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Der Chrysanthemendrache

Neuer Weg
von

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Der Chrysanthemendrache

 

 

Im kaiserlichen Palast herrschte Aufruhr. Beflissene Geschäftigkeit, vermischt mit einem Hauch von Vorfreude auf festliche Speisen lag über den rot geziegelten Hallen. Der Herrscher über das riesige Drachenreich Longdiguo empfing Gesandte von jenseits der Grenzen. Lange hatte die Beziehung zwischen dem Reich und Seongji, dem kleinen Flecken Erde, der sich hartnäckig weigerte, sich dem größeren Bruder zu unterwerfen, auf Eis gelegen. Dieser Umstand verlieh dem baldigen Aufeinandertreffen größte Wichtigkeit: Es galt den ehemaligen Feinden die Stärke und den Reichtum des Drachenreichs zu beweisen. Wohlmöglich würden sie sich dieses Mal entsinnen, ihre Unabhängigkeit endgültig aufzugeben.

Für dieses Ziel wurden keine Mühen gescheut:
 

Die beeindruckenden geschwungenen Palastdächer waren eigens für diesen Anlass von unzähligen Dienern poliert worden. Überall hingen bunte Lampions und frisch gereinigte Wandteppiche. Im ausgedehnten Palastgarten wurden die Goldfischteiche von Morast, sowie die Wege von welken Blättern gereinigt. Kleine, plattschnauzige Hunde mit sandfarbenem Fell wurden mit Glöckchen und winzigen Bannern behängt, um als Geschenk für den fremden Herrscher zu dienen. Hektische Diener huschten umher, Köche brüllten sich über das Brodeln von heißem Fett unverständliche Worte zu. Für das bevorstehende Festmahl wurden Dutzende Tiere geschlachtet, sodass selbst für den erbärmlichsten Diener noch ein Fetzchen blieb. Ochsenfuhrwerke karrten Wagenladung um Wagenladung an Obst, Gemüse sowie Reis aus allen Ecken des Reiches heran. Adelige flanierten mit wedelnden Fächern und golddurchwirkten Gewändern durch überdachte Wandelgänge, um ihre vornehme Blässe zu bewahren. Dabei beäugten sie mit beiläufigem Interesse die schuftende Dienerschaft. Einige machten sich einen grausamen Spaß daraus, frisch polierte Bodendielen mit schmutzigen Schuhen erneut zu verunreinigen. Es ergab ein zu herrliches Bild, wenn die in ihren Augen minderwertigen Menschen, mit vor Entsetzen geweiteten Augen auf die Knie fielen und gehetzt ihre zunichtegemachte Arbeit wiederholen mussten.

 

Natürlich blieb es nicht bei derlei Vorbereitungen. Selbstverständlich musste den fremdländischen Gästen neben Speis und Trank auch Unterhaltung geboten werden. Ein Umstand, der nicht überall auf Begeisterung stieß.
 

 

Der süßliche Geruch von Weihrauch waberte anlässlich des Willkommensfestes der Gäste träge durch die Luft. Sein zähes Aroma legte sich über alles und jeden, der sich in den kargen Gängen der Dienergemächer aufhielt.

Widerlich.

Lin Heilong hasste Weihrauch.

Lin Heilong hasste Feierlichkeiten.

 

Feste verhießen besonders für die Dienerschaft noch mehr Schufterei und Schlafmangel als üblich. Auch für Heilong. Außerdem musste sie sich wie eine Strohpuppe von Zofen herumschubsen lassen. Letztendlich war sie nur ein Spielzeug, obwohl die Künstler ein höheres Ansehen als Köche oder Bodenpolierer genossen.

 

Beim großen Drachen, dieses Theater war unerträglich! Diese blöden Weiber belästigten sie bereits seit Stunden! Zuerst das ausgedehnte Bad, währenddessen sie ihr pechschwarzes Haar und ihre blasse Haut geschrubbt hatten, bis sie abzufallen drohten. Dann das nicht minder grobe Abtrocknen hinter dem Tiger-Paravent. Trotzdem schien noch kein Ende dieser unzumutbaren Tortur in Sicht.

 

Zarte Hände tasten an ihr und um sie herum, hüllten und wickelten sie in Lage um Lage nachtschwarzer Seide.

Lin Heilong liebte Seidenroben.

 

Doch fremde Hände, die an Stellen herumzerrten, wo sie ihrer Meinung rein gar nichts verloren hatten, erregten ihren Unmut. Und wenn Lin Heilong Unmut verspürte, meinte sie in Wahrheit das Gefühl, dass die meisten Menschen als wütenden Zorn bezeichneten.

 

Ding Qingqing, die höchstrangige unter den Zofen, schien den Stimmungsumschwung des Mädchens zu wittern wie ein furchtsamer Jagdhund. Mit einem unauffälligen Handwedeln bedeutete sie ihren Gehilfinnen, die sich mittlerweile an Heilongs Haar zu schaffen machten, zurückzutreten. Hoffnungsvoll drehte sich Heilong zu den eingeschüchterten Frauen um und verzog das Gesicht bei deren Anblick.

 

„Fräulein Lin, macht Euch keine Sorgen, wir sind bald mit Eurer Aufhübschung fertig“, beteuerte Madam Ding unterwürfig. Behutsam trat sie einen Schritt auf das unwillige Mädchen zu, berührte sie federleicht an der Schulter, wollte ihren Hanfu zurechtzupfen. Ermutigt ergriff eine andere Dame das halbgeflochtene Haar und wand die dicken Strähnen zu einem kunstvollen Gebilde. Offenbar hatte sie vor, es mit essstäbchenartigen Haarnadeln zu fixieren. Es ziepte. Lin Heilong explodierte wie ein Feuerberg:

 

"Nein! Verschwindet! Lasst mich sofort los! Ich will nicht!“

 

Ihre Peinigerinnen taumelten zurück, als hätte Heilong ihnen allen gleichzeitig einen Schlag vor die Brust versetzt. Entsetzt fielen sie zu Boden, Madam Ding sogar in Ohnmacht, was ein heilloses Kreischen auslöste.

 

Lächerlich. „Wie könnt ihr es wagen, mich für Stunden in dieses stickige Ankleidezimmer zu verschleppen? Ich hatte nicht einmal genügend Zeit, um mein neues Musikstück zu wiederholen!", donnerte die junge Frau unter dem matten Gejammer der Damen.

 

 

Verächtlich schnaubend ließ Heilong die Zofen in dem Weihrauch verseuchten Ankleideraum zurück. Dumme, schwächliche Weiber. Kein Wunder, dass sie lediglich dazu dienten, den kaiserlichen Musikern und Akrobaten hinterher zu wischen.

Sie jedoch konnte auf diese unnütze Hilfe verzichten. Mit polternden Schritten stapfte sie über den morschen Flur. Auf den alten, knarzenden Holzdielen lag nicht einmal ein verblichener Teppich. Unnötiger Luxus wurde nicht an die einfachen Palastbewohner verschwendet. Nur wenn sie der Öffentlichkeit präsentiert werden sollten, zwängte man sie in die herrlichsten Gewänder und Kostüme, flocht ihr Haar zu wunderbaren Frisuren und bejubelte sie unter dem Einfluss von reichlich Pflaumenwein gerne einmal. An gewöhnlichen Tagen, hingegen wenn sie neue Übungen oder Musikstücke einstudierten und den Weg eines Adeligen kreuzten konnte man froh sein, nur einen verächtlichen Blick zu ernten. Spucke oder ein abfälliger Fußtritt gefielen manchen der hohen Herrschaften deutlich besser.

 

Heilong ballte die Hände zu Fäusten. Wie sehr sie dieses hochnäsige Pack verabscheute. Was führte sie nur für ein sinnloses Leben. Gefangen in einem Loch von minderbemittelten Idioten die entweder auf alle anderen Lebensformen mit Verachtung blickten oder die sich ihnen winselnd unterwarfen. Welch ein Pech hier gestrandet zu sein.

 

 

Ein plötzlicher Luftzug schreckte sie aus ihren trüben Gedanken auf. Mit einem wütenden Schrei schnellte sie herum, packte den hinterhältigen Angreifer am Arm, drehte diesen zur Schulter hinauf und zwang ihn zu Boden. Doch sobald sie sein schmerzvolles Ächzen vernahm und die unnatürlich hell anmutende Gestalt erkannte, lockerte sie ihren Griff.

 

„Heihei! Warum machst du das? Du tust mir weh! Ich bin es doch!“

 

Heilong wich von dem Jungen zurück, als hätte sie sich die Finger verbrannt. „Lin Lianhua, ich habe dir bereits tausendmal gesagt, dass du dich nicht so anschleichen darfst, verdammt!“, fluchte sie, um ihre Reue zu vertreiben.

„Aber Schwester, ich habe mich nicht angeschlichen, du musst vollkommen in Gedanken versunken gewesen sein und hast mich einfach nicht gehört“, protestierte Lianhua. Seine blauen Augen, so vollkommen anders, als die jedes anderen Menschen, den sie je gesehen hatten, blickten verletzt zu ihr auf. Nur ihre Form – wie eine Mandarinenspalte – ließ die Verwandtschaft der Geschwister erkennen, wenn sie lächelten.

