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Gleipnir

von

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Kapitel 4: Was soll ich für dich erledigen?


 

»Gute Arbeit, Leute. Kommt sicher zurück.«

Hibari tippte auf der Tastatur, ließ den Blick über die drei Monitore schweifen, sagte aber nichts mehr. Die Mission war vorbei und es gab keine neue Gefahr, ihr Job war erst einmal erledigt.

Ich saß auf dem Ledersofa auf der höheren Ebene der Lobby, in Richtung von Hibari gedreht und beobachtete diese. Bis Soma von seiner Mission zurückkam, dürfte ich nicht an seine Forschungsunterlagen, also musste ich warten – und mir war dabei furchtbar langweilig. Nichts hatte mich bislang irgendwie weitergebracht, was meine Vergangenheit anging, arbeiten durfte ich auch noch nicht (und nach dem Training vom Tag zuvor hatte Hibari mir ein heutiges verwehrt), also gab es für mich nichts zu tun. Hibari zu beobachten war daher das einzige, was ich tun wollte. Tatsächlich störte sie sich nicht einmal an mir, bediente ihre Computer gelassen und gab souverän Anweisungen an das aktuelle Team unter ihrer Führung.

Nun war die Mission aber geschafft, deswegen konnte Hibari sich endlich entspannen und wohl auch bemerken, was um sie herum vorging; sie sah nicht einmal über die Schulter, als sie mich ansprach: »Wird dir nicht langsam langweilig, Frea?«

Unwillkürlich setzte ich mich aufrichtig hin. »Wie kommst du denn darauf

Sie tippte ungestört weiter. Ob sie gerade ihren Bericht schrieb, während sie mit mir sprach? Falls ja, war das beeindruckend. »Die Arbeit eines Anweisers ist nicht immer spannend, und heute besonders nicht. Also könntest du etwas tun, das interessanter für dich ist.«

Endlich drehte sie den Oberkörper in meine Richtung, damit sie mich ansehen konnte, sie lächelte. »Mich stört es nicht, dass du da bist, ich wollte dich nur darauf hinweisen, dass es heute nicht spannender werden wird.«

Das konnte sie eigentlich nicht wissen, aber das sprach ich lieber nicht aus. »Ich finde, dein Job ist es wert, mal begutachtet zu werden. Sonst bekomme ich immer nur passiv mit, was du tust.«

Und weil dabei das Tippen fehlte, war es nur halb so eindrucksvoll. Allerdings war es durchaus bemerkenswert, wie sie während der Einsätze stets souverän blieb, selbst wenn unvorhergesehene Aragami plötzlich auf dem Radar auftauchten.

»Hauptsächlich«, fuhr ich fort, »frage ich mich aber tatsächlich, wann Soma endlich zurückkommt. Er hat versprochen, dass ich ihm helfen darf.«

Hibari schüttelte immer noch lächelnd mit dem Kopf. »Wusste ich doch, dass da noch mehr dahintersteckt.«

Sie sah wieder auf ihre Monitore, ehe sie mir eine Antwort lieferte: »Es dauert nicht mehr lange, sie sind schon im Hubschrauber, und die Mission war nicht weit von hier.«

Ich seufzte lautlos, worauf Hibari leise lachte. Meinen strengen Blick bemerkend wandte sie sich ab und beschäftigte sich wieder mit den Bildschirmen – aber da sie nicht tippte und ihre Schultern dafür zuckten, wusste ich, dass sie nicht arbeitete. Als sie dann aber schließlich fortfuhr, nachdem sie sich beruhigt hatte, schwieg sie, was mir verriet, dass sie nun wirklich ihren Bericht erstellte. Das war wirklich der langweiligste Teil der Arbeit, und dass ich gerade keine schreiben musste, war der einzige Vorteil meiner Zwangspause. Hoffentlich verdonnerte Soma mich nicht einfach dazu, seine Berichte für ihn zu schreiben, obwohl ich nicht einmal dabei gewesen war.

