist spät. Wo wolltest du denn heute sonst noch hin?«

Die Wärme in ihren Wangen wandelte sich in Hitze. »Nun, also –« Etwas zu fest stach sie die Nadel zurück in ihr Haar. »Das ist wohl mein Fehler. Ich habe keinen Gedanken daran verschwendet, als Archie heute Morgen sagte, ich könne gehen. Aber bei meinen Eltern wäre ich natürlich jederzeit willkommen ...«

»Alles klar. Dann bringe ich dich gerne hin. Du solltest dich schließlich nicht mit dem Apparieren überanstrengen.«

Schon war Elphinstone aufgestanden und langte nach seinem Umhang, der über der Lehne eines Sessels hing. Minerva gab ihre Frisur auf und ergriff stattdessen seinen Hemdsärmel.

»Nein.« Vehement schüttelte sie den Kopf, dass es die eben erst gerichtete Haarnadel wieder lockerte. »Wenn ich darf, dann ... nehme ich lieber die verwandelte Couch.«

 

Eben jene improvisierte Schlafstätte geriet durch Elphinstones Zauber sehr bequem, fast so wie ihr Bett in Hogwarts. Zusammen mit ihrem liebsten Nachthemd, das Minerva noch vom Aufenthalt im St. Mungo bei sich trug, fühlte es sich beinahe wie zuhause an, sobald sie einmal darin lag. Und doch reichte es nicht, sie einschlafen zu lassen.

Immer wieder fielen ihr die Augen zu, nur damit ein plötzlicher Gedanke, ein Bild, ein Geruch, eine Erinnerung in ihr aufflammte und alles zunichtemachte. Die Eindrücke blieben nie länger als ein paar Sekunden, zu schnell fort, um sie zu greifen. Aber genug, damit der Schlaf vor ihr entfloh. Eine gefühlte Ewigkeit starrte sie in die Dunkelheit des Arbeitszimmers – und diese zurück. Sie vermisste die Schlaftränke aus dem Hospital so sehr, wie sie diese hasste.

Wenn es denn wenigstens Angst gewesen wäre, die sie wachhielt. Ein Albtraum, aus dem man verschwitzt aufwachte, aber im Mondlicht erkannte, dass alles gut war. Dann hätte sie immerhin weinen können. Oder schreien. Vielleicht auch beides. Stattdessen drehten sich ihre Gedanken in wilden Schlaufen umeinander, ein endloser Reigen aus Fragen.

Was würde sie als Nächstes tun? Konnte sie das Schlimmste überhaupt noch abwenden? Wie würde sie es ertragen, weiterzukämpfen? Würde sie Elphinstone wieder in Gefahr bringen? Und vor allem – könnte sie damit leben, ihn zu riskieren?

Ihre Überlegungen legten eine neue Schleife ein. Ob Elphinstone wohl schon schlief? Erging es ihm besser? Oder plagten ihn womöglich ganz andere Bedenken? Lag er ebenfalls wach?

Die vergangenen Nächte im St. Mungo hatte er immerhin ständig an ihrem Bett gesessen. War das Letzte und Erste gewesen, was sie am Tag gesehen hatte. Sie war verwöhnt von dieser Nähe; all jenen Momenten, in denen der Alltag mit sämtlichen Verpflichtungen nur wie eine ferne Regenwolke am Horizont gewirkt hatte.

Doch für immer konnte sie nicht so tun, als lebe sie ein Abenteuer; jeder Tag unberechenbar und sie ein Spielball des Geschehens, mit Elphinstone als einziger Konstante im Sturm der Ereignisse. Bald musste sie zurück in die Schule. Irgendwie weiter ihr altes Leben führen ...

Aber nicht jetzt.

Sie hielt es nicht mehr aus. Im Schein ihres Zauberstabs schlich sie zurück ins Wohnzimmer. Aus Richtung des Schlafzimmers war kein Geräusch zu hören, weder Schnarchen noch unruhiges Umherwälzen. Falls das Licht an war, so drang jedenfalls nicht die geringste Spur davon unter dem Türschlitz hervor. Minervas Schultern sanken herab. Sie hoffte inständig, dass Elphinstone im Gegensatz zu ihr Ruhe gefunden hatte.

Seine neuerworbene Teekanne in Form eines Wählscheibentelefons stand noch halbvoll auf dem Couchtisch, sodass es nur einen kleinen Wärmezauber brauchte, damit sie zumindest ein dampfendes Getränk hatte. Mit angezogenen Knien sank sie auf das Sofa vor den Erkerfenstern, ihren Blick ins dunkle Mayfair gerichtet.

Leichter Regen hatte irgendwann in den letzten Stunden eingesetzt. Sein beständiges Klopfen gegen das Fensterbrett verhieß etwas Tröstliches, genau wie die Aussicht auf das gewöhnliche Muggellondon.

Selbst so spät nachts trotzten die ein oder anderen Stadtbewohner dem Wetter. Minerva sah einen alten Mann seinen Hund ausführen, eine junge Frau mit ihren Pumps unter dem Arm den Pfützen ausweichen und ein Liebespaar Küsse im Schutz ihres Regenschirms austauschen.

Zu jedem davon entspannte sich ganz automatisch eine Geschichte in ihrem Kopf. Sie überlegte, wohin die Menschen wohl gingen – welche Sorgen sie umtrieben. Womöglich eine schwere Krankheit, die sie nicht sah. Oder ein tragischer Verlust, gut verborgen unter einem Lächeln.

Es wäre eine Illusion gewesen, anzunehmen, dass die Muggel ein simpleres Leben führten, nur weil sie frei von dem Wissen um die Unruhen der magischen Welt waren. Auch wenn Minerva es ihnen gewünscht hätte. Wenigstens irgendwer verdiente Leichtigkeit.

Nach einer ganzen Weile der Beobachtungen war ihr Tee leer, nur ihre Gedanken nicht. In Ermanglung einer Beschäftigung für ihre Hände schrank sie in ihre Animagusform zusammen. Manchmal war das Nichtstun einfacher zu ertragen, wenn man klein war und sich fester zusammenrollen konnte als ein Niffler, der seine Beute festhielt. Genauso war es auch diesmal. Erleichtert seufzte sie – nur dass es in Form eines Maunzens aus ihrer Kehle schlüpfte.