Heilongs grimmige Miene wurde plötzlich weich. „Es tut mir leid. Ich kann es einfach nicht ertragen, wenn Ding Qingqing und ihre Gespenster an mir herumgrabschen.“

 

Ihr kleiner Bruder lächelte kopfschüttelnd. „Heihei, das ist doch alles halb so schlimm. Wenn du nur stillhalten und nicht unentwegt herumschimpfen würdest, wäre die ganze Prozedur halb so wild und viel schneller vorbei.“ Um seine Worte zu unterstreichen, breitete er seine bleichen Arme aus und präsentierte seine Gewandung.

 

Im ersten Moment war Heilong zu beeindruckt von den feinen goldenen Lotusstickereien, die sich über die zarten Stoffbahnen zogen. Feinste Seide und ein wenig Damast. Dann jedoch stieß sie ein undefinierbares Knurren aus. „Diese Mistkerle! Wie können sie es wagen?“

 

Lianhua hob abwehrend die Hände vor seine Brust, die lediglich an den Seiten von ein wenig Stoff bedeckt war. Dabei rutschte jedoch nur der Stoff des unteren Gewandteils nach vorne und entblößte sein dünnes Bein bis in eine unanständige Höhe.

 

„Wo ist diese verfluchte Schneiderin? Ich werde ihr eigenhändig mein Schwert in die Brust stoßen!“, fauchte Heilong.

 

„Aber Schwester, was ist denn schon dabei? Ich bin es gewohnt extravagante Roben für meine Tänze zu tragen.“

 

Beinahe hätte sie über diese Aussage gelacht. Er war es sogar bereits gewohnt! Ein weiteres Zeichen, dass sie die gehobene Gesellschaft verachten sollten. „Das nennst du eine Robe? Das ist ein Hauch von Nichts. Du siehst aus wie eine für den Kaiser zurecht gemachte Konkubine!“

 

Lianhua blickte unbehaglich auf seine bloßen Füße hinab. „Ich denke nicht, dass dies irgendjemandes Absicht war“, murmelte er, „wahrscheinlich wollen sie einfach ein exotisches Wesen so gut wie möglich präsentieren.“

 

„Das macht es nicht besser“, schnaubte seine Schwester und schlug wutentbrannt gegen die Wand.

 

Keine Frage, ihr Bruder sah bezaubernd aus in diesen weißgoldenen freiflutenden Stoffen, doch als große Schwester gefiel es ihr überhaupt nicht, ihn derart entblößt in der Öffentlichkeit zu sehen. Bei ihr hatte doch auch ein prächtiger, aber alles verhüllender Hanfu genügt. Lianhuas Kleidung erinnerte weniger an einen herausgeputzten Artisten, als an einen der alten Götter, die auf manchen Palastwänden abgebildet oder als Statuen überall im Reich zu finden waren.

 

„Wir werden nicht auftreten. Nicht in deinem lächerlichen Aufzug. Was sollen die Fremdländer denken, wenn sie deinen Tanz sehen?“

 

Der Junge zuckte unbekümmert die Schultern. „Ich gebe mir Mühe, trotz meines ungewöhnlichen Aufzugs einen unvergesslichen Auftritt darzubieten.“

 

„Pah, da bin ich mir sicher“, grollte Heilong.

 

Ihr Bruder war schrecklich gutgläubig und naiv, nicht fähig sich alleine in der Welt zurecht zu finden, obwohl sie nur zwei Jahre trennten. Seufzend strich sie ihren schwarzen Rock glatt. Silberne Drachen tanzten über die Falten. Schade, dass sie lediglich Guzheng spielte. Andererseits besaß sie zwar körperliche Geschicklichkeit, konnte beispielsweise mit verbundenen Augen über ein bindfadendünnes Seil balancieren, tanzte am Boden allerdings unbeholfen wie eine Schildkröte. Sie war es gewohnt, in Lianhuas Schatten zu stehen. Kein Wunder, er zog bereits alle Blicke auf sich, wenn er still in einer Ecke hockte. Außerdem war er viel hübscher als sie. Feingliedriger, eleganter. Freundlicher, gehorsamer. Vor allem aber trug er, abgesehen von seiner unglaublichen Anfälligkeit für Sonnenbrand und stechende Blicke, keine Bürde, die er stets kontrollieren, ja im Inneren seines Geistes, nein seines gesamten Körpers verbergen und zurückdrängen musste.  Vermutlich sollte sie sich freuen, dass alle ihm hinterhersahen und nicht ihr, die sie lediglich als verzogenes Gör galt, dem niemand zu nahekommen wollte.

 

Zwar wussten viele Palastbewohner, dass Lin Heilong keine gewöhnliche junge Frau war, doch alle vermuteten, dass sie nicht ganz richtig im Kopf war und ein Aggressionsproblem hatte. Letzteres mochte stimmen. Und trotz ihrer eigenen Bedenken, die sich nicht immer zurückdrängen ließen, hielt sie sich geistig für gesünder als manch anderer. Es lag an ihrem Körper. Durch ihre Adern floss eine seltsame Kraft, darauf drängend, hervorzubrechen und Zerstörung anzurichten. Ein schrecklicher Fluch. Viel zu oft hatte sie eine hastig zusammengesponnene Erklärung für Berge an Prozellanscherben und zersplitterten Möbelstücken ausdenken müssen. Es war beängstigend.

 

Lediglich ihr Bruder und Madam Yue, ihre Mentorin, die den Geschwistern ihre Talente in Tanz und Musik eingeprügelt hatte, seit die beiden Waisen vor den Palasttoren entdeckt worden waren, hegten einen Verdacht. Während sie es Lianhua eines Abends schluchzend gebeichtet hatte, war Madam Yue höchstpersönlich Zeugin ihrer dämonischen Macht geworden. Ein Ereignis, an welches Heilong sich kaum zu erinnern wagte. Zu schmerzlich die Schuldgefühle und der fassungslose Blick ihrer Mentorin, die sie nun endgültig für gefährlichen Abschaum hielt. Danach die offenkundige Furcht im Gesicht der Frau, die gewöhnlich keine Gelegenheit ausließ, Heilong mit einem möglichst harten Gegenstand zu schlagen, sofern ihr irgendetwas nicht passte.

 

 

„Fräulein Lin, hast du etwa schon wieder den Weg in die Garderobe vergessen oder weshalb läufst du immer noch so zerzaust herum, wie ein dummer Bauerntrampel?“, ertönte plötzlich die spitze Stimme von Madam Yue. Sie musste ihre Gedanken gelesen und ihre Fährte wie ein blutgieriger Wolf verfolgt haben.

 

„Natürlich nicht“, grunzte Heilong.

 

Die Augen ihrer Mentorin blitzten wie schwarzes Glas, frohlockend über den bloßen Fuß, der in es hineingetreten war. „Die Aufführung beginnt jetzt. Sieh dich nur an, du bist eine Schande für den Kaiserhof! Deine Haare stehen ab, als wäre ein Blitz auf dich herniedergefahren! Dein Hanfu ist nicht richtig geschlossen und an deinen Stiefeln klebt immer noch der Sand der letzten Aufführung! Willst du in diesem Aufzug wirklich den Gästen und seiner hochverehrten Majestät gegenübertreten? Er wird dich hinrichten lassen für diese Schmach, gleich nach dem Fest!“, zeterte die Alte.

 

„Das wünscht Ihr euch ohnehin, wieso sollte ich mich also weiterhin von diesen alten Schachteln begrabschen lassen?“, fragte Heilong mit hochgezogenen Augenbrauen. „Wenn es Euch nicht passt werde ich eben nicht auftreten. Dann wird die Musik ziemlich eintönig klingen und Lianhuas Tanz wird weniger aufsehenerregend ausfallen, als Ihr es Euch für Euren kleinen Liebling erhofft. Übrigens, wart Ihr es, die den Schneiderinnen die Anweisung gab, meinem Bruder dieses flittchenhafte Gewand umzuhängen? Er ist bald ein Mann, es ist beschämend für ihn, sich in solch einem Aufzug zu zeigen!“ Mit den letzten Worten wirbelte die Wut wieder hoch. Ihre Eingeweide krampften sich zusammen und der zornige Energiesturm toste durch ihren Körper. Angestrengt drückte sie die beängstigende Kraft zurück. Sie konnte nicht vor ihrer Aufführung ihre Mentorin verletzen oder wohlmöglich umbringen. Das wäre weder für sie, noch für Lianhua von Vorteil. Mit tiefer Befriedigung registrierte sie den Anflug von Angst in den Augen ihrer Unterdrückerin. Für diesen Moment hielt ihr Fluch still. Dann begab sie sich in bester Bauerntrampel-Manier zu ihrem Auftritt.

 

 

Die Gäste aus Seongji entpuppten sich als dankbares Publikum. Der von Leibwächtern umgebene Herrscher des kleinen Landes saß auf einer Art gepolstertem Thron neben dem Kaiser und schien ununterbrochen seine Bewunderung zu bekunden. Dabei schwabbelte sein Doppelkinn gefährlich hin und her. Sein Gefolge blieb größtenteils unter sich, nur ab und mischten sich einige unter die Adeligen. Für Gespräche blieb allerdings keine Zeit: Unter der heißen Sonne, welche den Innenhof in gleißendes Licht tauchte, funkelten die Kostüme der Artisten. Voller Staunen beobachteten sie zuerst die akrobatischen Kunststücke und eine Affen- sowie Hundedressur, bevor der Auftritt der Geschwister an der Reihe war. Ein letztes Mal Atem schöpfen und die Finger lockern und schon schwebte Lianhua wie ein übernatürliches Geschöpf auf die Menge zu.
 

