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Gleipnir

von

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Kapitel 3: Ich dachte, ich könnte das


 

Das riesige Auge der Zygote starrte mich direkt an. Bevor sie auf mich reagieren konnte, holte ich mit der Sense aus und riss das Aragami regelrecht in zwei. Mit dem Schwung dieser Bewegung fuhr ich herum, traf einen Ogerschweif mit der stumpfen Seite meiner Klinge und schleuderte ihn zu Boden. Ich sprang zurück; spitze Nadeln bohrten sich in den Grund, wo ich eben noch gestanden hatte – es gab also mindestens noch einen zweiten Ogerschweif.

Bevor der erste wieder aufstehen konnte, fuhr ich mein Aragami aus, um den Kern zu verschlingen. Sofort durchflutete mich Energie, damit wirbelte ich um meine eigene Achse, spießte den anderen Ogerschweif mit der Spitze meiner Sense auf und brachte ihn damit ebenfalls zu Fall. Ich fühlte mich gut, zufrieden, stolz, wieder zurück in Form, bereit für den Einsatz.

Doch meine Siegessicherheit wich sofort einem brennenden Schmerz: Etwas traf meinen Oberkörper und warf mich durch die Luft. Meine Schulter knackte bei dem Zusammenprall mit dem Boden (ich stellte mir bereits Somas missbilligendes Gesicht vor, sobald er davon erfuhr).

Das Brüllen eines Vajra zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Er stand nicht weit entfernt, die Bänder auf seinem Rücken ausgebreitet, als er zum Angriff ansetzte und sprang. Reflexartig riss ich mein God Arc hoch, obwohl ich immer noch auf dem Boden lag und jeder Versuch einer Verteidigung damit zum Scheitern verurteilt wäre.

Ich bereitete meinen Körper auf den Aufprall des Vajra vor – als das Aragami plötzlich in der Luft erstarrte, flackerte und dann verschwand, gemeinsam mit den kleineren Wesen.

Etwas frustriert stieß ich Luft durch meine geschlossenen Lippen. Normalerweise wurden die simulierten Trainingseinheiten nur beendet, wenn die Feinde tot waren oder die Niederlage des God Eater absolut sicher war. In meinem Fall traf nichts davon zu, deswegen wusste ich, was folgen musste. Und ich behielt recht: Tsubakis Stimme erklang durch die Sprechanlage: »Melde dich sofort in meinem Büro, Frea!«

Prima, nun bekam ich von ihr Ärger, und das auch noch verdient. Deswegen konnte ich nicht einmal sauer sein auf die anderen, nur auf mich. Warum war ich so unvorsichtig geworden? Trotz allem, was geschehen war, könnte ich meine Fähigkeiten doch nicht einfach verloren haben. Oder ich hatte bislang wirklich nur eine unwahrscheinliche Glückssträhne durchlebt, die nun an ihrem Ende angekommen war. In diesem Fall könnte ich nicht weiterarbeiten, was mein ganzes bisheriges Leben auf den Kopf stellen würde. Vielleicht wäre dieser Gedanke weniger schlimm, wenn ich wenigstens etwas über früher wüsste. Wie ich es auch drehte und wendete, aktuell hing so vieles davon ab, was vor meinem Beitritt zu Fenrir gewesen war. Hoffentlich würde Hibari irgendwelche Hinweise in den Unterlagen finden, die mir weiterhalfen.

Solche Gedanken beschäftigten mich, während ich meinen God Arc wieder an die Techniker übergab, und dann zu Tsubakis Büro ging. Mir war selbst bewusst, dass ich gerade alles zu sehr dramatisierte, aber mir fehlte einfach der tägliche Ausgleich der Kämpfe gegen Aragami, deswegen musste ich alles so schwarz sehen.

Vor Tsubakis Büro hielt ich noch einmal inne und räusperte mich. Ich betrat den Raum mit einem äußerst unguten Gefühl im Inneren, und ihr strenger Blick, der mich begrüßte, bestätigte mich auch darin. Noch dazu saß sie nicht, sie stand, so dass sie etwas größer war und auf mich herabblicken konnte. Eine Hand in ihre Hüfte gestemmt, wirkte sie derart furchteinflößend, dass ich überzeugt war, sogar Aragami würden vor ihr kampflos klein beigeben.