Ich wollte mich gerade von Hibari abwenden, als der Kartenbildschirm in der Lobby sich umschaltete, was bedeutete, dass es sich um News über Fenrir handelte. Auf dem Monitor war eine Nachrichtensprecherin zu sehen, die aufgeregt in ihr Mikrofon sprach: »Soeben wurde uns von Fenrir gemeldet, dass ein weiterer Transporter – der vierte inzwischen – auf dem Weg zur Fernost-Abteilung verschwunden ist. Dank eines daran angebrachten GPS-Geräts konnte die ungefähre Lage ermittelt werden.«

Neben ihr wurde eine Karte angezeigt, die all die wichtigste Orte von Fernost kennzeichneten. Etwa in der Mitte von Japan markierte ein Punkt die letzte bekannte Position des Transporters. Ich tippte immer noch auf Aragami, wurde jedoch von den folgenden Worten der Sprecherin überrascht: »Der Repräsentant von Fenrir berichtet, dass vor dem Verschwinden noch Kommunikation mit den Fahrern des Transporters stattgefunden hat. Dieser sagte aus, dass Menschen das Fahrzeug beobachten, kurz bevor die Verbindung abbrach. Fenrir untersucht das Ereignis nun genauer.«

Damit wurde der Bericht beendet, der Monitor schaltete wieder auf die bekannte Karte zurück.

»Das ist eigenartig«, bemerkte Hibari.

Innerlich gab ich ihr recht. Warum sollte jemand außerhalb der sicheren Zonen einen Transporter beobachten? Wer würde sich dafür derart in Gefahr bringen? Andererseits beinhaltete eine solche Lieferung kostbares Essen und vielleicht sogar Medizin. Gerade jene, die nicht von Fenrir aufgenommen wurden, könnten das gebrauchen, ganz zu schweigen von der Wut, die sich auf die Organisation angestaut hatte und ein Ventil benötigte.

»Glaubst du«, begann ich, »dass es keine Aragami, sondern diese Menschen waren, die den Transporter gestohlen haben?«

»Ich wüsste nicht, wie sie das schaffen sollten.« Hibari tippte sich nachdenklich an die Wange. »Die Transporter sind normalerweise gut genug ausgerüstet, um sogar Aragami-Angriffen standzuhalten.«

Vielleicht verfügten diese Menschen über Mittel und Wege, die uns unbegreiflich waren. Wir konzentrierten uns so sehr auf Fenrir, dass wir manchmal vergaßen, dass auch andere Gruppierungen etwas zu ihrem Vorteil erfinden oder nutzen könnten. Ich kam noch dazu selten in Kontakt mit Menschen außerhalb der Firma.

»Jetzt wissen sie ja zumindest ungefähr, wo sich die möglichen Plünderer befinden«, sagte ich. »Bestimmt wird dieses Verschwinden bald aufhören.«

Auch wenn ich nicht wusste, wie Fenrir mit einem menschlichen Feind umgehen würde – und eigentlich wollte ich es auch gar nicht wissen.

Hibari nickte und wandte sich wieder ihrem Bericht zu. »Ich hoffe, das wird bald geklärt.«

Dann tippte sie weiter.

Da nun jede Ablenkung vorbei war, lehnte ich mich auf den Tisch vor mir und starrte in dieser Position auf den Aufzug, der nach draußen führte. Es dürfte nicht mehr lange dauern, hatte sie gesagt, dann müssten sich die Türen öffnen und ich bekäme endlich Abwechslung.

Doch bevor das geschehen konnte, erreichte der interne Fahrstuhl die Lobby. Ich hob den Kopf und entdeckte die drei Mitglieder der Reserveeinheit, die gerade aus dem Aufzug traten. Unwillkürlich dachte ich daran, wie ich Shun vor knapp einem Jahr das erste Mal gesehen hatte, mit seiner Baseball-Mütze und der limonengrünen Jacke; ich erinnerte mich daran, dass ich der Überzeugung gewesen war, er sei nur irgendein Besucher, kein God Eater – und der Blick aus seinen rötlich funkelnden Augen verriet mir, dass er sich ebenfalls erinnerte.

»Sieh mal einer an, wer hier einfach nur herumsitzt«, sagte er. »Ist das eine Art, seinen Urlaub auszukosten?«

Gina, die ich immer noch nicht nach dem Grund für ihre Augenklappe gefragt hatte, kicherte verspielt. »Oh, ich bin sicher, dass sie auf jemand Bestimmtes wartet. Das ist total romantisch.«

Als Shun sie verständnislos ansah, seufzte sie. »Du verstehst das einfach nicht.«

»Außerdem«, sagte ich, »warte ich hier nur, weil mir versprochen wurde, dass ich dann etwas zu tun bekomme.«

