Zum Inhalt der Seite

See you at the bitter end

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Because a heart that hurts is a heart that works

Because a heart that hurts is a heart that works“

 

Placebo, „Bright Lights“

 

Dazais Schritte trugen ihn durch die stille und spärlich beleuchtete Straße, die hinauf zu seinem Zielort führte. Der Großteil der alten Residenzen, die in dieser Straße standen, war irgendwann aufgegeben und sich selbst überlassen worden. Hausruine reihte sich an Hausruine und Dazai versuchte, sich an Details zu dem Anwesen zu erinnern, das er gerade suchte. Ein Zaun. Da war doch ein hoher Zaun gewesen.

Wohin er musste, hatte ihm bereits zu dämmern begonnen, als er Barries Stimme durch Kunikidas Telefon gehört hatte. Der Akzent war leicht zuzuordnen gewesen. Das vierte Kind. Das Kind, das er damals versäumt hatte zu suchen.

Wenn ich ihn damals erledigt hätte, wäre es jetzt nie zu den Angriffen auf die anderen gekommen, kam es ihm in den Sinn und er schüttelte - leicht gequält grinsend - den Kopf. Oje. Wenn Kunikida diesen Gedanken gehört hätte, hätte es ein mächtiges Donnerwetter gegeben. Und auch der Chef wäre vermutlich nicht so angetan von dieser Art, die Dinge zu betrachten. Und Atsushi … Atsushi würde ihn wieder mit diesen vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen anstarren und vielleicht, vielleicht sogar wahrscheinlich, würde selbst Atsushi ihm dafür eine runterhauen. Er war vermutlich selbst schuld daran, dass diese Angelegenheit den Jungen so mitnahm. Atsushi war eine unschuldige, manchmal recht unbedarfte, treuherzige und stets integre Seele und Dazai war sich inzwischen vollends bewusst, was der Jüngere in ihm sehen wollte. Er hätte an irgendeinem Punkt mal eingreifen und Atsushis Sicht auf ihn geraderücken müssen – doch er hatte es bisher immer unterlassen. Oder sich zumindest sehr wenig Mühe damit gegeben, die Verehrung des Jungen für ihn zu unterbinden. Deswegen traf sie ihn jetzt so hart; die Erkenntnis, wer Dazai früher gewesen war.

Die Vergangenheit ließ sich nicht ändern. Egal, in welche Richtung. Sie blieb immer unveränderlich gleich, ungeachtet der Dinge, die man in der Gegenwart tat. So gesehen war auch Barries Rache sinnlos, aber Dazai konnte erkennen, warum er dies tat. Sich so zu fühlen, so verzweifelt, so allein gelassen, so von der Welt verraten; es war menschlich, nicht wahr? Zumindest bis zu einem gewissen Punkt war es menschlich – und diesen hatte Barrie mit den Angriffen auf die Detektei längst überschritten.

Dazai blieb vor dem umzäunten Anwesen stehen und musterte es einen Moment lang. Das Dach der Residenz war zum Teil eingefallen, auch klafften hier und da Löcher in den Außenwänden. Überall wucherten Hecken, Sträucher und Unkraut. An der Vorderseite, wo er sich gerade befand, fehlten Teile des Zauns, wie zum Beispiel die Tür, sodass Dazai einfach bis zum Eingang weitergehen konnte. Kein anderes Haus in der Straße sah so verlassen aus wie dieses hier. Vermutlich stand es schon leer, seit seine damaligen Bewohner ermordet worden waren. Dazai drückte die halb aus den Angeln hängende Eingangstür beiseite und ließ sich selbst in das Innere des Hauses hinein. Hier war alles dunkel und bis auf ein ab und an hörbares Rascheln, das wahrscheinlich von Mäusen oder Ratten kam, die sich hier eingenistet hatten, herrschte eine unheimliche Stille.

Dazai wusste, wohin er musste. Die papierenen Wände, die zum Garten hinaus führten, waren alle noch intakt, aber sie ließen die faden Lichtschimmer, die draußen loderten, ins Innere durchscheinen. Er öffnete die Schiebetüre, die in den Garten führte und schloss sie wieder hinter sich, ehe er gemächlich und in aller Ruhe von der Veranda auf das Grün schlenderte – den dort im Lichtschein der Steinlaternen in wenigen Metern Entfernung wartenden Barrie nicht aus den Augen lassend.

