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Stichflamme

Der Aufstieg des Phönix
von

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Der Hüterin heilende Hände

Eine kleine Ewigkeit verging – dann lösten sich die unsichtbaren Taue, die Minervas Brust zusammendrückten. Nachtluft strömte in ihre Lungen, kühl und irgendwie ... erdig. Grün. Minerva entwich ein Keuchen. Mit den Knien voran schlug sie auf den Boden. Scharfkantige Kiesel bohrten sich in ihre Haut, aber das war in diesem Moment egal. Sie und Elphinstone waren dem Anwesen der Lestranges entkommen. Seine Hand lag in ihrer, eine beruhigende Gewissheit, dass sie nicht halluzinierte. Das allein zählte.

In einem tiefen Atemzug sog sie die Freiheit in sich. Von allen Seiten drangen Sinneseindrücke auf sie ein. Wasserplätschern. Abendbrise. Blätterrascheln. Moosduft. Ihre Sinne waren so gereizt, dass Minerva beinahe glaubte, die Sterne funkeln zu hören. Angesichts des samtblauen Nachthimmels musste sie einige Male blinzeln, ehe die tanzenden Phantomflammen vor ihren Augen verschwanden und sie überhaupt das Himmelszelt in all seiner Pracht erkannte.

Wohin war Elphinstone mit ihr appariert? Sie konnte nichts Bekanntes erkennen. Ein schneller Rundumblick zeigte lediglich, dass sie von Bäumen umgeben waren. Das glucksende Wasser war nirgends zu sehen. Dafür lag ein gutes Stück hinter ihnen eine breite Straße, die völlig ausgestorben schien. Nur ein einzelnes Straßenschild, dessen reflektierende Schrift im Mondschein schwach leuchtete, eröffnete ihr, wo sie gelandet waren. Loch Ness – Besucherparkplatz A 82 – noch 800 Yards.

»Elphin-«, japste Minerva kurzatmig auf, doch die nächste Silbe verschluckte sie direkt wieder, als sie Elphinstone ansah. Richtig ansah. Selbst im Schatten der Nacht bemerkte sie, dass jegliche Farbe aus seinem Gesicht entschwunden war.

Elphinstones Stirn glänzte schweißnass und es verlangte nicht viel Fantasie ihrerseits, um zu begreifen, was seine Kleider dunkel färbte. Der dünne Stoff seines Hemdes war bereits vollgesogen, sobald sie die Fingerspitzen an seine Brust legte. Die Berührung schien ihn aus seiner Benommenheit zu reißen. Durch zusammengebissene Zähne entwich ihm ein Stöhnen, während er sich mit der freien Hand an ihren Oberarm klammerte.

»Verflucht ... wenn ich –« Ein neuerlicher Schmerzlaut ersetzte die Worte und sein Griff wurde fester. »Wenn ich’s nicht besser wüsste ... würde ich denken, zersplintert zu sein.«

Vage ertastete Minerva einen Riss im Stoff seines Hemdes. Sie hatte gesehen, wie Bellatrix ihn angegriffen hatte, sie brauchte keine falsche Hoffnung schöpfen, dass es mit einem Einsatz des magischen Rettungskommandos und dem Zurückhexen eines verlorenen Körperteils getan wäre – »Sicher nicht zersplintert?«

Ein Seufzen kam über Elphinstones Lippen. Ihm war das Flehentliche in ihren Worten also nicht entgangen. »Noch, ah ... alles dran. War – war eine saubere Disapparation.«

Natürlich hatte Minerva das ebenfalls gefühlt – Elphinstone war ein routinierter Apparierer, da hatte sie in jüngeren Jahren schon heftigere Apparationen erlebt. Doch das bedeutete, dass er andere Verletzungen hatte.

Wie zur Bestätigung ihrer schlimmsten Ängste verließ die Kraft ihn und er sackte zusammen, geradewegs gegen sie. Mehr schlecht denn recht fing sie ihn ab. Das zusätzliche Gewicht drückte sie nach unten und am Rande ihrer Wahrnehmung protestierten ihre Knie angesichts dieser Begegnung mit dem Schotter, aber sie achtete nicht darauf. Blut durchnässte die zwei Umhänge auf ihren Schultern, bis hinab auf die Bluse darunter. Kälte kroch in ihre Glieder. Ausgerechnet jetzt hatte sie keine Ahnung, was sie tun sollte.

So oft, wie zu ihren Ministeriumszeiten mal eine Verhaftung oder Hausdurchsuchung schief gegangen war – nie hatte es Elphinstone derart schlimm erwischt. Nicht einmal annähernd, dafür sorgten die Auroren schon. Kein Zauber, den sie kannte, konnte das richten. Und selbst wenn, hätte sie keinen Zauberstab. Sie war machtlos.

»Wir müssen hier weg«, krächzte Minerva, ihre Stimme rauer als die eines erkälteten Gartengnoms, »ins St. Mungo ...«

»Nicht ins Hospital!« Elphinstones Kopf schwankte von links nach rechts. »Die Lestranges ... sollen nicht wissen – lass sie denken, dass wir tot sind.«

»Du stirbst gleich wirklich, wenn du keine Hilfe bekommst!«

»Nein, Min, das Anwesen ...« Er nahm einen tiefen Atemzug, der sich in ein Rasseln verwandelte. »Das Anwesen meiner Familie ist direkt ... hinter uns. Nur ein paar Schritte ... Eily weiß Rat.«

Sie starrte ihn an, als würden ihm Tentakel aus den Ohren wachsen. Alles, was sie im Nachtschwarz erkannte, waren ... Mit einem Mal schlug die Dunkelheit vor ihr Wellen. Eben befanden sich hinter Elphinstone nur Bäume und jetzt ...

Minerva blinzelte ungläubig. Wo sich Sekunden zuvor nur dichtes Laubwerk befunden hatte, erhob sich nun ein steinernes Gemäuer, das mehr Burg denn Haus war. Es schien direkt aus dem Boden gewachsen zu sein, mitsamt seiner zinnenbewehrten Mauer und einem breiten Turm.

