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Last Seed

Die letzte Hoffnung der Menschheit
von

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Geistige Erlösung


 

“Das Gewissen ist eine Wunde, die nie heilt und an der keiner stirbt.”

(Friedrich Hebbel)

 

Catherines Unterbewusstsein

 

Die Kreatur zerrte unaufhörlich an seinen Beinen.

Gottseidank hatte Jian zuvor noch den Handlauf erreicht.

Nun klammerte er sich daran, als ob sein Leben daran hängen würde.

Zuvor war er sich der Realität noch bewusst und dass all dies nicht echt sein konnte.

Aber die abscheulichen Bilder, die er hier sah, fraßen sich Buttersäure gleich in seinen Verstand hinein. Die Angst bemächtigte sich seines Denkens. Je mehr er sich in seiner Panik verlor, desto mächtiger wurde die Kreatur. Das Gefühl, dass ihm sein Bein abgerissen wurde, intensivierte sich. Er spürte, wie sich die Sehnen und Muskeln von den Knochen lösten, obwohl er an diesem Ort keine physische Gestalt besaß.

Die Schrauben, welche den Handlauf bis zu diesem Moment mit dem Mauerwerk dahinter verbanden, begannen allmählich dem Zug nachzugeben. Begleitet von Staub und abgesplitterten Putz, entfernte sich der Handlauf immer weiter von der Wand.

Jian wollte nicht gefressen werden!

Oder was auch immer dieses Ding mit ihm tun wollte.

Plötzlich gab der Handlauf nach.

Er hielt dem letzten Ruck des Tentakel nicht mehr stand.

Mit lautem Knall fiel er zu Boden.

Ebenso Jian.

Vergeblich versuchte er sich am billigen PVC-Boden festzukrallen.

Er brauchte eine Waffe!

Was für eine war völlig egal.

Sein Verstand übernahm gerade noch rechtzeitig die Kontrolle über die übermächtige Angst, als ihm der Gedanke kam, dass er in Catherines Seelenwelt wahrscheinlich nicht nur über sich selbst, sondern auch über andere Dinge bestimmen könne.

Er stellte sich vor, dass er in seiner künstlichen Hand ein Messer hatte. Im gleichen Moment registrierten die Sensoren der Prothese, welche die Nerven einer Hand aus Fleisch und Blut ersetzten, ein Signal, welches darauf hindeutete, dass etwas gehalten wurde. Ohne auch nur hinzusehen, beugte sich Jian zu seinem Bein und stieß in den monströsen Tentakel hinein, woraufhin eine Blutfontäne aus der entstandenen Wunde schoss.

Er hielt tatsächlich das Messer in der Hand, an das er gedacht hatte.

Dabei handelte es sich um das hunderte Dollar teure Sushimesser seines Vaters. Es bestand aus rostfreiem Edelstahl und setzte auch von dem ekligen Lebenssaft dieser mentalen Projektion keine Flecken an. Es war von der japanischen Marke Sakanai, welche auf eine über vierhundert Jahre lange Tradition zurückblickte. Jians Familie führte ein asiatisches Restaurant und dieses Küchenwerkzeug war ihr größter Schatz. Generationen von Cheng hatte es bereits gute Dienste geleistet, seitdem es Jians Urgroßvater einst auf einer Japanreise erstand.

Und nun diente es Jian als Waffe gegen die Kreatur.

Auch wenn es eigentlich gar nicht wirklich hier war.

Die vermeintliche Präsenz dieses Messers reichte aus, um Jian die Zuversicht wiederzugeben. Noch einmal stach er auf den Tentakel ein, bis dieser ihn endlich freigab.

Sofort sprang er auf und rannte los.

Doch plötzlich fühlte er unter seinen Füßen keinen Grund mehr und stürzte durch den Boden hindurch, als ob dieser urplötzlich seine feste Form verloren hätte.

 

Last Seed, Cafeteria

 

Gedankenversunken schwenkte Lamar die Tasse in seiner Hand umher und beobachtete die Reflektion der Deckenlampe in seinem Kaffee.

“Willst du ihn kalt werden lassen?”, fragte ihn eine Frauenstimme.

Lamar war so in Gedanken versunken, dass er es erst gar nicht mitbekam.

“Geht auch einfacher”, setzte die Stimme neben ihm fort. “Nimm gleich Eiskaffee.”

Erst jetzt zeigte der Dunkelhäutige eine Reaktion und wandte sich ihr zu.

Es handelte sich um Mandy.

“Hi!”, sie winkte ihm verspielt zu.

"Ach, du bist das”, reagierte Lamar.

“Du guckst so bedeppert. Was ist denn los?” Mandy sah sich auf dem Tisch um und erspähte einen geöffneten Umschlag und einem aufgefalteten Brief direkt daneben. Es wirkte sehr offiziell. Ganz offensichtlich war dieses Schreiben der Grund für Lamars Abwesenheit.

Lamar bemerkte, dass die Blondine auf den Brief schielte. Er faltete ihn zusammen und stopfte ihn sorgsam zurück in den Umschlag.

“Wusste gar nicht, dass die Post hier herkommt."

“Tut sie auch nicht”, erklärte Lamar. “Von Zeit zu Zeit hole ich die Post von da ab, wo ich offiziell gemeldet bin. War wieder jede Menge Müll drin. Werbung, Sektenpamplete, das Übliche eben.”

“Sektenpamplete?”

“Frag nicht.” Lamar legte den Briefumschlag auf die Tischplatte. “Und diese Vorladung war auch dabei. Die Polizei will mich zu Darius und seiner Gang befragen. Und ich weiß nicht, ob ich da mitspielen soll.”

“Mach es!”, sprach Mandy bestimmend.

Lamar sah sie an, als erwarte er eine Erklärung.

“Wenn du da nicht hingehst, ziehst du unnötig Aufmerksamkeit auf dich.”

“Hmm…” Da hatte sie Recht.

“Wenn wir einwas nicht gebrauchen können, dann dass die Bullen an einem von uns kleben wie Fliegen am Arsch einer Milchkuh.”

“Wirklich sehr bildhafte Sprache.”