Auch der Kaiser und sein Gefolge schienen bestens unterhalten. Der Kaisersohn, Prinz Long Feifan, war wie immer von Lianhua eingenommen und starrte ihn seit Beginn der Aufführung unverhohlen an, als hätte er ihn noch nie einen Tanz aufführen sehen. Heilong war dieser junge Kerl, der nicht sehr viel älter als sie selbst sein konnte, sehr suspekt. Während die Hofdamen sein gutes Aussehen lobten, fragte sie sich stets, ob dies allein genügte, um ihn für das Amt des zukünftigen Herrschers zu qualifizieren. Jedenfalls sollte selbst ein Kaiser niemanden in Grund und Boden starren. Sie vermochte nie herauszufinden, ob dieses starre Fixieren etwas Gutes oder Schlechtes bedeutete. Hegte der Prinz eine Abneigung gegen ihren Bruder oder schätzte er ihn für sein Talent? Sie würde es wohl nie erfahren, da sie dem jungen Herrn kaum eine Lektion erteilen konnte.

Doch nun war keine Zeit, über die Intentionen eines verzogenen Kaisersöhnchens zu spekulieren. Ihre Finger der rechten Hand glitten geschickt über die Seiten der Guzheng. Ihre neuen Fingerplektren machten ihre Sache gut und gaben ihrem Spiel eine Leichtigkeit, die sie mit den alten vor Ewigkeiten gespürt hatte. Mühelos hielt sie mit der linken Hand die Seiten nieder. Ab und an warf sie ein Auge zu Lianhua hinüber.
 

Seine Bewegungen wirkten trotz der präzise einstudierten Choreografie unbeschwert und natürlich. Das viel zu leichte Gewand umwehte ihn tatsächlich wie eine himmlische Gottheit. Beeindruckend. Es erschien ihr nicht mehr im mindesten unpassend. Sie zupfte noch einige weitere helle Töne und ging schließlich zu einem fließenden Glissando über, woraufhin die Eleganz von Lianhuas Tanz ein erstauntes Raunen in der Menge verursachte. Aus seinem Ärmel zog er einen weißgoldenen Fächer und öffnete ihn mit einer Beherrschung, die sich lediglich nach jahrelanger Übung einstellte, bevor er sich auf Spitzen stellte und langsam ein Bein anhob, bis es über seinen Kopf hinausragte. Aus dieser Position ließ er sich zu Boden gleiten, rollte sich mühelos wieder in den Stand und vollführte einen Sprung, als würde er versuchen zu fliegen.
 

Wenn es nach Heilong ginge, könnte der gesamte Auftritt in dieser Form ablaufen. Aber die Zuschauer würden sich langweilen, also mussten sie sich etwas aufregenderes ausdenken. Neben ihr setzte der schrille Klang einer Dizi ein. Eigentlich ein schönes Instrument, aber der Querflötenspieler Ming Fanxing bevorzugte die Flöte in einer unerträglich hohen Tonlage. Nichts im Vergleich zu ihrer eleganten Wölbbrettzither, deren erlesener und doch beständiger Klang bei keiner Darbietung fehlen durfte. Ärgerlich über die Auflösung des Friedens, steigerte sie die Schnelligkeit ihres Spiels, ihre Finger zuckten zwischen den Seiten hin und her, erzeugten einen hektischen Klangstrom, der sich direkt auf ihren Bruder zu übertragen schien, der nun ungehemmt mit seinem Fächer herumwirbelte wie trudelndes Herbstlaub. Beeindruckend, dass er dabei sein Lächeln nicht vergaß, wie es ihr mit Sicherheit passiert wäre. Er schien sich heute besondere Mühe zu machen, als wollte er vor den Fremdländern angeben.
 

Ihre Darbietung endete in tosendem Beifall. Lianhua löste seine Endpose auf und strahlte schweratmend in die vornehm applaudierende Gesellschaft, bevor er sich tief vor dem Kaiser verbeugte. Heilong und Ming Fanxing, welche am Rand des Platzes musiziert hatten, schickten sich an, hinzuzutreten. Ihnen würde man zwar nicht so begeistert Beifall spenden, dennoch war etwas Jubel guter Lohn für schmerzende Finger.
 

Doch bevor sie sich Lianhua auch nur genähert hatten, griff sich dieser plötzlich an die Brust. Für eine Sekunde dachte Heilong, ihr Bruder würde damit seine Dankbarkeit für die Anerkennung des Publikums ausdrücken. Aber Lianhua fiel steif wie ein Brett nach hinten. Ein überraschtes Murmeln brandete durch die Menge. Madam Yue und irgendein Arzt stürmten vor, doch niemand war so schnell wie Heilong. Sie merkte nicht mal, dass sie sich bewegte, bevor sie sich neben ihrem Bruder auf die Knie warf. Er lag da wie tot, bleich und in einer Position die er niemals als bequem empfunden hätte. Ihr Herz raste, als hätte sie an seiner Stelle getanzt. „Lian! Lian!“, rief sie und rüttelte behutsam an seiner Schulter.
 

Eine Gestalt in einem weißem Hanfu kam hinzu, hielt ihrem Bruder eine Hand unter die Nase und wiegte den Kopf, unverständliche Worte murmelnd.
 

„Hau ab! Lass ihn in Ruhe!“, knurrte sie. Langsam sah der Mann sie an, hob beschwichtigend die Hände.
 

Da packte sie eine kräftige Pranke im Nacken und riss sie grob von Lianhuas regloser Gestalt fort. Den Schmerz des Griffs ignorierend, wand sie sich frei und wollte wieder zu ihm stürzen, doch erneut wurde sie ergriffen und weggeschleift. Wut und Angst kämpften um die Vorherrschaft. „Lasst mich los!“, fauchte sie.
 

„Mädchen, siehst du nicht, dass du den Arzt nur behindern würdest? Geh mit Deinesgleichen zurück ins Dienstbotenquartier und feiert euren Auftritt.“
 

„Nein! Er gehört zu mir! Ich- ich kann ihn nicht allein lassen! Dieser Mann da, den habe ich noch nie gesehen! Das ist kein Arzt!“
 

Einige Leute, unter ihnen auch der echte Arzt, Doktor Wang, begaben sich an ihrer Stelle zu Lianhua und legten ihn auf eine Trage. Der weißgekleidete Fremde war wie ein Geist verschwunden. Nachdrücklich wurde Heilong weiter fortgeschleift. „Oh doch, du wirst ihn hier zurücklassen. Andere können sich um ihn kümmern. Wenn du nicht gehorchst, werde ich von meinem Säbel gebrauch machen!“ Der Wachmann zerrte sie gewaltsam zum Rand des Innenhofs und stieß sie zum Ausgang hin.
 

Natürlich hatte Heilong nicht die Absicht zu gehorchen. Sie musste zu ihrem Bruder. Sie musste zu Lianhua! Er brauchte ihre Hilfe. Sie musste sich vergewissern, dass er noch lebte. Dass er wieder aufstehen würde. Dass er nicht verloren war. Wie sollte sie denn dann weiter in diesem Palastgefängnis überleben und diese widerwärtigen Adeligen belustigen? Ein Wachmann, der noch nicht einmal das Privileg ergattert hatte, ein edles Jian-Schwert zu schwingen, würde sie nicht unterdrücken! Er musste zu langsam und ungenau kämpfen. Eine gute Chance für sie. Die Energie brodelte in ihrem Magen, befahl ihr, loszulassen. Mit gesenktem Haupt wandte sie sich zum Gehen um. Doch grade als der Wachmann erleichtert die Luft ausstieß, wusste er doch, dass Lin Heilong der Schrecken unter sämtlichen Dienstboten war, schnellte sie herum. Mit ohrenbetäubendem Kreischen warf sie sich auf den riesigen Mann. Der überrumpelte Kerl wusste nicht wie ihm geschah. Mit einer kratzenden, beißenden Göre wäre er zurechtgekommen, doch Heilong besaß eine viel gefährlichere Waffe.
 

Kaum krachte sie in den Wächter hinein, befreite sich die unheilvolle Macht aus ihrem Körper. Strömte gradewegs in die Brust des Mannes. Schlagartig breitete sich eine angsteinflößende Leere in ihr aus. Ein erstickter Laut entkam seinen Lippen, bevor ein Schwall Blut ihn verdrängte. Seine Augen verdrehten sich nach oben, bis nur noch das Weiße sichtbar war. Am Ende sackte er zuckend in sich zusammen, als hätte sie ihm die Sehnen durchtrennt. Benommen stemmte sie sich von dem bebenden Körper auf. Es roch nach verbranntem Fleisch. Starr vor Entsetzen starrte sie auf die vor Schmerz verzerrten Gesichtszüge des sterbenden Mannes. Dann erschlaffte er.
 