»Fidelius ...« Elphinstone hob einen Mundwinkel, bevor ein neuerliches Keuchen das versuchte Lächeln von seinen Zügen wischte.

Einen derartig mächtigen Schutzbann hatte Minerva noch nie am eigenen Leib erlebt, aber jetzt war nicht die Zeit, das Werk der Magie zu bestaunen. Ihre Beine hatten die Konsistenz von Wackelpudding und sie schaffte es nur dank ihres eisernen Willens, sich selbst und Elphinstone von dem Schotterweg, auf dem sie gelandet waren, hochzustemmen. Mit letzter Kraft zog sie seinen Arm über ihre Schultern. Der erste Schritt erinnerte sie wieder daran, dass sie sich im Feuer verbrannt hatte. Die Kiefer aufeinandergepresst, ignorierte sie das Stechen und humpelte dem Anwesen von Elphinstones Familie entgegen.

Sie musste Elphinstone geradezu schleifen, denn seine Füße wollten ihn kaum tragen. Wenn sie nur einen Zauberstab hätte ... Doch ihr blieb nichts anderes übrig, als begleitet von einem Chor aus Schmerzen jeden Millimeter zu erkämpfen. Stunden schienen zu vergehen, bevor sie endlich vor einer Holztür angelangten, durch die bequem ein Halbriese vom Schlag Hagrids gepasst hätte.

Der gewaltige bronzene Türklopfer hatte die Form desselben pferdeartigen Wesens, mit dessen Kopf die Lestranges ihr Haus geschmückt hatten. Sein Unterleib mündete in den geschwungenen Schwanz einer Seeschlange. Minerva dachte nicht lange nach, sondern packte das geschuppte Ende und ließ es mit einem lauten Knall auf das blanke Holz fallen. Das Geräusch hallte in der darauffolgenden Stille wider.

»Danke ... Minerva«, hauchte Elphinstone. Er rang sich ein Lächeln ab, das allerdings nicht die Schatten in seinen Augen vertreiben konnte. »Wieder stehe ich ... in deiner Schuld.«

»Lob nicht den Abend vor der letzten Eule«, entgegnete sie missmutig, während sie förmlich zusah, wie sich seine Kleidung bis zu den Schuhspitzen voll Blut sog. Ungeduldig ließ sie den Türklopfer wieder und wieder gegen das Holz schlagen.

»Du bist wundervoll«, murmelte Elphinstone. Seine Stimme wurde von Silbe zu Silbe leiser. »Einfach wundervoll ...« Dann fielen ihm die Augen zu und er verlor das Bewusstsein.

»Verflucht!« Minerva gab es auf, gegen die Tür zu hämmern. »Hallo? Ist da wer? Wir brauchen Hilfe! Bitte! Hallo?«

Gerade als sie ernsthaft überlegte, trotzdem zum St. Mungo zu apparieren, obwohl es sie in ihrer mangelnden Übung und emotionalen Verfassung hoffnungslos zersplintern könnte, schwang die Tür endlich auf. Licht ergoss sich über die Türschwelle und geblendet kniff Minerva die Augen zusammen. Sie sah gerade so einen gedrungenen Schatten, der einen Zauberstab hielt.

»Ist Ihnen bewusst, wie spät es ist?« In einem glockenhellen Singsang verschaffte ihr Gegenüber ihrer Entrüstung Raum. »Wer sind Sie überhaupt? Bei Merlins karierten Unterhosen, ich schwöre, ich hexe Ihre Pobacken hier und jetzt zusammen –« Die wütenden Worte versiegten abrupt.

»Mister Elphinstone!«, quiekte die unvergleichbar hohe Stimme einer Hauselfe in die Schockstille.

»Würgende Wasserspeier!«

Langsam gewöhnte Minerva sich an das grelle Licht. Sie erkannte eine kleine Frau mit blonden Locken, die einen Morgenmantel trug. Neben ihren Füßen – die kurioserweise in Gummistiefeln steckten – stand eine winzige Hauselfe und starrte den Besuch aus tennisballgroßen Augen ängstlich an.

Der verärgerte Ausdruck auf dem Gesicht der unbekannten Hexe wich Besorgnis. »Bei der achtäugigen Agrippa, was ist passiert?«, verlangte sie zu wissen. Gleichzeitig gestikulierte sie in Richtung der Hauselfe und das kleine Geschöpf trippelte geschwind in den dunklen Hausflur davon.

»Eine lange Geschichte«, erwiderte Minerva matt. »Eine Entführung, ein Fluch, ein Dolch – es ging alles so schnell ...«

Ihr Gegenüber wandte sich Elphinstone zu.

»Er hat eben das Bewusstsein verloren –«

»Das sehe ich. Überlass das mir.« Die Frau schwang ihren Zauberstab und Minerva fühlte Elphinstones Gewicht von ihren Schultern schwinden.

Wie eine Strohpuppe ließ die Unbekannte, die fast zwei Köpfe kleiner war, seinen Körper durch den Flur schweben, sodass Minerva nichts anderes übrig blieb, als ihr zu folgen. Mit einem Knall schloss sich die Holztür und an den steinernen Wänden zu beiden Seiten entzündeten sich Fackeln in ihren Halterungen.

Der Weg führte in einen runden Raum, der wohl ein Wohnzimmer war, wenn man von den Sofas, Bücherregalen und dem gewaltigen Kamin ausging. Wandteppiche voller Darstellungen heroisch gegen Drachen kämpfender Zauberer bedeckten die Wände und verliehen dem Raum trotz der Steinwände etwas Heimeliges.

»Ich nehme an, es hat einen Grund, dass Elphinstone hierher gekommen ist und nicht ins Hospital gegangen ist?«

»Ah, ja ... das –«

»Gut, verstehe. Keine weiteren Fragen.«

Tatenlos sah Minerva zu, wie ihre unfreiwillige Gastgeberin Elphinstone auf eines der dunkelroten Samtsofas beförderte und im Zauberstabumdrehen sein zerfetztes Hemd entfernte. Die Hexe sog scharf die Luft ein und Minerva richtete stur den Blick auf ihre eigenen – von Brandblasen übersäten – Hände. Da tauchte die Hauselfe wieder zu ihren Füßen auf, eine Ledertasche in den Armen, die beinahe so groß wie sie selber war.