Den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet, beobachtete sie eine einsame Ratte, die über den Gehweg huschte. Mit ihrer menschlichen Sicht wäre ihr der kleine Nager kaum aufgefallen. Jetzt hingegen konnte sie beinahe die Schnurrhaare des Tiers zittern sehen.

Tief in ihr drinnen regte sich der animalische Kern ihres Animagus. Erst waren es nur ihre Ohren, die sich wachsam aufrichteten, dann zuckte ihre Schwanzspitze. Ein sorgsam in ihren Verstand gekleideter Instinkt spannte jeden Muskel ihrer Tierform an.

Normalerweise schlug das Animagusherz im Einklang mit Minervas. Über die Jahre hinweg hatte sie gelernt, ein Gleichgewicht zwischen den beiden Formen ihres Seins zu finden. Ohne den wilden Stolz der Katze, der schon immer in ihr geschlummert hatte und der trotzdem erst durch die Verwandlung richtig erwacht war, würde sie nicht die Gleiche sein. Aber jetzt überwältigte sie der Jagddrang in ihrer Brust nahezu. Dabei wollte der Animagus sie nur schützen, von den anderen Gedanken fortlocken ...

Ihre Krallen versanken in der Rückenlehne des Sofas. Ein Brummen erfüllte die Luft. Es dauerte einen Moment, bis Minerva es als ihren eigenen Laut identifizierte. Irgendetwas zwischen Miauen und warnendem Grollen. Vielleicht auch ein leises Schluchzen, für das es keine katzenhafte Entsprechung gab.

Mit aller Macht drückte sie den Kopf unter ihre Pfoten und schlang den Schwanz so fest um ihren Körper, dass er sie an der Nasenspitze kitzelte. Zum ersten Mal seit Jahren konnte sie deutlich spüren, wie zwei Herzen in ihrer Brust schlugen. Lauter als der Regen und trotzdem eigenartig beruhigend.

»Minerva ...?«

Ihre Ohren reckten sich wieder. Leise Schritte kamen näher, sie hörte das Tappen blanker Haut auf Parkett.

»Was ... machst du hier?«

Müde blinzelte sie ins Dunkel.

Elphinstone – in einen Flanellpyjama gekleidet – kniete sich vor das Sofa, auf einer Höhe mit ihrem Kopf. Er hielt eine Hand ausgestreckt, berührte sie allerdings nicht. »Alles in Ordnung?«

Die Sorge in seiner Stimme klang dank ihrer feinen Katzensinne womöglich noch lauter. Sie stieß einen unbestimmten Ton aus. Das zweite Herz raste weiterhin in ihrer Brust, doppelt so schnell wie ihr eigenes. Alleine bei dem Gedanken an eine Rückverwandlung ächzten ihre Muskeln.

»Ich nehme das mal als nein«, sagte Elphinstone sanft. Er senkte die Hand und lehnte sich gegen das Sofa. »Ist es okay, wenn ich hierbleibe?«

Sie nickte.

»Hattest du einen Albtraum?«

Sie bewegte den Kopf zu beiden Seiten.

»Das ist ... gut, schätze ich?«

Wieder entschlüpfte ihr ein Maunzen.

»Ich kann auch nicht schlafen«, erwiderte Elphinstone. »Irgendwas hält mich wach. Vermutlich hat sich mein Körper noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass er sich wieder ausruhen kann. Oder die vielen Wachmachtränke die Woche über sind schuld.« Sein Blick glitt an ihr vorbei zum Fenster. »Nach allem, was wir erlebt haben, ist es wirklich schwer, sich daran zu erinnern, dass nicht das ganze Leben so ein Ausnahmezustand ist.«

Ein tiefes Seufzen erzitterte Minervas Schnurrhaare. In ihren Katzenohren wirkte Elphinstones Stimme noch beruhigender als ohnehin. Ihm zuzuhören glich einem heißen Bad voller Lavendelschaum. Schon vergaß sie den Animagusherzschlag ...

»Macht die Tierform es für dich erträglicher?«, fragte er leise.

Am liebsten hätte sie mit den Schultern gezuckt. Aber es gab Grenzen ihrer veränderten Physiologie. Ersatzweise schwenkte sie den Schwanz von links nach rechts.

»Mhhh.« Elphinstone bemerkte ihren Teebecher und schenkte sich selber ein. Schweigend nahm er ein paar Schlucke. »Weißt du, ich habe mich immer gefragt, welches Tier wohl in mir schlummert. Meinst du, es stimmt, dass der Patronus meist ein Abdruck desselben Wesens ist? Wenn ja, dann ...« Er gluckste leise. »Weiß ich auch nicht, ob ich das wollen würde. Aber wenn ich ehrlich bin, hätte ich sowieso zu viel Angst vor dieser Verwandlung. Da kann so viel schiefgehen ... Ich bin immer wieder beeindruckt, dass du das schon mit 17 gemeistert hast.«

Minerva richtete sich langsam auf. Trotz ihrer Verkrampfung war die Bewegung elegant wie immer. Mit einem Satz hüpfte sie von der Sofalehne zurück auf die Sitzfläche. Es brauchte den gewohnten Wimpernschlag, dann saß sie wieder im Nachthemd da. »Du könntest der Erste sein, der als Animagus eine Pflanze anstatt eines Tieres hat«, schlug sie mit kratziger Stimme vor.

»Oh Merlin. So besonders bin ich ganz sicher nicht!« Aber Elphinstone lachte, als er vorsichtig die Hand streckte und über ihr Haar strich.

