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See you at the bitter end

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Vorbemerkung: Wir springen noch einmal ein bisschen in der Zeit zurück. Aber dieses Mal nicht zu Dazai. Zumindest nicht direkt. Komplett anzeigen

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You lying, trying waste of space

You lying, trying waste of space“

 

Placebo, „Song to say goodbye“

 

Mit Argusaugen beobachtete Chuuya das Öffnen des Containers in der Lagerhalle. Die ganzen Schwierigkeiten und Vorkommnisse in der letzten Zeit hatten diese Waffenlieferung zu einer lang ersehnten und dringend benötigten Aktion werden lassen, weswegen Mori nicht nur ihn, sondern zusätzlich noch Akutagawa zum Bewachen der Lieferung geschickt hatte. Es galt um jeden Preis zu verhindern, dass die Hafen-Mafia wieder in die dunkle Zeit zurückfiel, als ihnen sogar die Waffen auszugehen drohten. Chuuya war ein Meister darin, zu verdrängen, wieso dies damals der Fall gewesen war. Wenn er zu sehr darüber nachdachte, würde er auch über diesen nervtötenden, durchgeknallten, komplett bescheuerten Vollidioten Dazai nachdenken – und an den wollte er nun wirklich keinen Gedanken verschwenden.

Nicht an diesen wahnsinnigen, unzurechnungsfähigen, gestörten Spinner, der zudem noch ein mieser, hinterhältiger, arglistiger Verräter war.

Nein.

An Dazai wollte er nun wirklich keinen einzigen Gedanken verschwenden.

„Hey!“, meckerte Chuuya grantig, als er bemerkte, wie einige seiner Leute, die mit dem Ausladen beschäftigt waren, anfingen zu schwanken und sogar Kisten fallen ließen. „Was macht ihr da?! Was soll der Scheiß?! Passt gefälligst-“. Er hatte sich den Männern genähert und stoppte abrupt. Je näher er ihnen kam, desto merkwürdiger fühlte sich plötzlich sein Kopf an. Rasch ging er wieder auf Abstand. Hier war etwas in der Luft, aber was? Einige Meter von ihm entfernt stand Akutagawa und hustete.

„Hier ist jemand“, grummelte er zwischen seinem Röcheln und ließ geschwind Rashomon angriffsbereit hinter ihm erscheinen.

„Ist einer der Herren Chuuya Nakahara?“ Der Angesprochene und Akutagawa wirbelten zu der Stimme herum, die hinter ihnen erklungen war. Ein junger Mann stand dort, etwa in ihrem Alter. Er hatte rotbraunes Haar und ein Kurzschwert baumelte an seiner Hüfte.

„Wer will das wissen?“, fauchte Chuuya bärbeißig.

„Ah, dann sind Sie das?“, antwortete der Unbekannte und Chuuyas Stirn legte sich in Falten. Hörte er da einen Akzent raus? „In der Unterwelt Yokohamas erzählt man sich, es würde sich um einen schlecht gelaunten Wicht mit kurzer Zündschnur handeln.“

„WEN NENNST DU HIER WICHT, DU WICHT?!!!“ Der Hutträger aktivierte seine Fähigkeit und wollte auf den Mann losgehen, als dieser eiligst eine Art kleiner Fernbedienung hochhielt, die sich in seiner rechten Hand befand.

„Sie wissen, was das ist?“, fragte er.

Chuuya knirschte mit den Zähnen. „Eine Fernzündung? Wofür ist die?“

Der Unbekannte zeigte mit seiner anderen Hand hinter die beiden Mafiosi.

„Was soll das heißen?!“, knurrte Akutagawa, der vor Zurückhaltung fast platzte.