»Danke, Newa. Haben wir noch Murtlap-Essenz? Ich vermute, die werden wir brauchen.«

»Natürlich, ich sehe sofort nach«, piepste die Elfe hilfsbereit und lief gleich wieder an Minerva vorbei.

»Und sag Lior Bescheid!«, rief die Frau ihrer Helferin hinterher. Ohne sich umzudrehen, redete sie weiter mit Minerva. »Keine Sorge, Darling, überlass das nur mir. Ich bin übrigens Eilean, Elphs Schwester. Man mag es mir nicht ansehen, aber ich kenne mich mit einer Vielzahl an Verletzungen aus. Ist nicht das erste Mal, dass ich meinen Bruder zusammenflicke. Auch wenn ... nun, bisher war er wenigstens immer wach.«

Minerva stand wie vom Donnervogel getroffen auf der Türschwelle und starrte auf den Rücken der kleinen Hexe, die die jüngste Urquart-Schwester sein musste. Die Locken passten zu dem Bild des Mädchens in der Hufflepuff-Uniform, das sie erst vor Kurzem in Elphinstones Wohnung gesehen hatte. Ihr rundliches Gesicht hatte kein Stück der jugendlichen Fröhlichkeit verloren. Ein wenig erinnerte die Frau sie an Pomona, auf die beste Art.

»Setz dich, Darling, setz dich«, befahl Eilean in einem geschäftsmäßigen Ton und deutete mit einer Hand auf die weiteren Sitzgelegenheiten, die sich um einen großen runden Eichentisch vor dem Kamin gruppierten. »Das wird eine Weile dauern.«

Ehe Minerva sich durchrang, näherten sich erneut Schritte. Die kleine Hauselfe kam mit einer großen Glasflasche in den Händen vorweg getrippelt, hinter ihr ein Mann, der sich gähnend seinen karierten Morgenmantel zuband.

»Knuddelmuff, was geht hier vor sich?«, murmelte er verschlafen und fuhr sich durch die unordentlichen rotblonden Locken. Sobald er Minerva erblickte, hielt er mit großen Augen inne. Sein Blick wanderte an ihren verstaubten, zerschlissenen und nicht zuletzt mit Blut bedeckten Kleidern herab. »Bei Merlins Bart!«

Eilean sah flüchtig über ihre Schulter. »Gut, dass du da bist, Schatz. Tu mir den Gefallen und geh rüber ins Gewächshaus und hol etwas von dem Diptam. Mein Bruder ist auf unserer Türschwelle aufgetaucht, ohnmächtig und blutüberströmt, zusammen mit – ähm ....«

»Minerva McGonagall«, soufflierte Minerva verlegen.

»Ooooh, du bist das also.« Elphinstones jüngere Schwester nickte, als würde das alle Fragen beantworten. »Nun, wie dem auch sei, ich brauche Diptam. Dringend. Hast du die Murtlap-Essenz, Newa?«

»Oh ja!« Die Hauselfe huschte geschwind an die Seite von Eilean und reichte ihr die braune Glasflasche. Die beiden tauschten ein paar leise Worte und schon lief die Elfe erneut fort.

Auch der Zauberer verschwand durch denselben Türbogen und Stille senkte sich über den Raum. Hin und wieder murmelte Eilean leise einen Zauberspruch, ansonsten vernahm Minerva nur das Rauschen ihres eigenen Bluts in den Ohren. Mit zittrigen Beinen wankte sie zu einem plüschigen Sofa, das sie an jene im Gryffindor-Gemeinschaftsraum erinnerte, und ließ sich darauf nieder.

»Darling«, sprach Eilean sie unvermittelt an, ohne den Kopf zu heben, »bist du auch verletzt? Irgendwelche Blessuren, die einen Trank oder Zauber benötigen?«

»Ich – ich weiß nicht.« All die Schmerzen der letzten Stunden waren zu Minervas neuem Normalzustand verschmolzen. Sie sah die Blasen an ihren Handballen, die verbrannte Haut und das Zittern ihrer Glieder, aber in ihrem Kopf schien ein Schalter umgelegt worden zu sein. Keines der Bilder wollte sich einer Empfindung zuordnen lassen. »Das kann warten.« Hauptsache, Elphinstone wurde versorgt. Das watteweiche Sofapolster war ihr Himmel genug.

»In Ordnung. Kipp mir nur nicht um.«

Das Knistern und Zischen diverser Zauber erklang, doch Minerva sah nicht hin. Sie wollte überhaupt nicht mehr sehen. Es fiel ihr bereits schwer, aufrecht zu sitzen. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen, um sich in einem traumlosen Schlaf zu verlieren. Wenn da nicht die nagende Sorge wäre, die ihre ohnehin überreizten Sinne weiter forderte. Sie kam sich vor wie der letzte Rest Marmelade, der unmöglich einen ganzen Scone bedecken konnte und doch in einer viel zu dünnen Schicht auf dem Gebäck verstrichen wurde, sodass kaum Geschmack aufkam. Fad und blass, ein Schatten ihrer Selbst.

Ihr Blick fing sich an Newa, die erneut auftauchte, eine große Schüssel dampfenden Wassers vor sich her dirigierend und einen Stoß Handtücher über dem Arm. Ohne Minerva zu beachten, eilte sie an Elphinstones Seite. Minerva sah nicht, was Hexe und Hauselfe taten, doch das war ihr nur recht. Es reichte, dass die Frotteetücher nicht weiß blieben, sondern sich in einem hellroten Knäuel am Boden sammelten, eines nach dem anderen.