Dazai blieb mit dem Rücken zum Haus stehen. Alles außerhalb des durch die Steinlaternen erhellten Lichtkreises lag in absoluter Finsternis. Er konnte nicht ausmachen, wo Huxley sich wohl versteckte und jeder falsche Schritt hier würde höchstwahrscheinlich in eine Falle führen. Mit dem Rücken zum Haus hätte er in einem Kampf zwar wahrlich die schlechtere Position, aber da auch er in dieser Dunkelheit nichts sehen konnte, war dies zugleich auch sein einziger erreichbarer Rückzugsweg. Auf gut Glück im Dunkeln die Tür suchen, die aus dem Garten führte, kam nicht in Frage. Bei dem verwahrlosten Zustand des Anwesens war dieser Weg sowieso sehr wahrscheinlich versperrt.

„Du bist also tatsächlich gekommen.“ Der junge Schotte sprach ruhig und sah seinen Gast unaufgeregt an, während er sich nicht von Ort und Stelle rührte. Er hatte nicht einmal sein Schwert gezogen, sondern die Arme vor der Brust verschränkt.

Der Brünette zuckte mit den Schultern. „Wenn man mich so dringlich einlädt.“ Ein süffisantes Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Wobei es mir lieber gewesen wäre, ihr hättet die Einladung direkt an mich geschickt, statt sie so umständlich über die anderen Mitglieder der Detektei zu schicken.“

Auch Barrie zuckte mit den Schultern. „Das ging leider nicht anders.“

„Oh ho, na, da bin ich aber auf die Erklärung gespannt.“ Dazai klang beinah belustigt.

„Ursprünglich hatte ich wirklich nur dich töten wollen“, erklärte Barrie freimütig. „Doch dann erfuhr ich hier, dass du nicht wie erwartet ein kaltherziger Mafioso bist, der ohne jegliche Bindung zu anderen Menschen in der Dunkelheit vor sich hin vegetiert, sondern nun ein Teil dieses Büros der bewaffneten Detektive bist und das hat mich meine Pläne ändern lassen.“

„Hah“, machte Dazai spöttisch, „ich würde mich ja für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, wenn ich nicht so wahnsinnig sauer darüber wäre, dass ihr Unbeteiligte da mit hinein gezogen habt. Warum hat der Umstand, dass ich zum Büro der bewaffneten Detektive gehörte, deine Pläne über den Haufen geworfen und dich so überreagieren lassen?“

Sichtlich gereizt durch diesen Kommentar löste Barrie die Verschränkung seiner Arme auf und ballte seine Hände zu Fäusten. „Du solltest deine Zunge im Zaum halten. Was bildest du dir ein von einer Überreaktion zu reden?“

Sogleich schüttelte Dazai den Kopf. „Wir können uns gerne über Semantik streiten, aber eine Frage bleibt dabei noch unbeantwortet: Es hätte schließlich immer noch gereicht, nur mich anzugreifen oder auch nur einen einzigen aus der Detektei, um auf euch aufmerksam zu machen. Aber du sprichst davon, dass es nicht anders ging, als sie anzugreifen. Also, warum musstet ihr sie alle verletzen?“

„Das ist dir nicht klar?“ Der Schotte wurde wieder etwas ruhiger und ein selbstgefälliges Grinsen kroch über sein Gesicht. „Wie enttäuschend. Die ganze Unterwelt Yokohamas, die übrigens sehr gerne über die Detektei und ihre Mitglieder spricht, wenn man sie nur höflich und mit etwas Nachdruck fragt, hat angsterfüllte Lobreden auf deine Intelligenz gehalten.“

Dazai stutzte, ehe seine Mimik sich verfinsterte. „Meinetwegen. Ihr habt sie meinetwegen so zugerichtet. Weil sie meine Kollegen sind.“

Erneut zuckte Barrie mit den Schultern. „Eine einfache Lektion, die ich im Leben gelernt habe. Sie hatten sich mit dir eingelassen und du hast sie dadurch in Gefahr gebracht. Eine absurde Version von Ursache und Wirkung. So wie meine Mutter und meine Geschwister nichts mit den Geschäften meines Vaters zu tun hatten und trotzdem deswegen sterben mussten.“

„Mit anderen Worten: Du bist nicht besser als ich“, konterte Dazai scharf.