“Nein, im Ernst. Geh hin.” Mandy zuckte mit den Schultern. “Was soll schon passieren? Erstmal bist du ein Zeuge. Halte den Kopf unten und das bleibt auch so.”

“Na gut…”

“Wann ist der Termin?”

“In einer Stunde.”

 

Catherines Unterbewusstsein 

 

Der Aufprall war hart und unangenehm.

Verwirrt krabbelte Jian auf dem Boden herum, bis er sich endlich traute, aufzustehen.

Eingeschüchtert von dem Sturz, ließ er seinen Blick schweifen.

Erneut fand er sich in einem dieser Gänge wieder. Der billige PVC-Boden stank noch immer nach beißendem Bleichmittel. Die Dämpfe des Reinigers stiegen ihm in die Nase und gaben ihm das Gefühl, dass sich seine Schleimhäute langsam zersetzten. Die ehemals weißen Wände waren vergilbt und verdreckt und der Putz bröckelte stellenweise von ihnen herab. Etwa auf Hüfthöhe befand sich auch hier wieder ein Handlauf, der aber an einigen Stellen bereits abgefallen war. Alte Zeitungen und verschiedenste Krankenhausutensilien, wie beispielsweise Mundnasenmasken oder zerflederte Einweghandschuhe, lagen überall verstreut. Versiffte Pflegebetten standen vereinzelt herum und wurden vom kalten Licht der Neonröhren beschienen, deren extrem lautes Surren Jian bald wahnsinnig machte.

Wenigstens flackern sie nicht, dachte Jian.

Mit einem lauten Klicken versagte eine der Deckenbeleuchtungen kurz den Dienst, nur um sofort danach wieder anzuspringen.

Zu früh gefreut!

Er wollte das Familienerbstück wieder an sich nehmen, doch von dem Messer war weit und breit keine Spur. War es nicht mit ihm durch den Boden gefallen?

Links, Rechts und vor ihm ging jeweils ein schummrig beleuchteter Gang ab. Hinter ihm befand sich jedoch ein solides Mauerwerk.

Ein Quietschen trat allmählich  aus dem monotonen Summen der Neonröhren hervor.

Jian wandte sich ihm zu.

Es drang vom Ende des mittleren Ganges an sein Ohr. Gebannt sah er hin und hoffte, dass sein Verursacher nicht schon wieder eines dieser Monster war.

Seine Geduld wurde belohnt, als ein alter Rollstuhl mit verbogenen Rädern am Ende des Ganges, wie von Geisterhand angetrieben, ganz langsam vorbei eierte. Dort hinten mussten weitere Gänge abgehen, aber sein Bauch sagte ihm, dass er da besser nicht hingehen sollte.

Jian spürte sein Herz klopfen.

Unglaublich, dass nach all dem dieser Rollstuhl ihm noch Angst machte.

Er verspürte das Bedürfnis, sich an der Wand hinter ihm anzulehnen, um einmal kurz durchatmen zu können. Er gab seinem Verlangen nach und starrte nacheinander in die Dunkelheit links und rechts von ihm. Von seiner Position aus konnte er wunderbar alles im Blick behalten. Egal mit welcher bösen Überraschung dieser Ort aufwarten wollte. Wenn irgend etwas kam, würde er es sehen.

Plötzlich durchstießen links und rechts von ihm zwei menschlich anmutende Arme die Wand hinter ihm und umklammerten ihn. Dabei wurde die Mauer kein Stück beschädigt. Es war, als glitten die Extremitäten durch sie hindurch. Noch bevor Jian die Gelegenheit zum Schreien hatte, wurde er durch die Wand hindurchgezogen.