Schließlich kehrte auch der Zauberer namens Lior mit einem ganzen Bündel langstieligen Diptams zurück. Die Pflanze mit den kleinen runden Blättern kannte Minerva aus Kräuterkunde, ebenso wie ihre heilenden Effekte. Auf ein Schnipsen der Elfe hin zerhackte sich das Kraut in der Luft, fiel in ein Schälchen – das eben garantiert noch nicht dagewesen war – und wurde von Geisterhand zu einer zähen Paste zerrieben. Bei anderer Gelegenheit hätte Minerva die Magie der Hauselfe bewundert.

»Reichen Sie mir mal Ihre Hände.«

Minerva zuckte zusammen. Waren gerade ihre Augen zugefallen? Vor ihr hockte mit einem Mal der reichlich verschlafen aussehende Zauberer, eine Phiole schlammgrünen Trankes und einen Wattebausch in den Händen. Er lächelte entschuldigend, während er die nach Moor riechende Flüssigkeit auf den Tupfer träufelte.

»Damit sind die Verbrennungen ruckzuck Geschichte, das können Sie mir glauben. Selbst die hässlichsten Verletzungen durch Feuerkrabben kann man damit heilen. Eine Eigenkreation meines Vaters, der hat sie auf Herz und Nieren getestet. Nur am Geruch könnte man noch arbeiten. Achtung, das brennt jetzt ein wenig.«

Reglos sah Minerva zu, wie die Brandblasen an ihren Händen unter der Behandlung schrumpften, bis ihre Haut vollkommen glatt und rosa glänzte. Da ihre Würde ohnehin im Anwesen der Lestranges zurückgeblieben war, ließ sie es zu, dass der fremde Mann auch den Rest ihrer Verbrennungen an Armen, Oberkörper und Füßen mit der Tinktur bestrich. Sie stellte ihm keine Fragen, sondern nahm stumm den Heiltrank an, den er ihr anschließend reichte. Und das Gebräu danach. Sie trank aus drei verschiedenen Phiolen, ohne das sich etwas an der dumpfen Leere in ihr änderte.

»Geht es?«, fragte der Mann ihr gegenüber besorgt.

Minerva sah auf, in das sommersprossige Gesicht des Fremden. Ihre Zunge weigerte sich, Worte zu bilden. Hilflos zuckte sie mit den Schultern. Hinter ihm sah sie Eilean und die Hauselfe durch die Gegend eilen und als sie zu dem Sofa blickte, war es leer, abgesehen von einem dunklen Fleck.

»Das kommt wieder in Ordnung. Meine Frau und Newa sind zuverlässige Heilerinnen. Sie haben ein paar Kniffe von den Besten ihres Faches gelernt. Das ist unerlässlich, wenn man sich tagtäglich mit magischen Tierwesen umgibt. Newa ist jetzt oben bei ihm, in seinem alten Zimmer. Wenn er aufwacht, wird sie Ihnen sicher Bescheid geben.« Das Lächeln auf den Zügen ihres Gegenübers war schüchtern, aber aufrichtig. Er tätschelte ihren Handrücken. »Meine Frau ist draußen, im Garten, wenn Sie mit ihr sprechen möchten. Sie kann das sicherlich besser erklären als ich.«

Da Minervas Augen sich beständig weigerten, endgültig zuzufallen und ihr den Rest des Tages zu ersparen, nickte sie.

»Oh – aber lassen Sie mich kurz Ihre Kleider etwas ...« Der Zauberer gestikulierte in Richtung des aufgetrockneten Blutes. »Etwas reinigen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Ein neuerliches Schulterzucken Minervas und schon hatte er seinen Zauberstab geschwungen. Einiges von dem Blut verschwand, ebenso wie Staub und Asche. Ein warmes Gefühl ging von den Stoffen aus. Minerva sah immer noch jämmerlich aus, aber für den Moment reichte es. Sie folgte Eileans Mann ins Freie, ihre beiden Umhänge gegen die Nachtfrische eng um sich gewickelt.

Es war beeindruckend. Bei einem gewöhnlichen Besuch hätte sie den Garten genau erkunden wollen. Selbst im Mondschein war ersichtlich, dass es kaum ein Stück unberührten Rasens gab. Überall blühte es, sodass Minerva sich unweigerlich vorstellte, wie es hier im Sommer vor Bienen und anderen Insekten summen musste. Auch ohne Sonnenlicht war der Garten wunderschön.

Angesichts unzähliger Pflanzen, die entlang des verwundenen Wegs aus lockeren Steinplatten wuchsen, verstand Minerva, warum Elphinstone so eine Vorliebe für Kräuterkunde entwickelt hatte. Viele der Gewächse waren magisch mit praktischem Nutzen, aber einen guten Teil konnte man auch in einem herkömmlichen Gartencenter für Muggel entdecken. Ihre würzigen Gerüche erfüllten die Luft mit Leben und erinnerten an Pomonas Gewächshäuser.

Erst zum See hin lichtete sich das dschungelartige Grün und ein flacher Grasstreifen kam in Sicht. Der Anblick der schier unendlichen Wasserfläche rief Minerva ins Gedächtnis, dass sie hier am Ufer von Schottlands berühmtesten Loch stand. Sie war zum ersten Mal hier und das unter diesen Umständen. Mit keinem Wort hatte Elphinstone erwähnt, wo genau er aufgewachsen war. Und selbst wenn, hätte sie es sich nicht so vorgestellt.

Nach wie vor schüchtern lächelte ihr Begleiter Minerva zu. »Da vorne ist Eily. Ich muss leider zurück ins Haus – ich glaube, es hat sich gerade ein weiterer Besucher eingefunden.« Er warf einen Blick auf etwas Kleines in seiner Hand, eine Münze oder dergleichen. »Entschuldigen Sie bitte.«

»Kein Problem.« Minerva erschrak über ihre Reibeisenstimme und setzte ein Lächeln hinzu. Eileans Mann drehte sich mit einem letzten verschämten Nicken um und verschwand zwischen den Pflanzen.

Insgeheim erleichtert, wandte Minerva sich dem gewaltigen Loch Ness zu. Ein kleiner Holzsteg ragte vom Garten der Urquarts in den See. Darauf stand Eilean, einen Eimer zu ihren gummistiefelbewehrten Füßen. Das wirklich aufregende an dem Anblick, der sich Minerva bot, war allerdings der lange, schuppige Hals des Tieres, den Eilean streichelte.