Vor ihrem Schreibtisch blieb ich wieder stehen. »Du wolltest mich sprechen?«

»Was war das für ein Auftritt beim Training?«

Autsch! Direkt zum Punkt, wie immer. Sie war wirklich unbarmherzig. Doch sie ließ mich nicht einmal antworten: »Sakaki sagte, du sollst dich in dieser Woche noch nicht anstrengen. Und so wie ich das sehe, hat er damit recht. Wie konntest du den Vajra nicht bemerken?«

Eine berechtigte Frage, schließlich waren sie riesige Raubkatzen. Ich war nicht einmal wirklich abgelenkt gewesen, nur ein wenig zu hochmütig. Vielleicht war das auch der Grund, weswegen ich mich überhaupt an ein Training mit einem derartigen Aragami gewagt hatte. Oder die Befürchtung, mich bei kleineren Feinden zu langweilen. Zählte das nicht noch zu Hochmut dazu?

Tsubakis Blick verfinsterte sich noch weiter, während ich nachdenklich schwieg.

»Ich verstehe, dass du möglichst schnell in den Einsatz zurück willst«, sagte sie, »aber nachdem du derart lange krank warst, ist es wichtiger, dass du es langsam angehen lässt. Ich werde eine Eingabe machen, damit du diese Woche im Simulator keine Kämpfe gegen große Aragami mehr bekommst.«

Instinktiv wollte ich widersprechen, dass ich kein Kind mehr war und deswegen keine solchen Vorkehrungen benötigte. Doch ich wusste auch, dass ich mich nicht an irgendwelche Regeln halten würde, einmal hatte ich immerhin schon gegen sie verstoßen. Ich war einfach zu unruhig, wenn es nichts zu tun gab und die anderen in Einsätzen waren, wenn die Lobby vollkommen verlassen war und ich allein auf der Bank saß, den Aufzug anstarrend, darauf wartend, dass jemand zurückkäme.

»Es tut mir leid. Ich dachte, ich wäre schon wieder fit genug. Das wird nicht wieder vorkommen.«

»Natürlich nicht«, sagte Tsubaki unbarmherzig. »Ab sofort wirst du nur noch gegen Ogerschweife, Zygoten und Kokonjungfern kämpfen. Bis ich zufrieden mit deiner Darbietung bin.«

Das war nur fair. Fehler konnten jederzeit den Tod bedeuten. Wenn ich Somas Sorge akzeptierte, musste ich das auch von anderen, wie in diesem Fall Tsubaki. Aber ich wollte nicht wieder untätig sein: »Gibt es vielleicht irgendetwas anderes, das ich tun kann? Wobei ich mich nicht verausgabe?«

Tsubaki überlegte einen Moment. Ihre Stirn war gerunzelt, ich war mir sicher, dass sie mich gleich wegschicken würde. Aber sie überraschte mich: »Wenn du mir versprichst, dass du dich diese Woche ausruhst, werde ich dich ab Montag ein wenig im Lager aushelfen lassen.«

Das wären nur fünf Tage, an denen ich nichts tun könnte, so viele sollten auszuhalten sein. Deswegen nickte ich rasch, bevor sie das Angebot noch zurücknähme. »Ich verspreche es.«

»Dann wäre das geklärt. Geh jetzt in dein Zimmer und ruhe dich aus. Ich will keine Beschwerden von irgendjemandem hören.«

Ich salutierte hastig und verließ das Büro, bevor ihr noch etwas einfiel, das sie kritisieren könnte; genug Dinge dafür gab es ja. Vor der Tür atmete ich erst einmal auf. Niemand ging gern in Tsubakis Büro – außer vielleicht Lindow, der immerhin ihr Bruder war –, denn sie verließ selten ihre Rolle als Ausbilderin, die sie besonders streng erfüllte. Im Endeffekt war es vernünftig, dass jemand derart mit uns umging, damit wir uns keine Fehler erlaubten, aber niemand wurde gern gerügt, oder? Ich glaubte aber, ihr ging es umgekehrt ähnlich, sie wollte nicht so streng sein, wir ließen ihr nur keine Wahl. Dummerweise gehörte ich zu diesen Unruhestiftern.