 
 

~~~

 

29. Polizeirevier

 

Das war einfach nicht zu glauben!

Sie hatten ihn tatsächlich in einen schummrig ausgeleuchteten Raum mit spärlicher Möblierung gesetzt, dessen einzige Lichtquelle von einer uralten Lampe aus dem letzten Jahrhundert bereitgestellt wurde.

Typisch für solche Leute, die auf die Frage, wie viel Klischee sie haben wollen, stets nur mit “Ja” antworten…

Und dann besaßen sie auch noch die Frechheit, ihn warten zu lassen.

Lamar wollte ihnen noch fünf Minuten geben und dann wieder gehen.

Das war jetzt fünfzehn Minuten her.

Doch dann endlich: Ganz unverhofft klapperte der Türknauf, drehte sich ein Stück und gab dann den Weg für den Polizeibeamten frei, welcher nun auch endlich die Güte hatte, hier aufzuschlagen. Großartig!

Wie gut, dass Lamar immer cool blieb!

Der Mann trug einen beigen Trenchcoat und einen Melone, unter dem er mutmaßlich seine Glatze versteckte - hielt sich wohl für Kommissar Maigret oder dergleichen. In aller Seelenruhe schlenderte der Mann an den Tisch und dachte nicht im Traum daran, damit aufzuhören, Lamars Zeit unnötig zu verschwenden. “Wie ich sehe, hast du es dir bequem gemacht”, eröffnete der Polizeibeamte das Gespräch.

Bequem… aber sicher doch!

Der Stuhl war das unergonomischste Sitzgerät, das man sich nur vorstellen konnte.

Lamar verkniff sich diesbezüglich einen Kommentar.

“Bist nicht der gesprächige Typ, was?”

Wann hatte er es ihm eigentlich erlaubt, ihn zu duzen?

“Dann fangen wir mal an. Ich bin Detective Fuller. Du weißt, wie das läuft, Junge. Ist ja schließlich nicht dein erstes Mal bei uns.”

Musste er ihn daran erinnern… Lamar strafte ihn mit einem verkühltem Blick ab.

“Der Name ist Lamar Summers. Du bist 16 Jahre alt. Geboren am 19. Juli 2021. Stimmt das so weit?" Der Ermittler wartete einen Moment, bevor er das Offensichtliche aussprach. “Natürlich. Steht alles schon in unseren Akten.”

Lamar fand es schade, dass er nicht allein durch Blickkontakt einfrieren konnte. Aber vielleicht konnte man das irgendwie erlernen.

“Guck nicht so, ich muss das Protokoll befolgen.”

Auf der Hitliste der Dinge, die er nicht mochte, kamen Bullen gleich nach Waffen.

“Vorab muss ich dich belehren, dass du die Aussage verweigern kannst.”

Würde Lamar wirklich gern, aber jeder Depp wusste, dass die Polizei dann erst Recht hellhörig wurde. Also wollte er es über sich ergehen lassen.

“Wie du der Vorladung entnehmen kannst, haben wir Fragen Betreffs eines Überfalls auf eine Capital Five Filiale vor ein paar Tagen. Bei der Befragung der Verdächtigen ist dein Name gefallen.”

Das Darius ihn nun mit in die Scheiße ziehen wollte, überraschte Lamar gar nicht.

“Wir fanden die mutmaßlichen Täter unter äußerst merkwürdigen Umständen vor. Weißt du vielleicht etwas darüber?”

So wenig es ihm zusagte, musste Lamar nun doch auf sein Gegenüber eingehen, wenn er hier unbeschadet herauskommen wollte. “Nein”, antwortete er knackig kalt.

“Das ist schon seltsam, da alle von ihnen behaupten, du hättest sie verarscht. Seist allein mit dem Geld abgehauen.”

Das war offensichtlich ein Trick. Die Beute hatten Lamar und Victor damals neben der gefesselten Verbrecherbande zurückgelassen. Dieser Fuller wollte ihn mit Wissen aus der Reserve locken, das nur jemand haben konnte, der vor Ort war. Den Trick kannte Lamar schon. War - wie von Fuller angemerkt - schließlich nicht das erste Mal. “Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Mann.”

“Wir haben leider noch nicht herausgefunden, wer dir geholfen hat.”

“Haben Sie nicht gerade behauptet, ich sei allein mit dem Geld abgehauen? Wo kommt denn auf einmal der andere her?”

Mit Widerworten hatte Fuller nicht gerechnet.

“Kriegen Sie mal ihre Story klar, Alter.”

Seine Schnippigkeit schien dem Polizeibeamten gar nicht zu schmecken. Nervös schaute Fuller auf seine silberne Armbanduhr, als warte er auf etwas.

 

Catherines Unterbewusstsein 

 

Jian schrie wie am Spieß. Selbst als er auf der anderen Seite der Wand angekommen war, hörte er nicht damit auf. Durch eigentlich stabiles Mauerwerk hindurch gezogen zu werden, als sei dieses gar nicht existent, passierte einem schließlich nicht alle Tage. Dass er hinter sich die Präsenz von irgendetwas anderem spüren konnte, dass ihn fest an sich gepresst hatte, machte es auch nicht viel besser.

“Kannst du endlich mal still sein”, echauffierte sich eine ihm wohlbekannte Stimme.

Die Arme ließen von ihm ab und die Person hinter ihm trat einen Schritt zurück.

Jian drehte sich um und erblickte ein vertrautes Gesicht.

“D-D-Du…”, stammelte er.

“Ich glaube, ich bekomme einen Hörsturz", sprach sein Gegenüber und rieb mit einer Hand auf dem rechten Ohr.

Es war Melanie.

“Du bist hier!”

“Endlich hab ich dich gefunden”, sprach sie. “War gar nicht so einfach. Aber nachdem ich begriffen hatte, wie dieser Ort funktioniert, war es einfach, den Kreaturen auszuweichen.”

“Du bist den Kr-Kreaturen ausgewichen?”, wunderte es den Asiaten. “Wie?”

“Hier ist nichts real. Wenn man das erst verinnerlicht hat, dann kann man den Raum zu seinem Vorteil ausnutzen und sogar durch Wände gehen!”

“Was sind das eigentlich für Viecher?”

“Das sind Kognitionen.”

“Was für Dinger?”

“Die Psyche eines Menschen reagiert auf Eindringlinge mit Verteidigungsmaßnahmen. Das kann alles mögliche sein. Bei ihr manifestiert sich ihre Abwehrhaltung in diesem Horror-Krankenhaus und den verzerrten Bildern, die sie von den Ärzten und den Schwestern hat. Ihr Unterbewusstsein spürt, dass wir in ihrem Kopf sind, und will uns mit diesen schrecklichen Bildern vertreiben. Stelle es dir wie ein Antiviren-Programm vor.”

“Ahh!” Jetzt konnte er etwas damit anfangen. “Aber wieso kannst du dann durch die Wände gehen? Sollen sie dich nicht aufhalten?”

“Das klappt nicht bei allen”, fuhr Melanie mit der Erklärung fort. “Nur bei denen, die dunkler aussehen als die anderen.”

“Wie ein Glitch in einem Computerspiel.”