Sie hatte Pflege magischer Geschöpfe nie belegt und so schämte Minerva sich, dass sie erst jetzt erkannte, was doch so offensichtlich vor ihren Augen gelegen hatte. Ein Kelpie! Der ausgestopfte Kopf im Hause der Lestranges, dessen Anblick Elphinstone schockiert hatte, der Türklopfer dieses Anwesens – natürlich. Jedes Kind in Schottland wuchs mit der Legende der menschenfressenden Wasserdämonen auf. Und alle Hexen und Zauberer wussten, dass das berühmte Monster im Loch Ness ein Kelpie war. Dieser Kelpie.

Minerva schnappte nach Luft und wie auf ein Stichwort drehte Eilean sich um und lächelte ihr zu.

»Oh, Hallo!«, rief Elphinstones Schwester ihr von Weitem entgegen. »Ich hoffe, das Dickerchen hat dich nicht erschrocken? Er ist in letzter Zeit etwas angeschlagen, eine frühherbstliche Erkältung, deshalb bekommt er alle vier Stunden etwas Fressen zusammen mit seinem Erkältungstrank.« Sie beugte sich zu dem Eimer herab und holte ein blutiges Steak heraus. Ohne Zauberstab warf sie es hoch in die Luft. Wie auf Kommando streckte der Kelpie den Hals und verschlang das Fleisch in einem Happs. »Da ich seine Fütterung für Elphinstone unterbrechen musste, ist der Gute ein bisschen grantig. Aber keine Sorge, er ist ein ganz Lieber!«

Nicht überzeugt trat Minerva noch ein paar Schritte auf Eilean zu, blieb aber lieber am sicheren Ufer stehen. »Oh, ähm – gut. Wie geht es Elphinstone?«

Eilean lächelte sanft. »Er wird es überstehen. Das waren heftige Schnitt- und Stichwunden, in denen sich Gift gesammelt hat, das will ich nicht beschönigen – aber Newa und ich haben unser Bestes getan. Er ist in jedem Fall über den Berg und die Blutungen sind gestillt. Newa versorgt noch die letzten kleineren Verletzungen und dann warten wir, dass er aufwacht. Das Einzige, worauf ich mir keinen Reim machen kann sind diese ... schwarzen Adern. So etwas habe ich noch nie gesehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Verzeih mir die Neugier, aber – Darling, was ist passiert?«

»Ich – ich weiß es selber nicht –«

Minerva wurde die Verlegenheit ihres eigenen Gestammels erspart, denn Lior tauchte wieder auf – einen alten Bekannten im Schlepptau. Albus Dumbledore wirkte gleichzeitig fehl am Platz in diesem Garten und andererseits genau richtig, als würde er öfter hier stehen, um die Weite des Lochs bewundern. Er trug fliederfarbene Roben, bestickt mit silbernen Sternen, und die Augen hinter seiner Halbmondbrille funkelten hellwach. Der Anblick eines bekannten Gesichts erleichterte Minerva.

»Eilean, ich hoffe, du kannst mein unangekündigtes Auftauchen verzeihen«, sprach er ruhig und nicht ohne freundliches Lächeln, »Lior hat mich freundlicherweise informiert.«

»Oh, schon gut«, winkte Eilean ab, »ich habe ja schon irgendwie befürchtet, dass es keine Ministeriumssache ist, in die mein Bruder da hereingeraten ist. Sonst wäre er sicher nicht hier aufgeschlagen, sondern im St. Mungo.«

»Nein, dafür werde ich die Verantwortung übernehmen müssen.« Albus seufzte und trat ein paar Schritte näher an Minerva, bis er ihr behutsam eine Hand auf den Oberarm legte. »Genauso wie für einiges anderes. Es tut mir unendlich leid, dass ich die Gefährlichkeit dieser Situation unterschätzt habe. Für den Moment muss ich dich mit dieser Erklärung vertrösten. Ich kann dir nur meinen Dank aussprechen, dass du dich auch Minerva angenommen hast. Würde es dir und Lior Umstände bereiten, den beiden noch ein paar Tage Unterschlupf bei euch zu gewähren?«

Eilean hatte die Augenbrauen zusammengezogen und die Arme vor der Brust verschränkt, doch sie seufzte ergeben. »Natürlich nicht. Leuten in Not ist zu helfen, nach diesem Motto lebe ich.«

»Wunderbar, wunderbar.« Mit einem vorgeblich amüsierten Glucksen wies Albus auf den Kelpie, der sich unbemerkt von Eilean an den Eimer voller Fleisch angeschlichen hatte und drauf und dran war, sich selbst zu bedienen. »Sieht aus, als würde da jemand den Mangel an Aufmerksamkeit beklagen.«

Die Hände in die Hüften gestemmt, drehte Eilean sich zu dem unartigen Tierwesen um und hielt ihm in schnellem Gälisch eine Predigt.

Albus’ unheimlich blaue Augen bohrten sich derweil direkt in Minervas und er senkte die Stimme, bis nur sie die Worte vernehmen konnte. »Wie schlimm ist es?«

»Ich weiß es nicht.« Minervas Bemühungen, die aufkommenden Tränen zu unterdrücken, brachten sie zum Zittern. »Wo sind die Kinder, Albus?«

»In Sicherheit. Fawkes hat sie direkt nach Hogwarts gebracht. Für die Nacht werden sie von Poppy versorgt. Ein Besuch im St. Mungo wird wohl unausweichlich sein, aber das wollte ich den armen geschundenen Seelen nicht mehr zumuten. Nicht heute Nacht.«

Erleichtert nickte Minerva. »Das ist gut.« Ihre Stimme bebte und sie schlang die Umhänge enger um ihren Oberkörper.