„Wer auch immer du bist“, sagte Chuuya überheblich, „du bist verdammt blöd. Du hast eine Sprengladung an unserem Container angebracht? Wie bist du überhaupt an den Wachen draußen vorbeigekommen?“

„Diese Wachen?“ Ein weiterer Mann, älter, aber ebenso mit Akzent, kam hinzu. Er hatte zwei bewusstlose Wachen im Schlepptau, die er unsanft auf den Boden fallen ließ. „Wir wollen lediglich ein paar Informationen, dann sind wir schon wieder weg.“

„Ich könnte ihnen die Hände abschlagen“, grummelte Akutagawa mehr zu sich selbst als zu den anderen. „Daran würden sie nicht unbedingt sterben.“

„Was für Informationen?“, hakte Chuuya genervt nach.

„Wo finden wir Osamu Dazai?“, fragte der ältere Mann und erwischte den Rothaarigen damit kalt und auf dem völlig falschen Fuß.

„Dazai?? Was wollt ihr denn von dem Spinner?!“

„Das ist unsere Sache. Sagen Sie uns einfach, wo wir ihn finden können.“

„Woher soll ich denn wissen, wo dieser Trottel steckt?!“, schimpfte Chuuya. „Hoffentlich irgendwo auf dem Grund eines Sees!!“

Der Jüngere der Ausländer stutzte. „Aber Sie gehören doch auch zur Hafen-Mafia, dann müssen Sie doch wissen-“

„Was heißt hier auch?? Der Mistkerl Dazai gehört zum lächerlichen Büro der bewaffneten Detektive! Belästigt die und nicht uns!!“

In dem Moment, in dem die beiden Unbekannten einen irritierten Blick austauschten, preschte Akutagawa mit Rashomon vor und brachte den zurückweichenden jungen Mann dazu, die Fernzündung fallen zu lassen, die durch Rashomon sogleich zerstört wurde. Im gleichen Augenblick ertönten hinter ihnen jedoch plötzlich Maschinengewehrsalven und Chuuya wirbelte erneut herum, um zu sehen, was nun schon wieder vor sich ging. Zwei Dutzend schwer bewaffneter Kinder mit unheimlichem Blick standen dort und schossen auf sie.

Moment mal! Waren das die Waffen aus ihrer Lieferung?? Zudem bemerkte er, dass seine eigenen Leute kaum noch auf den Beinen waren und die, die es noch waren, waren in ihrer Reaktion so langsam, dass sie wie nichts über den Haufen geschossen wurden. Pfeilschnell hastete Chuuya zu seinen Leuten hin und fing die Kugeln mit einer Gravitationsveränderung ab.

Gerade als Rashomon auf die beiden fremden Männer losgehen wollte, zückte der Ältere der Eindringlinge einen zweiten Fernzünder und drückte schnell auf den Knopf.

 

Mit Argusaugen beobachtete Chuuya das Öffnen des Containers in der Lagerhalle.

Der anderen Lagerhalle.

Die gewaltige Explosion hatte den Großteil der ersten Halle zerstört und sie war unbrauchbar geworden. Genauso wie die meisten der Waffen, die eigentlich in dieser Lieferung gewesen waren.

Ein britischer Akzent.

Chuuya war sich sehr sicher, dass die Typen britisch geklungen hatten. Der eine hatte etwas anders als der andere geklungen, aber insgesamt würde er sie als britisch einstufen. Mori war verständlicherweise nicht glücklich über das Geschehene, hatte zu dem Zwischenfall jedoch nur ein mysteriöses „Ist ja interessant“ abgegeben und sich laut gefragt, was diese Herren wohl von Dazai wollten.

Gute Frage.

Aber eigentlich, ermahnte Chuuya sich selbst, interessierte ihn das kein Stück. Weil dann würde er sich ja für Dazai interessieren und das tat er nicht. Was dieser unzurechnungsfähige, verlogene, hochmütige Dreckskerl trieb und mit wem er es sich aus was für Gründen auch immer verdorben hatte, war für ihn nicht von Interesse. Wenn man es genau betrachtete, war Dazai schuld an dem Verlust der Lieferung. Ja! Sie waren ja auf der Suche nach diesem Blödmann gewesen, also war es seine Schuld!