“Bei den dunkleren Wänden scheint Catherines Kontrolle zu schwinden.”

“Wo bin ich hier eigentlich?” Jian sah sich um. Erst jetzt bemerkte er die Regale voll mit Kisten und die verschiedenen Reinigungsutensilien.

“Hier sind wir sicher.”

“In einer Besenkammer?”

“Es gibt Orte, an denen Catherines Kognition schwächer ist. Das hier ist einer davon. Ich vermute, sie hat noch nie so einen Raum in einem Krankenhaus von innen gesehen. Deshalb kann sie es sich nicht vorstellen und meine Vorstellung einer Besenkammer hat sich stattdessen hier manifestiert. Und deshalb können die Kreaturen hier nicht rein.”

“Du hast den Raum hier gemacht?” Jian stand dem argwöhnisch gegenüber. Zwar hatte er das Messer seines Vaters herbeirufen können, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand so viel Kontrolle über diesen Ort haben könnte.

“Glaubst du mir nicht?”, bemerkte Melanie seine Skepsis. “Warte kurz.” Sie schloss die Augen. Im nächsten Moment lösten sich die Strukturen um sie herum vollkommen auf und boten Platz für einen malerischen Strand mit weißem Sand, hohen Palmen und einem atemberaubenden Blick hinaus aufs Meer. Melanie öffnete ihre Augen wieder. “Siehst du.”

“K-Kann ich das auch?”

“Versuche es doch. Stell dir den Ort vor, an dem du jetzt gern wärst.”

Jian schloss die Augen.

Erneut löste sich die sie umgebende Substanz auf und machte Platz für einen dunklen Raum, dessen einzige Lichtquelle ein paar Computermonitore waren.

Jian öffnete die Augen.

“Cool!”, stieß er aus und zog dabei die beiden O in die Länge.

Melanie überraschte nicht, dass Jian an seinen Arbeitsplatz dachte. Schließlich machte er fast nichts anderes, als vor einem Bildschirm zu sitzen.

“Das ist unglaublich!"

“Mal langsam mit den jungen Pferden! Das klappt nur an solchen Orten.”

“Aber wir können durch Wände gehen!” Jian wollte seine Euphorie gar nicht mehr zügeln. ”Das heißt, wir können nach Catherine suchen.”

“Das können wir.” Die Brünette zwang sich ein Lächeln auf. Die Emotionen anderer in der realen Welt zu blockieren war anstrengend. Sich an einem Ort aufzuhalten, dessen Substanz einzig aus Gefühlen gewebt wurde, war wie einen Berg ohne Sauerstoffflasche zu erklimmen. Und nun strömte zusätzlich die Euphorie ihres Teamkollegen ungefiltert auf sie ein. Sie wusste nicht, wie lange sie das noch aushielt.

 

29. Polizeirevier

 

Nachdem der Detective immer wieder die gleichen Fragen in veränderter Formulierung mit ihm durchgegangen war, reichte es Lamar so langsam. Er kam sich vor wie auf einem Kinderkarussell, von dem er nicht mehr absteigen konnte. Die Suggestivfragen des Beamten drehten sich einem interstellaren Himmelskörper gleich um ihre eigene Achse. Das dieser Fuller andauernd auf seine Uhr sah, machte ihn zusätzlich nervös.

“Das führt nirgendwo hin!”, protestierte Lamar und schlug beide Handflächen auf die Tischplatte auf. “Mir reicht's! Ich gehe!” Die Beine des Stuhls, von dem er sich erhob, verursachten ein lautes kratzendes Geräusch, als er aufstand. Mit Leichtigkeit füllte es die Leere des kleinen Raumes aus.

“Wir sind hier noch nicht fertig!”, protestierte der Beamte.

“Wir sind fertig!”, entgegnete Lamar. “Ich bin als Zeuge hier. Ich habe das Recht, jeder Zeit zu gehen.” Und genau das tat er nun.

Detective Fuller wusste, dass er keine rechtliche Handhabe hatte, den Jungen festzuhalten. Nervös sah er erneut auf seine Uhr. Hatte er genug Zeit für sie herausgeschlagen?

 

Derweil durchquerte Lamar das Revier im zügigen Schritt.

Hier wurde genug von seiner Zeit verschwendet!

Er wollte schnell durch den Haupteingang verschwinden und in sein Auto steigen.

Als er die Lobby erreichte, fiel sein Blick auf eine lautstark protestierende Schlange von Angestellten, die Kraftausdrücke fluchend vor einem Kaffeeautomaten standen, welcher seinen Dienst versagt hatte. Es veranlasste ihn, einen Moment inne zu halten und dem Schauspiel beizuwohnen.

Gerade als er sich sattgesehen hatte und seinen Weg fortsetzen wollte, drangen Männer und Frauen in schwarzen Anzügen, ungesund blasser Haut und bleichen Haartönungen durch die Eingangstüren am anderen Ende der Lobby ein.

“Oh Shit!”, fluchte er. “Jetzt geht das schon wieder los.”

Er wusste genau, was das bedeutete. Agenten der Agentur waren gekommen. um ihn zu holen. Schnell zählte er eins und eins zusammen und ihm wurde klar, warum der Bulle nervös auf die Uhr sah und seine Fragen nur darauf abzielten, ihn festzuhalten.

Lamar vollführte eine hundertachtzig Grad Drehung auf dem Absatz seines Schuhes und versuchte unauffällig zu verschwinden. Er musste schnell einen anderen Ausgang finden! Mit dieser Menge an Agenten würde er niemals allein fertig werden, sein Backup wäre niemals rechtzeitig hier und seinen fahrbaren Untersatz konnte er jetzt auch abschreiben.

Aus Mangel an Alternativen entschied er sich, den Weg zurückzugehen, von dem aus er gekommen war.

Als er um die Ecke bog, begrüßte ihn eine Faust direkt ins Gesicht.

Sie gehörte dem zuvor nervösen Detective Fuller, auf dessen Antlitz sich nunmehr eine Mixtur aus Verzweiflung und Wut abzeichnete.

Lamar schüttelte den Schock des Schlages ab und stellte sicher, dass der Laufbursche der Agentur keinen weiteren Treffer landen würde. Den zweiten Schlag wich er blitzschnell aus und packte daraufhin den Arm des Polizeibeamten und verdrehte ihn auf dessen Rücken - wurde Zeit, dass das mal jemand mit einem Bullen machte!

Detective Fuller riss sich los, doch bekam umgehend seine eigene Medizin zu schmecken, als ihn die geballte Faust Lamars erwischte.

Dieser nutzte die Desorientierung seines Gegners aus, packte ihn und stieß ihn mit voller Wucht gegen die nächste Wand, was dem Mann die Nase brach und seinen bescheuerten Hut vom Kopf stieß. Der Beamte taumelte und ging anschließend zu Boden.