Ich rief den Aufzug, um damit in die Lobby zu fahren. Wenn ich schon unterwegs war, könnte ich Hibari direkt fragen, ob sie bereits etwas herausgefunden hatte – außerdem sehnte ich mich nach mehr Interaktion. Tsubaki hatte mich zwar in mein Zimmer geschickt, doch solange ich nichts Gefährliches machte, dürfte sie kaum ein Problem damit haben.

Als sich die Aufzugtüren öffneten, erwartete ich fast, wieder Lindow zu sehen, aber diesmal war es jemand anderes, der mir entgegenlächelte. »Hey, Frea.«

»Tatsumi, schön dich zu sehen~.« Ich betrat die Fahrstuhlkabine und stellte sicher, dass der Knopf für die Lobby gedrückt war.

Er warf derweil einen Blick in den leeren Gang. »Warst du bei Tsubaki? Wolltest du dich in eine Mission schleichen und wurdest dabei erwischt?«

»Nicht wirklich.« Die Türen schlossen sich. »Ich habe es nur beim Training übertrieben und dafür eben Ärger bekommen. Nichts Seltsames also.«

Der Aufzug setzte sich in Bewegung.

»Ist es schräg, wenn ich sage, dass man von dir nichts anderes erwartet hätte?«

Wahrscheinlich war wirklich jeder hier überzeugt, dass ich unfähig war, mir Ruhe zu gönnen, deswegen achteten sie alle dreimal so gut auf mich. Unter anderen Umständen hätte mich das gerührt, aber im Moment war ich eher genervt – besonders weil sie alle recht hatten.

»Nein«, sagte ich seufzend, »ist es nicht.«

Während der Aufzug uns weiter nach oben transportierte, kam mir der Gedanke, dass Tatsumi genau die richtige Person sein könnte, über mein persönliches Problem zu sprechen. »Hey, Tatsumi, kann ich dich was fragen?«

»Klar, schieß los.«

Mir blieb nur zu hoffen, dass er sich nicht angegriffen fühlte, sondern sein derzeitiges Lächeln beibehielt. Ich räusperte mich. »Ist es nicht furchtbar, so oft abgewiesen zu werden?«

Jeder wusste, dass Tatsumi für Hibari schwärmte, ihr am laufenden Band Komplimente machte und sie regelmäßig auf Dates einlud, die sie ständig ablehnte. Ich hatte Soma noch nie direkt eine Liebeserklärung gemacht, ihn noch nie zu irgendetwas eingeladen, aber ich wusste, dass ich ohnehin nur mit Zurückweisung zu rechnen hatte. Vielleicht fände ich aber mehr Mut zu einem Versuch, wenn auch Tatsumi es konnte.

Wie ich gehofft hatte, lächelte er weiterhin, in seinen braunen Augen schien eine leidenschaftliche Flamme zu flackern. »Ah, darum geht es. Ich finde es jedenfalls nicht so schlimm. Wenn ich es nicht versuche, wird auch nie etwas passieren. Und wenn Hibari mich abweist, ist das auch nicht schmerzhafter als ein Angriff von einem Aragami.«

»Aber woher nimmst du diesen Mut dazu?«

Sein Lächeln wich einem überraschten Ausdruck, den ich nicht verstehen konnte. Erst nachdem ich ihn eine ganze Weile fragend ansah, erklärte er mir seine Verwirrung: »Du bist mutig genug, riesige Aragami zu bekämpfen, aber nicht, jemandem deine Gefühle zu gestehen?«

»Wenn du es so formulierst, klingt es echt lächerlich.«

Er klopfte mir auf die Schulter. »Weil es das ist. Du solltest dir wirklich nicht zu viele Gedanken machen. Wer immer dein Auserwählter ist, kann dich nicht mehr verletzen als ein Aragami. Also lade ihn einfach ein, dann wird alles gut.«

In gewisser Weise war das ironisch. Soma selbst hatte sich bis vor kurzem noch eher als Aragami denn als Mensch gesehen, vielleicht konnte er also das erste davon werden, das mich auch psychisch verletzte. Allerdings wollte ich das auch nicht. Deswegen sagte ich auch nichts und gab mich lieber der Illusion hin, dass Soma mir irgendwann von selbst seine Liebe gestehen würde – auch wenn Sakuya mir bereits klar gemacht hatte, dass ich damit nicht rechnen dürfte.