Ein Wimmern stieg in ihrer Kehle auf. Das habe ich nicht gewollt. Oh, ihr Götter, Erleuchteter, was habe ich nur getan? Sie hörte das klirren von Schwertern und Rüstungsteilen, als weitere Wachmänner über den Innenhof auf sie zugestürmt kamen. Lauf! Dorthin, wo sie Lianhua hingebracht haben, bevor sie dich in den Kerker sperren!
 

Schneller als ein Pfeil schoss sie ins Innere des Palastes. Wie ein Blitz schlängelte sie sich zwischen zwei Dienerinnen hindurch, die das Schauspiel heimlich von einem der Wandelgänge aus beobachtet hatten. Ihr erschrockenes Kieksen verriet ihren Verfolgern, in welche Richtung sie floh. Egal, sie musste zu ihrem Bruder, sofort! Wohin hatten sie ihn gebracht? Zu dem Arzt, der sich stets um ihre Trainingsverletzungen kümmerte oder in seine Schlafkammer? Fieberhaft überlegte sie, welchen Weg sie einschlagen sollte. Denn wenn die trommelnden Schritte der Wächter sie einholten, wäre es mit ihrer Suche vorbei. Sie musste auf Anhieb richtig liegen, sonst würde sie Lianhua höchstens am Hinrichtungsplatz noch einmal gegenüberstehen.
 

„Halt!“, rief ein Wächter, dessen keuchender Atem klang, als würde er ebenfalls gleich zusammenbrechen.
 

„Hörst du nicht? Sofort stehen bleiben!“, brüllte ein anderer. „Zwing uns nicht, dir wehzutun!“
 

Heilong hätte gelacht, wäre ihre Lage nicht derart ernst gewesen. Am Kaiserhof taten die Wachen vermeintlichen Übeltätern immer weh. Egal was man angestellt hatte. Ging es um die mögliche Sicherheit des himmlischen Herrschers, kannten sie keine Gnade. Plötzlich schlug sie einen reflexartigen Haken. Beinahe wäre sie mit einem betrunkenen Adeligen zusammengestoßen. Unter dem verklingenden Zetern und Fluchen des Mannes, stürzte sie eine schmale Treppe hinauf. Ihr keuchender Atem hallte wild in ihren Ohren wider, gemeinsam mit ihrem viel zu hektischen Pulsschlag. Glücklicherweise lag ihr Ziel ganz nah. Hoffentlich hatte sie sich richtig entschieden und Lianhua befand sich in der Obhut des Arztes.
 

Vollkommen außer Atem taumelte sie durch die Tür zu einem ihr völlig unverständlichen Reich. Der scharfe Geruch nach Heilkräutern und frisch angerührten Tinkturen brachte sie zum Niesen. Die Bücher und Behältnisse mit undefinierbarem Inhalt in den deckenhohen Regalen erweckten ihr Unbehagen. Doch in mitten all dessen befand sich eine Pritsche. Und dort lag, schwach aber eindeutig lebendig, ihr geliebter kleiner Bruder unter einer leichten Sommerdecke, neben sich einen bemalten Porzellanbecher mit Wasser. Das elende Gewand lag feinsäuberlich zusammengefaltet auf dem Boden.
 

Erst ein scharfes Räuspern lenkte ihre Aufmerksamkeit auf etwas ganz anderes: Sie waren nicht alleine. Eine Gestalt in einem grauen Mantel wartete neben der Bettstatt und betrachtete den Neuankömmling mit einem kühlen Gesichtsausdruck. Voller Schrecken erkannte sie ihn. Es war niemand geringeres als der Prinz. Long Feifan. Was um alles in der Welt hat dieser verwöhnte Bastard hier zu suchen? Wollte er Lianhua für sein Versagen am Ende des Auftritts bestrafen? Ihr Gegenüber hob spöttisch eine Augenbraue. Heilong biss die Zähne zusammen. Am liebsten wäre sie auf das Kaisersöhnchen losgegangen.
 

„Lianhua“, stieß sie aus, „was macht der Kerl hier? Hat er dir etwas angetan?“
 

Die Miene des Prinzen verfinsterte sich. „Dass du dich auch nur erdreistest, in meiner Gegenwart zu sprechen. Du hast Glück, dass mein Vater von unserem Besuch abgelenkt ist und du nicht sogleich sein Schwert zu spüren bekommst.“
 

„Entschuldigt, Eure Hoheit“, entgegnete Heilong mit vor Sarkasmus triefender Stimme, „aber mein Bruder ist einfach zusammengebrochen, weil er sich auf Euren Befehl hin in der heißen Sonne verausgabt hat. Ist es da nicht angebracht, zornig auf Euch zu sein? Und wieso stoßt Ihr mir nicht selbst Euer Schwert in den Bauch, seid Ihr etwa zu feige? Versteckt Euch hinter Eurem allmächtigen Papi?“
 

Der Prinz wirkte, als wolle er nun tatsächlich auf sie losgehen, doch Lianhuas dünne Stimme verhinderte vorerst eine Eskalation. „Heihei, Feifan, bitte, hört auf zu streiten.“
 

Heilong horchte auf, sobald er den Prinzen bei seinem Namen nannte ohne den Vornamen zu verwenden. Sie rauschte zur Liege und ging neben ihrem Bruder auf die Knie. Seine Hand war eiskalt, als sie sie in ihren einschloss. „Lian, was geht hier vor? Geht es dir gut? Warum ist er hier und warum, verdammt, sprichst du mit ihm wie mit einem guten Freund? Hast du vergessen, wer er ist?“
 

„Schon gut, entschuldigt für den Schrecken, den ich euch eingejagt habe. Ich habe mich wohl überanstrengt. Etwas Wasser und Ruhe werden mir genügen, um wieder zu Kräften zu kommen.“
 

Long Feifan schnaubte kopfschüttelnd und ließ sich hoheitsvoll auf einen Schemel sinken. „Ich hatte dir befohlen, dir weniger extravagante Figuren zu überlegen.“
 

Schockiert über die Vertraulichkeit zwischen den beiden knirschte Heilong mit den Zähnen. „Halt die Klappe, verwöhntes Prinzchen!“, fauchte sie.
 

Der Prinz gönnte ihr nicht einmal mehr einen herablassenden Blick. Dieser elende Mistkerl! Beunruhigt spürte sie, dass die zerstörerische Energie in ihr sich langsam regenerierte.
 

Lianhua umfasste mahnend ihre Hände. „Lass ihn in Frieden, er hat Recht.“
 

„Ach, auf ihn hörst du, aber auf meine Worte gibst du einen Dreck? Verdammt, Lianhua, ich bin deine ältere Schwester und kenne dich und unsere Kunst genau, ich weiß, dass große Anstrengung in der prallen Sonne schädlich sein kann. Und du solltest es auch wissen!“
 

Ihr Bruder nickte. „Verzeih mir. Ich wollte Feifan lediglich…“
 

„Was hast du bloß auf einmal mit diesem Widerling zu schaffen?!“
 

„Neidisch?“, warf der höhnisch ein.
 

„Niemals!“ Diese Behauptung mochte stimmen, doch es machte sie rasend, dass ihr Bruder offenbar hinter ihrem Rücken eine Freundschaft mit dem Kaisersohn unterhielt. Mit dem Kaisersohn! Was dachte dieser naive Idiot sich dabei?
 

Lianhua lächelte entschuldigend. „Es tut mir Leid, dass ich dir das nicht früher gestanden habe, doch ich befürchtete, dass du dich danach genauso verhalten würdest, wie du es jetzt gerade tust.“
 

„Was meinst du? Bei den Göttern, Lianhua, du kannst nicht mit einem Kaisersohn befreundet sein, dass funktioniert einfach nicht. Für die Herrschenden sind wir lediglich Maden, nicht mal wert angesehen zu werden!“
 

„Auf dich mag das zutreffen“, sagte Long Feifan. Sein bleiches Gesicht, das nie die Sonne ohne schützenden Papierschirm gesehen hatte wirkte wie eine hässliche Theatermaske.
 

Heilong wollte es zerschmettern. „Halt endlich die Klappe!“, fauchte sie. Ein Energieschub toste durch ihre Adern und ließ sie erzittern. Was, wenn der Prinz sie sosehr reizte, dass das gleiche geschehen würde wie vorhin? Sie schauderte vor Angst.
 

„Ihr beiden, bitte, streitet nicht mehr“, seufzte Lianhua. „Heilong, bitte beruhige dich. Ich glaube die Sache mit Feifan und mir ist… etwas komplizierter.“ Er sah schrecklich müde aus.
 

Der Prinz verdrehte die Augen. „Um es kurz zu machen, damit auch ein Bauerntrampel es versteht: Wir teilen uns gerne Pfirsiche.“
 

Was hat das nun wieder zu bedeuten? Heilong runzelte die Stirn.
 

„Schwester, ich… mag Feifan. Sehr.“
 

 Für einen Augenblick herrschte vollkommene Stille in der Kammer. Dann lachte Heilong auf. „Das kann nicht wahr sein!“
 

Lianhua, der um ihr explosives Temperament und dessen unberechenbare Nebenwirkungen wusste, wurde unruhig und versuchte sich aufzusetzen, doch der Prinz drückte ihn auf das Bett zurück. „Ruh dich aus“, befahl er resolut und starrte Heilong herausfordernd an.
 