»Dein Zauberstab sagt etwas anderes. Wie viele Menschen kennst du, die einen pflanzlichen Kern haben?«

»Na, das war ja ganz offenbar ein Exemplar von der Resterampe, von daher wundert es mich nicht, dass dieses Konzept nicht sonderlich weit verbreitet ist. Und wenn ich dich daran erinnern darf – mein Patronus ist keine Pflanze.«

»Weiß ich doch, weiß ich doch.« Sie zog ihn zu sich auf die Couch. »Aber für mich bist du besonders.«

»Ach Min, du verstehst es wirklich, mein Herz verrückt zu machen.« Er schob eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. »Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, wie wunderschön du mit offenen Locken bist?«

»Nicht in genau diesen Worten.«

»Dann sage ich es dir jetzt. Du bist wunderschön. Ich schätze mich wirklich sehr glücklich, dass ich dich so sehen darf.« Sanft küsste er sie auf die Stirn. »Ich hoffe, es war nicht zu viel verlangt, dass ich dir angeboten habe, die Nacht hier zu verbringen? Ich will nicht, dass die Situation dich belastet.«

Dankbar für dieses Verständnis seufzte sie. »Es ist einfach nur schwer, einzuschlafen. So ganz ohne Tränke. Ich will nicht abhängig werden, aber es war definitiv einfacher im Hospital. Jetzt sind meine Gedanken so ... laut.«

»Ein bisschen konnte man das hören ...« Elphinstones Augen funkelten im Licht der fernen Straßenlaternen, als er sie anlächelte. »Zum Glück, wenn ich das sagen darf. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du still leidest, wenn ich doch ganz in der Nähe bin.«

Verlegenheit schnürte ihre Brust ein. Anstatt dem Gefühl die Oberhand zu lassen, heftete Minerva ihren Blick auf ihn. »Entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken. Die Verwandlung hat mich nur ein wenig ...«

»Überwältigt?«

»Nicht direkt ... Der Drang, mich in den Animagus zurückzuziehen, war einfach stärker, als ich angenommen hatte. In einem Katzenkopf ist immerhin viel weniger Platz für Sorgen.«

»Mhhhh.« Erneut brummte Elphinstone verständig. »Nun, ich fände es furchtbar, wenn du dich hier bloß quälst. Falls du denkst, woanders besser zur Ruhe zu kommen, verstehe ich das.«

»Woanders als bei dir?« Sie rieb die Wange an seiner Handfläche. »Du bist derjenige, in dessen Nähe ich mich in den letzten Wochen immer sicher gefühlt habe. Egal, was das Schicksal uns entgegengeworfen hat. In deinen Armen war der einzige Ort, an dem ich selbst in einem gottverdammten Verlies Schlaf gefunden habe. Also nein, ich will nicht noch weiter weg von dir.«

Elphinstone legte den Kopf schief, während sein Daumen der Kurve ihres Wangenknochens folgte. Unweigerlich lief ein Schauer von ihren Haarspitzen über ihr Rückgrat hinab, bis in ihre Körpermitte.

»Ich will auch nicht alleine sein«, gestand er. »Es reicht schon, dass uns in dieser Nacht zwei Wände und so viel leere Luft trennen. Auch wenn das natürlich nicht sein müsste, wenn wir beide es nicht wollen ...«

Er sah auf die grün gemusterten Sofapolster. Offenbar verlegen knibbelte er mit den Zähnen an seiner Unterlippe, bevor er sich aufrichtete, sein Blick entschlossen. Unweigerlich hielt Minerva den Atem an.

»Lass es mich klar ausdrücken«, sagte Elphinstone, »ich hege keine sexuelle Absicht. Ich schlage das hier nicht vor, weil ich insgeheim darauf hoffe, mit dir zu schlafen oder dergleichen. Dafür bin ich noch lange nicht bereit. Schon gar nicht mit all den komischen Gefühlen in meiner Brust. Ich würde einfach nur gerne neben dir schlafen. Wenn es dir nicht zu unangenehm ist, in meinem Bett zu liegen, versteht sich.«

»Danke.« Minerva sank nach vorne, Stirn an Stirn mit ihm. »Danke, dass du so ehrlich bist. Das macht es so viel leichter.« Sie hätte bis eben nicht sagen können, ob sie unterbewusst daran gedacht hatte, wohin ein Moment wie dieser führen könnte, doch jetzt war sie einfach nur erleichtert. »Ich bin nicht einmal so weit, darüber nachzudenken. Es ist viel zu lange her, dass ich überhaupt geliebt habe ...« Sie schlang die Arme um Elphinstones Schultern, zu müde für ein Lächeln. »Aber mit diesem Wissen ... nein, das wäre mir nicht unangenehm. Denke ich.«

»Dann ... versuchen wir es? Du kannst dich natürlich jederzeit umentscheiden. Ich bin dir nicht böse, wenn es doch zu viel auf einmal ist. Und wenn es ganz arg kommt, bringe ich dich natürlich zu deinen Eltern.«

»Das klingt nach einem Plan«, murmelte sie.

»Gut.«

Elphinstone nahm die Hand von ihrer Wange und legte den Arm um ihre Schultern. Den anderen schob er unter ihre Knie. Schon hob er sie hoch, wie im Ministerium auch. Er gab sich große Mühe, standhaft zu bleiben. Trotzdem fühlte sie, wie er einen Moment schwankte, als er sie beide vom Sofa in die Höhe stemmte.

»Ich habe zwei wunderbar verheilte Füße, weißt du –«

»Shhh. Ich will mich doch nur noch einmal wie dein Held fühlen. Auch wenn du mich gar nicht brauchst, weil du deine eigene Heldin bist.«

Sichtlich beschämt hob er einen Mundwinkel, während er ein Ächzen unterdrückte. Sie fing einen äußerst halbherzigen Protest an, doch ein Kuss versiegelte die Worte und mit leisem Seufzen gab sie ihm vollends nach.

So viel Minerva auch davon hielt, auf eigenen Beinen zu stehen, gefiel es ihr ebenso, sich bei vollem Bewusstsein von Elphinstone auf Händen tragen zu lassen. Obwohl die Situation geradezu nach einer Szene aus einem Buch sehr ... schmuddeliger Natur schrie, fühlte sie nichts außer Wärme. Vertrauen. Geborgenheit.

Das änderte sich auch nicht, als er sie über die Türschwelle trug. Oder als er sie sanft auf der Kante eines Himmelbettes absetzte. Im Gegenteil, das Gefühl wuchs nur, da er zwei Schritte zurücktrat, sodass sie Zeit hatte, sich in dem kleinen Raum umzusehen.