»Außer«, fuhr Tatsumi fort, »du hast dich in mich verliebt, dann muss ich dir direkt sagen, dass du dir keine Hoffnung machen musst. Für mich gibt es nur Hibari.«

»Ich weiß.« Ich lachte unwillkürlich. »Also keine Sorge, ich werde nicht versuchen, dich von ihr loszueisen. Diese Aufgabe wäre sogar für mich zu schwer.«

Er stimmte mir mit einem Nicken und einem Lachen zu.

Der Aufzug hielt wieder, die Türen öffneten sich. Tatsumi und ich traten in die Lobby, in der Brendan und Kanon bereits vor dem Fahrstuhl nach draußen standen. Sie begrüßten mich beide, Kanon lächelte dabei strahlend. Als ich sie das erste Mal gesehen hatte, war ich vollkommen von ihrem rosa Haar fasziniert gewesen. Inzwischen hatte sich diese Begeisterung gelegt, nicht zuletzt weil ich mehrmals von ihr verbrannt, vereist oder auch geschockt worden war während der Missionen. Sie verfügte über ein außergewöhnliches Potential – aber einfach kein Talent zum Zielen. Wobei Soma mir mehrmals gesagt hatte, dass ich mich nicht beschweren dürfte, schließlich wäre er auch oft genug ein Opfer meiner Sprengwaffe geworden.

»Wir haben schon gehört, dass du diese Woche Urlaub hast«, sagte Brendan, der ruhigste und vernünftigste der drei, der mir immer wieder wegen seiner hellen Haare und seiner blauen Augen auffiel – die von Soma gefielen mir dennoch besser.

»Eher ein verlängerter Krankheitsausfall«, erwiderte ich. »Sakaki und Tsubaki bestehen darauf, dass ich mich noch eine Weile ausruhe.«

Dass mein Training eher peinlich ausgefallen war, verschwieg ich, schließlich hatte ich einen Ruf zu bewahren. Die drei gehörten zwar nicht zu meiner Einheit, aber man unterhielt sich hier miteinander, und Gerüchte verbreiteten sich schnell.

»Echt schade für deine Einheit«, meinte Tatsumi. »Ich habe gehört, Soma ist ein bisschen härter zu ihnen als du.«

»Bestimmt nur aus Sorge«, sagte Brendan. »Niemand möchte, dass jemand aus seiner Einheit verletzt wird. Besonders nicht, wenn der eigentliche Captain gerade außer Gefecht ist.«

Kanon stimmte dem mit einem Nicken zu. »Ich backe für die Erste Einheit Kekse, dann fühlen sie sich bestimmt besser.«

Ich bezweifelte, dass Soma das zu schätzen wüsste, aber ich widersprach ihr auch nicht – schon allein, weil ihre Kekse absolut köstlich waren. »Bring mir dann bitte auch wieder welche. Vielleicht werde ich dann schneller gesund~.«

»Klar!« Ihre Augen strahlten, sie war wieder einmal voller Energie. »Ich mache mich nach dieser Mission sofort ans Backen.«

Sie konnte vielleicht nicht zielen, aber backen war ihre Kunst, und sie war ein herzensguter Mensch. In einer anderen Welt, ohne Aragami, wäre sie vielleicht eine großartige Bäckerin geworden.

Die Türen des großen Aufzugs öffneten sich. Ich verabschiedete mich von den dreien, wünschte ihnen viel Erfolg und wartete, bis sie nicht mehr zu sehen waren.

