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Gleipnir

von

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Kapitel 9: Ich kann noch kämpfen!


 

Die nächsten zwei Tage verliefen ereignislos. Wir redeten kaum miteinander, wanderten nur durch das Land, wichen Aragami-Schwärmen aus und schliefen in unsicher aussehenden Unterkünften, die wir unterwegs fanden. Mehr als einmal mussten wir unsere geplante Route ändern, weil sich Hindernisse vor uns auftaten, die wir nicht vorhergesehen hatten, oder weil große Aragami direkt auf unserem Weg lauerten.

Inzwischen mussten alle in der Fernost-Abteilung wissen, dass wir ausgerissen waren, um auf eigene Faust zu erkunden. Wahrscheinlich war man bereits damit beschäftigt, sich Strafen für uns auszudenken – falls wir jemals zurückkamen. Erst auf der Reise wurde mir bewusst, dass ich mir nie überlegt hatte, ob wir den Heimweg überhaupt schaffen könnten. Soma schien es gutzugehen, meine Beine waren dagegen so schwer wie noch nie zuvor, und meine Füße wollten einfach nur noch hochgelegt werden. Dabei sollte ich wegen meines veränderten Status eigentlich mehr Ausdauer besitzen als ein normaler Mensch – aber vielleicht hatte ich mich wirklich übernommen. Ich beschwerte mich nicht, weil wir ja immerhin wegen mir unterwegs waren, aber ich sehnte mich nach einem heißen Bad und meinem Bett.

Am Morgen des fünften Tages kontrollierte Soma mit der Karte und dem Kompass gerade unseren Fortschritt. Ich saß auf einem Betonblock, der einmal zu einem Haus gehört haben musste. Inzwischen war es mir zu mühselig geworden, über die Tragödien nachzudenken, die von der Ankunft der Aragami herrührten. Es waren zu viele, um sie realistisch zu verarbeiten, deswegen musste ich sie weit von mir schieben, um mich davon nicht zu sehr beeinflussen zu lassen. Worüber ich aber immer nachdenken musste, war die Frage, was man bei Fernost gerade tat. In einem Akt der Sehnsucht aktivierte ich das Funkgerät an meinem Ohr. Rauschen war die einzige Antwort.

»Wir sind außerhalb des Funkradius«, erklärte Soma mir, ohne von der Karte aufzusehen. »Aber dafür sind wir bald da.«

»Oh, wirklich?« Ich schaltete das Funkgerät wieder aus und ging zu ihm hinüber.

Er deutete auf eine Stelle, die sich wirklich in der Nähe unseres Ziels befand. »Wir sind gerade hier. Wenn wir keinen Hindernissen mehr begegnen, sollten wir am frühen Nachmittag ankommen.«

Ich war erleichtert – bis mir auffiel, dass wir dann erst einmal suchen müssten, wo genau sich das befand, was auch immer wir suchten. Aufgrund des gedämpften Lichts, das in meinen Träumen herrschte, und die fehlenden Fenster, ging ich davon aus, dass wir einen Bunkereingang suchen müssten. Das könnte wirklich eine Weile dauern.

Diese Furcht teilte ich aber nicht mit Soma, während er die Karte wieder einpackte.

Wir setzten den Weg fort, schweigend. Aber ich bemerkte, wie Soma mir immer wieder einen Blick zuwarf. Dabei gab ich mir schon die grüßte Mühe, normal zu laufen, statt zu humpeln. Schließlich seufzte ich. »Wenn du mir etwas sagen willst, dann sag es einfach.«

Er störte sich nicht an meinem Ton. »Ich habe mich nur gefragt, was du tun willst, wenn wir dort ankamen und niemanden finden.«

Das war auch eine Möglichkeit. Ich war seit mindestens einem Jahr nicht mehr dort gewesen. Vielleicht lebte schon niemand mehr. Vielleicht waren sie geflohen und hatten keine Hinweise hinterlassen, weil Aragami den Bunker erobert hatten. Bislang hatte ich darüber nicht nachgedacht. Aber eigentlich gab es nur eine Möglichkeit, in einem solchen Fall weiterzumachen: »Dann hake ich das Thema ab und wir gehen zurück nach Hause.«

»Denkst du, du kannst das einfach?«

Seit wann interessierte er sich so sehr für das Innenleben anderer? Vor allem meines?

»Ich werde wohl keine andere Wahl haben, oder?«

Möglicherweise klang ich ein wenig schärfer als beabsichtigt, aber immerhin bewirkte es, dass er mir keine weiteren Fragen stellte. Zufrieden wirkte er allerdings nicht.