Mit einem Mal verengten sich die Augen des Schotten vor Zorn. „Was für ein arroganter Mistkerl du bist. Ich habe niemanden aus der Detektei umgebracht, oder? Sicher, sie sind verletzt, aber keine der Wunden oder Vergiftungen war sofort fatal. Wenn sie nicht überleben, ist es nicht meine Schuld. Also sag nicht noch einmal, dass ich eine so bösartige und herzlose Kreatur wie du wäre.“

„Ah, es stimmt also, was man sagt.“ Dazai machte eine kurze, aber bedeutungsschwere Pause. So besessen, dachte er währenddessen, war Barrie von dem Wunsch, ihn zu töten, dass es dem Schotten nicht auffiel, dass er selbst zu einer Version desjenigen geworden war, den er so sehr verabscheute. „Ein Mensch, der sein Leben der Jagd von Dämonen widmet, bemerkt es nicht einmal, wenn er irgendwann selbst zum Dämon wird.“

„Tsk“, machte Barrie abschätzig. „Klopf ruhig kluge Sprüche. Von deinem hohen Ross glaubst du ja eh, du könntest die Welt täuschen, indem du einfach den Arbeitsplatz wechselst. Jemand abgrundtief Böses wie du versteht das Ausmaß seiner eigenen Untaten nicht einmal! Die Welt hat deine Sünden nicht vergessen und sie wird erst ein besserer Ort werden können, wenn du von ihr verschwunden bist.“

Dazai seufzte übertrieben laut und warf in einer beinah theatralischen Geste den Kopf in den Nacken, bevor er wieder zu seinem Gegenüber sah und erneut süffisant grinste. „Dann wirst du diese Welt von mir befreien? So viel Aufwand, um jemanden zu töten, der sowieso sterben will.“

Es irritierte Dazai ein wenig, dass Barrie nun einfach anfing, zu lachen. Er hatte immer noch nicht ganz herausfinden können, wie genau die Briten ihre Mission nun zu Ende bringen wollten. Er sollte sterben, so viel war klar. Da sich seine und Barries Denkweisen so ähnelten, wusste er, dass seine Gegenspieler noch etwas vorhatten. Und aller Wahrscheinlichkeit nach hatte es zu tun mit-

„Keine Sorge“, antwortete der Schotte schließlich, „heute Nacht werden wir alle befreit werden. Aber erst … ah!“ Er hielt inne, als würde er etwas bemerken. „So was … sie kommen tatsächlich. Die zwei, die noch fehlten.“

Ach, Atsushi, dachte Dazai zeitgleich innerlich seufzend und grinsend, manchmal bist du schon ein wenig arg berechenbar.

 

„Hier muss es irgendwo sein.“ Atsushi sah von dem Zettel, den Joyce ihm gegeben hatte, wieder hoch und blickte in die dunkle Straße voller verlassener, alter Häuser. Immerhin weigerten sich noch einige der in die Jahre gekommen Straßenlaternen, ihren Geist endgültig aufzugeben und spendeten noch ein schwaches, flackerndes Licht, ohne das sie in der angebrochenen Nacht ziemlich im Dunkeln tappen würden.

„Das scheint ein sehr alter Teil der Stadt zu sein“, bemerkte Kyoka. „Wahrscheinlich sind die meisten Menschen hier weggezogen, weil er so abgelegen vom Stadtzentrum ist.“

„Jetzt müssen wir nur noch das richtige Grundstück finden.“

Sie schritten weiter die Straße entlang und Atsushi hoffte inständig, dass die unheimliche Stille, die hier herrschte, nicht bedeutete, dass sie bereits zu spät waren. Natürlich setzte er darauf, dass ein Fuchs wie Dazai sich nicht so einfach töten ließ, aber … dann wiederum gab es den schwerwiegenden Umstand, dass eben dieser Dazai auch nicht allzu sehr an seinem Leben hing. Atsushi tat sein Bestes, um den Gedanken beiseite zu schieben, doch er drängte sich ihm immer wieder auf: Wollte Dazai alleine herkommen, um zu sterben?

„Atsushi!“, rief Kyoka plötzlich warnend aus.