Eine einsame Zaubersphäre hing unter der Decke und verbreitete schwaches Licht, kaum so hell wie eine herabgebrannte Kerze. Der Boden war mit dickem, cremefarbenen Teppich ausgelegt, die rechte Wand von einem dunklen Eichenschrank in Beschlag genommen. Zur Linken fanden sich eine weitere Tür und eine altmodische Spiegelkommode, über der viele gerahmte Bilder hingen.

Direkt hinter dem Bett war das einzige Fenster im Raum. Der Ausblick ging auf eine Gasse gesäumt von Gaslaternen, deren Licht sich hundertfach im Regen brach, wie auf einem impressionistischen Gemälde. Ein Stück weit tauchte das Farbenspiel auch die Bettwäsche und Wände in seine Muster ein.

Die Hauptdarsteller waren allerdings einmal mehr die unzähligen Pflanzen. Grüne Ranken voller handtellergroßer Blätter schlangen sich die vier Bettpfosten empor, bis hinauf zum Baldachin. Geschützt von einer dünnen, durchscheinenden Schicht Seide konnte Minerva sehen, dass sich die Kletterpflanzen an der Decke in geflochtenen Körben sammelten und wieder daraus herabhingen, eine Art grüne Wolke.

»Keine Sorge, hier gibt es nur gänzlich unmagische Gewächse«, sagte Elphinstone. Er setzte sich im gebührlichen Abstand neben sie. »Nichts, was sich plötzlich bewegt oder ein überraschendes Eigenleben führt. Und natürlich nichts Giftiges.«

»Daran habe ich ehrlich gesagt auch gar nicht gedacht.« Minerva streckte ihre Hand über die Bettdecke zu seiner. »Es ist sehr gemütlich. Sehr du. Ich liebe es.«

»Und es ist wirklich okay für dich?«

Sie nickte.

Elphinstones Schultern sackten ein gutes Stück herab. »Das ist schön. Möchtest du noch was lesen oder so?« Er deutete zu seinem vollgestapelten Nachttisch, dessen Bücherturm bedrohliche Schieflage hatte. »Irgendwo unter der gesammelten botanischen Geschichte des arabischen Raums verstecken sich ein paar nette Romane ...«

»Danke, aber ich denke nicht. Ich will einfach nur die Augen zu machen. Müde bin ich schließlich genug. Wenn es dir nichts ausmacht ... würde ich am liebsten einfach nur festgehalten werden.«

»Natürlich.« Ein kleines, aber umso tieferes Lächeln zeichnete sich in den Fältchen um Elphinstones Augen ab. Er rutschte an das Kopfende und schlug einladend die Decke zurück. »Komm her.«

Das musste er nicht zweimal sagen. Minerva glitt an seine Seite und rollte sich erneut wie ein Kätzchen zusammen, ihren Kopf an seine Brust gelegt. Sofort schlang er sie in seine Arme. In Animagusform hätte sie womöglich geschnurrt.

Durch Elphinstones Flanellpyjama roch sie den Duft von grüner Heilsalbe und Mullbinden. Nur zur Sicherheit spähte sie noch einmal seinen Hals empor, ob auch ja keine Fluchspuren mehr da waren. Aber natürlich war da nur unberührte Haut. Beruhigt senkte sie die Lider.

Elphinstone verkleinerte derweil die Zaubersphäre. Wie ein Glühwürmchen schwebte sie zu seinem Nachttisch herab, wo sie ganz erlosch. Übrig blieben nur die Regenlichter.

Minerva erinnerten sie an die Buntglasfenster in der Kirche ihres Vaters. Oder so manchen Flur Hogwarts, der ebenfalls von diesen geziert wurde. Doch egal an welchem Ort, der Anblick von warmem Gold-orange, das sich ins Mitternachtsblau mischte, erfüllte sie immer mit Geborgenheit. Es war mehr als nur Licht. Lebendige Vergangenheit, unzählige schöne Momente gebunden in ein Gefühl.

Aus kaum geöffneten Augen verfolgte sie die weichen Schattenspiele im Zimmer. Selten war sie sich so jung und zeitgleich so alt vorgekommen. In diesem Augenblick hing alles in der Schwebe. Die Leichtigkeit ihrer Jugend war endgültig verloren, aber genauso wenig war sie bereits die Person, zu der die Zukunft sie bestimmte. Hier und jetzt schien jeder Weg offen.

Nur eines wusste sie sicher – wenn sie eine Erinnerung niemals per Magie aus ihrem Kopf ziehen wollte, nicht einmal für das Wiedererleben im Denkarium, dann diese. Das Gefühl, zum ersten Mal in Frieden in Elphinstones Armen zu liegen, konnte nie wieder so stark sein wie jetzt.

Sie blinzelte zu ihm hinauf. »Willst du es dir nicht auch bequemer machen? Du sitzt noch halb.«

»Ah ... entschuldige. Ich bin es inzwischen so gewohnt, wachzubleiben und aufzupassen ...«

»Schon gut.« Beruhigend strich sie über seine Schulter. »Es tut mir leid, dass ich es dir so schwergemacht habe. Dass du wirklich eine ganze Woche an meinem Krankenbett gesessen hast ...«

»Ich konnte nichts anderes tun. Selbst wenn ich gewollt hätte –«

»Du sollst dich auch gar nicht rechtfertigen. Es wäre eine Lüge, zu behaupten, dass es mir nicht die Welt bedeutet. Aber jetzt ist das vorbei.«

»Ja ...« Elphinstone fuhr gedankenverloren über ihr Haar.

Die Müdigkeit überrollte Minerva inzwischen in Wogen und das sanfte Kribbeln auf ihrer Kopfhaut durch seine Berührung tat sein Übriges. Doch der Ausdruck in Elphinstones Antwort war genug, dass sie sich dem Schlaf noch nicht ergab. »Du wolltest neben mir einschlafen, also leg dich gefälligst hin«, sagte sie, so streng ihre schwere Zunge es zuließ.

»Oh Min, du kannst wirklich furchteinflößend sein.« Er seufzte leicht. Ein gutes Seufzen, denn er schloss sie im selben Atemzug fester in die Arme und drückte seine zum Lächeln gestreckten Lippen auf ihren Scheitel. Dann rutschte er endlich auf das Kopfkissen hinunter.