Das ist unglaublich. Wie kann er nur diesem widerlichen Vatersöhnchen vertrauen? Feige und grausam, wie sein Vater, was hat er mit Lian vor? Das alles wird in einer Katastrophe enden, vor allen Dingen sobald der Kaiser davon erfährt, dass sein Sohn einem einfachen Tänzer hinterherläuft. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Vor Wut biss sie die Zähne zusammen. Sie hatte all die Jahre ihrer Lebenszeit geopfert, um Lianhua zu beschützen und ihm ein gutes Leben zu ermöglichen. Jetzt kam ein Prinzlein daher und nahm ihn ihr. Und der kleine Verräter Lianhua folgte ihm, ohne ihre Fürsorge zu vermissen. Welch eine Ungerechtigkeit.
 

Grollend schüttelte sie den Kopf. In ihr staute sich die bösartige Macht an. Immer weiter und weiter. Sie musste fort. Aber sie konnte ihren Bruder nicht mit diesem Mistkerl alleine lassen. Wie sehr er ihm auch vertrauen mochte, sie kannte diesen Menschenschlag gut genug, um ihm Argwohn entgegenzubringen. Selbst wenn ihr Bruder offenbar beschlossen hatte, sich von ihr abzuwenden, musste sie für seine Sicherheit sorgen.
 

Langsam schritt sie um die Liege herum. Jeder Schritt bedurfte höchster Wachsamkeit. Die Katastrophe mit dem Wächter durfte sich nicht wiederholen. Schon gar nicht mit dem Kaisersohn. Dann wäre nicht nur ihr sondern auch der Tod ihres Bruders sicher. Davor würden sie vermutlich ihre letzten Stunden in der kaiserlichen Folterkammer verbringen. Atmen. Immer weiter atmen. Langsam atmen. Spüre das Gleichgewicht von Yin und Yang…
 

Schließlich hatte sie es geschafft. Sie stand dem Prinzen gegenüber, nicht länger von der Liege getrennt. „Ich weiß nicht, was dich dazu treibt, meinem Bruder deine Zuneigung vorzutäuschen, aber ich dulde das nicht.“
 

„So, so, das kleine Bauernmädchen ohne jegliche Rechte glaubt mir Befehle erteilen zu müssen“, säuselte Long Feifan. Vermutlich überlegte er, ob sich ein Angriff auf Heilong nun doch lohnen würde.
 

„Ich würde jedem Befehle erteilen, der meint, mit meinem Bruder machen zu können, was er will. Lianhua mag ungewöhnlich aussehen und naiv sein, aber das heißt nicht, dass du ihn wie ein Tier behandeln kannst! Er ist keiner diese lächerlichen, winzigen Palasthunde, die um Atem röcheln und ohne ein Herrchen, dass sie in scheußliche Kostüme zwängt, nicht überleben können!“
 

„Heihei, beruhige dich, bitte, Feifan würde nichts machen, dass ich nicht möchte. Ich vertraue ihm. Wirklich. Du siehst es nicht, aber er ist ein guter Mensch, anders als sein Vater. Verständnisvoll und fürsorglich. Du kannst dir sicher sein, dass ich mich niemals wie ein Hund behandeln lassen würde.“
 

„Schweig! Sag mir nicht, dass ich mich beruhigen soll. Dieser elende, kleine Mistkerl legt es darauf an, mich zu provozieren. Eine miese Charaktereigenschaft, wie so viele andere von ihm. Ich lasse nicht zu, dass er dich verletzt. Denn das wird er gewiss bald tun, sobald er deiner überdrüssig geworden ist!“
 

Ein harter Schlag traf sie mitten ins Gesicht. Heilong wankte, konnte sich jedoch an der Liege ihres Bruders abstützen. Ihre Nase pochte. Blut tropfte ihr in den Mund, als sie wütend die Zähne bleckte. Dieser Wahnsinnige war so gut wie tot!
 

„Wie kannst du es wagen, mir derartige Dinge zu unterstellen?“, zischte der Prinz und packte ihr wirres Haar. Er ahnte nichts von der drohenden Gefahr.
 

Mit einem wilden Kampfschrei warf sie sich herum, ließ einige Strähnen in der Hand ihres Feindes zurück und trat ihn in die Kniekehlen. Feifan knickte ein, fing sich jedoch schnell wieder, bereit erneut auf sie loszugehen.
 

„Hört doch endlich auf mit diesem Quatsch!“, flehte Lianhua. Verzweifelt hängte er sich an Heilongs Ärmel und zog sie so gut es ging von dem anderen fort.
 

Natürlich kostete es sie keinerlei Mühe, ihm zu entkommen. Es war besser so. Falls ihr Fluch sich verselbstständigte. „Ich werde dich lehren, meinem Bruder noch ein einziges Mal zu nahe zu kommen!“, fauchte sie.
 

„Tja, du würdest vor Entsetzen in Flammen aufgehen, wenn du wüsstest, wie Nahe wir uns tatsächlich bereits gekommen sind.“
 

Diese Beiläufigkeit seiner Worte brachte das Fass zum Überlaufen. Die Energie durchtoste ihre Adern wie ein kochender Wasserfall. Sie würde diesen unerträglichen Bastard in Stücke reißen!
 

„Lin Heilong, halte ein!“ Die Stimme war weder laut noch besonders tief, geschweige denn respekteinflößend. Wieso sollte ich? Sie ignorierte die Warnung, konzentrierte sich ganz auf den Menschen, auf den sie in diesem Moment einen ungebändigten Hass verspürte. Vielleicht… wenn sie diese brodelnde Macht irgendwie in ihrer Faust bündelte… würde sie ihn dann gleich umbringen oder ihm bloß ein paar Knochenbrüche verschaffen? Feifan, dem das grausame Glimmen ihrer Augen nicht entgangen war, hob beschwichtigend die Hände.
 

Plötzlich geschah alles ganz schnell. Sie stürzte auf den vor Angst erstarrten Prinzen zu, schwang die Faust in seine Richtung und prallte auf einmal gegen eine weiße Wand. Etwas strömte aus ihr heraus, bereit jedes menschliche Hindernis zu zerstören, doch im gleichen Augenblick strömte eine andere Energie in sie hinein und füllte den Raum, den die alte Kraft verlassen hatte. Verdutzt fiel sie zu Boden. Egal, sie wollte diesem Betrüger Schmerzen bereiten! Nur war all ihre Wut, der Zorn, die aufbrandende Macht verschwunden. Es fühlte sich gut an. So gut.
 

Sie blinzelte irritiert. Vor ihren Augen befand sich ein Paar weißer Stiefel mit gebogenen Spitzen, umschmeichelt von wallenden Gewandsäumen. Zögerlich blickte sie auf. Der weiße Mann, der Lianhuas Atem überprüft hatte, hatte nun wohl das Leben des Prinzen gerettet. Bei erneuter Betrachtung wirkte er eindrucksvoller als seine Stimme vermuten ließ. Daran konnten auch die beinahe niedlichen Hasen, die sich zwischen Chrysanthemen versteckten,  auf seinem Gewand nichts ändern. Sein Gesicht war von einer fahlen Farbe, die seinen Lippen eine unnatürliche Röte verlieh. Auf der rechten Seite von merkwürdigen Narben gezeichnet, die im Kragen des Hanfu verschwanden. Unter der kreideweißen Haut konnte sie hohe Wangenknochen erkennen. Er besaß eine ausgemergelte Gestalt, war nicht nur hohlwangig sondern unter all den flutenden Seidenschichten kaum mehr als ein Gerippe. Und dennoch hatte ihn ihr Angriff nicht im mindesten aus dem Gleichgewicht gebracht.
 

Da dröhnten plötzlich schwere Stiefeltritte auf der Treppe vor dem Zimmer. Die Wachen! Sie hatten sie gefunden! Als hätte der fremde ihren gehetzten Blick erwartet, zierte ein sanftmütiges Lächeln sein Gesicht. „Gebt mir Eure Hand, Fräulein Lin“, bat er.

Heilong konnte sich dieser Freundlichkeit nicht widersetzen und tat wie ihr geheißen.
 

Neben ihr schrie Lianhua auf. „Heilong! Heilong! Wo bist du?“ Seine Hände fuhren orientierungslos durch die Luft. Feifan trat sofort an seine Seite, ergriff seine Hand und sprach beruhigend auf ihn ein.
 

Verwirrt beobachtete sie dieses seltsame Verhalten. „Sie können uns weder sehen noch hören“, erklärte der Fremde. „Dennoch sollten wir den kaiserlichen Palast verlassen. Die Wachen dürfen uns nicht finden. Immerhin haben wir beide noch sehr stoffliche Körper.“
 

Und so schritten sie aus der knarzenden Tür. Auf dem Gang stürmten ihnen die Wachen entgegen, liefen einfach an ihnen vorbei ins Zimmer hinein, wo sie dem Stimmen nach zu urteilen vor dem Prinzen katzbuckelten.
 

„Schnell, bevor sie auf unsere Spur kommen“, meinte der Fremde. Er führte sie durch zahllose Gänge, von deren Existenz sie niemals etwas geahnt hätte. Doch erst als sie unbehelligt über die Palastmauern geklettert und die Stadt hinter sich gelassen hatten, bedeutete der Mann ihr, einzuhalten. Sofort ließ sie die kalte, dürre Hand los.
 