In angespanntem Schweigen erreichten wir eine Ebene, die frei von Aragami war. In weiter Ferne entdeckte ich einige Ogerschweife, die sich um Beute zu streiten schienen. Aber wir waren weit genug entfernt, dass sie uns nicht beachteten.

Somas Blick huschte umher. Ich wusste auch ohne Worte, dass er sich darüber ärgerte, nicht mehr Möglichkeiten zur Deckung vorzufinden. Ich fragte mich, ob diese Ebene einmal als Feld verwendet worden war, bevor die Aragami kamen und alles auffraßen und vernichteten.

Plötzlich erklang ein Geräusch, das ich noch nie gehört hatte und doch zu erkennen glaubte: Das Pfeifen einer Flöte tönte durch die Gegend.

Soma blieb augenblicklich stehen und sah sich alarmiert um. »Was ist das?«

Ein unbewusster Teil von mir blieb vollkommen ruhig. Aber der God Eater Instinkt sah es vollkommen anders: »Hol dein God Arc raus!«

Er hinterfragte das glücklicherweise nicht und öffnete stattdessen den Koffer, um sein Schwert an sich zu nehmen. Gleichzeitig tat ich dasselbe mit meiner Sense. Wir stellten uns Rücken an Rücken und ließen die Blicke schweifen, um möglichst alles sehen zu können.

Inzwischen waren die Ogerschweife verschwunden, wie ich feststellte – dafür rannte etwas wesentlich Größeres auf uns zu. Mein Mut sank. »Ein Dyaus Pita ...«

»Was?!« Soma warf einen Blick über die Schulter. Er fluchte, also hatte er ihn wohl ebenfalls entdeckt.

Wir hatten inzwischen schon viele wesentlich gefährlichere Aragami geschlagen, aber da waren wir immer zu viert gewesen, mit Hibari als Anweiserin. Jetzt waren wir auf uns allein gestellt und ich war noch dazu ziemlich erschöpft. Darauf konnte ich jedoch keine Rücksicht nehmen.

Wir sprangen auseinander, als der Dyaus Pita sich weiter auf uns zubewegte. Mit seinen kräftigen Hinterbeinen tat er einen riesigen Satz und landete direkt da, wo wir gerade noch gewesen waren. Dann stellte er sich so hin, dass er uns beide sehen konnte, und stieß ein Brüllen aus.

Ich riss die Sense hoch und sprang vor. Dyaus Pita holte mit seiner Tatze aus. Ich hielt sofort inne, aktivierte den Schild, der nun seinen ersten Einsatz hätte. Dann schickte ich ein kurzes Stoßgebet an den Himmel – und wurde nicht enttäuscht. Noch bevor das Aragami in direkter Berührung damit kam, zuckte es brüllend zurück. Allein dafür hatte sich der Kampf gegen La Llorona vielleicht gelohnt.

Soma hob die Klinge über seine Schulter, um Schwung zu holen und griff an, während Dyaus Pita mit mir abgelenkt war. Er traf den Schweif unseres Feindes, worauf dieser herumfuhr und mit seiner anderen Klaue nach Soma schlug. Er wurde zurückgeschleudert, aber ich konnte gerade nicht auf ihn achten. Stattdessen nutzte ich die Gelegenheit, um selbst anzugreifen. Doch Dyaus Pita drehte sich gerade rechtzeitig so, dass mein God Arc auf das helle Cape traf, das aus seinem Rücken herauswuchs. Obwohl es aussah, als müsste dies die Stelle sein, an der er empfindlich war, handelte es sich dabei genau um das Gegenteil: Meine Sense glitt an dem Cape ab, ohne auch nur den kleinsten Schaden anzurichten.

Ich wich sofort zurück, bückte mich dabei – und wurde dafür von seinem Schweif einfach beiseite gewischt. Heißer Schmerz fuhr durch meinen Rücken, als ich auf dem Boden aufkam. Mein Blick verwässerte sich ein wenig, aber ich konnte deutlich sehen, wie Soma mit einer blau glühenden Klinge erneut angriff. Diesmal traf er eines der Vorderbeine von Dyaus Pita und zerbrach dort die Verbindung der Orakelzellen. Die golden-glühenden Splitter flogen davon und verschwanden.