Mit einem glücklichen kleinen Geräusch kuschelte sie sich enger an seine Seite. »Zu deinem Glück, würde ich sagen.«

»Oh, definitiv. Falls ich je gedacht habe, ich könnte mich nicht noch mehr in dich verlieben, dann war ich ein echter Idiot.« Elphinstone unterstrich seine Worte mit einem müden Glucksen. »Danke, dass ich dich an meiner Seite haben darf in diesen verwirrenden Zeiten.«

Sanft umfasste sie seine Wange mit der Hand. Ihr Herz war so erfüllt, dass es beim Anblick von seinem aus Licht und Schatten umschmeichelten Lächeln vor Liebe schmerzte. Anstatt etwas zu sagen, streichelte sie einfach seine warme Haut. Sie war ziemlich sicher, dass sich Sex nicht so intim angefühlt hätte, wie der Blick, den sie teilten, oder das Gefühl von Elphinstones Fingerkuppen, die federleicht über ihre Seite kreisten.

 

Genau wie die Regenlichter das Schlafzimmer mit ihren bunten Fragmenten erhellt hatten, wurden auch die kommenden Tage von vielen kleinen Momenten erfüllt, die vor Glück schimmerten. Wie das Mosaik aus Edelsteinen in einem Kaleidoskop setzte sich die Woche, die Minerva bei Elphinstone verbrachte, aus lauter Erlebnissen zusammen, die jedes für sich bereits strahlten. Doch gemeinsam betrachtet ergaben sie ein viel schöneres Bild.

Zum einen war da das Frühstück direkt am nächsten Morgen, das Elphinstone tatsächlich ans Bett servierte. Noch nie hatte Minerva derartiger Dekadenz gefrönt. Für gewöhnlich beschied sie sich auf Tee und Marmeladentoast, zu mehr reichte ihre Zeit gar nicht. An diesem Tag fuhr Elphinstone allerdings das volle Programm auf, von Baked Beans bis hin zu Würstchen – und sogar Pfannkuchen zum ‚Nachtisch‘, wenn man das bei der ersten Mahlzeit des Tages denn so nennen durfte.

»Man könnte meinen, du willst mich beeindrucken«, schmunzelte sie, sobald das vollbeladene Tablett erstmal wacklig auf dem Bett stand.

»Hm, nein, dann würde ich noch viel mehr übertreiben. Aber ich war so weise, keinen Heiratsantrag mit deinen Bohnen zu buchstabieren.«

»Sehr löblich.«

»Abgesehen davon haben wir beide uns diesen Alltagsluxus einfach verdient.«

Dem konnte Minerva nur zustimmen. Und einmal zurück in den Genuss der kleinen Freuden des Lebens gekommen, blieb es nicht bei einem ausschweifenden Frühstück, zu dem sie sich überreden ließ.

Ein weiterer Ausflug in die Winkelgasse kam zwar nicht infrage, dafür besuchten sie an einem sonnigen Vormittag den Drachenschwanzboulevard in Edinburgh. Fast noch verwinkelter als sein Londoner Pendant und mit hochpreisigen Shops übersät, begab Minerva sich trotz der Nähe zu Hogwarts nur selten dorthin. Aber wenn, dann mit einem konkreten Ziel. Umso schöner war es, an der Seite von Elphinstone einmal ganz ungehemmt dort entlang zu bummeln.

Er kannte jede Abkürzung zwischen den hohen, eng stehenden Häusern, genauso wie die interessantesten Hinterhöfe mit kleinen Cafés und Kuriositätenläden. Ob es nun ein winziger Buchladen war, in dem die Regale kreisförmig um eine Wendeltreppe angeordnet waren, oder ein Besengeschäft, das einen magisch vergrößerten Gewölbekeller für Testflüge hatte – Elphinstone wusste genau, womit er sie überraschen und vor allem begeistern konnte. Mehr als einmal entlockten ihr die herrlichen Dinge ein sehnsüchtiges Seufzen, gepaart mit dem Griff zu ihrer stetig weniger klimpernden Börse.

Ganz besonders tat es ihr schließlich eine dunkelgrüne Robe an. Der Samt war schwer und weich, perfekt für die kühlen Herbstwinde, die bei ihrer Rückkehr über Hogwarts’ Ländereien fegen würden. Feine goldene Fäden durchwirkten den Stoff mit Triskelen und anderen, bedeutenden magischen Symbolen, ohne dabei aufdringlich zu wirken. Aus der Ferne fielen die Muster nicht einmal auf, sondern wirkten eher wie ein Spiel des Lichts.

Im Vergleich dazu sah ihre momentane Gewandung fast schon schäbig aus. Trotzdem war die Robe viel zu edel für ihr Empfinden. Etwas so Teures wollte zu einem besonderen Anlass getragen werden, nicht in einem Klassenzimmer voller Teenager. Egal wie schön das Kleidungsstück war, für diesen Kauf fand Minerva keine Rechtfertigung.

Als sie sich zum wiederholten Male bedauernd vor dem Spiegel drehte, stand Elphinstone mit einem Seufzen auf. Er hatte schon mehrfach betont, dass die Robe wie für sie gemacht war und sie diese bitte kaufen sollte, aber nun hatte offenbar selbst er das Maß voll. Beschämt warf Minerva ihrer Reflexion einen letzten, langen Blick zu, bevor sie nach ihrem alten Exemplar griff.

Sie hatte den Stoff noch nicht zurück über die Schultern gezogen, da trat Elphinstone hinter sie und hielt den Kragen fest.

»Zieh wieder die andere Robe an«, sagte er sanft.