Erst dann stieg ich die Stufen auf die untere Ebene der Lobby hinab. Die Anweiser befanden sich während ihrer Arbeitszeit stets hier, hinter ihrem Tresen mit den Computern und Monitoren, die sie überblickten und bedienten als besäßen sie zig Augen und Finger. Ich war mir nicht sicher, ob ich diesen Job machen könnte – vor allem weil ich doch lieber auf dem Schlachtfeld unterwegs war, wo ich direkt eingreifen konnte, statt nur verbale Warnungen auszusprechen.

Hibari fixierte einen den Monitore, während sie die Tastatur bediente. Da sie gerade schwieg, gab es wohl nicht viel zu den Einheiten im Dienst zu sagen.

Erst als ich sie grüßte, schien ihr bewusst zu werden, dass ich auch hier war. Sie hob den Blick, musterte mich für einen kurzen Moment, als müsste sie sich erst entsinnen, wer ich war, dann lächelte sie jedoch. »Hallo, Frea. Ich habe dir gerade eine Mail geschickt.«

Vielleicht hätte ich doch erst das Terminal checken sollen. Aber nun war ich schon hier und hatte Hibari bei ihrer Arbeit unterbrochen. »Oh, tut mir leid. Ich habe noch nicht nachgesehen.«

Sie deutete ein Kopfschütteln an. »Schon okay. Wenn du willst, fasse ich dir die Ergebnisse einfach kurz zusammen? In deiner Mail hast du dann den vollständigen Bericht.«

Vermutlich war das nur ein Vorwand, weil sie mit mir über das Gelesene sprechen wollte, ohne dabei zu neugierig zu wirken. Mir machte das jedenfalls nichts aus. »Das wäre großartig.«

Hibari nickte. »Okay, mal nachdenken. Wie du bereits gestern angemerkt hast, stand nichts davon unter Geheimhaltung. Die Firma empfand es also offenbar nicht als weiter beachtenswert, entsprechend kurz ist der Eintrag auch. Die Wachmänner, die dich fanden, sagten aus, sie seien dem Geräusch von zwei Explosionen gefolgt. In der Nähe des Walls fand man dich bewusstlos vor, neben dir lagen die Körper zweier Ogerschweife. Weil du nicht ansprechbar warst, brachten sie dich in die Klinik. Davor testeten sie dich noch auf deine God-Arc-Kompabilität, die positiv ausfiel, wie du ja weißt.«

Im Grunde klang es genau wie das, was Kaori mir erzählt hatte. Aber etwas an Hibaris Betonung ließ mich aufhorchen. »Stimmte etwas nicht mit diesen … Körpern

Hibari neigte ein wenig den Kopf, als wolle sie nicken, wäre sich aber nicht ganz sicher. »Na ja, laut dem Bericht fanden sich eindeutig die Felle zweier Ogerschweife. Aber da taten sich für mich viele Fragen auf. Zum einen, wie es sein konnte, dass die Aragami von etwas zerstört worden waren, das kein God Arc war, und warum die Felle so gut erhalten waren, abgesehen von dem Blut und einigen Brandspuren daran.«

Stimmt, das war seltsam. Aragami wurden besiegt, indem man ihre Orakelzellenbindung zerstörte. So waren die Zellen nicht länger in der Lage, sich zu einem Körper zu manifestieren, sie lösten sich auf und setzten sich irgendwo anders wieder zusammen. Materialien von ihnen erhielt man lediglich, indem man ihren Kern mit einem God Arc verschlang. Wie genau das dann funktionierte wusste ich jedoch nicht, das war eine Sache der Techniker.

Eine einfache Explosion könnte also unmöglich Ogerschweife getötet, geschweige denn ihre Felle zurückgelassen haben.

Ich musste eine Weile grüblerisch dagestanden haben, als Hibari sich hörbar räusperte. »Im Bericht stehen noch einige Details mehr, die dir vielleicht helfen. Lies ihn dir am besten durch und denk darüber nach.«

Aber nicht hier. Das sagte sie zwar nicht, aber ich war sicher, dass sie ihrer Arbeit weiter nachgehen wollte und ich sie dabei gerade nur störte, schon allein weil ich auch nicht in der Lage war, ihre Neugier zu befriedigen, also gab es keine Entschuldigung mehr für ihre kleine Pause. Deswegen dankte ich ihr noch einmal, verabschiedete mich von ihr und strebte wieder zum Aufzug, um zu meinem Zimmer zurückzukehren und dort meine Mails zu lesen. Ich hoffte, der Bericht würde mir endlich weiterhelfen, statt mich nur mit mehr Fragen zurückzulassen – was er letztendlich tat.

 

Einsatzdatum: 21. Januar 2071

Beteiligte Dienstnummern: #62443, #66623

Art des Einsatzes: Sicherheitsfeststellung

Grund (wo erforderlich): 2 deutlich hörbare Explosionen am Nordwall

Ergebnis: Wall unbeschädigt, möglicher God-Arc-Kandidat (weiblich) gefunden, 2 Ogerschweif-Felle (intakt) gefunden

Beschreibung:

Am 21. Januar 2071, 10:43 Uhr, waren zwei (2) Explosionen am Nordwall hörbar. Die diensthabenden Wachen #62443 und #66623 gingen den Spuren außerhalb des Walls nach. Am Punkt A#3323 fanden die Wachen die Überreste von zwei (2) Ogerschweifen, bei genauerer Betrachtung stellten sich diese als intakte Rückenfelle heraus, inklusive eines ausgehöhlten Kopfteils und des Schwanzes, Blut und Brandspuren wurden daran festgestellt. (Die Felle wurden dem Forschungsteam der Fernost-Abteilung übergeben.)

Neben den Fellen wurden diverse Fleischfetzen sichergestellt. (Ebenfalls dem Forschungsteam übergeben.)

Eine (1) Frau, Nationalität unbekannt, bewusstlos, wurde aufgefunden, Verdacht auf immensen Blutverlust. Da das Verlassen der Basis für Zivilisten nur unter Sonderbedingungen gestattet ist, und eine solche derzeit für niemanden ausgestellt ist, konnte ausgeschlossen werden, dass es sich um eine Bewohnerin handelt.

#62443 führte einen Kompatibilitätstest durch, stellte dabei fest, dass sie keine (0) Verletzungen erlitten hatte. Test positiv. Unbekannte Zivilistin (UZ) wurde in die Basis gebracht, zur Behandlung der Klinik Kenzou übergeben.

UPDATE 24. Januar 2071: Forschungsteam bestätigt, dass es sich bei den Fleischfetzen um menschliche DNA handelt. Ursprung dieser, sowie der Felle ungeklärt.

UPDATE 25. Januar 2071: UZ hat Bewusstsein wiedererlangt, Identität aufgrund retrograder Amnesie nicht feststellbar. Befragung aufgrund des genannten Zustandes ergebnislos.

UPDATE 29. Januar 2071: UZ hat zugestimmt, God Eater zu werden. Vorübergehende Identität, bis zur Wiederherstellung ihres Gedächtnisses: Frea.

 

Das Lesen dieses Berichts brachte mir tatsächlich keine Antworten, nur mehr Fragen. Deswegen lief ich den Großteil des Tages unruhig in meinem Zimmer auf und ab und wartete auf die einzige Person, die mir helfen könnte. Kaum hörte ich, dass er von seiner Mission zurückgekehrt war, stürmte ich auf den Gang und klopfte solange an seine Tür, bis ein genervter Soma mir öffnete. Mittels einer Entschuldigung verschaffte ich mir Zugang zu seinem Zimmer, erklärte ihm knapp, worum es mir ging und reichte ihm mein Tablet, damit er den Bericht selbst lesen könnte. Zu meiner Erleichterung – und meiner Freude – wehrte er sich nicht einmal dagegen, sondern nahm das einfach hin.