Soma setzte direkt mit einem weiteren Schlag auf diese neue Schwachstelle nach. Dyaus Pita schrie auf und schnappte nach ihm – doch noch im Liegen wandelte ich mein God Arc in seine Schusswaffenform und drückte ab. Lila Dampf schoss aus dem Lauf. Dyaus Pita schrie auf, obwohl ich ihn nur von der Seite traf. Aber es half, ihn von Soma abzulenken. Drohend bewegte das Aragami sich nun auf mich zu. Ich robbte ein Stück rückwärts, ehe ich es endlich schaffte, wieder aufzustehen. Eins meiner Knie schmerzte, doch ich knickte nicht wieder ein. Ich drückte noch einmal ab, zielte diesmal genau auf den Kopf des Monsters.

Der lila Dampf traf wieder – und obwohl es dem Dyaus Pita Schmerzen bereiten musste – lief er weiter auf mich zu, um mich anzugreifen.

Soma nutzte die Gelegenheit, um dem Aragami noch einmal seine Klinge in die Bruchstelle zu rammen. Gleichzeitig ließ ich den Abzug los, um Soma nicht zufällig zu treffen – wie es leider schon mehrmals geschehen war.

Dyaus Pita sprang ein wenig zurück. Soma begab sich derweil an meine Seite.

»Du kannst so nicht kämpfen!«, knurrte er mich an.

Ich versuchte, ihn anzusehen, ohne Dyaus Pita aus den Augen zu lassen. Kein leichtes Unterfangen. »Ich kann noch kämpfen! Außerdem können wir nicht fliehen.«

Dieser Dyaus Pita war noch nicht gezwungen gewesen, sie einzusetzen, aber wir beide wussten, dass sie für einen derart großen und wuchtigen Körper auch über eine enorme Geschwindigkeit verfügten. Damit gelang es ihnen selbst eine volle Gruppe von God Eatern innerhalb kürzester Zeit aus dem Weg zu räumen. Ohne jede Ablenkung war Wegrennen also keine Option, besonders auf dieser Ebene, wo es nicht mal Möglichkeiten gab, sich zu verstecken.

Dyaus Pita sprang auf uns zu. Geistesgegenwärtig verwendeten wir beide unser Schild, Soma ging ächzend in die Knie, während er sich der Klaue entgegenstemmte. Bei mir wich Dyaus Pita wieder brüllend zurück. Aufmerksam musterte es mich, statt noch einmal anzugreifen. Diese Art war auch sehr intelligent, wie ich wusste. Vermutlich dachte er gerade darüber nach, wie er mich zerfetzen könnte, während ich mich hinter diesem Schild versteckte.

»Wir haben keine Zeit zu diskutieren!«, rief Soma.

»Ich will auch nicht diskutieren! Du hast angefangen!«

Offenbar machte mein Widerspruch ihn tatsächlich wütend, denn plötzlich rannte er auf Dyaus Pita zu. In der Bewegung zog er seinen God Arc nach vorne, um das Aragami direkt am Kopf zu treffen – und plötzlich steckte seine Klinge zwischen den Zähnen von Dyaus Pita.

Schon der Anblick schmerzte mich. Soma dagegen kämpfte knurrend mit dem Aragami, um das God Arc wieder an sich zu reißen. Ich musste ihm helfen!

Den Schmerz in meinem Knie ignorierend rannte ich ebenfalls nach vorne und rammte die Spitze meiner Sense genau in die Bruchstelle an dem Bein des Aragami. Dyaus Pita schrie auf und ließ Somas Klinge wieder los. Er nutzte den Schwung, um sich einmal um die eigene Achse zu drehen und die Wuchtklinge mit voller Kraft in Dyaus Pitas Gesicht zu rammen. Mit geschlossenen Augen wich es noch einmal zurück, es schüttelte sich, wobei wieder kleine goldene Bruchstücke in alle Richtungen flogen.

Als es die Augen wieder öffnete, spürte ich, dass etwas anders war. Es glühte in einem bedrohlichen roten Licht, was nur bedeuten konnte, dass es sich gerade darauf vorbereitete, seine letzten Kraftreserven zu aktivieren – und wesentlich gefährlicher zu werden.

Soma stellte sich halb vor mich, nachdem wir selbst zurückgewichen waren. Ich hielt es aufgrund meines Schilds für eine bessere Idee, wenn ich vorging, um uns zu beschützen, aber gleichzeitig mochte ich diese Geste, und wir hatten keine Zeit zum Diskutieren.

Doch bevor Dyaus Pita seine Klingenschwingen ausfahren konnte, erklang erneut eine Flöte. Augenblicklich war es, als verlöre es jegliches Interesse an uns. Träge sah es über seine Schulter, dann fuhr es herum und rannte davon, ohne uns noch einmal zu beachten.

Ratlos sah ich ihm hinterher, blieb aber noch im Verteidigungsmodus. Genau wie Soma, dessen Anspannung auch nicht nachlassen wollte.