»Aber –«

»Ich habe sie gerade gekauft. Und da sie reduziert war, habe ich auch kein Umtauschrecht. Entweder ziehst du sie an oder ich muss es.«

»Reduziert? Was redest du da, ich habe das Preisschild doch gesehen –«

»Ich habe den Verkäufer um glatte fünf Knuts heruntergehandelt.«

Die Robe immer noch auf halb acht, stemmte Minerva ihre Fäuste in die Hüfte. »Bei Merlins löchrigsten Unterhosen, ich fass es nicht! Das hast du nur getan –«

»Damit du dich nicht gegen dieses Geschenk wehren kannst, korrekt.«

»Du ... du Slytherin!«

Elphinstone hob eine Augenbraue. »Oh nein, jetzt bin ich aber getroffen!«, rief er ein bisschen zu laut und griff sich dramatisch an die Brust. »Du hast mein dunkles Geheimnis herausgefunden ... wie sollen wir uns jetzt nur jemals lieben können –«

Sie boxte ihn sacht gegen den Oberarm. »Du bist sowas von unmöglich!«

»Betrachte es einfach als verfrühtes Geburtstagsgeschenk, der Oktober ist schließlich nicht mehr lange hin.«

»Aber ich kann das wirklich nicht annehmen ...«

»Doch. Du verdienst es, eine Robe zu tragen, in der du dich nicht nur schön, sondern auch wohl fühlst. Dann ist sie eben teuer und edel. Na und? Trag sie jeden Tag! Trag sie beim Korrigieren von Hausarbeiten, trag sie bei einem Spaziergang, trag sie an einem faulen Tag auf der Couch – aber bewahr sie dir nicht für irgendwelche besonderen Momente auf, die vielleicht nie kommen. Du hast selber gemerkt, wie wertvoll es ist, die schönen Dinge zu genießen, solange man kann.«

Dagegen konnte Minerva nichts sagen. Sie hatte zu viel von dem Licht in der Dunkelheit gepredigt, als dass sie diese Wahrheit von sich weisen könnte. Also ergab sie sich dem Sehnen ihres Herzens und zog die Robe wieder an. Und nachdem sie in Elphinstones Wohnung zurückkehrten, legte sie diese wie angeraten selbst zum Fernsehen nicht ab.

Einen kleinen Herzinfarkt bekam sie nur, als Prudence bei einem Besuch wenige Tage später ein Bäuerchen mitten auf den Samt machte. Robbie entfernte das Malheur jedoch sofort und mit leidensgeprüfter Miene. Sein Reinigungszauber war inzwischen so routiniert, dass nicht einmal ein dunkler Schatten zurückblieb.

Den viel größeren Sieg errang allerdings Elphinstone, der Prudence scheinbar selbstverständlich in den Arm nahm und leise auf sie einredete, während er sie hin und her wiegte. Bei ihrer letzten Begegnung hatte sich noch ein gefährlicher Glanz in seine Augen geschlichen, bevor er mit zitternden Händen die Kleine an Anne weitergereicht hatte. Jetzt hingegen schien er ganz wie der patente Patenonkel, zu dem Robbie ihn schon seit Anfang der Woche erklären wollte.

»Du hast mir zusammen mit meiner Schwester das Leben gerettet! Wem sollten wir denn sonst im Notfall unsere Tochter anvertrauen wollen? Wir wissen immerhin, dass Minerva und du alles für sie tun würdet«, waren dessen Argumente für die Ernennung gewesen.

Sämtliche Versuche Elphinstones, abzuwiegeln und darauf hinzuweisen, dass Robbie und Anne doch sicher andere Freunde hatten, die sie schon länger kannten und denen die Rolle viel eher zustünde, waren auf taube Ohren gefallen.

»Dass Minerva Patentante wird, ist vorherbestimmt, und zu ihr passt nun mal niemand besser als du. Abgesehen davon ist es ja nicht so, als wenn wir vorhätten, beide gleich morgen den Löffel abzugeben. Betrachte es mehr als nette Geste, dass ich dir im schlimmsten Fall das Leben meiner Tochter anvertrauen würde.«

Schlussendlich hatte Minerva ihren Bruder mit einem Zeigefinger zwischen die Rippen zum Schweigen bringen müssen, denn der gefährliche Glanz in Elphinstones Augen war zusehends ins Schwimmen geraten. Natürlich hatte er behauptet, sich geehrt zu fühlen, doch nach allem, was ihm widerfahren war, ahnte sie, dass es nur ein kleiner Teil der Wahrheit war.

Auch dieses Mal hatte sie Sorge gehabt, dass Robbie ihn unfreiwillig verletzen könnte. Doch als er das Thema erneut ansprach, seufzte Elphinstone zwar, lächelte dann jedoch.

»Bereit bin ich dafür nicht – und ich bin auch immer noch der Meinung, dass es mir nicht zusteht! – aber wie könnte ich zu Prue schon nein sagen?« Er sah zu der Kleinen, die inzwischen in Annes Armen schlief. Ein bisschen Glanz kehrte in seine Augen zurück, doch als Minerva besorgt nach seiner Hand griff, drückte er sie kräftig. »Versprecht mir einfach nur, dass ihr nicht gleich morgen entscheidet, Drachen zähmen zu wollen oder sonst was Riskantes zu unternehmen, ja?«, wandte er sich an Robbie.

Der grinste. »Nichts leichter als das. Im Gegensatz zu meiner lieben Schwester bin ich schließlich kein Gryffindor – und Anne auch keine Slytherin. Wenn hier irgendwer was versprechen muss, dann sind das Minerva und du.«

Als wollten sie Robbie das Gegenteil beweisen, blieb das Riskanteste, was sie beide in dieser Woche unternahmen, jedoch eine besonders hitzige Partie Schach (bei der sich immerhin eine Figur am Ende wehklagend vom Brett stürzte). Abgesehen davon durchlebten sie eine so normale Zeit, dass selbst Muggel es wohl langweilig genannt hätten. Für Minerva hingegen war es schon aufregend, sich abends wie selbstverständlich in dasselbe Bett zu legen wie Elphinstone.

Sie liebte es, auf der Bettkante zu sitzen, ihr Haar zu bürsten und durch die Tür zum angrenzenden Badezimmer Elphinstone dabei zu beobachten, wie er Zähne putzte. Der Moment an sich war so gewöhnlich, dass genau deshalb ihr Herz schneller mit den Schnatzflügeln schlug. Sie konnte es kaum erwarten, die Normalität hunderter Tage daraus zu machen.

Doch die Zukunft erwies längst nicht so berechenbar und schon gar nicht kontrollierbar. Es war bereits Sonntag Abend und somit verblieben ohnehin nur wenige Stunden sorgloser Zweisamkeit, als das kleine Glöckchen an Elphinstones Kaminsims läutete.