So saß ich nun auf der Bank in seinem Zimmer und beobachtete ihn, wie er auf mein Tablet starrte. Er hatte seine Brille aufgesetzt, die ihn noch schlauer aussehen ließ, seine Augen bewegten sich über die Zeilen, seine Miene änderte sich dabei kein Stück, so konnte ich nicht einmal erahnen, was er gerade dachte. Dafür war ich mir umso bewusster, wie heftig mein Herz schlug, wie sehr meine Gedanken nur darum kreisten, was wohl durch seinen Kopf ging, und wie sehr ich mir wünschte, er würde das Tablet einfach weglegen und mich in die Arme nehmen. Das war natürlich ein sinnloser Wunsch, denn er war immer noch Soma – und eigentlich war ich ja hier, damit ich mit ihm über all das sprechen konnte, was in diesem Bericht stand.

Schließlich senkte er das Tablet und hob den Blick ein wenig, um an die Wand zu sehen. »Hm.«

Ich wusste nicht, womit ich zu rechnen hatte, aber bestimmt nicht mit diesem Laut. »Das heißt?«

Er sah mich an. Durch die Brillengläser brach sich das Licht, so dass seine Augen zu glitzern schienen. Nur mit Mühe unterdrückte ich ein hingerissenes Seufzen. Ob meine Brille diesen Effekt auch erzielte? Ob er auf so etwas achtete?

»Das heißt, wir können davon ausgehen, dass niemand Aragami in die Luft gejagt hat.« Er gab mir das Tablet zurück. »Wie es aussieht, war mindestens eine Person bei dir.«

»Und der ist einfach explodiert?« Ich führte die Hände auseinander, um das zu symbolisieren.

»Ich war nicht dabei«, erwiderte er. »Vielleicht hatte er Sprengstoff bei sich.«

Ich runzelte die Stirn. »Warum sollte jemand so etwas herbringen?«

»Vielleicht war es eine Lieferung für Fenrir. Oder er hatte es als Verteidigung bei sich. Am Wahrscheinlichsten ist aber, dass er eine Abneigung gegen Fenrir hegt und einen Anschlag plante.«

Das verstand ich noch weniger. Fenrir bekämpfte die Aragami, die eine Gefahr für alle Menschen darstellte. Sicher, nicht jeder Zivilist durfte in den Basen leben, aber war das schon ein Grund, es für alle, die glücklich genug waren, zu verderben?

»Man merkt, dass du nicht viel Ahnung von der Welt außerhalb hast«, sagte Soma, nachdem ich meiner Verwirrung Ausdruck verliehen hatte. »Menschen, die nicht in den Basen leben, sind in ständiger Gefahr angegriffen zu werden. Und wenn nicht das, dann müssen sie gegen Hunger ankämpfen, von Krankheiten ganz zu schweigen. Manchmal kommt es auch zu Plünderungen anderer Menschen, die zu überleben versuchen. Niemand von Fenrir kommt ihnen zu Hilfe, also entwickeln sie einen besonderen Hass auf uns.«

Dass die Menschen außerhalb es so schwer hatten, verdrängte ich immer wieder. Aber ich verstand, was Soma mir sagen wollte: Wenn es einem so schlecht ging, war es egal, wer unter seinem gerechten Zorn leiden musste.

Mir blieb allerdings keine Gelegenheit, das zu sagen, denn Soma fuhr bereits mit einem anderen Gedanken fort: »Ich frage mich allerdings, wie du in diese Sache hineinpasst. Du bist kompatibel, also hättest du mit deinen Blutsverwandten in der Basis leben können. Warst du deswegen am Wall und bist nur zufällig in diese Explosion geraten? Oder steckte da ein anderer Plan dahinter, an dem du beteiligt warst?«

Schweigend blickte ich auf die Tischplatte hinab. Wenn ich mich an etwas erinnern könnte, hätte ich ihm sofort davon erzählt. Aber mein Gedächtnis weigerte sich nach wie vor, mir meine Vergangenheit offenzulegen. Auch mit diesen neuen Informationen.

Soma interpretierte meine Stille offenbar falsch: »Das heißt nicht, dass ich dir misstraue. Du hast inzwischen so oft dein Leben für uns alle riskiert, dass du wahnsinnig wärst, das als Langzeitplan für irgendeinen Anschlag zu verfolgen.«

Ich lächelte schwach. »Danke, Soma.«

Seine Mundwinkel zuckten kurz nach oben, dann sah er wieder ein wenig missmutig drein. »Die Ogerschweif-Felle habe ich übrigens bereits gesehen.«

Seit dem Aegis-Vorfall war er ebenfalls in der Forschung beschäftigt, deswegen wunderte mich das nicht wirklich, schließlich musste er sich irgendwann einen Überblick über alles verschafft haben.