Chuuya drängte den Wunsch beiseite, Dazai eine reinhauen zu wollen und konzentrierte sich wieder auf die Überwachung des Ausladens der Waffenlieferung.

Ein lautes 'Klonk' von draußen ließen ihn und den einige Meter neben ihm stehenden Akutagawa wieder einmal aufgeschreckt herumwirbeln.

„Ich sehe draußen nach. Du wartest hier.“ Mit diesem Befehl lief Chuuya aus der Lagerhalle hinaus. Waren diese Typen etwa noch einmal aufgetaucht? Vor den Toren der Halle angekommen, staunte der Rotschopf nicht schlecht. Seine Leute, die draußen als Wachen positioniert waren, waren unter einer riesigen tönernen Kuppel gefangen, welche an eine überdimensionierte Keramikschüssel erinnerte, die man auf den Kopf gestellt hatte. Seine Untergebenen konnte er darunter nur ausmachen, weil die mysteriöse Riesenschüssel sogar über solche gitterartigen Auslassungen an den Seiten verfügte wie man sie als Verzierungen auf Tonwaren kannte.

„Was zur Hölle ist denn das?!“, schnaubte Chuuya. „Zur Seite!“ Er wartete, bis die Männer sich an eine Seite gedrängt hatte und begann, mithilfe der verstärkten Schwerkraft gegen die Kuppel zu treten. Das Ding war verdammt widerstandsfähig. Selbst nach mehreren Tritten hatte es gerade mal ein paar kleine Risse bekommen.

„Verzeihung, Herr Nakahara?“ Eine Stimme ließ ihn innehalten. Wutentbrannt drehte er sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Ein blonder Mann in einem Kurzmantel stand dort.

„WAAAS?!“ Noch so'n Typ?? Was war denn hier in letzter Zeit los?

„Guten Abend, mein Name ist Joyce. Ich sehe, Sie sind beschäftigt, deswegen will ich Sie auch gar nicht lange aufhalten. Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich einen Herrn Osamu Dazai finde?“

Eine Vene trat bei der Erwähnung dieses Namens an Chuuyas Stirn hervor und bevor der blonde Mann sich versah, ging Chuuya auf ihn los. Joyce reagierte schnell, griff in seine Manteltasche und zog von dort etwas heraus, was er in die Luft warf, während er dabei rief: „Fähigkeit: Clay!“

'Klonk!'

Eine zweite Vene bildete sich auf der Stirn des Rothaarigen, als eine scheinbar aus dem Nichts erschienene, weitere Tonkuppel auf ihn fiel und ihn in Nullkommanichts darunter einschloss.

„WHAAAAA! WAS SOLL DER SCHEISS??!!“

„Wenn Sie mir einfach nur meine Frage beantworten würden, würde ich diese Unannehmlichkeit sich wieder in Luft auflösen lassen.“ Der Mann kam näher.

„Was will in letzter Zeit jeder was von diesem Spinner?? Lasst mich doch mit Dazai in Ruhe!!“

„Ah“, machte Joyce perplex und wurde sehr ernst, „dann war vor uns schon einmal jemand hier, um nach Osamu Dazai zu fragen?“

Chuuya stutzte. Uns?

Mit einem Mal hörte er den Krach aus dem Inneren der Lagerhalle.

 

„Aber, aber, Gothic-Boy!“ Wilde stürzte beinahe von seinem Platz oben auf dem Container, als er Rashomon haarscharf auswich. „Das würde ich lassen, nachher kommt noch jemand zu Schaden.“

Zu Akutagawas Unglauben zog der plötzlich aufgetauchte Brünette eine Fernzündung aus seiner Tasche und fuchtelte mit dieser für ihn gut sichtbar herum. Dieser nervige Kerl war über das Dach hineingekommen und war geschwind auf den Container geklettert. Akutagawa kniff zornig die Augen zusammen. Das war doch die gleiche Fernbedienung wie die dieser Briten.