»Ein Besucher? Um diese Zeit?«

Verwirrt angelte Elphinstone nach seinem Zauberstab neben der Fernbedienung. Sie lagen gerade auf dem Sofa und ließen sich mit einer weiteren Folge des dimensionsreisenden Doktors berieseln. Der Kamin war schon für die Nacht versiegelt, doch auf einen Stabschlenker hin ging das Feuer wieder an. Keine Sekunde später färbte es sich grün.

Das Fernsehbild verschwamm gleichzeitig mit den Flammen. Rasch schnappte Minerva ihren eigenen Stab. Sie stand gerade auf, da spuckte das Flohnetzwerk auch schon die unangenehme Überraschung aus. Direkt neben dem Fernseher landete Mulciber – die Augen fest geschlossen.

»Ich weiß, ich störe –«, rief er, abwehrend beide Hände gehoben.

Minerva verschränkte die Arme. Ihr Inneres brodelte bei seinem Anblick plötzlich wie ein Kessel kurz vor dem großen Knall. »Endlich erkennst du es auch«, erwiderte sie kühl.

Mulciber hob ein Augenlid. »– aber aus gutem Grund.« Er musterte ihre neue Robe gepaart mit einem Paar gold-rot geringelter Wollsocken, die Albus gestrickt hatte, dann Elphinstone mit der Sofadecke über den Schultern. Ein tiefes Seufzen füllte das Wohnzimmer, als er sich in übertriebener Erleichterung die Hand mitsamt Zauberstab auf die Brust schlug. »Oh Merlin sei gedankt, ich erwische euch nicht in flagranti! Ehrlich, das war mein schlimmster Albtraum.«

»Und warum gehst du das Risiko dann ein und tauchst unangekündigt auf?«, grummelte Elphinstone.

»Ich lebe eben stets am Limit.« Entgegen dem Spott in seinen Worten grinste Mulciber allerdings nicht. Stattdessen legte er die Stirn in Falten, während er mit spitzen Fingern Flohpulverreste von dem goldenen Strafverfolgerabzeichen an seiner Brust wischte. »Abgesehen davon bin ich in dienstlichen Belangen hier.«

»Nun, ich bin nicht im Dienst.«

»Ist mir bekannt. Aber besondere Umstände verlangen besondere Maßnahmen. Ich brauche deine Unterstützung.«

Jetzt runzelte auch Elphinstone die Stirn. »Seit wann bittest du mich um sowas?«

Mulciber verdrehte die Augen. »Wäre es dir lieber, wenn ich Crouch frage?«

»Kommt drauf an, worum es geht.«

»Eine Tatortbegehung. Wahrscheinlich auch die Befragung des Tatverdächtigen. Du weißt, dass ich dafür einen zweiten Strafverfolger brauche. Und etwas sagt mir, dass ein Anschlag von Voldemorts Leuten mitten in London Grund genug für dich ist, deinen Arsch zu bewegen.«

»Was?«, stieß Minerva hervor, ehe Elphinstone überhaupt reagieren konnte. Binnen zwei großen Schritten überbrückte sie die Distanz zu Mulciber, obwohl eine unverständliche Stimme in ihr danach schrie, Abstand zu halten. »Was ist passiert? Wo?«

Für ein paar kaum enden wollende Sekunden starrte er ihr geradewegs in die Augen, keine Regung auf den von Müdigkeit verhärteten Gesichtszügen. »Dazu wollte ich gerade kommen«, sagte er schließlich mit einer Sanftheit, die entweder bedrohlich oder unerwartet echt war. »Danke für die wertvolle Unterbrechung.« Sein Mundwinkel zuckte kurz, konnte sich aber nicht für sein übliches Grinsen entscheiden. »Ich weiß auch noch nicht alle Details. Die Strafpatrouille hat nur ein eiliges Memo geschickt, dass Voldemorts Gefolgsleute einen beliebten gemischt-magischen Pub in Kensington überfallen haben. Den ‚Glückskessel‘, vielleicht schon mal gehört? Angeblich ein Lieblingsladen der Ministerin. Erste Etage magischer Service, unten für Muggel.«

Noch während Mulciber sprach, sprintete Elphinstone zur Garderobe und warf sich seinen Ministeriumsumhang über. »Weiß man, was uns erwartet?«

»Was immer Dämonsfeuer und Flüche übrig gelassen haben ...«

»Opfer?«

»Schätzungsweise mehrere.«

Minervas Mitte zog sich schmerzhaft zusammen, als sie sah, wie Elphinstone in seine Schuhe schlüpfte, obwohl er unter seinem Umhang immer noch Stoffhosen und einen zu groß geratenen Wollpullover trug. »Ich komme mit«, sagte sie kurzentschlossen. An Mulciber gewandt fügte sie hinzu: »Versuch mich aufzuhalten und du bereust es.«

»Sehe ich aus wie ein Idiot? Ich habe gehofft, dass du das sagen würdest.« Nun entblößte er doch die Zähne in einem humorlosen Grinsen. »Wir können eine kostenlose Arbeitskraft vor Ort gut gebrauchen.«

Elphinstone ergriff Minervas Hand. »Dann nichts wie los!«

 

In Kensington schneite es. Zumindest glaubte Minerva das für eine selige, ahnungslose Herzschlagsekunde. Dann berührten die ersten trockenen Flocken ihre Haut.

Asche.

Es schneite Asche.

Instinktiv schlug sie die Hand vor den Mund. Elphinstone an ihrer Seite tat das Gleiche. Selbst Mulciber verbarg die untere Gesichtshälfte hinter seinem Umhangärmel.

Der Aschenschnee war allerdings nicht das Schlimmste. Anstatt flackernder Flammen oder fernem Mondlicht badete die Szenerie vor ihnen in bleichem, grünen Schein. Wie der fahle Atem eines Inferius waberte die verfärbte Luft durch die Ruinen des Glückskessels. Im Kontrast dazu drückte die tiefschwarze Nacht ringsum noch schwerer.