Leider war das Spektakel weder den anderen Beamten noch den Agenten unbemerkt vorbeigegangen. Alle stürmten auf Lamar zu. Die Polizisten wollten ihrem Kollegen gegen den vermeintlich übergriffigen Schwarzen mit dem ellenlangen Vorstrafenregister zur Seite stehen. Die Agenten hingegen interessierten sich nur dafür, Lamar in ihre schmierigen Finger zu bekommen, um wer weiß was mit ihm zu tun.

Keiner dieser Parteien wollte Lamar in die Hände fallen.

Er sah nur den einen Ausweg, dem Gang weiter zu folgen.

Zwischen einer Zierpflanze und einem Mülleimer stand ein Wasserspender mit seiner typischen bauchigen Flasche. Das kam Lamar wie gerufen. Er umklammerte das Plastikgefäß und entriss es seiner Halterung. Danach verteilte er das Wasser auf dem Boden und warf anschließend die Wasserflasche achtlos weg. Er hockte sich hin und legte beide Hände auf die Flüssigkeit. Mit dem Einsatz seiner Kräfte bildete sich ein dünner, durchsichtiger Eisfilm, den man im ersten Moment übersehen würde.

Die Schritte kamen immer näher.

Lamar richtete sich auf und rannte weiter.

Hinter ihm zeigte die gelegte Falle Wirkung. Die ersten Verfolger stürmten unachtsam um die Ecke, rutschten sofort aus und stürzten. Lamar war sich sicher, dass es ihm einen gewissen Vorsprung verschaffen würde.

Auf seiner Flucht riss Lamar eine mit Akten beladene Sekretärin um. Sie drehte sich wie ein Kreisel, bevor ihr von einem viel zu kurzem Rock bedecktes Hinterteil auf dem steinernen Boden landete und die Dokumente herabrieselten, wie das Laub im Herbst.

Das tat Lamar zwar leid, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen.

Ein anderer Beamter hatte es beobachtet und versuchte, ihn aufzuhalten.

Lamar stieß auch ihn bei Seite und rannte weiter.

Inzwischen holten die ersten Verfolger auf, die es über das Eis geschafft hatten.

Der Beamte schloss sich der Jagd an.

Wenn das so weiterging, würde bestimmt bald das ganze Revier an seinen Hacken kleben, wie stinkende Hundeexkremente.

Plötzlich kamen ihm Gestalten in Anzügen vom anderen Ende des Ganges entgegen.

Was sollte er tun? Er war umzingelt.

Geistesgegenwärtig entschwand Lamar durch eine offene Tür in ein leeres Büro und verschloss die Tür hinter sich. Er lehnte an der Wand, um kurz zu verschnaufen und nachzudenken. Ihm gegenüber ein Schreibtisch samt Stuhl und dahinter mannsgroße Panoramafenster, durch die Lamar einen majestätischen Baum erspähen konnte, der auf dem Parkplatz des Revieres stand. Nicht weit von Lamar stand ein großer weißer Schrank. Sofort ergriff er das Möbelstück und zerrte es über den grauen Teppich vor die Eingangstür. Einen Moment später warfen sich bereits die ersten Körper gegen das Brett, um es aus den Angeln zu heben.

 

Mandy saß in ihrem Wagen auf dem Beifahrersitz und vertrieb sich mit ihrem Handy die Zeit. Zwar hatte der Niedergang den technischen Standard um dreißig Jahre zurückgeworfen, aber den sozialen Medien konnte nicht mal dies den Todesstoß versetzen. Bei den erschreckend gefährlichen Versuchen einiger Mädchen Aufmerksamkeit zu erringen, konnte sie nur den Kopf schütteln.

Plötzlich signalisierte der Mann in ihrem Ohr mittels Piepen, dass ein Gespräch einging.

Mandy drückte auf ihren In-Ear.

“Ich könnte hier ein bisschen Hilfe gebrauchen”, ertönte Lamars Stimme, begleitet von dumpfen Schlägen auf irgendeine hölzerne Oberfläche.

“Was geht denn bei dir ab? Ist gerade Gefängnisausbruch?”, erwiderte sie im Spaß.

“Ha ha!” Lamars verkühlter Stimme entnahm sie, dass er das gar nicht lustig fand. Und prompt erfuhr sie den Grund dafür. “Die Vorladung war eine Falle! Ich habe hier gerade voll die Agentenschwemme!”

“Ach du Scheiße! Ich komme sofort.”

Mandy beendete das Gespräch und schwang sich auf den Fahrersitz. Zum Glück hatte sie sich bereit erklärt, ein paar Straßen weiter zu warten, falls die Dinge aus dem Ruder liefen. Mit Betätigen des Startknopfes startete der Motor des Sportwagens. Sie verstaute ihr Handy im Handschuhfach und mittels Bleifuß, der ihren männlichen Kollegen in nichts nachstand, beschleunigte sie das Fahrzeug. Quietschend rangen die Räder einen Moment um den nötigen Halt, bevor Mandy davon sauste und nur schwarzen Gummiabrieb zurückließ.

 

Die konstanten, dumpfen Schläge gegen die Tür ließen Lamar nicht vergessen, dass er sich nur etwas Zeit erkauft hatte. Er musste hier aus. Und das schnell!

Das Fenster rückte in den Fokus. Es eröffnete den Blick auf den Parkplatz des Polizeireviers. Er schnappte sich den Bürostuhl und begann auf das Panoramafenster einzuprügeln. Es hatte der Krafteinwirkung wenig entgegenzusetzen und zersprang in tausend Scherben, die nach außen herunter rieselten.

Die Stöße gegen die verschlossene Tür wurden stärker.

Nachdem Lamar die scharfkantigen Scherben am Rand beseitigt hatte, sprang er aus dem Fenster. Da er sich im Erdgeschoss befand, war das nicht annähernd so verrückt, wie die ganze Situation, in der er sich befand. Lamar rollte sich elegant ab, als er auf dem Asphalt des Parkplatzes aufkam.

In diesem Moment gab die Tür endgültig nach und der vor ihr aufgestellte Schrank fiel zusammen mit allen Akten und Ziergegenständen um.

Einige der Verfolger folgten ihm und sprangen ebenfalls aus dem Fenster.

Aber Lamar war schneller als sie.

Der Kahlköpfige kletterte über das verschlossene Eisentor, als ein Sportwagen mit Affenzahn auf der anderen Seite in einer Drehung zum Stehen kam. Am Steuer saß eine ihm wohl vertraute Blondine mit hochgeschobener Sonnenbrille in den goldenen Haaren.

“Ich hörte, du hast ein Taxi bestellt”, kommentierte sie ihr eigenes Erscheinen.

Wortlos stürmte Lamar auf das Fahrzeug zu und sprang auf dem zu ihm zeigenden Beifahrersitz. “Du hast dir Zeit gelassen, Mandy”, meinte er.

“Halt die Klappe und schnall dich an!”, giftete sie zurück.

Lamar gehorchte.

Mandy trat das Gaspedal durch und der Sportwagen schoss davon.

Die Polizeibeamten und die Agenten konnten nur hilflos mit ansehen, wie ihr Ziel ihnen durch die Lappen ging.

 
 