„Wer seid Ihr? Woher kennt Ihr mich? Was wollt Ihr von mir?“, drängte es aus ihr hervor.
 

„Mein Name ist Bai Juhua. Ich gehöre dem Clan des Chrysanthemendrachen an. Wir haben uns einer Gottheit verschrieben, die Menschen wie uns lehrt, ihr unausgewogenes Qi zu beherrschen und daraus eine neue Stärke zu ziehen.“
 

„Hört sich für mich wie eine Ansammlung von Fanatikern, Verrückten oder beidem zusammen an. Was hat das mit mir zu tun?“
 

Trotz ihrer Unverschämtheit verlor Bai Juhua seine gutmütige Ausstrahlung nicht. Gleichmütig sah er auf sie herab. „Lin Heilong. Hast du bereits vergessen, was an diesem Tag und vermutlich an zahleichen Tagen davor geschehen ist?“
 

„Ich weiß nicht, wovon Ihr redet, Ihr müsst eine blühende Fantasie besitzen.“
 

„Bist du dir nie auf seltsame Weise anders vorgekommen als die anderen Künstler am Kaiserhof?“
 

„Der Einzige, der anders ist, dürfte ja wohl mein Bruder Lianhua sein“, beharrte sie trotzig.
 

„Aber er ist nicht in der Lage, einen ausgewachsenen Mann mit einer unmerklichen Berührung zu töten.“
 

Heilong seufzte ergeben. „Ja, ja, ich weiß schon, worauf Ihr hinauswollt: Meine unglückselige Fähigkeit, Menschen ins Verderben zu stürzen. Sowohl mit meiner spitzen Zunge, meinen losen Fäusten oder dieser… widernatürlichen Kraft.“
 

„Wenn du es so nennen möchtest. Weißt du, als ich dich heute neben deinem Bruder knien sah, war ich überaus erstaunt. Ich hatte angenommen, dass er derjenige ist, den ich suche.“
 

„Tse, wenn es um ein außergewöhnliches Anschauungsobjekt geht, das ihr sensationsgierigen Bauern vorstellen möchtet, habt Ihr sicherlich Recht.“
 

Bai Juhua schmunzelte. „Lin Heilong, selbstverständlich war ich auf der Suche nach jemandem, der meine Eigenschaften teilt. So wie du. Ein ungewöhnliches Aussehen kann zwar häufig ein Hinweis auf besondere Gaben sein, doch genauso gut kann sie unentdeckt in einem jeden von uns ruhen, bis zu einem einschneidenden Erlebnis.“
 

„Was für ein einschneidendes Erlebnis? Ich habe das schon immer. Wenn ich mich aufrege, geschehen merkwürdige Dinge.“ Sie schwankte zwischen Verwirrung und Belustigung.
 

„Das liegt in der Natur deiner Gabe. Letztendlich ist sie auf ein Ungleichgewicht von Yin und Yang in deinem Körper zurückzuführen. Du besitzt einen unvorstellbaren Überschuss an Yang-Energie. Für eine junge Frau äußerst ungewöhnlich, ein weiterer Grund weshalb ich zuerst an deinen Bruder dachte. Fließt diese in den Körper eines Mannes, bringt dies sein Gleichgewicht von Yin und Yang durcheinander, was tödlich enden kann. Der einzige Grund, weshalb mir nicht dasselbe wie dem armen Wachmann widerfahren ist, liegt darin, dass ich sozusagen dein Gegenstück bilde. Unsere Energien ergänzen sich. Ich hätte niemals vermutet, dass auch mein Gegenteil ein derart unpassendes Verhältnis von Yin und Yang in sich trägt.“
 

Lin Heilong seufzte leise. Sie hätte vermutlich von den ganzen Informationen über ihren Fluch erschlagen oder sogar verunsichert sein sollen. Stattdessen klangen seine Erläuterungen so einleuchtend, dass sie glaubte, schon immer die Wahrheit über ihre Macht gekannt zu haben. Und obwohl sie nicht an der Wahrheit dieser Enthüllungen zweifelte, weigerte ihr Mund sich, klein beizugeben und es zu akzeptieren. „Wieso erzählt Ihr mir all das? Ich bin nur eine einfache Guzheng-Spielerin, die zur Belustigung des Kaisers Kunststücke aufführt.“
 

„Das halte ich für unwahrscheinlich. Ich würde dich gerne einladen, zum Clan des Chrysanthemendrachen hinzuzustoßen. Dort gibt es einige andere, die die gleiche Gabe besitzen wie wir. Du könntest lernen, sie zu beherrschen. Das Qi anderer Menschen, Tiere, ja von sämtlichen Lebewesen aufzuspüren. Zudem wird dir im kaiserlichen Palast vermutlich nach dem Leben getrachtet.“
 

Heilong konnte nicht anders, als seine Geduld noch ein wenig weiter zu strapazieren. „Wieso sollte ich mit einem fremden Mann mitgehen? Ihr mögt freundlich lächeln, aber die eine Hälfte Eures Gesichts wirkt ein klein wenig bedrohlich. Wer kann mir garantieren, dass Ihr nicht lediglich auf der Suche nach einem Opfer für einen wahnsinnigen Geist sucht, damit dieser erneut sein Unwesen auf Erden treiben kann?“
 

Auch jetzt behielt er die Oberhand. Ohne auch nur verletzt zu klingen sprach er: „Niemand hat gesagt, dass du mit mir mitgehen sollst, liebe Heilong. Der Weg zum Chrysanthemendrachen ist einsam und nur allein zu bewältigen. Dir sei versichert, dass die Begegnung mit einer Drachengottheit ein unvergessliches Erlebnis ist. Ich werde mich nun zurückziehen. Wenn du mir folgen möchtest, komm morgen zum moosbewachsenen Felsen unter dem toten Pfirsichbaum. Dort werde ich dir alles hinterlegen, was du benötigst, um die richtige Richtung einzuschlagen.“
 

„Ich werde es mir überlegen“, brummte Heilong. Dabei hatte sie sich eigentlich bereits entschlossen, das Abenteuer zu wagen. Ihr Bruder brauchte sie nicht länger, er konnte selbst auf sich aufpassen und wenn er dem Kaisersohn sein Vertrauen schenkte, musste sie seine Entscheidung respektieren. Er war nicht mehr das kleine Kind, dass sich weinend an ihre Rockzipfel klammerte, weil es von anderen für seine blauen Augen und das helle Haar gehänselt wurde. Er benötigte ihren Beschützerinstinkt nicht mehr, hatte jetzt jemand anderen. Und so sehr diese Erkenntnis schmerzte, sie wusste, dass es besser war. Sie würde sich heimlich von Lianhua verabschieden, ein wenig Kleidung und Proviant zusammenstehlen und am nächsten Morgen ihr altes Leben hinter sich lassen.      
 

Den Kopf voll herumwirbelnder Gedanken rannte Heilong bis vor die Tore des Palasts. Das Gespräch mit Bai Juhua konnte nicht allzu lange gedauert haben, doch Warnungen vor Mörderinnen breiteten sich unter Wachmännern aus wie ein Lauffeuer. Dennoch musste sie dorthinein. In das Nest des Adlers. Irgendwie.
 

Sie konnte ihren geliebten Bruder einfach nicht ohne Abschied verlassen. Wohlmöglich würde sie ihn heute zum letzten Mal in ihrem Leben sehen. Gleichgültig wie sehr sie seine reichlich seltsame Beziehung mit dem Kaisersohn verletzte und besorgte. Lianhua zeigte selten eine andere Regung als gleichmütige Freundlichkeit. Wenn der Prinz ihn sich als exotisches Spielzeug oder Haustier auserkoren hatte, würde ihr Bruder weder seine Furcht, Unmut oder Ablehnung mit irgendjemandem teilen. Sie war die Einzige, der er ab und an Dinge gestand, die ihn aus dem Konzept brachten. Madam Yues strenger Drill hatte aus seinem sanften Gemüt heraus den perfekten Diener mit makellosem Benehmen und Gehorsam geschmiedet. Glücklicherweise waren ihre gewaltsamen Bemühungen an Heilongs widerspenstigem Wesen abgeprallt. Eine musste sich schließlich einen skeptischen Geist bewahren und sich um ihre Sicherheit kümmern. Lianhua hatte sich schon immer viel zu leicht ausnutzen lassen. Sie musste ihm unbedingt noch einschärfen, nicht alles mit sich machen zu lassen.
 

Aber dafür musste sie ihm erst einmal begegnen. Beim großen Drachen, wie sollte sie sich bloß lebendig in diese Festung hinein schmuggeln? Und viel wichtiger: Wie kam sie heil wieder heraus? Hätte dieser blöde weiße Mann ihr nicht wenigstens noch einmal helfen können? Ratlos pirschte Heilong durch die Stadt. Wie durch ein Wunder gelang es ihr, in keinen Wachtrupp hineinzulaufen. Hinter einem verlassenen Marktstand versteckt beobachtete sie die Straße, welche zum Palast hinauf führte. Sollte sie es wagen und einfach selbstsicher wie eh und je zu den Toren hineinmarschieren?
 

„Heihei?“, ertönte da plötzlich eine zaghafte Stimme hinter ihr.
 