Minerva kämpfte gegen ein Würgen an, als sie den Kopf in den Nacken legte und der Nebelspur gen Himmel folgte. Kein einziger Stern erhellte das Firmament. Alles, was sie sah, war der Totenkopf. Unendlich dunkle Augenhöhlen, aus denen die gesamte Finsternis des Universums sie anstarrte. Darunter ein weit aufgerissener Mund, dem sich eine Schlange entwand.

Instinktiv wich sie einen Schritt zurück. Mit je einer Hand packte sie Elphinstone und Mulciber. Beide folgten ihrer Bewegung, ohne den Blick vom Dunklen Mal zu lösen.

»Verdammt!«, fluchte Mulciber leise. »Das ist schlimmer, als gedacht ...«

Und wie recht er hatte. Dort, wo einst der Pub gestanden hatte, klaffte ein Gerippe aus geschwärzten Holzbalken. Wenn das Metallschild mit dem grünen Kessel drauf nicht mahnend aus dem letzten, intakten Stück Fassade geragt hätte, wäre es unmöglich gewesen, den Ort wiederzuerkennen.

Vermutlich nur durch ein Wunder – und Magie – hielt die Treppe in die oberen Stockwerke, auch wenn von diesen jede Spur fehlte. Genau wie die Dachschindeln hatte es Parkett und Steine im Umkreis von mehreren Metern auf der Straße verteilt.

Hinter den letzten Trümmern drängten sich Menschen aneinander. Muggel, Hexen, Zauberer – es spielte keine Rolle. Ihre Gesichter waren alle gleich käsebleich und sie zitterten gemeinsam.

»Wo kam dieser Blitz her?«

»Hat der Auror den Verrückten erwischt?«

»Sind diese Leute gerade aus dem Nichts aufgetaucht?«

»Bitte, halten Sie still, ich kann das heilen!«

»Hat denn noch niemand die Feuerwehr gerufen?«

Mulciber knirschte mit den Zähnen. »Warum sind die verfluchten Vergissmichs noch nicht hier?«

»Die Frage ist eher, warum ausgerechnet du so schnell warst«, knurrte eine Stimme aus dem Dunkel. »Noch vor den Heilern braucht niemand einen Blutsauger aus der Strafverfolgung!«

Minerva wirbelte mit erhobenem Zauberstab herum. Gesprochen hatte ein kräftiger Mann im Ledermantel, dessen sandfarbene Haare ihm in wilden Wellen über die Schultern fielen. Blut rann aus einem tiefen Schnitt quer durch sein Gesicht und tropfte von seinem Kinn – doch er grinste, als er die zersplitterte Treppe des Pubs hinab auf sie zu humpelte.

»Alastor!«, rief Elphinstone. Er drängte sich an Mulciber vorbei. »Was ist passiert? Bist du schwer verletzt?«

»Hah.« Der gestandene Auror ersten Grades, den Minerva noch von früher kannte, spuckte Blut auf den Boden. Dann fuhr er sich mit dem Handrücken über den Mund. »Das bisschen! Und wenn der Irre mir die Zauberstabhand abgehackt hätte, er hätt trotzdem gekriegt, was er verdient.«

»Du meinst doch nicht etwa –«

»Sorry Jungs, aber es gibt Papierkram.« Alastor Moody zog einen Flachmann aus seinem Mantel. Seufzend nahm er einen tiefen Schluck, der ihn schüttelte. »Ahhh, diese Stärkungstränke schmecken einfach wie Gartenerde.« Erneut spuckte er auf den Boden. Erst dann sah er wieder zu Elphinstone. »Der Bastard konnt sich nicht von meinem Confringo-Zauber fernhalten. Hat ein ordentliches Feuerwerk aus ihm gemacht.«

Mulcibers linkes Augenlid zuckte. »Gibt es wenigstens eine Leiche?«, fragte er scharf.

»Ne halbe.«

Selten hatte Minerva so viel Sympathie für das gefährliche Funkeln in Mulcibers Augen empfunden. »Das ist nicht witzig«, sagte er so leise, dass es ihr einen Schauer den Rücken hinab jagte.

»Da sind wir uns einig«, knurrte Moody zurück. »Aber wart ab, bis du gesehen hast, was er mit den Menschen da drin gemacht hat. Muggel, Squib, Zauberer – alles scheißegal. Sie mussten alle sterben. Und wofür?« Er stieß eine Faust in die Luft, Richtung Dunkles Mal. »Für ein beschissenes Statement! Weißt du, was ich sage? Sie alle verdienen den Tod! Jeder einzelne beschissene Bastard, der meint, über dem Leben anderer zu stehen.«

»Alastor ...« Elphinstone schüttelte sanft den Kopf. »Das hier ist weder der Ort noch die Zeit für solche Verkündungen. Wir müssen jetzt besonnen bleiben –«

»Besonnen, eh?« Moody schnaufte. »Sag das unserem Kollegen aus der Patrouille, den seine Familie jetzt nie wiedersieht. Falls ihr dachtet, mein Gesicht sieht schlimm aus – den armen Tropf hat’s mitten in die Brust erwischt. War sofort tot.«

Mit einem Mal schien die Erdanziehungskraft so stark, dass Minervas Arme kraftlos nach unten sackten. »Oh Gott ...«

»Der kann jetzt auch nicht mehr helfen.« Obwohl am anderen Ende der Straße die ersten Heiler und Vergissmichs auftauchten, wandte Moody sich wieder der Häuserruine zu. Ihnen voraus humpelte er erneut die Treppe hinauf. Im ehemaligen Schankraum angekommen, wies er mit dem Daumen auf riesige, blutrote Lettern, die sich über die Reste der Wand verteilten.

 

LORD VOLDEMORT WIRD GROBRITANNIEN BEFREIEN

 

Grimmig quittierte Moody, wie Minerva ihre Robe enger um sich zog. In weiter Ferne meinte sie, die Würfel des Schicksals fallen zu hören. Mit dieser Woche neigte sich mehr als nur Elphinstones und ihre gemeinsame Zeit zu einem jähen Ende. Neue Wege drängten darauf, beschritten zu werden – ob es ihr gefiel oder nicht.

Moody nickte ihr zu. »Wir können uns nur noch selber helfen.«



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