Hinter dem Jungen tauchte aus dem Nichts ein Dutzend mit Maschinengewehren bewaffneter Kinder auf, die direkt das Feuer auf die zwei Detektive eröffneten. Während Kyokas Weißer Dämonenschnee die Salven abblockte, aktivierte Atsushi seine Fähigkeit, um blitzschnell das Mädchen zu packen und mit ihr außerhalb der Reichweite der Gewehre zu sprinten.

Was waren das für Kinder? Sie hatten einen vollkommen leeren Blick, als würden sie ins Nichts starren und doch verfolgten ihre Augen sie unnachgiebig. Waren das etwa …?

„Das muss die Fähigkeit sein von der Wilde erzählt hat“, sagte Kyoka. „Die Lost Boys. Das heißt, diese Kinder sind bereits tot und wir müssen uns nicht zurückhalten.“

Bei ihren nüchtern vorgetragenen Worten stockte Atsushi. „Ja, aber … sie sind trotzdem Kinder.“

Ungeachtet seines Einwands stürzte sich Weißer Dämonenschnee auf die Kinder und begann, eins nach dem anderen zu zerteilen.

„Sie sind bereits tot“, wiederholte Kyoka. „Mir gefällt das auch nicht, aber wenn wir nichts tun, werden sie uns töten.“

Atsushi biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte Recht. Plötzlich spürte der silberhaarige Junge weitere Präsenzen aus dem Nichts auftauchen. Drei Dutzend Kinder standen nun an der Stelle, an die sie vor den anderen geflüchtet waren. Sie hatten immerhin nicht alle Maschinengewehre, doch bewaffnet waren sie trotzdem auf irgendeine Weise. Schwerter, Äxte, Pfeil und Bogen, es war nichts dabei, mit dem man nicht irgendwie angreifen konnte. Zudem erschienen noch einmal gut zwanzig weitere Kinder hinter ihnen.

„W-wie, wie viele sind das denn?“ Atsushi besah sich vollkommen entgeistert die schier endlose Masse an untoten Kindern.

„Es werden immer mehr.“ Kyoka sah sich fahrig um.

Sie waren zu allen Seiten von Dutzenden der Lost Boys umzingelt. Doch noch wurden sie nicht angegriffen.

„Also dann“, schallte Barries Stimme aus nicht allzu weiter Entfernung zu ihnen herüber, „Atsushi Nakajima und Kyoka Izumi, euer Leben liegt gerade in den Händen eures herzlosen Kollegen. Er darf jetzt die Entscheidung treffen, ob er oder ihr sterben sollt!“

Die zwei Detektive drehten sich hastig zu der Richtung, aus der die Stimme kam, herum. Allerdings konnten sie nicht auf das Grundstück sehen, die Hecken und der Zaun versperrten ihnen die Sicht.

„Öhm“, vernahmen sie Dazais flapsigen Kommentar, „also eigentlich Ex-Kollegen. Ich habe nämlich heute gekündigt.“

Das ist doch jetzt total unwichtig, wollte Atsushi einwerfen, ließ es aber. Tief im Innern war er erleichtert, dass sein Mentor noch lebte.

„Das ist also tatsächlich, was ihr vorhabt“, sprach Dazai weiter. „Atsushi und Kyoka als letztes Druckmittel gegen mich benutzen? Das gibt aber Abzüge in puncto Kreativität. Sooo vorhersehbar.“

Der erwähnte Junge stutzte zum wiederholten Mal. Hatten sowohl Dazai als auch die Briten damit gerechnet, dass er und Kyoka herkommen würden?

Hörbar genervt seufzte Barrie. „Es war mir klar, dass du damit rechnest, aber verrate mir, was willst du an der Situation ändern?“

Dazais Augen wanderten von seinem Widersacher zu der nicht einsehbaren Straße außerhalb des Gartens und zurück zu seinem Gegenüber. Nicht schlecht, dachte er. Der Grund, dass Barrie so viel Abstand zwischen ihnen hielt, lag darin, dass er damit verhindern wollte, dass Dazai seine Fähigkeit neutralisieren konnte. Wenn er sich dem Schotten nähern würde, würden in dem Augenblick die Abkömmlinge seiner Fähigkeit Atsushi und Kyoka angreifen.