»Was war das?«, fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern.

Dann erklang plötzlich das Geräusch einer Schusswaffe, die durchgeladen wurde. Ich fuhr herum und entdeckte einen Mann, der mit einem Ogerschweiffell verkleidet war, und der nun mit einem Gewehr auf uns zielte. Innerhalb einer Sekunde kamen weitere bewaffnete Männer scheinbar aus dem Nichts, um uns einzukesseln.

Soma fluchte noch einmal. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Wahrscheinlich würden einfache Kugeln uns nicht wirklich verletzen oder dauerhaft ausschalten, und bei dieser Formation würden sie sich eher gegenseitig erschießen. Aber wenn sie das Glück hatten, uns in den Kopf zu treffen, wäre es direkt vorbei. Außerdem, allein von den Ogerschweiffellen ging ich davon aus, dass es sich bei diesen Leuten um jene handelten, die wir gesucht hatten. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass sie uns zuerst fänden – dabei hätten wir auf dieser Ebene damit rechnen müssen. Ich schob es einfach auf den Schlafmangel und die Schmerzen, dass ich nicht daran gedacht hatte.

Plötzlich trat eine weitere Person hinzu, die einzige, die nicht verkleidet war. Es war ein junger, drahtiger Mann, der mir in der Tiefe meiner Erinnerungen bekannt vorkam. Sein rotbraunes schulterlanges Haar war im Nacken zusammengebunden, auf seinem schmalen, blassen Gesicht lag ein leicht amüsierter Ausdruck, um seinen Hals war ein Verband geschlungen.

»Nehmt die Waffen runter«, sagte er tonlos zu den anderen. »Wisst ihr denn nicht, wen ihr da vor euch habt?«

»Aber Baldur«, wandte einer der Männer ein, »das sind God Eater, von Fenrir. Sie wollen uns bestimmt nur wegen der Diebstähle angreifen.«

Baldur – selbst der Name rief irgendetwas in mir wach – stieß ein schnaubendes Lachen aus. »Wenn dem so wäre, hätten sie euch schon längst aus dem Weg geräumt. Außerdem wären sie dann nicht nur zu zweit gekommen.« Er schüttelte mit dem Kopf. »Nein, du Narr. Dies ist Soma Schicksal!«

Ein Raunen ging durch die Versammelten, sie ließen ihre Waffen sinken – und gingen direkt in die Knie. Soma ließ den Blick über die Männer schweifen, ich bemerkte genau, dass er nicht wusste, was er tun sollte. So ging es mir ebenfalls, denn ich verstand nicht so recht, was hier vor sich ging.

Er fokussierte sich auf Baldur, der immerhin so etwas wie der Anführer zu sein schien. »Woher kennst du meinen Namen?«

Baldur breitete die Arme aus. »Soll das ein Scherz sein? Jeder hier kennt dich, denn wir haben nur auf dich gewartet. Du wirst unser Erlöser sein, Soma Schicksal.«

Soma runzelte die Stirn und sah mich an. Ich konnte den Blick nur verwirrt erwidern.

»Ich entschuldige mich für diesen unwirtlichen Empfang.« Baldur verneigte sich leicht, ohne uns aus den Augen zu lassen. »Hätten wir gewusst, dass du kommen würdest, wären wir dir natürlich mit einem Wagen entgegengekommen.«

»Was soll der Unsinn?«, fragte Soma. »Ich bin kein Erlöser.«

Baldur richtete sich wieder auf. »Das liegt nur daran, dass du deine Rolle noch nicht kennst. Aber keine Sorge, wir werden dir alles erklären und danach ein Festmahl abhalten.«

Soma sagte nichts mehr, aber sein Körper war dermaßen angespannt, dass er fast zu vibrieren schien. Baldurs Blick richtete sich auf mich. Er lächelte, aber es wirkte kalt und spöttisch auf mich. »Wie unhöflich von mir, dass ich dir noch keine Beachtung schenkte. Aber sei dir versichert, dass dir mein ganzer Dank gehört, da du Soma zu uns gebracht hast.«

Plötzlich spürte ich Somas Blick auf mir, er bohrte sich regelrecht in meinen verwirrten Kampf hinein. Ich deutete ein Kopfschütteln an, aber Baldur fuhr bereits fort: »Lass mich dich also als erstes willkommen heißen, Kara.«

Kara? Der Name versetzte mehrere Saiten in mir in Schwingungen. Ich erinnerte mich wieder. Das war mein Name; Kara!

Baldurs Lächeln wurde so breit, dass seine Zähne zu sehen waren. »Oder sollte ich eher Schwester sagen?«
 



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