„Ah, hab ich deine Aufmerksamkeit?“, flötete Wilde vergnügt. „Du hast sicher schon eine Ahnung, dass das hier“, er fuchtelte von neuem mit dem Fernzünder herum, „zu einer Sprengladung gehört, die vielleicht, vielleicht aber auch nicht, irgendwo in dieser Halle versteckt ist.“

Man konnte hören, wie der Mafioso seine eigenen Zähne zermalmte, während er Rashomon langsam zu sich zurückzog und den anderen Männern ein Zeichen gab, nicht auf den Unbekannten zu schießen. Chuuya hatte ihn eindringlich gewarnt, dass sie nicht noch eine Waffenlieferung verlieren durften.

„Es geht auch ganz schnell“, sprach Wilde weiter. „Erstens, muss ich dich für deinen Gothic-Style loben; der steht dir unfassbar gut! Gibt nicht viele, die so etwas tragen können.“

Akutagawa stellte sich vor, dem Kerl die Zunge herauszureißen.

„Zweitens, wärst du so lieb und würdest mir ganz flink verraten, wo ich Osamu Dazai finden kann?“

„Dazai?“, stutzte der Mafioso. „Ihr wollt auch etwas von Dazai?“

„Oh“, sein Gegenspieler machte große Augen, „dann waren die anderen schon hier gewesen, ja? Hmm, hab ich mir gedacht. Also, wie sieht es aus, Gothic-Boy? Wo finde ich diesen Dazai?“

„Wir haben euren feigen Freunden schon erklärt, dass ihr wegen Dazai das lächerliche Büro der bewaffneten Detektive belästigen sollt“, antwortete Akutagawa, sichtlich Mühe habend, die Ruhe zu bewahren.

Wilde legte den Kopf schief. „Wie? Dieser Dazai ist gar nicht mehr bei der Hafen-Mafia?“

In diesem Augenblick fiel Akutagawa etwas auf. Wenn es eine Sprengladung gab, dann konnte sie nicht im oder am Container sein, da der nervige Typ sich ja damit selbst in die Luft sprengen würde. Noch bevor er diesen Gedanken vollkommen zu Ende gedacht hatte, ließ Akutagawa Rashomon auf ihn losstürmen. Geistesgegenwärtig sprang Wilde auf den Dachbalken zurück, über den er ursprünglich hinein gekommen war.

„Hey! Gothic-Boy! Das ist aber nicht nett!“

Rashomon wollte gerade den Dachbalken zerschmettern, als Wilde den Knopf auf dem Fernzünder drückte und mit einem Mal mehrere bereits aus dem Container ausgeladene Kisten explodierten und die Halle in dichten Rauch hüllten.

 

Kurz nachdem er die Explosionen gehört hatte, gelang es Chuuya endlich, sich mithilfe seiner Fähigkeit aus seinem Gefängnis zu befreien. Joyce hatte dies bereits kommen sehen und war auf Abstand gegangen.

„Uuuui, was für ein brachialer Typ“, flötete plötzlich ein weiterer Mann, der angelaufen kam und zu Chuuya blickte.

„Wilde“, begrüßte Joyce ihn kopfschüttelnd, „das ist wohl nicht so glatt gelaufen, oder?“

„Gothic-Boy war gemein zu mir“, jammerte der Angesprochene.

Chuuyas Venen pulsierten auf das Heftigste. „Glaubt ihr, ihr könnt euch mit der Hafen-Mafia anlegen und dann einfach damit davonkommen?!“

„Wow.“ Wilde starrte den Rotschopf mit großen, funkelnden Augen an.

„WAS?!“

„Du hast echt total das Gesicht für diesen Hut.“

„Häh?“ Chuuya blinzelte ihn verdattert an, ehe sein letzter Millimeter Geduldsfaden riss. WAS WAREN DAS DENN FÜR SPINNER?!

„Ich glaube, wir gehen besser.“ Joyce nahm wieder etwas aus seiner Manteltasche (ein Klumpen Lehm? War das Lehm?), warf es in die Luft und bevor Chuuya auch nur blinzeln konnte, fand er sich unter einer weiteren Kuppel wieder.