»Was denkst du darüber?«, fragte ich.

»Sie scheinen echt zu sein. Ich weiß nicht, wie das möglich sein kann, aber wer immer sie angefertigt hat, beherrscht eine Technik, die Orakelzellen dazu bringt, nicht vollkommen zu zerfallen. Mit konventionellen Methoden lassen sich diese Felle nicht auseinandernehmen, sie reagieren auch jetzt nur auf God Arcs.«

»Also haben die Felle, hinter denen Technik steht, die wir nicht kennen, vielleicht etwas mit mir zu tun, vielleicht aber auch nicht.«

Im Endeffekt brachte es mich also nicht weiter. Die Hoffnung die ich in diesen Bericht gelegt hatte, war nicht erfüllt worden. Ich wollte nicht zu enttäuscht darüber sein, aber wirklich verhindern konnte ich es dennoch nicht.

Soma wandte seinen Blick ein wenig ab. »Wie willst du jetzt weiter vorgehen?«

Ich strich eine schwarze Strähne zurück, die sich aus meiner Frisur gelöst hatte, vermutlich als ich mir irgendwann das Haar gerauft hatte. »Ich weiß noch nicht. Vielleicht habe ich ja Glück und ich träume mal ein wenig mehr über meine Vergangenheit.«

Mein kläglicher Versuch eines Lachens, das sogar für mich hohl und leblos klang, war nicht sehr überzeugend. Ich war im Moment einfach zu frustriert.

»Ich habe aber auch eine Menge Zeit, um darüber nachzudenken.«

Das schien Soma auf etwas zu bringen, denn plötzlich sah er mich wieder direkt an – und das nicht sehr freundlich. »Ach ja, Tsubaki hat mir erzählt, dass du heute gegen einen Vajra trainiert hast.«

Warum erzählte sie ihm so etwas?

»Ich dachte, ich könnte das«, verteidigte ich mich. »Ich habe eingesehen, dass es nicht funktioniert hat. Das mache ich auch nicht mehr, jedenfalls diese Woche.«

»Das will ich für dich hoffen. Wir brauchen dich noch eine Weile.«

Als God Eater oder noch mehr? Ich hätte das gern gefragt, doch gleichzeitig glaubte ich, die Antwort lieber nicht hören zu wollen.

»Es ist nur so furchtbar, nicht nützlich sein zu können«, sagte ich. »Und es ist langweilig.«

Er stöhnte genervt, schloss die Augen und nahm seine Brille ab. »Ich verstehe das ja. Also, wie wäre es damit: Damit du dich nicht langweilst, kannst du ja mit mir Zeit verbringen und mir vielleicht bei meinen Forschungen helfen – falls dich das nicht noch mehr langweilt.«

Innerlich wäre ich vor lauter Glück fast explodiert. Nach außen bemühte ich mich, ruhig zu bleiben. »Das wäre nett von dir. Ich hoffe, ich störe auch nicht.«

»Wenn du störst, fliegst du einfach raus.«

»Klingt fair.« Ich lachte leise. »Danke, Soma. Ich weiß wirklich zu schätzen, was du dir für Umstände mit mir machst.«

Er sah mich nicht an, zeigte jedoch den Hauch eines Lächelns, das mein Herz wieder schneller schlagen ließ, genau wie seine folgenden Worte: »Das ist das Mindeste, was ich für meinen Captain tun kann.«
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Die Details bezüglich der Einwohner der Basen und jener, die draußen leben und ihre Lebensumstände, habe ich tatsächlich dem Anime entlehnt. Viel mehr habe ich allerdings nicht entnommen. Innerhalb des ersten Spiel wird leider wenig über Nicht-God-Eater gesprochen oder gezeigt, da muss man sich halt Sachen zusammenreimen oder übernehmen. ┐(゚~゚)┌ Komplett anzeigen

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