Albus entging nicht, wie schwer es ihr fiel, die Fassung zu wahren. Ganz leicht nahm er sie in die Arme, hüllte sie in die ausladenden Ärmel seiner Robe und erinnerte sie daran, dass er nicht bloß als Schulleiter hier war, sondern auch als Freund. Für den Moment fühlte sie sich beschützt von der Welt, weit fort von Eilean und Lior, die nur wenige Meter neben ihnen standen und doch außerhalb dieses Schutzes aus fliederfarbenem Satin. Umarmungen von Albus waren eine gewisse Seltenheit – kein bisschen wie Elphinstones fester Halt und trotzdem beruhigend.

In schnellen, flüsterleisen Sätzen klärte Minerva ihn auf, was seit ihrem letzten Schreiben an ihn geschehen war. Albus wog den Kopf hin und her, unterbrach ihre Erzählungen aber nicht. Von außerhalb seiner Umarmung war zu hören, wie Eilean mit dem Kelpie schimpfte und dieser schnaubend antwortete.

Als sie geendet hatte, stellte Minerva endlich die Frage, die sie schon seit Stunden beschäftigte und deren Beantwortung sie hoffentlich etwas ablenken würde. »Wie hat Fawkes uns gefunden?«

»Oh, das ist weiser Voraussicht geschuldet, wenn ich das so sagen darf«, erklärte Albus. »Der Vestigiator enthält eine Prise seines Phönixfederstaubes. Die besondere Magie der Phönixe und ihre Fähigkeit zum Ortswechsel muss ich dir ja nicht erklären. Für ihn war es aufgrund der Verbindung ein leichtes, die Erfindung unter den Schutzzaubern aufzuspüren. Ich hatte gehofft, dass er und das Schwert dir so zur Hilfe eilen können, nachdem Robert mir von eurer Entführung berichtete. Und offenbar lag ich nicht falsch.«

»Oh.« Nach all den Jahren hätte Minerva daran gewöhnt sein müssen, dass Albus immer einen Plan in der Hinterhand hielt, und trotzdem erwischte seine Voraussicht sie kalt. »Du – du weißt nicht zufällig, was mit den Kindern geschehen ist? Was das ist, was ihnen angetan wurde?«

Albus schüttelte den Kopf. »Blutflüche sind ein komplexes Thema und ich fürchte, keine meiner zahlreichen Expertisen. Also gehe ich richtig in der Annahme, dass Elphinstone Beeinträchtigungen davongetragen hat?«

Minerva nickte, die Augen fest zusammengekniffen. Es war nicht so, dass sie vor Albus nicht weinen könnte, aber jetzt die Fassung zu verlieren, würde niemandem helfen.

»Nun, dann sei beruhigt. Poppy hat mir versichert, dass der Fluch nicht vollständig aktiv ist. In St. Mungo sollte man allen dreien helfen können. Für den Moment handelt es sich nur um eine Verunreinigung in ihrem Blutkreislauf.«

»Das hoffe ich. Er ... er konnte nämlich nicht zaubern.« Minerva schniefte. »Elphinstone hat einen Dementor abgewehrt – nur mit dem Schwert!«

Albus legte den Kopf schief. »So?«

»Ja. Ich dachte immer ... ich dachte, es käme nur Gryffindors zur Hilfe. Und dann hatte er es plötzlich. Er ist so ein wunderbarer Mensch und ich hätte ihn fast umgebracht!« Sie war froh, dass sie Eilean in diesem Augenblick nicht sehen konnte.

»Aber, aber, Minerva. Das hättest du nicht. Er hat sich aus eigenem Willen entschieden – für dich, für das Gute. Sieht ganz so aus, als hätte Elphinstone Urquart wahren Gryffindormut bewiesen.« Hinter den Halbmondgläsern zwinkerte Albus wohlwollend. »Etwas, das sich nicht nach dem Hogwartshaus bemisst, würde ich behaupten, sondern viel mehr nach dem, was in uns steckt. Ich denke, das Schwert eilt denen zur Hilfe, die echte Größe beweisen, egal wer sie sind oder woher sie kommen. Du solltest nicht an seinen Entscheidungen zweifeln.«

Minerva seufzte. In Albus’ Gegenwart war es geradezu unmöglich, weiter den Kopf zu verlieren oder sich in Angst hineinzusteigern. Stattdessen nickte sie noch einmal und versuchte sich an einem kleinen Lächeln. »Aber was wird jetzt geschehen? Die Lestranges sind entkommen ...«

»Du brauchst einen neuen Zauberstab, genauso wie Elphinstone. Ich schicke Garrick eine Eule, damit er Bescheid weiß.«

»Und die Schule –«

Albus drückte beschwichtigend ihre Schultern. »Wird in deiner Abwesenheit nicht untergehen. Deinen Unterricht kann Professor Admanthus noch eine Weile übernehmen, während du hier wieder zu Kräften kommst. Morgen begleitet Poppy die Kinder zunächst ins St. Mungo, derweil ich eine Unterredung mit der geschätzten Ministerin suche. Es liegt mir fern, zu früh auf den falschen Besen zu setzen, aber vielleicht wird Eugenia endlich die richtigen Maßnahmen ergreifen. Dann kannst du bald zurückkehren und alles wird seinen geordneten Gang gehen. Schließlich hast du bereits genug getan, Minerva.«

Das sah sie nicht so – ganz und gar nicht –, doch für den Moment ergab sie sich mit einem Nicken. Während sie leeren Blickes auf den See hinaus starrte, tauschte Albus einige Worte mit Eilean und Lior, ehe er sich höflich verabschiedete und in die Dunkelheit verschwand.