 

Irisch.

Der Akzent der beiden anderen Trottel hatte Irisch geklungen.

Chuuya stöhnte innerlich, als er an diesen Vorfall vor nicht allzu langer Zeit zurückdachte. Was hatte er beim Boss dafür zu Kreuze kriechen müssen! Immerhin war bei dieser Aktion ein nicht ganz so großer Teil der Waffen vernichtet worden, aber immer noch zu viele. Und Akutagawas Laune war seitdem auch im Keller. Also, noch mehr als sonst sowieso schon.

„Was glaubst du, wollen die von Dazai?“, hatte Chuuya ihn wider besseren Wissens gefragt. Es interessierte ihn doch nicht. NICHTNICHTNICHT!

„Eine alte Rechnung?“, hatte Akutagawa ungerührt gemutmaßt.

„Ja. Gut möglich. Feinde hat er genug.“

Chuuya gab es nicht gerne zu, aber diese Briten und diese Iren schienen verdammt stark zu sein. Und verdammt gefährlich. Wenn die es alle zur gleichen Zeit auf Dazai abgesehen hatten, dann würde selbst dieser neunmalkluge Bastard ins Schwitzen geraten.

Geschah ihm recht.

Die Briten waren seitdem nicht mehr aufgetaucht, nur die Iren trieben sich hin und wieder noch in der Speicherstadt herum und belästigten alle Mitglieder der Hafen-Mafia, denen sie begegneten mit Fragen über Dazai. Ob sie ihn kannten, was sie von ihm hielten …. Was bezweckten sie damit? Die Iren waren auf jeden Fall gekonnt darin, wieder so schnell zu verschwinden wie sie aufgetaucht waren, sobald es brenzlig wurde. Irgendwoher hatten sie wohl tatsächlich schon einige Antworten erhalten, denn ihre Fragen waren mit der Zeit spezifischer geworden, soweit Chuuya dies mitbekommen hatte (um ihn und Akutagawa machten sie einen Bogen – ganz lebensmüde waren sie wohl nicht). Doch Chuuya hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, dass sie eh bei ihrem ersten Erscheinen schon so einiges gewusst hatten, besonders darüber, dass ihn und Akutagawa etwas mit Dazai verband, sonst wären sie nicht bei ihnen aufgetaucht.

Vielleicht, dachte sich Chuuya, als er nach einem langen Arbeitstag endlich im Bett lag und müde die Augen schloss, vielleicht trachteten diese Leute Dazai tatsächlich nach dem Leben. Vielleicht hatte auch er endlich mal Glück.

 

Was machst du da, du Spinner?“

Mit skeptischer Miene betrachtete Chuuya Dazai. Der Trottel war inmitten der Schneeschauer stehen geblieben, hatte den Kopf gen Himmel gereckt und den Mund geöffnet.

Ich probiere den Schnee“, gab der Brünette genervt zurück, als wäre seine Aktion selbstverständlich und die Frage des Kleineren somit nichts Anderes als überflüssig.

Und warum tust du das?“

Tsk.“ Dazai ließ den Kopf sinken und fasste sich tief seufzend mit einer Hand daran, als hätte der Rotschopf gerade etwas unfassbar Dämliches gesagt. „Das ist eine wirklich dumme Frage, Chuuya.“

IST ES NICHT, DU SPATZENHIRN!!“

Wenn überhaupt bist du das Spatzenhirn, weil DU die dummen Fragen stellst.“

Es war immer das Gleiche mit ihm. Chuuya versuchte, nicht auszurasten. Dazai hatte es sich zum Ziel gesetzt, ihn in den Wahnsinn zu treiben und er würde den Teufel tun und auf jede Provokation gleich anspringen.

Können wir jetzt weitergehen?“ Während Chuuya sprach, hörte man sein Zähneknirschen heraus. Nicht. Aus. Ras. Ten.

Anstatt zu antworten, legte Dazai seinen Kopf wieder in den Nacken und blickte erneut zum Himmel empor. Er stand völlig regungslos da, während der Schnee um ihn herumtanzte, sich auf ihm niederließ und seine braunen Locken mehr und mehr bedeckte.

Hey. Hey!“, fuhr Chuuya ihn mit wachsender Ungeduld an. Wenn der Spinner hier zur lebendigen Schneeskulptur werden wollte, konnte er das ja gerne tun, aber er selbst hatte da keine Lust drauf.

Es ist seltsam, oder nicht?“, sagte Dazai mit beinah entrückt klingender Stimme und ließ Chuuya damit aufhorchen. Immer wenn Dazai so klang, dann rutschte er wieder in eine seiner Phasen ab. Eine von denen, die Chuuya einen unheimlichen Schauer über den Rücken jagten, weil sie seinen unfreiwilligen Partner so unberechenbar machten. Für ihn war es alltäglich, dass Dazai eine Gefahr für andere war, aber richtig schlimm wurde es immer dann, wenn er zu einer Gefahr für sich selbst wurde.

Was ist seltsam?“

Im Grunde genommen ist Schnee nur gefrorenes Wasser und doch ist er ganz anders als Regen. Die Menschen nehmen den Schnee anders wahr als den Regen. Meinst du, der Regen würde den Schnee als seinesgleichen akzeptieren? Würde eine einzelne Schneeflocke sich in einer Regenschauer einsam fühlen?“

Chuuya schaute in die herabfallenden Schneeflocken hinauf – und doch war ihm bewusst, dass er dort nie das sehen würde, was Dazai in diesem Augenblick dort sah. Seine Augen wanderten wieder zu dem Dunkelhaarigen. „Es ist beides nur Niederschlag, Dazai. Weder Schnee noch Regen haben Gefühle. Es ist also unsinnig, sich darüber Gedanken zu machen.“

Stille legte sich über sie. Dann senkte Dazai bedächtig seinen Kopf und starrte gen Boden.

Ja“, sagte er enttäuscht. „Natürlich.“

Außerdem“, ergänzte Chuuya, nicht wissend, warum er dies ergänzte, denn es konnte ihm doch egal sein, ob der Andere enttäuscht klang oder nicht, „ist es unwahrscheinlich, dass nur eine einzelne Schneeflocke vom Himmel fällt. Da müssen irgendwo auch andere sein und dann ist sie nicht einsam.“

Erneute Stille legte sich über sie. Dann – ganz plötzlich – hob Dazai seinen Kopf, sah den Rothaarigen unaufgeregt an und setzte sich in Bewegung.

Lass uns gehen. Es ist kalt. Und auf deinem Hut türmt sich schon der Schnee. Nicht dass dein Spatzenhirn noch einfriert.“

 

Verdattert schreckte Chuuya aus dem Schlaf hoch. Was in aller Welt …?? Wieso hatte er denn jetzt von dieser uralten, ewig zurückliegenden Episode aus seiner Zeit mit Dazai geträumt? Dieser verfluchte Dazai!! Jetzt träumte er schon von ihm!! Wütend schlug der Mafioso mit einer Faust gegen die Wand, an der sein Bett stand und haute damit ein Loch in die Wand.

Sollten sie Dazai doch abmurksen, Hauptsache sie ließen ihn damit in Ruhe!!

 

Alles andere als aufmerksam beobachtete Chuuya das Ausladen der neusten Lieferung an diesem Abend. Natürlich beschäftigten ihn diese Gerüchte, die er gehört hatte, nur, weil das Büro der bewaffneten Detektive ihre erklärten Todfeinde waren und nicht, weil er sich fragte, ob das etwas mit diesem hassenswerten, albernen, dämlichen Vollpfosten zu tun hatte.

„Hast du diese Gerüchte gehört?“, fragte er den gerade eingetroffenen Akutagawa so beiläufig wie möglich.

„Die Gerüchte?“ Er hustete. „Über die Angriffe auf diese Ärztin und diesen selbsternannten Meisterdetektiv?“

„Außerdem soll eine Bombe am Bezirksgericht hochgegangen sein. Und irgendwas soll auch in einem Krankenhaus vorgefallen sein.“

„Der Menschentiger und Kyoka vermuten, das habe mit Dazai zu tun“, antwortete Akutagawa, ebenso schwer um Beiläufigkeit bemüht.

Chuuya hob kritisch eine Augenbraue. „Wann hast du denn mit denen geredet?“

Unwillig zuzugeben, dass die Detektive in seinem Schlafzimmer gelandet waren, entgegnete er grummelnd: „Eine flüchtige Begegnung heute Nachmittag.“

„Aha“, machte der Ältere skeptisch. „Also wahrscheinlich die Typen, die letztens nach Dazai gefragt haben.“

„Wahrscheinlich.“

„Zum Glück ist der Spinner nicht mehr bei uns, sonst hätten wir jetzt den Ärger am Hals.“

Bevor Akutagawa antworten konnte, klingelte plötzlich sein Handy und er ging ran.

„Gothic-Boy!“, tönte es fröhlich aus dem Telefon und Akutagawas Blutdruck ging sofort rasant durch die Decke.

„Woher habt ihr Ungeziefer diese Nummer??!!“

„Stell auf Lautsprecher“, befahl Chuuya ihm umgehend.

„Ah~, Herr Hutgesicht ist auch da? Das ist ja wundervoll!“, flötete es aus dem Handy.

Herr … Hutgesicht? Die Augen des Rothaarigen begannen, unwillkürlich zu zucken. Wieso zur Hölle riefen diese Iren Akutagawa an??

„Verzeihen Sie die Störung“, meldetet sich Joyces Stimme zu Wort, „wir rufen wegen einer wichtigen Sache an, die Herrn Osamu Dazai betrifft.“

Dazai. Chuuyas Zähne knirschten erneut gefährlich aufeinander.

„Wir haben euch gesagt, dass wir mit diesem Dreckskerl nichts zu tun haben!!“

„Wir dachten“, sprach Joyce unbeirrt weiter, „es würde Sie vielleicht interessieren, wenn Herr Dazai in wirklich großen Schwierigkeiten steckte.“

„NEIN! KEIN INTERESSE!“, brüllte Chuuya so laut, dass selbst Akutagawa angesichts der Lautstärke ein wenig das Gesicht verzog.

„Es würde Sie also nicht interessieren, wenn Herr Dazai heute noch umgebracht würde?“

Der Hutträger stutzte. So wie Joyce dies sagte, klang es so definitiv, so unabwendbar, wie eine unausweichliche Tatsache.

„Niemand kann Dazai so einfach töten“, schaltete Akutagawa sich in das Gespräch ein.

„Oh, doch“, entgegnete Wilde, „wir sind uns ziemlich sicher, dass unsere früheren Kollegen ihn heute Nacht erledigen werden. Kein Zweifel.“

„Tsk“, entfuhr es Akutagawa übellaunig.

„Wie gesagt, es ist nicht unser Problem“, erwiderte Chuuya und war bereits im Begriff, sich von dem Telefon abzuwenden. „Sollen sich seine tollen Freunde aus der Detektei damit befassen.“

„Hmm, ja, verstehe“, sagte Wilde verständnisvoll, „dann verhält es sich mit der Hafen-Mafia wohl wirklich so, wie dieser Dazai gesagt hat.“

„Was hat er gesagt??“ Chuuya stand wieder direkt neben Akutagawa.

„Na ja, nichts weiter, nur“, erklärte Wilde, „dass bei der Hafen-Mafia eben nur Feiglinge arbeiten würden, die es eh mit keinen starken Gegnern aufnehmen könnten und dass dies besonders zuträfe auf diesen einen Typen aus der Führung, dem keine Hüte stehen würden – oh! Herrje, meinte er etwa dich, Herr Hutgesicht?“

„GRRRRRRRRRRRRRRR“, war der einzige Laut, der über Chuuyas Lippen kam.

„Dann erzähl ich lieber nicht, was er noch alles gesagt hat, weil da war ja wirklich nichts Nettes dabei“, log der dunkelhaarige Ire fröhlich weiter, „auch die Sachen, die er über Gothic-Boy gesagt hat – uiuiuiuiui. So was Beleidigendes hab ich noch nie gehört.“

Die Zornesfalten auf Akutagawas Stirn vertieften sich so sehr, dass sie fast zu Gräben wurden.

„Nur für den Fall, dass Sie jetzt Interesse daran haben, der Hinrichtung von Herrn Dazai beizuwohnen“, fügte Joyce hinzu, „ich schicke Ihnen gerne die Adresse.“

Die Iren legten auf und eine Sekunde später erschien die Nachricht auf dem Display von Akutagawas Handy. Die zwei Mafiosi starrten einen nicht unerheblich langen Moment schweigend auf den Bildschirm. Chuuya durchbrach die Stille mit einem abschätzigen Geräusch.

„Pah! Wenn die Recht haben, wird es ja heute Nacht noch einen Grund zum Feiern geben!“ Er drehte sich schwungvoll um und ging von dem Jüngeren weg. „Erst einmal wartet auf uns noch eine Menge Arbeit. Ich gehe zum Hafen zurück und überwache das Abladen des zweiten Containers. Du passt hier auf.“

Was war das nur für ein nerviges Geräusch, dachte Chuuya, während er schnellen Schrittes die Lagerhalle verließ und schließlich den Weg zum Hafen einschlug. Oh. Es waren seine knirschenden Zähne. Wegen dieses verdammten Dazais rieb er sich noch seine hübschen Beißer kaputt!!

Er hätte den Iren noch sagen sollen, dass sie ihm Bescheid geben sollten, sobald Dazai tatsächlich das Zeitliche gesegnet hatte. Ja! Dann würde er sich einen guten, ach was, einen verdammt guten und verdammt teuren Wein aufmachen und sich selbst zuprosten! Wenn die Briten ihm diesen Gefallen täten, dann könnte er auch den Ärger vergessen, den er ihnen zu verdanken gehabt hatte.

Eine Welt ohne Dazai! Was für ein Segen das für ihn wäre!

Dieser Mistkerl hatte ihn hereingelegt, benutzt, hintergangen, wie oft beleidigt, diffamiert, bloßgestellt und versucht zu töten. Nur um dann aus dem Nichts zu verschwinden, sich den bescheuerten bewaffneten Detektiven anzuschließen und bei ihnen diese lächerliche Gutmenschnummer abzuziehen! Wie dumm waren die eigentlich, dass sie auf ihn hereinfielen?

Oder … hatte Dazai sich wirklich geändert?

Wenn dem der Fall war, wieso hatte Dazai sich dann so plötzlich ändern können? Wieso konnte er sich für diese Detektive anscheinend zusammenreißen und ein geringeres Arschloch sein? Wieso hatte er ihm das Leben zur Hölle machen müssen? Wieso machte er ihm immer noch das Leben zur Hölle? Wieso? Wieso? Wieso?!

Seine Schritte stoppten abrupt.

Nein.

Irgendwelche dahergelaufenen Briten hatten gar nicht das Recht, Dazai umzubringen.

Das hatte nur er. Er, der schon so viel und so lange unter ihm hatte leiden müssen. Nur er durfte Dazai töten.

Chuuya machte kehrt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Die ersten Zeilen aus Placebos „Song to say goodbye“ bestehen aus sehr kreativen Beschimpfungen; irgendwie dachte ich da direkt an Chuuya und sein kompliziertes Verhältnis zu Dazai.
Ich wollte Joyce eine Fähigkeit geben, die ähnlich wie Kunikidas etwas erschaffen kann. „Clay“ (dt. Lehm, Ton) ist eine Kurzgeschichte aus James Joyces Kurzgeschichtenzyklus „Dubliners.“ Komplett anzeigen

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