„Nun denn“, sagte Barrie, „du willst sterben? Dann, bitte, tu es jetzt.“

„Und ich kann mich darauf verlassen, dass ihr dann die Detektei in Ruhe lassen werdet?“

Als er diese ernst vorgetragenen Worte hörte, gefror Atsushi das Blut in den Adern. Wollte Dazai wirklich …?

„Dazai!“, rief er mit plötzlich einsetzender Panik herüber. „Warte! Es muss einen anderen Ausweg geben!“ Nur welchen? Nur welchen?? Atsushi blickte nervös umher, doch nichts kam ihm in den Sinn. Überall standen nur diese Kinder, die ihre Waffen auf sie gerichtet hatten und gegenüber ihm und Kyoka eine kolossale Übermacht bildeten.

„Versprochen. Wir verschwinden dann wieder aus Yokohama.“

„Ich kann mich auf euer Wort verlassen?“

„Wie ich schon sagte, ja.“

Eine längere Pause entstand, in der Atsushi sein Herz in seinen Ohren schlagen hörte.

„Gut, in Ordnung.“ Dazai atmete hörbar aus. „Da wäre nur noch eine Sache.“

„Was denn?“, fragte Barrie mit wachsender Ungeduld.

„Deine Fähigkeit … DIESE KINDER SIND ALLESAMT BEREITS TOT, ja?“

Verwirrt zuckte Barrie angesichts Dazais plötzlichem und äußerst lautem Ausruf zusammen. Was sollte das denn jetzt?

„Atsushi“, hauchte Kyoka da auf einmal verschwörerisch. Der Junge hatte gerade einmal genug Zeit zu bemerken, dass etwas auf sie zukam, als es bereits auf sie zukam.

„Fähigkeit: Rashomon!!“

Mit einem gewaltigen Knall krachte Rashomon durch die Menge der Kinder und eins nach dem anderen löste sich auf. Durch die Schneise, die so geschlagen worden war, kam am anderen Ende der Straße Akutagawa hustend zum Vorschein.

„A-akutagawa?“ Atsushi traute seinen Augen kaum. Deswegen hatte Dazai eben diesen Satz gebrüllt!

„Ich hab mir schon gedacht, dass du herkommst, wenn es um Dazai geht.“ Neben den gerade aufgetauchten Mafioso gesellte sich ein weiterer Mann, der noch schlechtere Laune als Akutagawa hatte – und einen Hut.

„Ch-chuuya?“ Der silberhaarige Detektiv verstand die Welt nicht mehr. „Was macht ihr hier?“

„Ich hab gehört, jemand will MIR das Vorrecht wegnehmen, diesen Mistkerl Dazai zu erledigen. Das geht natürlich gar nicht. NUR ICH DARF DAZAI TÖTEN, VERSTANDEN?!“

Entgeistert starrte derweil Barrie zwischen seinem eigentlichen Opfer und dem verborgenen Geschehen auf der Straße hin und her. „Was … was machen die denn hier??“ Ein amüsiertes Glucksen ließ ihn seine gesamte Aufmerksamkeit wieder auf Dazai konzentrieren. „Das kannst du unmöglich geplant haben ...“

„Mir war klar, dass eure Freunde von früher niemals Atsushi und Kyoka alleine herkommen lassen würden und Chuuya und Akutagawa sind so leicht zu manipulieren. Ich musste dich nur so lange hinhalten, bis sie eintrafen.“

Barrie fasste sich mit einer Hand an den Kopf. Dann jedoch lachte er erneut.

Das war allerdings kein „der Feind sieht seine Niederlage ein und lacht vor Verzweiflung“-Lachen. Mit einem flauen Gefühl im Magen versuchte Dazai eiligst herauszufinden, was er übersehen haben könnte.

„Gut gespielt“, Barrie lachte immer noch, „gut gespielt. Aber leider nicht gut genug.“

„Was ist denn das?!“, erklang es da erzürnt von Akutagawa. Die Kinder, die er gerade beseitigt hatte, kamen wieder und mit ihnen noch mehr neue. Immer mehr und mehr und mehr. Und alle waren sie bewaffnet.

„Das waren noch nicht alle?!“ Kyokas Ausruf war halb eine Frage und halb eine Feststellung, während alle vier auf der Straße Anwesenden erschrockenen Auges die scheinbar unendliche Masse an Kindern betrachteten, die um sie herum erschien und die gesamte Straße ausfüllte.