Karel warf sein blondes Haar zurück, blieb mit seinem Blick aber auf seinem Handy. »Hast du wenigstens eine Bezahlung dafür ausgehandelt? Nein? Hmpf, typisch. Aber zumindest bist du erst einmal aus dem Weg, so dass wir auch wieder gut bezahlte Aufträge bekommen.«

»Ich hab euch nicht alle Jobs geklaut.«

Mit passiver Aggression steckte er das Handy schließlich ein, er betrachtete mich nur abschätzig. »Es waren aber genug. Ich habe genau festgehalten, wie hoch die Unterschiede gerade sind.«

So ganz verstand ich nach wie vor nicht, warum Karel so viel Wert darauf legte, derart viel Geld zu verdienen. Doch im Prinzip war es nicht meine Angelegenheit, und ich gab mir schon Mühe, ihm dabei nicht zu sehr im Weg zu stehen. Allerdings war es auch nachvollziehbar, dass man besonders bei unbekannten Aragami lieber einen New-Type entsandte, statt einen Old-Type.

»Es ist schön, dass ihr gerade so viel verdient«, sagte ich. »Vielleicht kann Shun dann ja endlich seine Schulden bei dir abbezahlen, Karel.«

Shun zuckte zusammen, er sah zu seinem Teamkameraden hinüber, der nachdenklich die Stirn runzelte und den Blick erwiderte. »Ja, das könnte wirklich ein Vorteil sein.«

»H-hey!«, protestierte Shun. »Jetzt verbünde dich nicht auch noch mit ihr!«

Karel wandte sich wieder von ihm ab. »Ich verbünde mich mit niemandem, ich denke nur an meine Interessen und vertrete sie auch.«

»Dumme Ausrede!«

Lachend sah Gina wieder zu mir. »Die beiden sind wirklich aufregend. Aber manchmal wäre mir etwas Ruhe lieber. Also erhole dich bitte schnell, ja?«

»Ich gebe mir Mühe«, versprach ich. »Sei du solange draußen vorsichtig.«

Sie nickte und ging in Richtung des anderen Aufzugs davon. Shun folgte ihr sofort, um ihr eine Frage zu stellen: »Hey, warum ist sie zu dir immer so nett?!«

Ich hörte sie nur noch lachen, ihre Antwort war zu sanft, um sie zu verstehen.

Karel schüttelte dafür mit dem Kopf. »Womit habe ich die beiden als Partner verdient?«

Ich hätte ihm sagen können, dass jeder das bekam, was er verdiente, aber stattdessen hob ich die Schultern. »Wer weiß das schon? Außer die Person, die unsere Einheiten mal zusammengestellt hat.«

Wahrscheinlich war es von Tsubaki veranlasst worden, ich erinnerte mich kaum noch. In diesem Moment erschien es mir wie eine Ewigkeit her, seit ich hier angefangen hatte. Aber es war auch der Anfang meines neuen Lebens gewesen, daher war das wohl verständlich.

»Wie auch immer.« Karel schüttelte mit dem Kopf. »Wir sehen uns.«

Damit wandte er sich ab und ging ebenfalls zum Aufzug hinüber, der sich in diesem Moment öffnete. Sofort herrschte eine laute Lebendigkeit, als Kota, Lindow und Sakuya mit den anderen Grüße austauschten. Karel und Shun schienen über dieses Treffen allerdings wesentlich weniger erfreut als Gina und die anderen drei. Besonders von einer Person im Aufzug war Gina angetan: »Oh, Soma~. Jemand wartet schon sehnsüchtig auf dich~.«

Ich horchte sofort auf. Tatsächlich drängte sich Soma durch die anderen hindurch, dabei murmelte er eine Antwort für Gina, die ich allerdings nicht hören konnte. Als sein Blick auf mich fiel, hielt er inne, die Stirn gerunzelt. Ausgehend von seiner Reaktion war es wirklich eine schlechte Idee gewesen, hier zu warten, aber nun war es zu spät. Deswegen hob ich die Hand, um ein wenig zu winken und die Spannung zu zerstreuen.

Die Reservetruppe verschwand hinter den sich schließenden Aufzugtüren, während die Angekommenen mich musterten – Lindow und Sakuya schmunzelten dabei natürlich, während Kota einfach nur freundlich war, Soma verschränkte derweil die Arme vor der Brust.

Lindow klopfte mir zur Begrüßung auf die Schulter. »Dann wollen wir aber auch gar nicht weiter stören, was? Stellt nicht zu viel Unfug an.«

Sakuya schloss sich ihm lachend an, als er zum internen Fahrstuhl hinüberging. Kota musterte mich mit geneigtem Kopf. »Was meint er denn? Ihr arbeitet heute doch nur zusammen, oder?«

»Natürlich machen wir das«, sagte Soma genervt, ehe er sich an mich wandte: »Und es gibt viel zu tun, also steh endlich auf.«

»Jawohl, Boss!« Ich stand auf; viel zu enthusiastisch, aber die Gerüchte existierten ohnehin bereits, also musste ich es nicht wirklich verstecken – vielleicht begriff Soma es dann auch mal.

Bislang wirkte es aber eher so, als wäre er genervt, denn er rollte mit den Augen und wandte sich von mir ab. Ich tauschte einen Blick mit Kota und hob lächelnd die Schultern, er neigte allerdings nur den Kopf: »Was meinte Lindow denn?«

»Vielleicht bekommst du von ihm ja eine Antwort«, sagte ich und ging zum Fahrstuhl hinüber.

Kota blieb verwirrt zurück, während Soma und ich in den eben zurückgekehrten Aufzug stiegen, um zur Laborebene zu kommen. Kaum schlossen sich die Türen, ließ Soma mit einem Seufzen wieder die Arme sinken. »Du hast nicht ernsthaft die ganze Zeit in der Lobby auf mich gewartet, oder?«

»Nicht die ganze Zeit«, antwortete ich. »Aber einen Großteil davon doch, ja.«

Soma musterte mich mit einem Blick, den ich nicht zu deuten verstand. »Du hast wirklich absolut nichts zu tun, was?«

»Nicht wirklich.« Ich zuckte mit den Schultern.

Außerdem wollte ich Zeit mit ihm verbringen, was ich nun nicht mehr mittels der Kämpfe und unserer Hubschrauberflüge kompensieren konnte. Ich hoffte nur, ihm damit nicht zu sehr auf die Nerven zu gehen.

Abrupt wandte er den Blick von mir ab. »Gut, denn du wirst einiges zu tun haben.«

Im richtigen Stockwerk angekommen stürmte er sofort aus dem Fahrstuhl. Ich folgte ihm bis zum Labor am Ende des Ganges. Früher war Sakaki immer hier gewesen, hatte unablässig geforscht und auch versucht, sein Wissen an neue God Eater weiterzugeben; ich erinnerte mich noch gut an eine seiner Lektionen, während der er uns die Grundzüge der Aragami und der Orakelzellen selbst erklärt hatte. Inzwischen arbeitete Soma auch oft in diesem Labor, um seine Aktionen mit dem Team, das Novas Überreste beseitigen sollte, zu koordinieren. Aber als ich eintrat und erst einmal einen Stapel Bücher auf dem niedrigen Gästetisch liegen sah, wurde mir klar, dass auch er diesen Raum zum Forschen und Weiterbilden benutzte. Der oberste Band – dessen massiven Seitenumfang dem Rest in der Reihe in nichts nachstand – auf den mein Blick sofort fiel, war eine Untersuchung zur Abwehr von Orakelzellen, geschrieben von Johannes von Schicksal, Somas Vater.

Statt ihn darauf anzusprechen, klatschte ich in die Hände und sah mich um. »Also, was soll ich für dich erledigen? Staub wischen? Die Computer aktualisieren?«

Soma setzte sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch. Umgeben von diesen drei Bildschirmen wirkte er wie der Chef einer Kommandozentrale. Er runzelte seine Stirn und nickte zum Bücherstapel hinüber. »Da liegt eine Liste mit Themen an denen ich arbeite auf dem Tisch. Du sollst die Bücher durchgehen und die relevanten Seitenzahlen notieren.«

»Klar, das kann ich.« Auch wenn es nicht das war, was ich gern tat.

Unbeeindruckt hob er eine Augenbraue. »Ich hoffe doch, dass du lesen kannst.«

Ich schnitt ihm eine Grimasse, dann setzte ich mich auf das Sofa und nahm mir das erste Buch. »Du wirst schon sehen, wie gut ich lesen kann.«

Derart entschlossen schlug ich die Abhandlung auf und vertiefte mich direkt in den Inhalt, noch bevor ich überhaupt einen Blick auf die Liste geworfen hatte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Soma ein Kopfschütteln andeutete, ehe er sich selbst an die Arbeit machte. Ich unterdrückte ein Lachen und vertiefte mich wieder in das Lesen, genau wie ich es versprochen hatte.

 

Vier Stunden später war ich bei der Hälfte des ersten Buches. Ich war nicht wirklich versiert in diesen wissenschaftlichen Texten, deswegen verstand ich nur etwa die Hälfte davon. Aber es genügte, um festzustellen, ob es für die Themen auf der Liste geeignet war.

Als Soma beschloss, dass wir erst einmal Feierabend machen sollten, war ich erleichtert und auch enttäuscht. Wir hatten nicht miteinander gesprochen, doch es war angenehm gewesen, einfach nur im selben Raum mit ihm zu sein, hin und wieder den Blick zu heben und ihn kurz dabei zu beobachten, wie er vollkommen in seine Arbeit vertieft war.

Ich legte das Buch beiseite, nachdem ich ein Lesezeichen zwischen den Seiten befestigt hatte, und stand auf. Soma dagegen tippte weiter auf der Tastatur. »Ich muss hier noch etwas fertigmachen. Geh ruhig schon mal vor. Und morgen musst du nicht in der Lobby warten, ich kann dich auch in deinem Zimmer abholen.«

»Sollte ich dir nicht lieber den Weg ersparen?«

Er sah mich schmunzelnd an. »Das wird mich schon nicht umbringen.«

»Okay, ich nehme dich beim Wort.«

Mit einer einfachen Handbewegung bedeutete er mir, endlich zu verschwinden. Ich verließ das Labor ohne weitere Worte, um seine Geduld nicht zu überstrapazieren.

Auf dem Weg zurück in mein Zimmer fehlte er mir bereits. Ich hätte gern noch ein bisschen mehr Zeit mit ihm verbracht, selbst wenn ich ihn nur beim Arbeiten beobachten könnte. Aber sicher war das viel zu unangenehm für ihn, was ich durchaus verstand. Vielleicht störten ihn sogar die Gerüchte, doch dann wiederum verbrachte er freiwillig Zeit mit mir. Oder lag das daran, weil ich sein Captain war?

Am liebsten hätte ich meine Haare gerauft. Warum hinterließ Soma immer mehr Fragen als Antworten in mir? Warum fragte ich ihn nicht einfach direkt? Warum war das so schwer?

Unzufrieden kehrte ich in mein Zimmer zurück, entschlossen, mich selbst abzulenken. Nachdem ich etwas gearbeitet hatte, fühlte ich mich schon ein wenig besser, aber wissenschaftliche Bücher zu lesen war eben doch etwas ganz anderes als zu kämpfen. Wie sollte ich nun diese überschüssige Energie loswerden und gleichzeitig nicht an Soma denken?

Mein Blick fiel auf das schwarze Oberteil, das Kaori mir mitgegeben hatte. Nachdem ich aus der Stadt zurückgekommen war, hatte ich es einfach auf meinen Tisch gelegt und nicht mehr beachtet. Der Anhänger ruhte auf dem Kleidungsstück, ebenso ignoriert. Da nichts von beidem mir weiterzuhelfen schien, war es für mich auch nicht wichtig gewesen.

Aber nun hatte ich wieder Zeit und noch viel zu viel Energie, also könnte ich einen genaueren Blick auf das Oberteil werfen, vielleicht käme mir dann eine Erleuchtung oder zumindest eine Erinnerung. Inzwischen wäre ich selbst für eine Kleinigkeit dankbar.

Ich setzte mich an den Tisch und zog die Sachen näher zu mir. Den Anhänger betrachte ich noch einmal kurz von beiden Seiten, dann legte ich ihn neben meinen Arm. Ich faltete das Oberteil auseinander. Dabei fielen mir wieder die Stellen auf, an denen Risse genäht worden waren – und diesmal wurde mir auch bewusst, dass die Reparaturen von unterschiedlichen Personen stammten. Die dunklen Nähte, so fein, dass sie kaum auffielen, mussten von Kaoris geschickter Hand stammen. Dann waren da aber noch grobe Stiche, als wären sie mit einer zu großen Nadel durchgeführt worden, die umso mehr auffielen, da das hierfür genutzte Garn rot war. Andächtig fuhr ich mit den Fingern darüber. Für einen kurzen Moment glaubte ich, eine Szene vor mir zu sehen, sie wirklich verarbeiten und zu einer Erinnerung machen zu können – doch sie zerfiel zu zahllosen Splittern, die sich in Asche verwandelten und vom Winde verweht wurden.

In einem hoffnungsvollen Versuch, dieses Gefühl noch einmal zu erleben, suchte ich nach anderen roten Stichen, strich mit allen Fingern darüber, nur um wiederholt erneut enttäuscht zu werden. An der letzten Stelle wurde ich dafür überrascht: etwas Hartes war direkt unterhalb der Naht spürbar.

Ich griff nach einer Schere, die in der Nähe lag, und schnitt die Fäden möglichst vorsichtig durch. Darunter kam ein schmales Glasröhrchen zum Vorschein, gerade mal halb so groß wie mein kleiner Finger. Eine bläuliche Flüssigkeit schwappte im Inneren hin und her, während ich es bewegte.

Was war das? Und warum war es in mein Oberteil eingenäht gewesen?

Mit mehr Erinnerungen hätte ich es mir vielleicht denken können, aber ohne diesen Luxus blieb mir nur eine Wahl: Ich entkorkte das Röhrchen und brachte es näher an meine Nase.

Ich bereute es sofort.

Der stechende Geruch trieb mir die Tränen in die Augen. Es besserte sich erst wieder, als ich dieses Zeug von meinem Gesicht entfernte. Ich wusste immer noch nicht, was es war, aber zumindest konnte ich mir nun sicher sein, dass es nicht zum Trinken gedacht war. Dafür roch es zu ungenießbar, sogar giftig.

Doch durch dieses Stechen, das nun in meiner Nase festsaß, wurde etwas in meinen Erinnerungen angeregt. Es war keine Szene, die ich hätte beschreiben können, nicht einmal eine Erklärung für das, was mir als Idee kam, doch für mich war es ein neuer Ansatz. Ich legte den Anhänger direkt vor mich auf dem Tisch, mit dem eigenartigen Wappen nach oben. Dann träufelte ich etwas von dieser Flüssigkeit darauf. Es gab keine herausragende chemische Reaktion, keinen Rauch oder sonst etwas, weswegen ich fast schon enttäuscht war. Doch statt einfach aufzugeben, rieb ich mit dem Oberteil über den Anhänger – ich wollte diese Flüssigkeit nicht berühren, war aber auch zu ungeduldig ein Handtuch zu holen. Die Aufregung in meinem Inneren wuchs, als sich Farbe von dem Metall löste. Ich fuhr solange damit fort, bis der Stoff in meiner Hand sich grau gefärbt hatte, ein großer Fleck inmitten der Schwärze. Dafür war endlich die vollständige Version des Wappens zu sehen: das, was ich für ein Wurzelgeflecht gehalten hatte, waren in Wahrheit vier Ketten, die einen sich aufbäumenden Wolf gefangen hielten.

Ich erinnerte mich, es schon einmal gesehen zu haben, auf einem großen Banner sogar. Aber wo?

Statt mich mit dieser Frage weiter aufzuhalten, drehte ich den Anhänger um und schüttete den Rest der Flüssigkeit auf die Karte Japans und die eigenartigen Zahlenfolgen. Geradezu besessen wischte ich mit dem Oberteil über das Metall, ohne Rücksicht auf das Stoffstück, das mir ohnehin nichts bedeutete. Ich war einer Antwort so nahe wie nie zuvor, da konnte ich nicht darauf achten, was darunter leiden musste.

Schließlich blickte ich auf das, was ich nun freigelegt hatte: auf der Karte war eine Position markiert, so weit nördlich der Fernost-Abteilung, dass wir dort noch nie eine Mission ausgeführt hatten. Deswegen war es unmöglich, mir vorzustellen, was sich dort befinden mochte. Noch dazu wäre eine Suche – nach was auch immer – rein aufgrund eines ungenauen Punktes auf einer Karte ein Ding der Unmöglichkeit.

Dieses Vorhaben verdrängte ich daher sofort.

Ich sah mir wieder die Zahlenfolgen an, die sich ebenfalls verändert hatten. Neue Zeichen waren hinzugekommen, waren in die Leerstellen hinter manche Nummern gesetzt worden und vervollständigten das Bild. Damit ergaben sie endlich einen Sinn: es waren Koordinaten, die einen Ort in Japan markierten, zu dem dieser Anhänger gehörte – und damit auch ich.
 



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