Ungläubig wirbelte sie herum. Unter zerschlissenen Bauernlumpen blitzte weiße Haut hervor und blaue Augen linsten sie unter dem zerrupften Strohhut an. Die Götter schienen Erbarmen mit ihr zu haben. Sie hatten tatsächlich ihren Bruder hergeführt! „Lianhua? Wie hast du dich denn aus dem Palast geschlichen? Grade eben lagst du noch unter deiner Decke und jetzt trägst du plötzlich Bauernkleider? Geht es dir wieder besser? Du solltest zurückgehen, sonst vermisst man dich noch. Komm, ich helfe dir, stütz dich auf meine Schulter und ich bringe dich in den Palast zurück. Dann kann dein Prinzchen sich um dich kümmern.“
 

Während ihres Wortwasserfalls zeichnete sich auf Lianhuas Gesicht eine Folge von Erleichterung, Sorge und Traurigkeit ab. „Heilong, Schwester, beruhige dich. Wo bist du gewesen? Es war, als hättest du dich plötzlich in Luft aufgelöst! Pass auf, dass man dich hier nicht sieht! Jede Wache sucht nach dir, der ganze Palast ist in Aufruhr, nachdem sie den Toten entdeckt haben!“
 

Heilong war unendlich froh, dass er nicht wissen wollte, wie genau sie den Wächter getötet hatte oder wie es dazu gekommen war. Er zog sie in eine finstere Seitengasse, wo es scheußlich nach altem Fett aus den billigen Imbissbuden und sonstigem Abfall stank. „Hättest du dir für unseren Abschied nicht einen netteren Ort aussuchen können?“, brummte sie.
 

Beim Wort Abschied weiteten sich Lianhuas Mandarinenaugen schockiert. „Heihei, was redest du da?“
 

„Tja, falls es dir noch nicht aufgefallen ist, sucht der ganze Palast nach mir. Das hast du selbst gesagt. Wie könnte ich also hierbleiben?“, entgegnete sie bitter. „Du kannst also nicht ernsthaft von mir erwarten, dass ich je wieder einen Fuß in das Haus des Kaisers setzen werde!“
 

Ihr Bruder starrte sie entsetzt an. „Aber das kannst du nicht machen!“ Tränen stiegen ihm in die Augen.
 

Heilong schluckte. Es war so lange her, dass er das letzte Mal geweint hatte. Im Alter von 10 Jahren, als er sich bei einer akrobatischen Übung beide Beine, einige Rippen und den rechten Arm gebrochen hatte und eine schiere Ewigkeit nicht üben geschweige denn auftreten durfte? Die Alternative zu seiner Kunst, das Studium viel zu anspruchsvoller Texte, hatte ihn wochenlang in eine regelrechte Sinnkrise gestürzt. Ihre offensichtliche Verkündung musste ihn noch viel schwerer getroffen haben. Verdammt, jetzt hatte sie Mitleid. Wäre am liebsten geblieben. Doch das wäre unweigerlich ihr Verderben gewesen. Bai Juhua wäre sicherlich enttäuscht zu wissen, wenn sie sich doch von den Männern des Kaisers fangen und hinrichten ließ.
 

„Lianhua, ich habe keine Wahl. Das weißt du genau. Und dort, wo ich stattdessen hingehe, werde ich endlich lernen, was für eine Kraft in mir steckt. So etwas wie heute Mittag darf nie wieder geschehen. Ich werde auf eine Reise gehen und mich selbst kennenlernen.“
 

Lianhua wurde immer trauriger. Seine Wangen waren nass, das ließ sich selbst unter der Krempe des Strohuts erkennen. „Und was wird dann aus mir? Ich kann nicht ohne dich. Nicht schlafen, nicht essen und ohne deine Musik auch nicht tanzen. Wir waren immer zusammen seit ich denken kann!“
 

„Irgendwann komme ich zu dir zurück, versprochen.“
 

„Du musst mir sagen, wann genau. Sonst werde ich jeden Tag vergeblich auf dich warten“, flüsterte er und umklammerte ihre Hand.
 

Heilong lächelte und streichelte sanft seinen Handrücken, wie sie es früher getan hatte, um ihn zu trösten. „Lin Lianhua, du bist nicht mehr der kleine Junge, der nirgendwohin ohne seine Schwester konnte. Essen und Schlafen tust du vermutlich in letzter Zeit öfters beim Kaisersohn als in unserer Kammer. Von wegen längere Übungszeiten, du Schlitzohr!“
 

Ihr Bruder errötete. Bei niemandem ließ sich Verlegenheit schneller erkennen.
 

„Ich kann es dir nicht verübeln. Ein kaiserliches Festmahl und Bett übertreffen das, was uns Untertanen zusteht um ein tausendfaches.“
 

Lianhua schwieg peinlich berührt.
 

„Schon gut, ich sage ja gar nichts mehr. Auch wenn mir das überhaupt nicht passt und ich dir nun weder Ratschläge noch Schutz bieten kann. Tja, tritt ihm einfach kräftig zwischen die Beine, wenn er Ärger macht.“
 

„Das wird er nicht“, gelobte Lianhua mit einer Zuversicht, die ihr sauer aufstieß.
 

Na, wenn du da nicht malwieder deine fehlende Menschenkenntnis beweist, dachte sie. Doch ab morgen wäre sie fort. Lianhua würde sich von nun an selbst durchschlagen müssen. Und solange der Prinz tatsächlich Gefallen an ihm fand und zu ihm hielt, würde er das schon schaffen. Dennoch fielen sich die Geschwister beim Abschied in die Arme. Schließlich wusste niemand, ob das Schicksal sie je wieder zusammenführen würde.
 

Entschlossen beschritt sie am nächsten Morgen ihren Weg mit neuem Tatendrang. Ihre taufeuchte Festrobe vom Vortrag raschelte im hohen Gras. Die aufgehende Sonne tauchte die Welt in verheißungsvolles Rosa. Selbst der kahle alte Pfirsichbaum wirkte in ihrem Licht lebendig. Ebenso wie sie selbst. All die Jahre hatte sie sich vor ihren Kräften, ja vor sich selbst gefürchtet, aber die gestrigen Ereignisse hatten ihr die Augen geöffnet. Sie wollte diese Fähigkeiten nicht länger als Fluch, sondern von heute an als Gabe betrachten. Wie Bai Juhua. Nie wieder wollte sie sich selbst leugnen oder vor anderen verstecken müssen. Sie wusste bereits, wohin sie ihr Weg jetzt führen würde.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Dies hier war mein kleiner, chinesisch angehauchter Wettbewerbsbeitrag. Ich hoffe er gefällt und beherbergt nicht allzu viele Rechtschreibfehler :)

Lasst doch mal einen Kommentar da, wenn ihr mögt. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Hadara
2021-06-24T18:40:46+00:00 24.06.2021 20:40
Hallo Mondsicheldrache,

danke erst einmal fürs mitmachen bei meinem Wettbewerb. Ich freue mich immer sehr über Teilnahme ^^

Deine Geschichte war flüssig zu lesen, du musst dir also keine Gedanken bezüglich Rechtschreibfehlern machen, da ist mir nichts gravierend aufgefallen.

Ich fand es sehr erfrischend mal eine chinesisch angehauchte Geschichte zu lesen, auch wenn ich ja immer wieder über die Aussprache der Namen stolpere XD Diesbezüglich hast du vieles sehr gut getroffen. Deine Beschreibungen von Umgebung und den Personen sind meiner Meinung nach in dieser Geschichte sehr gut gelungen. Ich mag den Ausruf "Beim großen Drachen" sehr ^^

Dann komme ich jetzt einmal zu ein paar Vorschlägen/ Hinweisen / Kritik (ich versuche möglichst konstruktiv zu sein und dir immer Vorschläge zur Verbesserung zu nennen ^^).

Das erste was mir aufgefallen ist: Die Einleitung. Hier beschreibst du in den ersten Ansätzen, dass der Kaiser ein Fest hält und warum. Folgendes ist mir hier aufgefallen: Das warum des Festes ist für den weiteren Verlauf der Geschichte nicht von Belangen, obwohl dies am Anfang so herauskommt. Mit deiner Einleitung setzt du eigentlich schon das Thema, vor allem bei Kurzgeschichten, hier glaube ich am Anfang es geht um einen politischen Konflikt, was ja doch weit von der tatsächlichen Thematik entfernt ist. Plus mir fehlt hier ein wenig der Hauptcharakter. Meiner Meinung könnte Lins Name schon etwas früher auftauchen. Vielleicht könnte man das ja mit deiner Einleitung kombinieren im Sinne von: "Lin Heilong hasste Feierlichkeiten. Überall hingen bunte Lampions und frisch gereinigte Wandteppiche. [...] Der süßliche Geruch von Weihrauch waberte anlässlich des Willkommensfestes der Gäste träge durch die Luft. Lin Heilong hasste Weihrauch." Damit umschließt du Einleitung quasi mit Lin Heilong. Übrigens ich war ein bisschen verstuzt über das "Lin Heilong liebte Seidenroben." Ich hätte hier mit einem Hassen eher gerechnet zumal du ja zeigen möchtest, dass sie gerade sehr unzufrieden mit ihrer Lage ist.

Das zweite ist die Thematik: Wie bereits erwähnt geht es hier ja nicht um Politik. Sondern es geht hier im Grunde um zwei Dinge: Lin Heilongs Kräfte und ihren Bruder und dessen Beziehung mit dem Königssohn. Das ist, für eine Kurzgeschichte eigentlich bereits ein Thema zu viel. Es ist deutlich einfacher sich bei einem OneShot auf eine Thematik zu konzentrieren und diese entsprechend auszufeilen. Hier hatte ich leider das Gefühl, dass beide Thematiken etwas halbfertig waren. Ich gehe auf die beiden Mal separat ein:

Beziehung des Bruders: Du hast viel Zeit in die Beschreibung ihres Bruders gesteckt und man kann ihn sich auch äußerlich wie vom Charakter her sehr gut vorstellen. Vom Prinz kann ich das leider nicht behaupten, was natürlich davon kommen kann, dass Lin ihn einfach wenig beachtet. Allerdings habe ich seinen Charakter auch nur so halb verstanden. Er ist sehr herablassend und droht Lin sie umzubringen, wobei er doch eigentlich wissen muss, wie wichtig Lin für Lianhua ist. Man sollte meinen, nachdem Lianhua gerade vor seinen umgefallen ist, würde er ein wenig mehr Feingefühl zeigen, zumindest wenn er mit seinem angeblichen Geliebten redet. Ich habe zwischen den beiden keinen richtigen Funken gespürt. Vielleicht, wenn er zumindest an Lianhuas Bett sitzen würde und seine Hand hält, während er so schroff ist oder sich seine Stimme ändert, wenn er sich an Lianhua wendet. Aber genug vom Prinzen bzw. Feifan. Was mich bei diesem Teilaspekt auch etwas gestört hat ist, wie leicht Lin es am Ende akzeptiert. Sie spricht ja nicht einmal mehr mit ihrem Bruder, nachdem sie aus dem nichts verschwindet, weil der weiße Mann sie mitnimmt. Auf einmal scheint sie seine Entscheidung zu akzeptieren. Sie lässt ihren über alles geliebten Bruder zurück und wir bekommen den Abschied nicht mit, sondern er wird beiläufig erwähnt? Dafür hat der eine Absatz am Ende nicht wirklich gereicht. Hier hätte man ausführlicher ihren inneren Kampf mit sich selbst verdeutlichen können. Und eine abschließende Konversation mit Lianhua wäre nett gewesen.


Ihre Kräfte: Tatsächlich hatte ich das Gefühl, dass ihre Kräfte doch recht zweitrangig zum ersten Thema war. Was ich schade fand, war die Stelle, an der du die Kraft das erste Mal erwähnst: Als Erklärung von Lins Charakter ohne Auslöser. Lass mich erklären, was ich damit meine. Manchmal ist es interessanter, den Leser zunächst über ein paar Dinge im Dunkeln zu lassen, um später, wenn etwas Größeres passiert die tatsächlichen Umstände zu erklären. Zum Beispiel hätten kleine Indikatoren für ihre Kräfte auftreten können. Ihre Mentorin zeigt Furcht vor ihr und tritt zurück, Lin ballt die Faust und hält sich angestrengt zurück, Lin denkt zurück an zersplittertes Porzellan.... Und dann in dem Moment, wo sie der Wache gegenübersteht und ihn tötet, kommt so etwas wie: "Ja, da waren sie ihre Kräfte! Zwar wussten viele Palastbewohner, dass Lin Heilong keine gewöhnliche junge Frau [...]" und dann kannst du deine Absätze einbauen ^^. Da hat man etwas mehr Spannungsaufbau. Ich weiß nicht so ganz, ob ich auf Bai Juhua eingehen möchte. Sein Charakter ist mir nicht ganz klar geworden, ich hatte das Gefühl, er war eher eine Person, die dafür da war, um den Kräften eine Erklärung zu geben und Lin Heilong von dem Clan zu erzählen und nicht, dass er tatsächlich eine tiefere Geschichte hatte. Was auch vollkommen legit ist, zumal es ja eine Kurzgeschichte ist. Was ich mir aber gewünscht hätte wäre eine Nähere Erklärung zum Clan. Dieser wurde nur kurz erwähnt und ich habe nicht ganz verstanden, was ihre Fähigkeiten mit der Drachengottheit zu tun haben. Besonders weil der Titel der Geschichte der Clan-Name ist, hätte ich mir hier mehr gewünscht bzw. weniger, dann aber viel weniger. Zum Beispiel hätte Lin den Mann kurz bevor er geht fragen können: "Wer seid ihr?" und er sagt dann nur "Wir sind die Chrysanthemendrachen." Dann hätte die Geschichte aber auch am besten da zu Ende sein müssen und das ist dann nicht so ganz passend für den Wettbewerb o.o

Was ich dir auf jeden Fall mitgeben möchte: Manchmal ist weniger mehr. Hier hätte eine Thematik weniger glaube ich viel ausgemacht.

Ich hoffe ich habe dich jetzt nicht allzu sehr erschlagen und konnte vielleicht auch etwas helfen. Natürlich ist meine Meinung nicht universell und du kannst meine Vorschläge so benutzten wie du möchtest.

Viele Grüße
Hadara

PS: RIP Wachmann, der Arme wollte ja sicherlich auch nur seinen Job machen.
Antwort von:  Mondsicheldrache
10.07.2021 14:45
Hallo Hadara,

wow, das ist wirklich ein langer Kommentar geworden, danke für deine Mühe!

Ich fand den Wettbewerb einfach interessant und finde es auch schön, wenn man nicht nur Fanfictions einreichen darf.

Schön, dass die Geschichte flüssig zu lesen war.

Irgendwie war es jetzt einfach mal Zeit für etwas chinesisch angehauchtes ;) Ich könnte dir mit der Namensaussprache vermutlich auch nicht groß weiterhelfen, zum Glück ist es kein Hörbuch. Es freut mich, dass dir die Beschreibungen zugesagt haben, an ihnen habe ich großen Spaß.

Zu der Einleitung: Anfangs fiel es mir schwer, irgendeinen Aufhänger zu finden. Natürlich hast du Recht, dass das Fest eigentlich keine Beziehung zum Rest des Geschehens aufweist. Die Geschichte hätte mehr oder weniger damit beginnen können, dass es ein ganz gewöhnlicher Tag am Kaiserhof war und die Geschwister die Adeligen wie immer unterhalten mussten.
Und zu den Seidenroben: Ich wollte hier einen Kontrast setzen. Obwohl Heilong Feiern und aufdringliche Gerüche nicht leiden kann, mag sie edle Gewänder. Aber wenn sie sich beim Ankleiden von den Dienerinnen helfen lassen muss, ist ihre Laune schnell wieder am Tiefpunkt angelangt.

Ich denke auch, dass die Geschichte mehr Kapitel haben müsste, um beiden Thematiken gerecht zu werden, anstatt beide in einem Kapitel anzureißen aber nicht ordentlich zu behandeln.

Die Sache mit dem Prinzen sehe ich eigentlich als recht realistisch. Heilong interessiert sich nicht für ihn, hält ihn für einen dummen Adeligen, der sich aufspielt und ihren Bruder komisch anstarrt. Long Feifan ist in dem Glauben aufgewachsen, dass er etwas Besseres ist und die meisten Menschen mit Herablassung betrachtet. Feingefühl ist für ihn ein Fremdwort. Und ob er Lianhua wirklich liebt ist auch fraglich (zumindest aus Heilongs Sicht). Auf jeden Fall ist er von seiner ungewöhnlichen Erscheinung fasziniert.

Tatsächlich habe ich noch eine kleine Szene nachgeschrieben, in der sich Heilong von Lianhua verabschiedet. Natürlich fühlt sie sich ein wenig verraten, dass ihr Bruder ihr nichts von Feifan erzählt hat, aber ohne Abschied würde sie in der Tat nicht einfach verschwinden.

Mit den Kräften hast du recht, man hätte sie schöner einführen können.

Bai Juhua ist definitiv kein Werkzeug um Heilongs Kräfte zu erklären, doch ich gebe zu, dass das in diesem OneShot komplett untergeht. Vielleicht sollte ich irgendwann eine längere Geschichte daraus machen, damit alles seinen rechtmäßigen Platz erhält :)

Abschließend noch einmal herzlichen Dank für die ausführliche Kritik und das Lob, ich finde es immer hilfreich, Verbesserungsvorschläge zu bekommen.

Viele Grüße
Mondsicheldrache

Tja, die Sache mit dem Wachmann war wohl der typische Fall von eingetroffenem Berufsrisiko. Er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort :*(
Antwort von:  Hadara
13.07.2021 17:55
Freut mich, dass dir meine Kritik teilweise geholfen hat.
Ich würde auf jeden Fall Interesse an einer ausführlicheren Version mit mehr Kapiteln haben.
Kannst mir ja vielleicht Bescheid geben, falls du dich dazu entscheidest und was hochlädst ^^
Antwort von:  Mondsicheldrache
14.07.2021 15:40
Ich fürchte es wird etwas dauern, bis ein ausgereifter Plot dahinter steht ;)
Aber dein Interesse freut mich und ich werde dir dann auf jeden Fall Bescheid sagen.
Jetzt habe ich ersteinmal die abschließende Verabschiedung von Lianhua in den Oneshot gepackt, wenn du sie noch lesen möchtest :)


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