Das Schmatzen des Kelpies riss Minerva aus dem seltsamen Schwebezustand absoluter Leere. Sie wandte sich zurück an Eilean. »Danke für ... alles. Es tut mir leid, dass ich dir solche Umstände bereite –«

»Ach Quatsch«, entgegnete diese energisch, »das ist doch Doxymist! Natürlich habe ich das getan. Du musst dich weder entschuldigen, noch bedanken. Ich würde es auch so tun, ganz ohne Albus’ Einmischung. Pate meines Mannes hin oder her, Elphinstones Freunden helfe ich gerne.«

»Trotzdem ... Elphinstone hat mich in den Fidelius eingeweiht ...«

»Das ist das ein Hippogreif, den ich mit meinem Bruder zu rupfen habe.« Eilean zuckte mit den Schultern, ohne zu merken, dass der Kelpie hinter ihr sich schon wieder dem Eimer näherte. »Außerdem – wenn Elphinstone dir vertraut, tue ich das genauso. Ganz abgesehen davon, dass er über die Jahre hinweg unendlich viel von dir erzählt hat und ich schon immer neugierig war, dich kennenzulernen.« Kurz bevor der Kelpie ein Steak erbeutete, versetzte Eilean ihm mit dem Zauberstab einen Stupser.

»Aber der Fidelius-Bann liegt ja wohl nicht aus Spaß über eurem Anwesen.«

»Da hast du recht. Wir leben gezwungenermaßen unter dem Fidelius, wegen Nessie hier.« Eilean krauelte den Kelpie zwischen den Nüstern. »Der Bann deckt einen Teil des Sees ab, in dem er unbehelligt leben kann. Da der Urquart-Clan seit Jahrhunderten am Ufer des Loch Ness residiert, ist uns die Aufgabe zugefallen, ihn zu behüten und von allen gewöhnlichen Menschen fernzuhalten. Das Ministerium kann nicht riskieren, dass er frei umher schwimmt und ein paar Muggel anknabbert. Also, wenn ich mich ganz förmlich vorstellen darf: Eilean Scamander, Hüterin von Loch Ness.«

Ohne viel Federlesen schnappe Eilean sich das letzte Steak, warf es Nessie zu und stapfte dann Minerva voraus zurück ins Haus. Dort nahm Minerva erneut den Platz auf dem Samtsofa ein, während die Kelpiehüterin in der Küche verschwand. Doch es dauerte nicht lange, bis Newa, die Hauselfe, mit einem dampfenden Becher vor ihr auftauchte.

»Newas berühmte heiße Schokolade!«, verkündete die Elfe mit stolzgeschwellter Brust. »Trinken Sie!«

»Danke ... aber – ich kann nicht –«

»Oh, das ist eine heilerische Anweisung, Ma’am! Der Schlafsirup darin wird Ihnen helfen. Ruhe ist die beste Medizin.« Newas Ohren zuckten in die Höhe und sie tätschelte Minervas Hand. »Newa hat außerdem gute Neuigkeiten von Mister Elphinstone!«

Die heiße Schokolade in Minervas Becher schwappte auf ihre ohnehin dreckige Hose. »Er ist wieder wach?«

Anstelle von Newa antwortete Eilean ihr, die just in diesem Moment im Türrahmen auftauchte. »In der Tat. Ich war eben oben und er ist wieder bei Bewusstsein. Wenn mich nicht alles täuscht, hat er nach dir gefragt.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als Minerva aufsprang und mehr von ihrem Getränk verschüttete. »Vorher solltest du allerdings deine Schokolade trinken, sonst lässt dich die oberste Heilerelfe nicht gehen.«

»Ganz richtig!« Newa schnipste und die Flüssigkeit kehrte in den Becher zurück.

 

In ihrem gesamten Leben hatte Minerva noch nie derart hastig heiße Schokolade hinuntergestürzt. Ihre Zunge dankte es ihr nicht, aber immerhin zitterten ihre Glieder nicht länger, während sie Eilean zu Elphinstones einstigem Zimmer folgte.

Newa hatte es sich nicht nehmen lassen, ihr zusätzlich eine Dusche zu befehlen und ihr anschließend einen Schlafanzug nebst Morgenmantel aufgedrängt. So war die Absurdität der Situation komplett: Minerva mit von der Feuchtigkeit lockigen Haaren, in dem Kinderzimmer ihres früheren Vorgesetzten, plüschige Hausschuhe an den Füßen, die aussahen wie zwei explodierte Knuddelmuffs. Und es war ihr egal, verflucht egal.

Als sie alleine das Zimmer betrat, stand die Zeit für sie still. Elphinstone lag auf einem Himmelbett, das genauso in Hogwarts hätte stehen können, und war bleich wie die weißen Laken. Sein Atem ging flach, die Augen hatte er geschlossen. Etwas in ihr drängte Minerva, auf dem Absatz kehrtzumachen und das Zimmer hinter sich zu lassen. Sie ertrug es kaum, ihn so zu sehen, obwohl da kein Blut mehr war. Gleichzeitig musste sie sich vergewissern, dass es ihm gut ging. Dass er lebte.

Ihre Knuddelmuff-Hausschuhe quiekten leise, als sie näher an das Bett herantrat. Was sollte sie tun – oder gar sagen? War er eingeschlafen, weil Newa sie aufgehalten hatte? Die Gefühle in Minerva stritten sich laut wie zänkische Wichtel. Unsicher blieb sie stehen, den Blick auf alles, nur nicht ihn, gerichtet.

Der Besuch in seinem früheren Zimmer war eine Zeitreise in das Leben eines Jungen, den sie so nie gekannt hatte. Da gab es bekannte Elemente – seine Liebe für Pflanzenkunde etwa zeigte sich in zahlreichen Büchern zu dem Thema –, aber auch Neues, wie die Auszeichnungen in Schachturnieren, zu entdecken. Gezeichnete Bilder von dem Helden eines Comics, der mit seinem treuen Haustierdrachen gegen Schwarzmagier kämpfte, zierten gleich mehrere Wände.

Über dem Bett hingegen prangte ein grünes Banner mit dem Wappen Slytherins neben Fotografien lachender Teenager. Am Ufer des Schwarzen Sees, vor den Weihnachtsbäumen in der großen Halle und auf einem Sofa im Slytherin-Gemeinschaftsraum, der einen Ausblick auf die Unterwasserwelt bot. Sie erkannte Archie auf einigen, Arm in Arm mit Elphinstone – einander küssend. Es waren fraglos Dokumente einer glücklichen Zeit.

Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass es nicht eine Fotografie von ihr und Elphinstone gemeinsam gab. Es existierte nur eine Aufnahme aus dem Ministerium, die ihr damaliges Team zeigte. Sonst hatte sich nie die Gelegenheit ergeben. Außer ihren Erinnerungen wäre nichts geblieben, wenn diese Nacht einen anderen Verlauf genommen hätte.

Minerva verschlang die Hände vor dem Bauch. Nicht, dass sie annähernd so etwas wären wie er und Archie einst. Und doch ... der Gedanke, nicht eine handfeste Erinnerung an jemanden zu haben, der ihr so viel bedeutete, traf sie tief.

Keine Fotos, auf denen Elphinstone lächelnd den Arm um sie legte und immer wieder in ihre Richtung sah, anstatt in die Kamera. All ihre Treffen in Madam Puddifoots Café, jeder ausgedehnte Spaziergang durch Hogsmeade, jedes Quidditchspiel, zu dem er sie trotz seiner Abneigung für den Sport begleitet hatte – all das wäre unwiederbringlich in den Tiefen ihrer Erinnerung verloren. In diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher als einen winzig kleinen Beweis ihrer Beziehung, der alles überstehen würde. Und wenn es nur ein einzelnes Bild wäre, das sie immer daran erinnerte, dass er ein Teil ihres Lebens gewesen war.

»Minerva?«

Ertappt schreckte sie zusammen. In Gedanken verloren war ihr nicht aufgefallen, dass Elphinstone die Augen geöffnet hatte. Seine Stimme klang rau, vom Schmerz gepresst und trotzdem so verflucht sanft. Bevor die zänkischen Wichtel in ihr wieder laut werden konnten, war sie an seiner Seite.

»Phin!« Ihre Finger wanden sich um seine, die er nach ihr ausstreckte. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«

»Nicht doch.« Er versuchte es mit einem Lächeln, doch die Verletzung verlangte ihren Tribut. Angestrengt atmend schloss er wieder die Lider. »Alles wird gut«, seufzte er leise. »Setz dich.«

Sobald er es einmal gesagt hatte, versagten Minervas Beine ihr den Dienst. Sie sank neben ihm auf das Bett, ohne ihn loszulassen. »Oh Merlin, ich bin so froh, dass du es geschafft hast.«

»Wir. Wir haben es geschafft.« Elphinstone zog seine Hand zurück und legte sie an ihre Wange. Sein Daumen fuhr ihren Wangenknochen entlang. »Danke für’s Leben retten, Minerva. Ich sagte doch – du bist wunderbar.«

Sie richtete den Blick zur Seite aus einem dunklen Fenster, obwohl sie nichts außer erdrückender Schwärze erkennen konnte. Am Rande ihres Sichtfelds brannten die Tränen in ihren Augen, denen sie nicht bereit war, freien Lauf zu lassen.

»Ich hab doch gar nichts getan. Ich konnte gar nichts tun.« Ihre Hände verkrampften sich. »Das waren alles deine Schwester und die Elfe.«

»Nichts getan?« Er schüttelte den Kopf. »Ohne dich hätte ich es nie aus diesem Haus geschafft.«

»Ohne mich wärst du gar nicht in dieser Lage!«

»Lieber so, als anders. Min ...« Sein Gesicht verzog sich angesichts seiner Anstrengungen, sie besser anzusehen. »Ich würde es immer wieder tun.«

Sie presste eine flache Hand gegen ihren Bauch. »Ich hatte schreckliche Angst, dich zu verlieren. Das will ich nie wieder erleben!«

Kaum merklich seufze Elphinstone. Seine Lider klappten ein ums andere Mal zu. Trotzdem strich er unablässig über ihre Wange. »Alles wird gut«, murmelte er mühevoll. »Ich versprech’s dir. Ich lasse dich nicht zurück.«

Voller Sehnsucht nach seiner Nähe drückte Minerva die Finger auf seine Hand an ihrer Wange, die langsam gen Bettdecke glitt. »Ich will es hoffen, Phin.« Sie schluckte gegen die aufsteigende Unschärfe in ihrer Sicht an und hauchte schließlich die größte Sorge hinaus, die ihre letzten Stunden bestimmt hatte. »Ich will dich nicht missen. Wer macht mir denn sonst unpassende Heiratsanträge? Wer unterstützt mich bei jedem Aufsatz für Verwandlung heute? Wer bringt mich zum Lachen, wenn alles so verflucht grau aussieht? Wer umarmt mich, wenn ich es mir am meisten wünsche?« Sie schluchzte leise. »Das alles kann niemand so wie du.«

Die kleinen Lachfalten um seine Augen vertieften sich, obwohl seine Lider wieder geschlossen waren. »Damit würde ich nie ... freiwillig aufhören ...«

Die ersten Tränen liefen ihre Wangen hinab und fielen auf die Decke über seiner Brust. »Ich will es hoffen, Phin ...«

»Nicht«, nuschelte er. »Keine Tränen ...«

»Du bist jede Einzelne davon wert, Elphinstone. Jede Einzelne.«

Er brummte etwas und seine Finger in ihren zuckten kaum merklich. Auch ihre zweite Hand landete auf seiner an ihrer Wange. Sie streichelte über seinen Handrücken, seinen Unterarm und spürte genau, wie die Schwerkraft mit jedem Atemzug gegen seine Kraft gewann.

»Du bedeutest mir alles«, flüsterte sie weiter. »Dhutsa mo chridhe tha mi a ’gèilleadh.«

Ob die Worte ihn überhaupt erreichten, konnte sie nicht sagen. Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig und bis auf die Andeutung eines Lächelns waren seine Züge vollkommen entspannt. Sie drückte seine Hand ein letztes Mal, ehe sie diese auf der Decke ablegte. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, erhob sie sich. Er regte sich nicht, selbst dann nicht, als sie sacht seine Stirn küsste.

Auf dem Weg zur Tür hörte sie bloß, wie er einige unverständliche Geräusche von sich gab, vom Schlaftrank verschleiert. Dennoch war sie sicher, ihren Namen gehört zu haben.



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