„Was soll der Scheiß?!“ Chuuya kickte ein paar von ihnen weg, doch selbst wenn sie verschwanden, kamen sie sofort wieder.

„Was ist da los?“, rief Dazai herüber.

„Hier sind bestimmt fast Tausend von diesen Lost Boys“, beschrieb Atsushi die Situation, „und es ist unmöglich, sie verschwinden zu lassen!“

„Ihr hatte eure Chance.“ Barrie zuckte mit den Schultern und im nächsten Augenblick ging seine Fähigkeit zum Angriff über.

Dazai sprintete nach vorn, um nach dem Schotten zu greifen, doch ein Schuss von links, dem er gerade so ausweichen konnte, ließ ihn wieder zurückweichen. War das Huxley? Oder noch eines von diesen Kindern?

Während Weißer Dämonenschnee versuchte, Kyoka und Atsushi vor den Angriffen abzuschirmen, schafften es Akutagawa und Chuuya mit ihren Attacken zumindest einen kleinen Teil der Lost Boys um sie herum für wenige Augenblicke auszuschalten. Die erneute Schneise, die Rashomon geschlagen hatte und der Krater, den Chuuya verursacht hatte, gaben Atsushi für den Bruchteil einer Sekunde die Möglichkeit zu handeln. Kurz nachdem Weißer Dämonenschnee sich durch die übermächtige Wucht der zahllosen Angriffe auflösen musste, packte Atsushi Kyoka, fokussierte noch einmal all seine Kraft in seinen Beinen und sprang mit ihr über den Zaun und die dahinter wuchernden Hecken auf das Grundstück. Sie mussten zu Dazai! Sie mussten ihm helfen, damit er Barries Fähigkeit auflösen konnte!

Die beiden Detektive landeten auf dem Gras, direkt vor den dichten Hecken und es blieb ihnen nur ein Augenaufschlag Zeit, die Situation zu überblicken (Dazai rechts von ihnen, mit dem Rücken zum Haus; links von ihnen derjenige, der Barrie sein musste; der Rest des Gartens in eine alles verschluckende Dunkelheit gehüllt), als eine Drahtpistole abgefeuert wurde. Am Ende des Drahtes befand sich ein Haken, der auf brachiale Weise durch Atsushis linke Schulter schlug und den vor Schmerzen aufschreienden Jungen mit Gewalt an dem Draht zu dem Punkt zurückzog, von dem er abgefeuert worden war. Atsushi wurde durch den Lichtkreis, in dem sich Barrie und Dazai gegenüber standen, geschleppt und kam schließlich neben Barrie zum Erliegen. Im gleichen Moment, in dem Atsushi getroffen worden war, hatte jemand von hinten aus den Hecken heraus Kyoka hart an ihrem Handgelenk gepackt und sie festgehalten, sodass sie ihren Kameraden hatte loslassen müssen.

„Atsushi!“, rief Dazai entsetzt aus.

Der Junge richtete sich so weit auf, dass er auf dem Boden hockte und er sich den Haken aus der Schulter ziehen konnte, als umgehend weitere Waffen auf ihn gerichtet wurden: eine Klinge an seine Kehle, eine Pistole an seinen Kopf. Das Messer und die Schusswaffe wurden von zwei Jungen gehalten. Aus dem Augenwinkel konnte Atsushi erkennen, dass die Drahtpistole von einem danebenstehenden Mädchen abgefeuert worden war, das ein wenig größer als die beiden anderen Kinder war.

„Ich würde mich jetzt ganz ruhig verhalten“, sagte Barrie kaltblütig, „auch wegen deiner Freundin.“

Die Blicke Atsushis und Dazais rasten zu Kyoka, die in diesem Moment kraftlos auf ihre Knie fiel. Ihr Kopf fiel nach vorne, als wäre sie ohnmächtig geworden. Huxley stand hinter ihr und hielt mit einer Hand ihr Handgelenk fest. In der zweiten hielt er eine Pistole.