~~~

 

Catherines Unterbewusstsein 

 

Jian und Melanie gelangten durch einen dunkleren Teil in der Wand in einen anderen Bereich des Krankenhaus, in dem sie zuvor noch nie gewesen waren. Eine Tatsache, die leicht daran auszumachen war, dass dieser Teil der Anlage besonders verzerrt und surreal wirkte. Wände erschienen für einen Moment, nur um wieder in der Nichtexistenz zu verschwinden. Das laute Surren der Neonröhren war noch immer allgegenwärtig. An einigen Stellen strahlte ihr Schein ohne zugehörige Lichtquelle, scheinbar aus dem Nichts heraus. Fast wie in einem Computerspiel, in dem eine Zone nicht vollständig geladen war. Je weiter Jian und Melanie in den Raum hinein sahen, desto mehr wurde das spärliche Licht von der Finsternis verschlungen. In der Ferne des gigantischen Raumes konnten sie eine Struktur erspähen, wenn sie gerade keine Wand verdeckte.

“S-Sind wir da?”, fragte Jian unsicher.

“Von hier habe ich Catherine gespürt”, antwortete Melanie.

“Wo kann sie sein?” Der Asiate lenkte die Aufmerksamkeit auf das Gebilde in einiger Distanz. “Ist sie vielleicht da?”

Melanie fixierte das Objekt. “Ich-”, sagte sie und kauerte sich auf einmal hin. “Ich-” Ihre Atmung wurde unregelmäßig und sie begann zu schluchzen. Tränen quollen aus ihren Augen. “Ich spüre Traurigkeit. Unfassbare, endlose Traurigkeit.” Eine beklemmende Enge schnürte der Brünetten die Kehle zu. Die ungefilterten Emotionen, die von dem Ding in weiter Ferne emittierten, durchdrangen ihren mentalen Schild mit Leichtigkeit, wie Neutrinos sämtliche bekannte Materie.

Jian fühlte sich hilflos. Seine psionischen Kräfte waren für Gefühle bei weitem nicht so empfänglich wie jene von Melanie. Zwar fühlte er auch die Traurigkeit, aber nicht in dem Maße wie seine Kollegin. Er wusste wirklich nicht, was er tun sollte.

Derweil steigerte sich Melanie immer tiefer in bitterliches Wehklagen hinein.

Jian hockte sich neben sie und nahm sie in den Arm. “Beruhig dich”, versuchte er ihr zuzusprechen. “Das sind nicht deine Gefühle.”

“I-Ich w-weiß”, brachte Melanie unter atemberaubenden Weinen hervor. “Aber ich k-kann es nicht abblocken.” Ihre Schreie des emotionalen Schmerzes eines anderen waren so intensiv, man musste es im ganzen Komplex hören. “Ich kann nicht mehr!”

Jian drückte sie fester.

“Diese Schuld.” Melanie raufte sich mit weit aufgerissenen Augen die Haare. “Sie gibt sich die Schuld am Tod des einzigen Menschen, den sie geliebt hat. Sie sieht keinen Sinn mehr in ihrem Leben. Sie wünscht sich, zu sterben. Aber nicht einmal das ist ihr möglich.”

Plötzlich packte Jian beide Unterarme von Melanie.

“Was machst du da?”, fragte sie irritiert.

“Ich helfe dir.” Daraufhin schloss er seine Augen und konzentrierte sich fest auf etwas. Noch bevor Melanie protestieren konnte, war sie auch schon verschwunden.

Jians Hände ballten sich zu Fäusten, wo zuvor Melanies Arme gewesen waren. Hatte er das Richtige getan? Verdammt, er wusste nicht mal, wie er das gemacht hatte. Woher sollte er dann wissen, ob er richtig gehandelt hatte? Seine Instinkte übernahmen die Kontrolle und er benutzte seine Fähigkeiten wie im Autopilot und schickte Melanies Verstand dahin zurück, wo er hingehörte.

Vorsichtig stand er auf.

Er sah sich um und erst jetzt dämmerte es ihm, dass er allein war.

Völlig allein an diesem von allen guten Geistern verlassenen Ort.

Was blieb ihm jetzt noch anderes übrig, als weiter vorwärts zu gehen?

Geschickt umschritt Jian die Stellen an denen in regelmäßigen Abständen Mauerteile erschienen und wieder in einer Wolke aus Partikeln verpufften. Mit sinkender Entfernung konnte Jian endlich erkennen, um was es sich bei dem Objekt handelte, auf das alle Fluchtlinien in diesem Raum zuliefen.

Die Dunkelheit gab den Blick auf das Objekt frei. Ein schwarzer Käfig mit den Maßen von ungefähr drei mal drei mal fünf Metern füllte die Mitte dieses Ortes. Von oben aus der Decke hing ein verdrehter Strang aus Drähten herunter, welcher sich um die Gitterstäbe wickelte und unzählige alte Röhrenfernseher mit Strom versorgte. Einige von ihnen zeigten Mangels eines Bildes Schneegrieß. Andere waren über chaotisch angeordnete Scart-Kabel an Videorecorder angeschlossen und zeigten verschiedene Szenen. Inmitten des Käfigs kauerte eine erbärmliche Gestalt mit langem dunklem Haar, die das Gesicht vollständig bedeckte.

Für einen Moment fürchtete Jian, jetzt auch noch gegen Sayako kämpfen zu müssen.

Aber die kroch sonst aus dem Fernseher heraus…

Die Gestalt drehte den Kopf zu ihm. Jian seufzte erleichtert, als er erkannte, dass nur Catherine in dem Käfig eingesperrt war.

“Mach, dass es aufhört!”, forderte sie ihn auf.

Erst jetzt sah sich Jian an, was die Geräte eigentlich zeigten. Auf einem Bild lag eine Frau auf dem Boden mit einer stark blutenden Schusswunde. Auf einen anderen sah er einen männlichen Körper und die blutigen Reste eines Kopfes. Daneben lagen einige Spritzen - mutmaßlich irgendein berauschender Schmutz.

“Ich will nicht mehr!” Catherine begann wie wild zu zappeln und sich an den Haaren zu zerren, genau wie Melanie zuvor.

Jian tat das aus seiner Sicht einzig Richtige und stürmte zu den Videorekordern. Einem nach den anderen stöpselte er aus, sodass auch die angeschlossenen Fernseher nur noch Schneegrieß anzeigten.

Nachdem er den dritten Fernseher ausgestöpselt hatte, hörte Jian ein lautes, angsteinflößendes Brüllen. Trotzdem machte er einfach weiter.

“Der Doktor kommt”, sprach Catherine verängstigt.

 

Beobachtungszimmer

 

Melanie erwachte mit einem tiefen Atemzug aus ihrem komatösen Zustand. Es war, als müsste sie die Luft von Stunden mit einem Mal einsaugen. Sie benötigte einen Moment, um zu realisieren, dass sie sich wieder in der Realität befand. Der Anblick von Jian, der mit nach innen gerollten Augen neben ihr stand, half dabei gewiss.

Sofort sprangen die Mediziner von ihren Stühlen auf und stürmten in den Beobachtungsraum. Sie konnten ihren Geräten nicht mehr trauen und mussten sich mit eigenen Augen von dem Lazeruswunder überzeugen, das soeben passiert war. Aus ihrer Sicht war Melanie seit Stunden hirntot gewesen.

“Dieser verdammte Idiot!”, beschwerte sich die Brünette ungewohnt emotinal, während die Ärzte sie umschwärmten, wie ein Schwarm Wespen ein offenes Marmeladenglas.

 

Catherines Unterbewusstsein

 

Die Dunkelheit wurde erneut von einem entsetzlichen Gebrüll zerrissen. Eine Gestalt bewegte sich aus den Schatten auf den Käfig im Zentrum des riesigen Raumes zu. Sie war so groß, dass sie selbst unter der sechs Meter hohen Decke nur gebückt voran kam. Als sie von dem schwachen Licht illuminiert wurde, enthüllte sich ihre groteske Hässlichkeit. Sie besaß einen entarteten humanoiden Körper, aus dem überall Tentakel sprießten, wie bei einem Ungeheuer aus einem Roman von H. P. Lovecraft.

Demonstrativ brüllte die Kreatur Jian an. An der Stelle, welche vermutlich den Kopf darstellen sollte, präsentierte sie ein Sammelsurium an scharfen Zähnen.

Einer der Tentakel schnellte nach vorn und stieß Jian vom Käfig weg.

Jian rappelte sich auf und positionierte sich erneut vor den Gittern.

Die Kreatur reagierte, indem sie ihn mit einem weiteren Tentakel traf und in die andere Richtung schleuderte. Danach trat sie an den Käfig heran und verband sorgsam die Videorecorder wieder mit den Röhrenfernsehern. Der Schneegrieß verschwand und das Programm wurde fortgesetzt.

Catherine krümmte sich erneut unter seelischen Schmerzen.

Jian verstand die Absichten der Kreatur. Sie wollte sicherstellen, dass Catherines Leiden fortgesetzt wurde. Er stand wieder auf und konzentrierte sich darauf, eine Waffe in die imaginäre Welt zu rufen. Das Familienerbstück materialisierte sich in seiner rechten Hand. “G-Geh weg von ihr!”, forderte er anschließend das Monster auf.

Das ließ sich jedoch nicht beirren und stöpselte weiter die Geräte zusammen.

Jian fasste sich ein Herz und stürmte auf die Kreatur zu. In wilden Hieben ließ er das Gräuel die Klinge spüren.

Wieder stieß ihn die Kreatur weg. Diesmal mit einer solchen Wucht, dass er mehrere Meter weit durch die Luft flog, bevor er auf dem Boden aufkam. Dabei wurde Jian das Messer aus der Hand geschlagen. Es rutschte über den Boden und verschwand in der Dunkelheit. Die jüngste Provokation wollte das Scheusal nicht unbeantwortet stehen lassen und schenkte Jian seine volle Aufmerksamkeit. Sein markerschütterndes Brüllen beflügelte Ängste, während die rasiermesserscharfen Zähne das Neonlicht reflektierten.

Bisher war Jian gut damit gefahren, sich stets vor Augen zu halten, dass all dies nicht real ist. Dass er sich im Kopf von Catherine befand. Doch wie sehr er es auch versuchte, bei diesem Ding schien es nicht zu funktionieren. Was soll ich nur tun?, fragte er sich verzweifelt, während die Kreatur sich weiter näherte. Dann kam ihm eine Idee. Was wäre, wenn er stattdessen fest daran glaubte, dass alles hier echt war? Dass an diesem Ort jeder Gedanke eine feste Form bekommt? Zähneknirschend zwang er sich, aufzustehen.

Er ergriff die Brille, welche auf wundersame Weise noch immer auf seiner Nase thronte, und warf sie in einer lässigen Bewegung von sich. “Es gibt nur eine Regel!”, sprach er zu der Kreatur. Im gleichen Moment formte sich ein Gebilde in seiner Hand. Ein Lichtblitz enthüllte eine riesige Waffe. Dabei handelte es sich um das ikonische Schwert des Titelhelden eines alten JRPGs. “Lege dich nicht mit dem Otaku an!” Jian stellte sich vor, wie die Energie des entfesselten Extasebalken durch seinen Körper schoss.

Irritiert verharrte das Monster.

Jian stieß sich vom Boden ab und vollführte die Spezialattacke, die er so oft auf seiner Konsole dem Spielercharakter befohlen hatte. Streich um Streich zerlegte er die Kreatur, bis nach dem fünften nur noch groteskes Hackfleisch verblieb, aus dem widerwärtige Säfte austraten und den PVC-Boden verätzten.

Jian hielt inne und betrachtete zutiefst fasziniert, wozu seine lebhafte Fantasie ihn an diesem Ort befähigte. Einmal konnte auch er sich wie ein Held fühlen!

Das nächste Ziel seiner entfesselten Aggressionen wurde der Käfig, indem Catherine gefangen gehalten wurde. Funken sprühten, als er die Fernseher und Videorecorder zerteilte und die Show ein für allemal beendete. Danach musste der Käfig selbst dran glauben. Als alles zerstört war, besann sich Jian der Realität und Schwert und Superkräfte verschwanden.

Inmitten der Reste ihres Gefängnisses hockte Catherine und sah ihn mit großen Augen an. Um sie und Jian herum lösten sich die Strukturen auf und flossen ineinander, bis sich beide am Eingang des Krankenhauses wiederfanden.

Jian streckte Catherine die Hand aus. “K-Komm!”, forderte er sie auf.

Die Brünette ergriff seine Hand.

Gemeinsam durchschritten sie den Eingang und gingen in den strahlend sonnigen Tag hinein, dem die Finsternis weichen musste.

 

Beobachtungszimmer

 

Nach der obligatorischen Untersuchung, ob auch wirklich alles mit ihr in Ordnung war, verblieb Melanie im Beobachtungsraum und ließ ihren versteift stehenden Kollegen nicht aus den Augen. Sie hatte verstanden, warum Jian das getan hatte. Die Emotionen waren zu viel für sie geworden. Eine große Hilfe wäre sie ohnehin nicht gewesen. Allerdings empfand sie es als übergriffig von ihm, gegen ihren Willen aus Catherines Kopf rausgeschmissen zu werden wie ein Besoffener aus der Disco.

Wie zum Teufel hatte er das überhaupt angestellt?

Diese Frage musste sie sich wohl oder übel für später aufheben.

Mit Sorge betrachtete sie Jian.

Lange warten ließ er sie nicht. Ohne Vorwarnung schloss er die Augen und wurde schlaff. Die Beine knickten ihm weg und er fiel zu Boden.

Das Schlimmste befürchtend, eilte sie zu ihm.

Einen Moment später öffnete sich die Tür und medizinisches Personal drängte in den Beobachtungsraum hinein.

Zur Beruhigung aller kam Jian schnell wieder zu sich und konnte aufstehen.

“Geht es dir gut?”, fragte Melanie.

“I-Ich denke schon”, antwortete Jian. “Nur ein paar Kopfschmerzen.” Sofort wandte er seine Aufmerksamkeit Catherine zu. “Was ist mit Catherine?” Er drängte an ihr Bett heran. “Catherine?”, sprach er ihr zu.

Melanie und die anderen hielten sich vornehm zurück.

Jian betrachtete die Schlafende erwartungsvoll.

 

Catherine spürte die auf sie gerichteten Blicke, obwohl ihre Augen noch geschlossen waren. Zaghaft öffnete sie sie einen Spalt. Die Helligkeit blendete sie. Das Licht prasselte gnadenlos auf ihren optischen Nerv ein. Ihre Augen waren so lange geschlossen, dass sie sich erst wieder daran gewöhnen mussten, ihren Dienst zu verrichten.

Jemand rief ihren Namen. “Catherine!”

Etwas Verschwommenes war dem Licht im Weg.

Catherine wartete, bis sich ihre Augen an das Licht gewöhnten.

Zunehmend enthüllte sich das Gesicht eines Jungen. Offenbar ein Asiate. Sie wusste genau, sie hatte ihn noch nie gesehen. Dennoch waren ihr seine Züge so vertraut. Sie empfand ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit und der Zuneigung für diesen Typen. Wieso? Wer war er? Welche Signifikanz hatte er für sie?

Es war so verwirrend!

“Catherine, du bist wach”, sprach der Junge euphorisch.

Sie fragte sich, woher er ihren Namen kannte.

Waren sie sich doch schon einmal begegnet?

Sie fasste den Mut, sich aufzusetzen und umzusehen. Unzählige Gestalten standen um sie herum und löcherten sie mit ihren Blicken. Zumindest wirkte es zuerst so. Dann wurde ihr bewusst, dass sich außer ihr nur fünf Personen in diesem Raum befanden. Der asiatische Junge, ein brünettes Mädchen, das sehr erwachsen wirkte und drei Typen in weißen Kitteln. Alle wirkten so erleichtert und glücklich. Etwa weil sie aufgewacht ist?

Dennoch fühlte sie Unbehagen. Vor allem die Männer in Weiß weckten alte Ängste. Sie wollte fliehen, aber konnte nicht. Vor ihr die Fremden und hinter ihr die Wand. Aber da war dieses Gefühl von Wärme und Zuversicht, das sie immer dann verspürte, wenn sie den Jungen ansah. Catherine hatte dem nichts mehr entgegenzusetzen. Sie beugte sich zu ihm hin und schlug ihre Arme um seinen Rücken. Dann legte sie den Kopf auf seine Brust und schloss die Augen. Wie gruselig und angsteinflößend dies alles auch sein mochte, sie spürte, dass sie bei diesem Jungen sicher war.

 

FORTSETZUNG FOLGT...



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Regina_Regenbogen
2022-08-19T20:23:43+00:00 19.08.2022 22:23
Jian macht Sushi!!! XD XD XD Yes!
Ich finde die Beschreibung dieses Horror-Krankenhauses super! Man ist mitten drin.

>Wenn irgend etwas kam, würde er es sehen.
Zu früh gefreut...

😂😂😂😂Herrlich die Klischees bei der Polizei!

Die Beschreibung, dass es Catherines Kognitionen sind und alles drum herum, finde ich genial! 😃 Mir tut nur Melanie aufgrund ihrer Fähigkeiten leid.

Haha, cooler Trick von Lamar! 😁
Puh, spannend, auch wenn ich ja gerade besonderes Interesse an Catherines Seelenwelt habe. Lamar und Mandy sind ein tolles Team. :D

Waaaah, Jian, du bist toll! Dass er Melanie rauswirft und allein weitergeht! Und so süß, wie er die Fernseher ausstöpselt. Es ist zu spannend zum Kommentieren, sorry.
XD XD XD XD "Leg dich nicht mit dem Otaku an!" Ich liebe es!!!! 😍 Jian, du BIST ein Held! 💖💖💖💖
Oh, so süß, wie er sie rettet! 😍
Oooooooooooooh!!!!!!!!! Mein Shipper Herz ist glücklich!!!!! 😍😍😍😍😍 Hach! Schöner geht ja wohl nicht! 🥰🥰🥰 (ノ◕ヮ◕)ノ*:・゚✧\(@^0^@)/(´▽`ʃ♡ƪ)


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