„Eigentlich war das die Lösung, die wir nicht hatten verfolgen wollen“, erklärte der dunkelhaarige Mann ruhig und klang dabei doch irgendwie kurzatmig. „Aber da sich die Herren von der Hafen-Mafia einmischen mussten ...“ Er machte eine kurze Pause, in der man überdeutlich das fortlaufende Kampfgeschehen und die derben Flüche der beiden von der Straße hören konnte. „ … bleibt uns nur diese Möglichkeit.“

„Wenn Sie uns töten“, sagte Atsushi mit bebender Stimme zu Barrie, „dann wird das Ihre Familie auch nicht wieder lebendig machen.“

„Oh, das ist mir bewusst“, entgegnete der Schotte, „aber ich will meinen Geschwistern zeigen, dass das Monster, das uns dies angetan hat, zur Rechenschaft gezogen wird.“

Atsushi stutzte und sah, wie Dazais Blick zu den Lost Boys ging, die ihn mit den Waffen bedrohten.

„Du benutzt deine eigenen Geschwister für deine Fähigkeit?“, fragte Dazai.

Benutzen, sagt er, benutzen.“ Barrie klang angewidert. „Ich hatte bis zu dieser Nacht damals nicht mal eine Ahnung gehabt, dass ich ein Befähigter bin und dann ist meine Fähigkeit auch noch ausgerechnet das.“ Ein verzweifeltes Lachen entwich seiner Kehle. „Aber immerhin können sie so Zeuge dieses Augenblicks der Gerechtigkeit werden.“

Atsushi versuchte, aus dem Augenwinkel heraus zu den Kindern zu sehen, die ihn bedrohten. Das waren Barries Geschwister? Er schluckte schwer. Sie sahen noch so jung aus. Jünger als Kyoka. Und Dazai hatte sie … ermordet?

„Was ist?“, wandte sich Barrie hochmütig an ihn. „Realisierst du gerade, dass du dein Leben und vor allem das Leben dieses Mädchens für jemanden riskierst, der keinerlei Wertschätzung für das Leben anderer besitzt? Wenn Osamu Dazai hier und heute stirbt, dann sollt ihr ihn als das unmenschliche, herzlose Monster in Erinnerung behalten, das er tief in seinem Inneren ist.“

„Dazai ist kein-“, begann Atsushi und erhob seine immer noch zittrige Stimme, doch Dazai fiel im ins Wort.

„Lass es, Atsushi. Deine Worte erreichen ihn nicht.“

„Du glaubst mir immer noch nicht, wie?“ Barrie schüttelte übertrieben laut seufzend den Kopf, ehe er sich Dazai zuwandte: „Sag es ihm, sag dem Jungen, was du getan hast, damit er endlich erkennt, dass er sich in dir geirrt hat. Dass du ihn getäuscht hast. Sag es ihm!“

Ein kurzer Moment des Schweigens entstand, in dem Barrie und Dazai sich gegenseitig anblickten. „Na schön.“ Dazai zuckte mit den Schultern. „Wenn du so sehr darauf bestehst.“

Atsushi hielt unbewusst den Atem an.

„Ich habe damals deine Mutter, deine Geschwister und letztlich auch deinen Vater getötet. Und wenn ich mich recht erinnere, war es mit genau diesem Schwert da, das du an deiner Hüfte trägst.“

In Barries ernsten Blick mischten sich Wut und Trauer. „Und hast du dabei irgendetwas gefühlt?“

„Nein. Nichts.“

Durch Dazais knappe Antwort hatte Atsushi mit einem Mal das Gefühl, dass ihm jemand den Hals zuschnürte. Tränen sammelten sich in seinen Augen, die er versuchte, am Herauskommen zu hindern. Es war unbeschreiblich hart, diese Worte zu hören und nichts, nichts in der Welt hätte ihn darauf vorbereiten können. In dieser Welt war Dazai sein Stützpfeiler – und jetzt in diesem Moment hatte Atsushi das Gefühl, dass ihm dieser wegbrach und alles um ihn herum in sich zusammenfiel.

Barrie wartete ab, ob Atsushi noch etwas sagen würde, doch ein Blick auf den Jungen genügte, um zu erkennen, dass über seine bebenden Lippen kein Ton kommen würde. „Dann wäre das wohl geklärt. Behalte ihn so in Erinnerung. Er ist ein Monster. Ein Dämon. Seinetwegen mussten so viele Menschen leiden. Auch deine Kollegen. Vergesst das niemals. Vergesst niemals, was er euch angetan hat.“ Er nickte Huxley zu, der seinen Revolver sicherte und ihn zu Atsushis Verwirrung daraufhin Dazai vor die Füße warf. Der Brünette senkte seinen Blick zu der Pistole, die vor ihm auf dem Boden lag.

Es machte keinen Sinn, einen der beiden anzugreifen. Würde er Barrie attackieren, würde Huxley die bewusstlose Kyoka töten. Würde er Huxley angreifen, würde Barrie Atsushi töten. Sie waren wirklich verdammt gut, das musste er ihnen lassen.

„Ist das wirklich das, was Sie wollen?“, fragte Dazai plötzlich Huxley.

Der dunkelhaarige Brite atmete laut aus und ein leises Rasseln war zu hören. „Es muss heute enden. Das ist, was ich will.“

„Verstehe.“ Dazai hob die Pistole vom Boden auf und entsicherte sie erneut.

Mit wachsender Verstörung beobachtete Atsushi das Geschehen. Wieso gaben sie Dazai eine Waffe? Was bezweckten sie damit? Sein Herz blieb beinahe stehen, als ihm bewusst wurde, worin der Grund dafür lag. Doch in diesem Moment führte sein Mentor den Lauf des Revolvers bereits an seine eigene Schläfe.

„Dazai!“, rief er panisch aus. „Nicht! Tu das nicht!“

„Vielleicht willst du lieber wegsehen, Atsushi“, entgegnete Dazai ruhig.

„Nein!!“ Der Junge schrie nun aus vollem Halse. „Tu das nicht!! Bitte!!“

„Du willst immer noch sein Leben retten?“, warf Barrie irritiert ein. „Er ist ein herzloses Monster.“

Barrie erkannte den Widerspruch nicht. Dazai war bereit sein Leben zu opfern, um das der anderen zu retten, man konnte ihn folglich kaum ein herzloses Monster nennen. Wieso erkannte der Schotte dies nicht? Atsushi war ratlos, er konnte nicht nachvollziehen, was in Barries Kopf vorging. Wie sollte er jemandem, der nicht hören wollte, was andere ihm sagten, diesen Widerspruch verständlich machen?

Es musste doch einen Weg geben, sie alle zu retten. Von Angst ergriffen versuchte Atsushi, einen klaren Gedanken zu fassen zu kriegen, doch wenn anscheinend nicht einmal Dazai eine Lösung einfiel, wie sollte er dann auf eine kommen? Aber es musste einen anderen Weg geben, einen Ausweg, irgendwas. Irgendwas. Irgendwas.

Vor Panik vergaß er fast zu atmen.

„Es gibt keine andere Möglichkeit mehr, Atsushi.“ Dazai sprach immer noch so verdammt ruhig, auch wenn seine Mimik ganz ernst geworden war. „Sie werden dich und Kyoka laufen lassen, wenn ich tot bin.“

„Es muss eine andere Möglichkeit geben! Es muss!“

„Nimm endlich Vernunft an!“, erwiderte der Brünette erbost. „Sollen du oder Kyoka etwa meinetwegen sterben? Die ganze Detektei hat meinetwegen schon leiden müssen! Das hier …“, er senkte seine Stimme wieder, „das hier wird euch alle in Sicherheit bringen.“

„Dazai … Dazai …“ Atsushis Stimme bebte nicht mehr nur, sie war ein panisches, atemloses Hauchen.

„Tu es endlich!“, rief Barrie jähzornig dazwischen.

„Nein!! Bitte nicht!! Bitte nicht!!“ Die Dämme in Atsushis Augen brachen und heiße Tränen rannten in Strömen über seine Wangen.

Ein flüchtiges, süffisantes Lächeln legte sich noch einmal auf Dazais Gesicht. „Also dann.“

„NEEEIN!“

Dazai drückte ab und trotz des Lärms um ihn herum konnte Atsushi nichts anderes mehr hören als das Geräusch des Schusses, das durch den Garten hallte; konnte er nichts anderes mehr sehen als das Blut, das aus dem Kopf seines Mentors schoss. Obwohl so viel um ihn herum passierte, vernahmen Atsushis Ohren nichts als die Stille nach dem Schuss, und seine Augen nichts als Dazais Körper, der leblos zu Boden fiel.

Atsushi schrie; er schrie sich die Seele aus dem Leib.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück