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Last Seed

Die letzte Hoffnung der Menschheit
von

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Kopfkino


 

“Alles was man vergessen hat, schreit im Traum um Hilfe.”

(Elias Canetti)
 

Catherines Beobachtungszimmer, Last Seed

Liberty Bay, 27. April 2037
 

Melanie wusste nicht mehr, wie lange sie bereits hinter der getönten Scheibe stand und das regungslos auf dem Bett liegende Mädchen beobachtete. Ein Schauspiel, das sich seit mehreren Wochen unverändert abspielte. Jeder Versuch der Kontaktaufnahme mit Catherine - sei es konventionell oder auf geistiger Ebene - war gescheitert. Sie hatte sich vollkommen von der Welt abgeschottet. Auch wurde jegliche Nahrungsaufnahme verweigert, was das medizinische Personal dazu zwang, das Mädchen künstlich zu ernähren. An Catherines Kopf war eine Haube mit Drähten angebracht, womit ihre Hirnströme gemessen wurden.

Melanie schluckte den rapide abgesonderten Speichel herunter.

Die Erinnerungen an ihre Versuche, mit dem Verstand des Mädchens in Verbindung zu treten, endeten allesamt in einem Desaster. Sie bekam das Gefühl, je mehr sie versuchte, es zu erzwingen, desto aggressiver wurden die Selbstschutzmechanismen von Catherines Verstand. Dennoch konnte sie es sich nicht leisten, hier aufzugeben! Sie musste einen Weg finden, in das mentale Gefängnis einzudringen, in das sich Catherine eingesperrt hatte.

“Bei diesen Werten müsste sie bei Bewusstsein sein!”, exklamierte einer der Neuropsychologen. Auf seinem Display erschienen die völlig normal ausschlagenden Kurven von Catherines EEG, die er sich in Bezug auf ihren Zustand absolut nicht erklären konnte.

Für Melanie und die anderen schienen diese Werte keine Überraschung zu sein.

“Haben Sie nicht die Akte gelesen?”, fragte ein anderer Mediziner. Es handelte sich um Dr. Barber und er war der Verantwortliche.

Der Mann war schnell für einen Kollegen eingesprungen, welcher krankheitsbedingt ausgefallen war, und hatte das Dokument nur partiell studiert. “Ich habe es nur schnell überflogen”, entschuldigte er seine Nachlässigkeit. “Für mich klang es wie ein ganz normaler Fall von Koma.”

“Dann lesen Sie sie jetzt!”

“Ich erspare es Ihnen”, erklärte Melanie. Ihre Stimme klang kalt und teilnahmslos, wie immer. “Sie wurde jahrelang gefangen gehalten und schwer misshandelt. Man hat ihre Fähigkeit zur Regeneration schonungslos ausgebeutet und ausgenutzt, dass sie selbst die schwersten Verstümmelungen ihres Körpers heilen kann. Stellen Sie sich mal vor, wie es ist, immer wieder getötet zu werden und danach ins Leben zurückzukehren, nur damit alles wieder von vorn losgeht. Als wir sie befreit haben, ist sie durchgedreht und hat eine Spur aus Leichen hinterlassen. Würden Sie unter den Umständen noch aufwachen wollen?”

Erstaunt sah der Neue die junge Frau an. “Woher wissen Sie das alles.”

“Ihre Akte haben sie offenbar auch nicht gelesen”, sprach der andere Arzt. “Sie ist Psioniker. Das macht ihr Hirn mindestens genauso spannend, wie das der Patientin.”

Melanie reagierte kein bisschen auf diesen Versuch, einen Scherz zu machen.

“Psioniker bauen eine mentale Barriere gegen jegliche Gefühle auf”, ergänzte der unlustige Witzbold im Arztkittel seriös. “Sonst würden sie andauernd von den Gefühlen von anderen übermannt werden.”

Die Brünette verzog äußerlich keine Miene. Wieso glauben Psychologen immer zu wissen, was in uns vorgeht?, dachte sie. Während sich die beiden Männer weiter unterhielten, schritt Melanie zur Tür des Beobachtungsraumes.

“Was haben Sie vor?”, stellte sie der Neuropsychologe zur Rede.

“Ich werde noch einmal versuchen, Kontakt aufzunehmen”, antwortete Melanie.

Die Tür öffnete sich und sie schritt zur Tat.
 

Trainingsraum
 

Zur gleichen Zeit öffnete sich andernorts ebenfalls eine Tür.

Victor geleitete Merrill hindurch.

Während der gut gebaute Schwarzhaarige seine Bauchmuskeln unter einem weißen T-Shirt mit lustigem Motiv versteckte und nur die ausgeprägten Waden unter seiner lockeren kurzen Hose seinen Fitnesszustand erahnen ließen, blieb bei Merrills schwarzes Yoga-Outfit wenig Raum für Spekulationen über ihre Proportionen übrig. Sie hatte sich ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

Beide trugen Schuhe einer nach einer Gottheit benannten Marke.

Victor ließ sie voran gehen und neigte den Kopf zur Seite, als er die Gelegenheit nutzte, ihre Schokoladenseite zu begutachten. Das glänzende Material der Leggins schmiegte sich verlockend jeder Bewegung ihres Sitzfleisches an. An diesem Körper gab es eindeutig kein einziges Gramm Fett zu viel!

Merrill erfasste indes den quadratischen Raum, dessen Boden mit passgenau aneinander gereihten Matten ausgelegt war. Die stählernen Wände wurden ebenfalls bis zu einer Höhe von zwei Metern mit eben jenen Matten bedeckt. In den Ecken fanden sich Ständer, die verschiedene Gerätschaften aufbewahrten, sowie weitere Gegenstände. Von der Decke strahlte das gleiche kalte weiße Licht herab, wie überall sonst in diesem Komplex.

Sie wandte sich wieder Victor zu.

Dieser tat, als habe er ihr nicht die ganze Zeit auf den Hintern geglotzt.

Vergeblich.

“Hast du dich satt gesehen?”, stichelte die Rothaarige. Sie war so oft Blicken von anderen Männern ausgesetzt, dass sie einen sechsten Sinn dafür entwickelt hatte. Sie wusste die ganze Zeit, wo seine Augen waren.

Da half nur die Flucht nach vorn. “Ist auch ein echter Blickfang”

“Freut mich, dass er dir gefällt”, erwiderte Merrill zynisch. “Hab ich auch viel Arbeit reingesteckt.” Noch einmal sah sie sich um und meinte daraufhin: “Nett hier. Fast wie bei meinem Yogi. Nur… grauer.”

“Du gehst zu einem echten Yogi?”

“Man muss schließlich was dafür tun, dass andere etwas zu glotzen haben.” Merrill sah Victors T-Shirt an. “Kann ja nicht jeder deine Trainingsmethode nutzen.” Sie spielte eindeutig auf den Schriftzug des Kleidungsstück an. Auf Brusthöhe befand sich eine Cartoon-Darstellung eines überschäumenden Maß Hopfensmoothie mit der Unterschrift ‘Bier formte diesen Körper’.

“Dein Yogi haut bestimmt niemanden auf die Zwölf.”

“Nein, aber manche schreien trotzdem vor Schmerzen.''

Victor ging provokant an Merrill vorbei, baute sich in der Mitte des Raumes auf und verschränkte die Arme. “Du weißt, warum wir hier sind?”

“Wahrscheinlich nicht um als Schlange den Morgen begrüßen…”

“Nein, Yoga-Übungen stehen nicht auf dem Stundenplan.”

“Muss ich hier etwa auch die Schulbank drücken?”

“So in etwa. Deine einzige Verteidigung ist dein Schrei. Leider macht der keinen Unterschied zwischen Freund und Feind. Deshalb werde ich dir ein paar Griffe zur Selbstverteidigung zeigen."

“Aha?”

“Gelenkigkeit ist dabei ein Vorteil.” Victor zwinkerte ihr vielsagend zu.

Merrill neigte gelangweilt den Kopf. “Und jetzt?”

“Versuche mich anzugreifen”, wurde sie von Victor herausgefordert.

“Ich kann dich nicht einfach grundlos schlagen.”

“Ach wirklich? Streng dich an, Ruby!”

“Na schön!” Wie sie es hasste, wenn er sie Ruby nannte. ”Du bettelst förmlich darum!” Die Rothaarige setzte sich in Bewegung und ballte die rechte Hand zur Faust. Sie versuchte einen gezielten Schlag in dem Grinsen ihres Gegenübers zu landen.

Kurz bevor sich die Wucht ihres Angriffes entfalten konnte, neigte sich Victor zur Seite und drückte ihre Faust mit beiden Händen von sich. Noch bevor sie darauf reagieren konnte, stand er schon neben ihr und verpasste ihr einen Stoß in die Kniekehle, welcher sie umgehend aus dem Gleichgewicht brachte und zu Boden stürzen ließ. Im nächsten Moment hatte sich Victor schon auf sie geworfen und presste seinen Unterarm gegen ihr Schlüsselbein, um sie bewegungsunfähig zu machen.

Merrill spürte Victors Atem in ihrem Gesicht.

Pfefferminz.

“So schnell wurdest du bestimmt noch nie flachgelegt”, kommentierte er ihre Unkenntnis.

“Halt die Klappe und geh runter von mir!”

Victor reagierte verzögert. “Sorry, ich wollte den Moment noch etwas genießen.” Er ließ von ihr ab und half ihr beim Aufstehen. “Jeder sollte die Handgriffe wenigstens einmal aus der Sicht des Flachgelegten sehen.”

Merrills Wunsch, es Victor heimzuzahlen, wuchs und gedieh.

“Hast du mitbekommen, was ich gemacht habe?”

“Nicht wirklich”, gestand sie sich ein. “Es war zu schnell. So schnell wie du auf mir lagst, konnte ich gar nicht gucken.”

“Ja, das höre ich öfter.”

Merrill gab dem Impuls nach, Victor eine zu Pfeffern.

Leider wehrte er ihren Schlag grinsend ab.

Daraufhin legte sie mit der anderen Hand nach.

Auch dies wehrte der Schwarzhaarige ab.

“Mrrrrrrr!”, stieß Merrill frustriert aus und wandte sich ab.

Victor seufzte. “Lass mich es dir zeigen.”
 

Zwei Stunden später.

Die Geräusche von aufeinander folgenden dumpfen Schlägen erfüllten den Trainingsraum. Merrill hatte vor diesem Tag noch nie die Worte Krav Maga gehört, aber es hatte sie schon überzeugt. Die wichtigsten Grundtechniken dieses Kampfsports kannte sie in der Theorie bereits alle. Sie ließen sich in wenigen Monaten verinnerlichen. Praktisch jeder konnte schnell Fortschritte erzielen, anders als beispielsweise bei den traditionellen asiatischen Kampfsportarten, wo es Jahre dauerte, die einzelnen Handgriffe zu perfektionieren. Kein Wunder, dass sich Krav Maga schon vor dem Niedergang bei den Militärs dieser Welt großer Beliebtheit erfreute. Natürlich würde Merrill noch weiter trainieren müssen, um Kraft und Präzision der Techniken zu verbessern. Aber zwei, drei Dinge konnte sie aus dieser Begegnung mitnehmen.

Durchgeschwitzt stand Merrill Victor gegenüber. Im Gegensatz zu ihr, wirkte er noch immer fit wie ein Turnschuh.

“Alter, wie kannst du nur so eine Ausdauer haben?”

“Das ist das Geheimnis meines Erfolges beim anderen Geschlecht.”

Merrill rollte einmal mehr genervt mit den Augen. Wie of sie dies an diesem Tag schon getan hatte, war ihrer Erinnerung längst entfleucht. Diese anzüglichen Anspielungen langweilten die Rothaarige nur noch.

“Du lernst echt schnell”, lobte der Schwarzhaarige die Fortschritte.

“W-Wenn mich etwas in-teressiert, ist das i-immer so”, meinte die Gelobte außer Atem.

“Ist das so?”

“Klar! Die Aussicht, dir eine reinzuhauen, spornt mich so richtig an!”

“Perfekt! Lust auf noch eine Runde?”

“Nicht dein Ernst, oder?”

“Wo ist die Euphorie von eben hin?”

“Aufgesogen von meinen klitschnassen Klamotten.”

“Wir können ja mal Duschen gehen.”

“Vergiss es!”

“Dann geht auch noch eine Runde!”

Widerwillig fügte sich Merrill.

Bald darauf prallten Extremitäten aufeinander. Der Kampf mochte für den ungeübten Beobachter einigermaßen ausgeglichen wirken, das aber nur, weil Victor sich in Wahrheit zurückhielt, um Merrill nicht zu überfordern. In seiner Vorsicht vernachlässigte der Schwarzhaarige jedoch seine Deckung und erlaubte es seiner Gegnerin, ein paar schmerzhafte Schläge zu landen. Einem Reflex gleich, befreite er sich mit einem fortgeschrittenen Technik aus der unangenehmen Situation. Dabei versetzte er Merrill einen Tritt in den Unterleib.

Weiße Punkte sehend taumelte die Rothaarige rückwärts und hielt sich den Bauch. “Du verdammter Mistkerl!”

“Scheiße!” Sofort eilte Victor zu ihr, die Entschuldigung schon auf den Lippen. “Hey, es tut mir-”

Plötzlich erfasste Merrill die Wut. Wie von einer Sturmflut ließ sie sich mitreißen. Sie hob den Kopf und gab einen stummen Schrei von sich. Anstatt eines Lautes, breitete sich eine sichtbare Druckwelle von ihrem Mund aus, welche Victor erfasste und durch die Luft wirbelte, bis die Wandverkleidung ihn bremste. Wie ein Stein plumpste er anschließend auf die Bodenmatten. Er stützte sich auf allen Vieren, bis er wieder aufstehen konnte.

Ungläubig sah Victor die offensichtlich ebenfalls verwirrte Merrill an.

Die starrte derweil Löcher in die Luft und versuchte, sich einen Reim auf das Geschehene zu machen. “War ich das?”, brachte die Rothaarige hervor.

Victor war plötzlich nicht mehr in der Stimmung, das Geschehen zu kommentieren.
 

Jians Zimmer
 

Das Licht der Monitore tauchte den dunklen Raum in ein kühles Blau.

Wenn es etwas gab, was Jian an der Informatik hasste, dann war es das Debugging von Software-Fehlern. Zu seinem Glück konnte er diese Arbeit von seinem Raum aus vornehmen und die Tür hinter sich fest verschließen. Keine anderen Menschen, die seine Konzentration beeinträchtigten oder sinnbefreite Fragen stellten. Seine Finger flogen wie üblich über die Tastatur, während er angestrengt arbeitete. Einsam und verlassen, ruhte die Mouse auf ihrem Pad und bedeckte notdürftig die nicht jugendfreien Bestandteile des aufgedruckten Hentai-Motivs. Zwar hätte er seine Fähigkeiten einsetzen können, um den Fehler zu finden, doch dies forderte immense Konzentration. Daher zog er vor, das Problem auf die altmodische Weise zu identifizieren und zu beseitigen.

Die Organisation erhielt Feeds von heimlich ausgespähten oder von Informanten zugespielten Daten. Die schiere Menge an Informationen machte es unmöglich, diese Feeds manuell durch das Personal überprüfen zu lassen. Deshalb setzte die IT eine künstliche Intelligenz ein, welche eingehende Daten zuerst auf Relevanz prüfte, bevor sie bei einem menschlichen Mitarbeiter ankam. Dafür verwendete diese KI komplexe Regelsätze, welche sich selbständig erweiterten. Auf diese Art lernte die Maschine dazu. Einer der Datenfeeds enthielt jedoch eine Kopie eines alten Arcade Game, das für seine süchtig machenden Eigenschaften berüchtigt war. Nun versuchte die KI aus irgendeinem Grund, die zufällig generierten Level bis zum Ende durchzuspielen, was nicht möglich war, da diese mit steigendem Schwierigkeitsgrad endlos weiter erzeugt wurden.

Es war an Jian herausfinden, wie man der KI unter bestimmten Konstellationen austrieb, eine Software durch durchprobieren aller Möglichkeiten zu erschließen. Eine Funktion, die für gewöhnlich ein Grundbestandteil des Algorithmus zum finden von Informationen war, bei alten Retro Games sich allerdings als kontraproduktiv erwies.

Verdammter Scheißdreck, fluchte der asiatische Computernerd in Gedanken.

Das Regelset war eindeutig formuliert, von fehlerfrier Logik und auch sonst absolut perfekt. Und dennoch… Jede Änderung, die er in den letzten Stunden machte, verschlimmerte entweder das Problem oder sorgte dafür, dass die Analyse der Medien den Algorithmus gar nicht mehr anwandte.

Er benötigte dringend eine Pause!

Vielleicht sollte er die eine Seite besuchen und etwas… Dampf ablassen.

Daraus wurde leider nichts.

Wie bestellt, erschien eine Notification in der rechten unteren Ecke des Bildschirms.

Jian wechselte den Tab.
 

~~~
 

Catherines Beobachtungszimmer
 

Die Hektik der Neurologen strahlte in den Raum ab wie ein übertakteter Heizpilz auf Crystal Meth in der glühenden Caldera eines Vulkans und wurde Bestandteil der bedrückenden, Knochen zermalmenden Atmosphäre. Klar war es gefährlich, was sie vorgehabt hatte. Natürlich hätte man Bedenken deutlicher äußern müssen. Aber mit diesem Resultat hatte niemand gerechnet. Die Männer starrten in Unglaube auf die Ausgaben ihrer Geräte. Während sie sich noch fragten, wie lange sie das Geschehene vom Zirkulieren abhalten konnten, öffnete sich die Tür hinter ihnen.

Jian sah sich um. Man konnte förmlich spüren, etwas war ganz und gar nicht nach Plan gelaufen. Und dazu war es nicht einmal notwendig, Psioniker zu sein.

Die Ärzte wandten sich dem Ankömmling mit erwartungsvollen Gesichtern zu.

Sie waren von ihrer Machtlosigkeit gezeichnet.

Hinter ihnen eröffnete die große Scheibe aus Spezialglas einen Einblick in den Teil des Raumes, den die Observanten beobachteten. In ihm lag Catherine. Sie trug eine mit Sensoren bestückte Haube. Jian hatte von ihr gelesen, sie aber noch nie in Natura gesehen. Fast wäre es ihm ergangen, wie zuvor der künstlichen Intelligenz, und er hätte seinen Blick nicht von der schlafenden Schönheit abwenden können. Dass ihrem zarten Äußeren so viel Gewalt innewohnen sollte….

Neben dem Mädchen saß Melanie auf einem Stuhl. Sie trug ebenfalls eine Kappe mit Sensoren. Ihr Arm war ausgestreckt und die Hand ruhte auf Catherines Stirn. Völlig regungslos verharrte sie in dieser Position.

Fragend sah Jian wieder zu den Ärzten und bemerkte, dass die Instrumente verrück zu spielen schienen. Auf der einen Ausgabe verzeichneten sie nur rudimentäre Aktivität und auf dem anderen zuckten die Messkurven des EEG wild durch- und ineinander. “W-Was ist hier los?”, fragte Jian verwirrt.

“Wir hätten ihn nicht heimlich anpingen sollen”, murmelte einer der Anwesenden.

Der leitende Neuropsychologe trat hervor. “Wir versuchen seit Wochen dieses Mädchen zu wecken”, erklärte Dr. Barber. “Bisher ohne jeden Erfolg.” Er deutete durch die Scheibe auf Melanie. "Ms. Cortez wollte versuchen, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Doch dann ist das hier passiert. “ Er lenkte Jians Aufmerksamkeit auf die Monitore. “Wir können uns das nicht erklären. Seit sie mit der Patientin Verbindung aufgenommen hat, hat sie sich kein Stück bewegt. Wir haben sie ebenfalls an ein EEG angeschlossen. Wenn man das so sieht, könnte man denken, sie sei hirntot. Dafür sind Catherines Hirnströme seither extrem chaotisch. Das ergibt alles keinen Sinn.”

“W-Was soll ich da machen?”

“Wir dachten, Sie als Psioniker wissen vielleicht Rat.

“Ich arbeite mit Maschinen und Compuntern und keinen G-Gehirnen!”

“H-Haben Sie den Vorfall gemeldet?"

“Bisher nicht. Haben Sie vielleicht eine Idee?”

“Eine Geistesverschmelzung!”, spekulierte Jian unangebracht euphorisch.

“Geistesverschmelzung?” Dem Neuropsychologen fror das Gesicht ein. “Sie machen Witze. Ist das Ihr Ernst?!”

“Haben Sie eine bessere Idee?”

“Das sind unwissenschaftliche Fantasien!”

“Aber wir kommen nicht weiter”, mischte sich ein anderer Arzt ein. “Sie bestanden darauf, ihn zu Rate ziehen, anstatt es zu melden.”

Der führende Mediziner seufzte. “Sie haben Recht…” Unwillig wandte er sich wieder dem Obernerd unter den anwesenden Nerds zu. “Mr. Cheng. Vielleicht können Sie mehr als nur Popkultur Referenzen beisteuern.”

“S-Soll ich sie mir mal a-ansehen?”

"Lassen Sie sich nicht aufhalten.”

Jian öffnete die Tür und trat auf die andere Seite der Glasscheibe. Hinter ihm schloss sich umgehend die Tür. Er begab sich zu Catherine und Melanie.

Die Ärzte beobachteten hinter der Sicherheit gewährenden Spezialglasscheibe.

Zögerlich stand Jian vor der sitzenden Melanie. Er betrachtete ihre Erscheinung mit den wie zur Meditation geschlossenen Augen. Unschlüssig, was er tun sollte, streckte er die linke Hand aus und berührte mit ihr ihren Kopf. Seine Erfahrungen beschränkten sich eigentlich auf den Umgang mit künstlichen Systemen, doch da z.B. neuronale Netze nach dem Vorbild eines menschlichen Gehirns geschaffen worden waren, konnte es nicht so anders sein. Er war sich sicher, nicht an die mentalen Fähigkeiten von Melanie heranreichen zu können, wenn es um Systeme aus Fleisch und Blut ging, doch er musste es einfach versuchen.

Er konzentrierte sich und suchte nach dem Bewusstsein.

Nichts.

Er konnte Melanie nicht finden.

Wo war sie?

Lag tatsächlich eine Art Geistesverschmelzung vor?

Fragend sah er in den von dieser Seite aus getönten Spiegel. Er brauchte die Menschen dahinter nicht zu sehen, um sich ihre Reaktionen vorzustellen. Trotz des Resultats seiner Suche, war er noch nicht bereit, aufzugeben. Wenn Melanie nicht in diesem Kopf war, dann vielleicht tatsächlich in dem anderen. Er zog seine Hand zurück und trat stattdessen an Catherine heran. Vorsichtig setzte er erneut die linke Hand ein. Er legte sie auf die Stirn der Brünetten und begann die Suche nach Melanies Bewusstsein.

Beunruhigende Eindrücke begannen seinen Geist zu fluten.

So viel Angst und Schmerz emittierten aus der Tiefe von Catherines Verstand, dass es ihn beinahe übermannte. Er war nicht geübt darin, sich vor Emotionen zu verschließen. Maschinen besaßen so etwas nicht. Ungeschützt trafen ihn die Wellen von schrecklichen Empfindungen wie eine tosende Brandung und begannen ihn unter ihrer schier endlosen Kraft zu zermalmen.

Wenn Melanie dies jedes mal durchmachte, wenn sie in den Geist von jemandem eintrat, dann verdiente sie eindeutig jedermanns Respekt!

Jian konnte hinter den ihm gnadenlos entgegen strömenden Relikten von unverarbeiteter Agonie und dem Verlangen, sich einem hemmungslosen Tötungsrausch hinzugeben, noch etwas anderes spüren. Es war fast nicht auszumachen, doch es war eindeutig da. Er musste die Kraft überwinden, die ihn davon abhielt, näher zu kommen.

Fast automatisch legte er die rechte Hand auf Catherines Kopfhaube, direkt neben Melanies Hand, und begann sich nun gleichzeitig mit den Messinstrumenten zu verbinden.

Zahlen und Werte erschienen.

Das Bild wurde klarer.

Der Sturm beruhigte sich.

Tief in einem schwarzen Ozean aus Schmerz und Einsamkeit lag eine kleine, unscheinbare Insel. Auf ihr stand ein großes Gebäude. Es handelte sich um ein vielstöckiges Haus mit großen Glastüren und einem Helikopterlandeplatz auf dem Dach. Vor der Konstruktion gab es einen Parkplatz mit Rettungswagen und anderen Fahrzeugen. Jian erkannte diesen Ort. Zwar war das eine oder andere Detail verändert - eindeutig dem geschuldet, dass es zu einem Teil aus Erinnerungen und zum anderen Phantasie bestand - doch es handelte sich eindeutig um das Krankenhaus, aus dem Catherine zuvor von Mandy und Victor befreit worden war.

Jian konzentrierte sich auf diese Position und von einem Moment auf den anderen verließ er den Vortex aus Emotionen und fand sich in einem anderen Ort wieder.
 

Von Außen gab Jian für die Anwesenden ein Bild des Schreckens ab. Er schluchzte und weinte bitterlich. Sein Gesicht war verzerrt vom Schmerz eines anderen und seine Augen durchzogen von blutroten Adern. Die Erkenntnis, dass sich das Geschehene mit ihm wiederholte - nur schlimmer - zwang sich ihnen auf. Wahrscheinlich würde er bald Melanies Schicksal teilen. Die hilflosen Zuschauer kämpften mit der Entscheidung, dem Spektakel weiter untätig zuzusehen oder einzugreifen und es abzubrechen.

Gerade als sie entschieden, es zu stoppen, bewegte sich Jians rechter Arm.

Kaum dass die Hand die Sensorkappe berührte, veränderten sich die Anzeigen der Monitore. Sie zeigten keine Hirnströme mehr an, stattdessen stellten sie nur weißes Rauschen dar. Derweil entspannten sich die Gesichtszüge des Jungen und er stellte das Weinen ein. Was immer er gerade tat, es schien zu funktionieren.

Die Ärzte beschlossen, ihn gewähren zu lassen. Dennoch informierten sie endlich ihre Vorgesetzten über die Lage.
 

Ein konstantes Summen tönte in Jians Kopf, unterbrochen von einem unregelmäßigen Klicken. Er spürte die Kälte der Umgebung auf seiner Haut, obwohl er wusste, dass er sich nicht in der Realität, sondern im Kopf von Catherine befand. In ihrer Seelenwelt, wenn man es als solche bezeichnen wollte. Der Geruch von billigem PVC und beißenden Reinigungsmitteln lag in der Luft. Sachte öffnete er seine imaginären Augen. Allmählich gaben die Lider die Sicht auf die Umgebung frei. Er befand sich in einem langen Gang, dessen Boden eine Marmorimitation bedeckte, welche den PVC-Gestank verursachte. Die Wände waren weiß angestrichen und wirkten doch heruntergewirtschaftet. An beiden Seiten des Gangs befanden sich Handläufe. Vereinzelt standen verdreckte Pflegebetten mit schmutzigen Bettpfannen an den Wänden. Die Decke war mit Plastikkacheln verkleidet. Einige von ihnen wurden ihrer Halterung entrückt oder fehlten ganz. In regelmäßigen Abständen unterbrachen Neonröhren das Muster, welche die Ursache des lauten Summen zu sein schienen. Periodisch flackern einige von ihnen.

Jian verfolgte das seltsame Gefühl, nicht allein zu sein.

Er wandte sich immer wieder um, auf der Suche nach einer Entität, die ihn aus den Schatten beobachtete, fand jedoch nichts. Der Gang dieses Horrorkrankenhaus schien endlos zu sein. Trotz Deckenbeleuchtung tauchte er an beiden Enden in die finsterste Schwärze ein, die man sich vorstellen konnte. Was hinter ihr lag, vermochte Jian nur zu mutmaßen.

Ein kalter Hauch streifte seinen Nacken und riss ihn aus seinen Überlegungen. Wie eine unangenehme Präsenz und ein unheilvolles Omen, ließ es ihm Angst und Bange werden. Er konnte förmlich spüren, wie dieser Ort versuchte, sich seines Verstandes zu bemächtigen.

Ein Mark und Bein erschütterndes Kreischen erfasste das Krankenhaus, gefolgt von dem Schmerz erfüllten Weinen eines Mädchens.

“Hallo?!”, rief er in die Finsternis vor sich.

Keine Reaktion.

Jian fühlte Herzschlag und Puls seines realen Körpers ansteigen. Die Transpiration seiner Schweißdrüsen rann in Bächen an seinem Gesicht herunter. Plötzlich vernahm er schnelle Schritte hinter ihm und wandte sich ihnen zu. “Wer ist da?!”

Nichts.

Seine Frage blieb unbeantwortet.

Jian wusste nicht weiter.

Die Deckenbeleuchtung begann unkontrolliert zu flackern.

Einer Ahnung folgend, wandte sich Jian abermals um. Aus der Finsternis des Ganges leuchtete eine nicht identifizierbare Lichtquelle in seine Richtung. Das kalte Weiß bestrahlte die Silhouette einer menschlichen Gestalt.

Für einen Wimpernschlag verschwand sämtliches Licht.

Sofort danach kehrte es wieder.

Die Silhouette war ihm nun um einiges näher gekommen.

Das gleiche Schauspiel wiederholte sich.

Wieder verkürzte sich der Abstand zu der Gestalt.

Noch einmal.

Inzwischen trennte sie nur noch wenige Meter von Jian. Erst jetzt war es ihm möglich, ihre Einzelheiten auszumachen, da ihn noch immer die Lichtquelle blendete. Es handelte sich um eine Frau. Vermutlich eine Krankenschwester. Dieser Schluss drängte sich anhand ihrer Kleidung auf, deren Merkmale er schwach erkennen konnte.

“Hallo?”

Das Spiel mit der Beleuchtung wiederholte sich ein weiteres Mal.

Als das Licht wiederkehrte, waren sowohl die Frau als auch die Lichtquelle in der Ferne verschwunden.

Jian machte eine Kehrtwende und bereute dies sofort.

Direkt vor ihm stand die Krankenschwester und offenbarte ihm ihr verzerrtes Äußeres. Die Frau - wenn man dieses Ding als eine solche bezeichnen wollte - schien vollkommen verdreht. Ihr Kopf war ihm abgewandt, sodass er das hintere Deckhaar sah, ihr Torso zeigte jedoch zu ihm. Unter der Hüfte folgte eine weitere Windung ihres Körpers, sodass alles, was bei einem Menschen hinten sein sollte, nun vorn war, während der Rest um hundertachtzig Grad in die falsche Richtung zeigte.

Was wollte dieses Gräuel von ihm?

“Chiangshi”, rief Jian verängstigt, da ihn die Erscheinung an diese Art von bösen Geist aus der chinesischen Folklore erinnerte. Ein Zombie, der die Lebensenergie seiner Opfer konsumiert, indem er ihre Körperteile frisst.

Ängstlich ging er langsam rückwärts.

Begleitet von markerschütternden Knacken und Brechen, rückten sich die verdrehten Körperteile der entarteten Krankenschwester zurück in ihre natürlichen Positionen. Schwarze Leere starre Jian an, da wo eigentlich Augen sein sollten. Die Kreatur streckte ihre Arme aus und versuchte, ihr Gegenüber zu packen. Kurz bevor ihr es gelang, durchstieß eine große, mit Klauen bewehrte Hand die Finsternis hinter ihr und ergriff sie. Bohrte ihre Krallen tief in ihr Fleisch, sodass ihr Blut aus den Wunden quoll und auf dem Boden auftropfte. Die Kreatur riss ihren Mund auf und protestierte mit gurgelnden Lauten, wärend noch mehr roter Saft austrat. Daraufhin zerrte sie die Hand in die endlosen Weiten des Ganges. Auf dem Boden verblieb eine Spur aus Blut, welche dampfende Löcher in das PVC äzte.

Jian, der sich derweil vor Schreck auf den Hosen gesetzt hatte, rutschte einige Meter rückwärts, bis er sich aufrichten und in die entgegengesetzte Richtung rennen konnte. Wo dieser Gang hinführte, war ihm herzlich egal. Hauptsache weg von diesem Grauen!
 

“Das ist nicht real!”, sprach sich der Asiate unentwegt Mut zu, als er den nicht enden wollenden Korridor entlang rannte. “Das ist nicht real!” Er wollte es solange wiederholen, bis er es endlich glaubte. “Ich bin im Kopf eines anderen. Das ist nicht real!” Ob es ihm gelingen würde, nachdem was er eben gesehen hatte, war fraglich.

“Gehe in ein Zimmer!”, befahl ihm aus heiterem Himmel eine vertraute Stimme. Sie schien von überall gleichzeitig zu kommen.

Verunsichert blieb Jian stehen. “Melanie? B-Bist du das?”, fragte er.

“Wir haben keine Zeit!”

“Melanie?”

“Ja, ich bin es.”

Diese teilnahmslose Stimme war unverkennbar.

“Wo bist du?”

“Keine Zeit! Geh in ein Zimmer! Dort können sie scheinbar nicht rein.”

“Wer?”

“Die Krankenschwestern.”

“Wieso nicht? Das ergibt keinen Sinn. Sollen die nicht die Kranken pflegen?”

“Es muss keinen Sinn ergeben. Tue es einfach.”

Jian folgte der Anweisung und öffnete die nächstgelegene Tür. Er durchschritt sie und schloss sie umgehend hinter sich ab. Danach sah er sich in dem Raum um. Er befand sich in einem luxuriösen Einzelzimmer. Nicht weit von ihm stand eine Kommode. Er umklammerte sie und wuchtete den Einrichtungsgegenstand unter Einsatz all seiner Kräfte vor die Tür, durch die er das Zimmer soeben erst betreten hatte, nur um sich etwas sicherer fühlen zu können. “Wo bist du?”, fragte er Melanie anschließend.

“Ich weiß es nicht genau”, antwortete die Psionikerin. “Wieso bist du hier? Ich dachte, du kannst nur in Maschinen eindringen?”

“St-Streng genommen ist auch der Mensch nur eine Maschine”, erklärte Jian.

“Bitte beantworte meine Frage.”

“Die Ärzte haben wohl Panik bekommen, als keine Hirnaktivität von dir zu messen war. D-Du hast es also wirklich getan? Eine Geistesverschmelzung. Warum hast du das gemacht?”

“Die mentale Barriere dieses Mädchens schien unüberwindbar. Ich bin von Außen nicht an sie herangekommen. Sie hat mich immer wieder aus ihrem Kopf rausgeschmissen. Deshalb habe ich eine etwas drastischere Maßnahme ergriffen und mich vollständig in ihren Verstand begeben. So kann sie mich nicht so einfach abstoßen."

“Bist du vollkommen bescheuert?!” Jian verfiel allmählich in sein Mission Operator Alter Ego, während er mit ihr sprach. “Weißt du, wie gefährlich das ist, was du da machst, du blöde Kuh? Was ist, wenn du nicht mehr zurück findest?”

“Du hast doch das gleiche gemacht.”

“Ich bin hier, um dich zurückzuholen, verdammt! Also wo bist du?”

“Ich bin hier noch nicht fertig!”

“Rivera wird das gar nicht-”

“Sei mal bitte leise.”

“Ich bin ganz bestimmt nicht leise.”

“Halt deine verdammte Fresse!”, übertrug sie ihm mit energischer Stimme.

Die ungewohnte Ausfälligkeit schockierte Jian genug, dass er tatsächlich inne hielt.

“Hier ist etwas…”

“Melanie?”

“Es hat mich gefunden!”

“Was hat dich gefunden?”

“Ich muss hier weg! Ich melde mich wieder.”

“Melanie!”

Jian rief wieder und wieder ihren Namen.

Aber er erhielt keine Antwort mehr.

Er überlegte, was er hier noch tun konnte.

Plötzlich wurde er von einem lauten Poltern von irgendwo hinter der Tür aus seinen Gedanken herausgerissen. Was immer es war, es kam näher. Ohne einen Fluchtweg entschloss er sich, die Suche nach Melanies Bewusstsein für den Moment aufzugeben. Er sammelte seine geistige Kraft und konzentrierte sich darauf, diesen Ort zu verlassen.

Im nächsten Moment öffnete er in der Realität die Augen und sah sich alsbald der nächsten unangenehmen Situation ausgesetzt.
 

~~~
 

Trainingsraum
 

Skeptisch beäugte Merrill das Geschehen. Victor war fleißig zu Werke gegangen, nachdem der erste Schock ausgestanden war. Unter den Geräten des Trainingsraums befanden sich drei Trainingspuppen. Victor trug sie zusammen und stellte sie in einer Reihe nebeneinander im Abstand von etwa einem halben Meter auf. Bei diesen Objekten handelte es sich prinzipiell um einen künstlichen menschlichen Oberkörper, der auf einer biegsamen, widerstandsfähigen Säule angebracht war und durch einen breiten Sockel Standfestigkeit verliehen bekam. Dennoch erinnerten diese Dinger Merrill an das letzte Mal, als sie stundenlang in einer Boutique verbrachte.

“So, das war die letzte”, verkündete der Schwarzhaarige seltsam stolz, nachdem die letzte Trainingspuppe in Position gebracht worden war.

“Was wird das, wenn's fertig ist?”, erkundigte sich Merrill nach dem Sinn dieser Scharade.

“Ich möchte, dass du versuchst, diese Druckwelle zu erzeugen. Wenn du das hinbekommst, wäre das echt ein Mehrgewinn.” Er setzte sein übliches schelmisches Grinsen auf. “Und ich will nicht nochmal als Ziel herhalten.”

“Echt schade!”

Victor ging zur Seite und sah Merrill erwartungsvoll an.

“Und jetzt?”

“Leg los.”

“Einfach so?”

“Ähm… ja.”

“Willst du nicht irgendeine lange Rede halten, wie ein alter Kung Fu Meister in einem Martial Arts Film?”

“Hatte ich eigentlich nicht vor. Aber wenn du darauf bestehst…” Der Schwarzhaarige atmete ein und aus und sprach dann mit dramatischer Stimme weiter. “Meine Schülerin, konzentriere dich! Gehe in dich und finde dich selbst. Sammele dein Ki und konzentriere dich auf die Aufgabe vor dir.”

“Du bist so ein Spinner!”

“Und als Bezahlung verlange ich deine Unterwäsche!”

Merrill sah Victor skeptisch an.

“Jian hätte das verstanden…”

Als ob sie die Anspielung auf den Herrn der Schildkröten aus Dragonball nicht verstanden hätte… Das war einfach nur nicht witzig!

Scheiß drauf, dachte sie.

Merrill brachte sich vor der ersten Trainingspuppe in Stellung. Sie versuchte, sich an das Gefühl der Wut zu erinnern, welches der ersten Anwendung ihrer neuen Fähigkeit vorausgegangen war. Merrill öffnete den Mund und begann zu schreien.

Ein schmerzhaft vertrautes Kreischen zwang Victor in die Knie, während er sich verzweifelt die Ohren zuhielt.

Als Merrill es bemerkte, stellte sie sofort das Schreien ein. “Entschuldigung!”

“Verdammt, hast du ein Organg!”, kommentierte der Schwarzhaarige ihren Misserfolg, nachdem er wieder aufgestanden war. “Mir klingeln immer noch die Ohren.''

Das konnte doch einfach nicht wahr sein?!

Wieso klappte es nicht?

Merrill wandte sich wieder der Puppe zu.

Das detailbefreite schwarze Latexgesicht starrte sie an, als wolle es sie verhöhnen.

Jetzt bist du fällig, drohte sie dem leblosen Objekt in Gedanken.

Sie startete einen zweiten Versuch. Diesmal funktionierte es. Anstelle von sich gleichmäßig ausbreitendem, ohrenbetäubendem Lärm, schoss eine örtlich begrenzte Druckwelle auf das Trainingsgerät zu und brachte es zu Fall.

“Yes!”, freute sich Merrill, während sie mit geballten Fäusten freudig gestikulierte.

Victor verbuchte dies als Erfolg seiner herausragenden Fähigkeiten als Lehrer und grinste selbstzufrieden.
 

Riveras Büro
 

Die Atmosphäre war mindestens so ungemütlich wie die Laune von Miguel Rivera.

Die Ärzte, welche Catherine zugeteilt waren, hatten dies bereits zu spüren bekommen. Welche langfristigen Konsequenzen ihr Alleingang haben sollte, hatte er noch nicht entschieden. Experimente, die Personal mit einschlossen, hatten ausnahmslos über seinen Schreibtisch zu wandern. Insbesondere, wenn es sich dabei um Ausflüge in psychisch instabile Gehirne handelte! Er hatte sich dazu entschieden, die Übeltäter vorerst vom Dienst zu suspendieren, bis ihm etwas besseres eingefallen war.

Nun lag die Aufgabe, den Scherbenhaufen zu beseitigen, welche seine Untergebenen hinterlassen hatten, in seinen Händen. Jetzt hatte er die Verantwortung für zwei komatöse Frauen, anstelle von einer.

Und was er mit dem Jungen machen sollte, war ihm auch noch nicht klar.

“Wieso haben Sie bei der Sache mitgemacht, Senior Cheng?”, wollte er von seinem Gegenüber wissen.

Während es sich Rivera in seinem Schreibtischstuhl mit ledernem Bezug, Kopfstütze und Armlehnen bequem machte, saß Jian auf einer hölzernen Sitzgelegenheit. Fast als sei er ein unartiger Schüler und ins Büro des Direktors bestellt worden.

“Dr. Barber hat mich gebeten, sofort zu ihm zu kommen”, erläuterte Jian. “D-Da ich bei meinem Problem nicht weiter kam, w-war mir die Abwechslung gerade Recht.” Urplötzlich riss er die Hände wie zur Verteidigung hoch. “Ich habe das nicht als Spaß betrachtet. Ich wollte wirklich helfen. U-Und woher sollte ich wissen, dass Sie diese Aktion nicht genehmigt haben?”

“Sie haben gar nicht darüber nachgedacht, stimmt’s?”, mutmaßte Rivera.

Jian seufzte. “Das stimmt...”

“Können Sie mir erklären, was mit Senorita Cortez geschehen ist?”

“Sie ist i-in den Kopf von dieser Catherine eingedrungen. Ich habe das Gleiche gemacht.”

“Sie haben mit Catherine Kontakt aufgenommen?”

“Nein. Mit Melanie. Ich bot ihr m-meine Hilfe an. Ich hatte aber das Gefühl, dass sie meine Hilfe gar nicht will. Obwohl dort alles voll ist mit Monstern…”

“In Catherines Kopf?”

“Ja. Ein V-Verteidigungsmechanismus. Wie ein Virenscanner. Greift alles an, was eindringt. Ähm… denke ich zumindest.”

“Können Sie einschätzen, ob Senorita Cortez Erfolg haben wird?”

“Wenn Sie mich fragen, kann sie froh sein, wenn sie da wieder herausfindet."

Rivera atmete durch. Sein Blick fiel auf seinen Zigarrenkasten, welcher außer Sichtweite seines Besuchs in einem Fach unter der Tischplatte lag. Jetzt könnte er durchaus eine vertragen. Oder zwei. Aber das war ungesund und er wollte aufhören. “Und wenn Sie wieder da rein gehen und ihr helfen?”

Jians Augen weiteten sich bei dem Gedanken an die Schrecken, die er in Catherines Kopf gesehen hatte. “S-Sie wollen, dass ich da wieder reingehe?”

“Ich kann einen anderen finden, wenn es zu viel für Sie ist.”

Jian fasste einen Entschluss. “Das wird nicht nötig sein!” Das war die Gelegenheit, dem Team aktiv zu helfen. “Ich mache es!”

Überrascht zog Rivera die Augenbraue hoch.
 

Begleitet von weiterem medizinischen Personal, war Jian zurück in den Beobachtungsraum gegangen und erneut in Catherines Seelenwelt eingetreten. Der Schmerz und die Emotionen wurden bald zur Gewohnheit. Mit zunehmender Exposition entwickelte er mehr Toleranz. Es war trotzdem kein Spaziergang im Park und eine Qual, wieder zu dem Ort vorzudringen, an dem er zuvor gewesen war.

Als es ihm endlich gelungen war, gab es von den Geräuschen von vorhin keine Spur.

Welch Glück!

Der Gestank des PVC und das Klicken der flackernden Neonröhren blieb ihm jedoch nicht erspart. Der Boden war übersät mit Müll und alten Zeitungsblättern, auf denen nur unverständliches Gekrakel stand. Gelegentlich fand sich das eine oder andere verdreckte Pflegebett. Eine Weile wandelte Jian durch den endlosen Korridor. Was sollte er auch sonst tun? Umkehren und in die entgegengesetzte Unendlichkeit hineinlaufen?

Wie in einem Traum verloren Zeit und Raum hier ihre Bedeutung.

Er wusste nicht, wie lange er umhergeirrt war.

Nur das dieses verdammte Summen der Neonröhren ihn wahnsinnig machte!

Plötzlich hörte er etwas.

“Melanie?”, rief er in die Dunkelheit.

Keine Antwort.

“Catherine?”

Stille.

Ein angestrengtes Atmen näherte sich schnell.

Dazu sein unüberlegtes Rufen zu bereuen, fehlte Jian jetzt die Zeit. Er wusste nicht, was auf ihn zukam, aber er wollte nicht riskieren, dass es ihn erreichte.

Eilig entfernte er sich von der Geräuschquelle.

Die unbekannte Kreatur kam im raschen Tempo näher. Das schwere Atmen wandelte sich in schmerzverzerrtes Stöhnen und blinde Raserei um.

Jian erinnerte sich, dass Melanie sagte, dass die Krankenschwestern nicht in die Zimmer konnten. Vielleicht galt das auch für diese Kreatur. Er brach aus der Spur aus und warf sich gegen eine Tür zu seiner Linken, an der er hektisch rüttelte. Doch sie war fest verschlossen und rührte sich kein Stück. “Geh auf, du Drecksteil!”, fluchte er.

Die Schimpftirade stoppte abrupt, als etwas aus der Dunkelheit hervor geschossen kam und Jian spürte, wie sich ein glitschiger Tentakel um seinen Fuß wickelte. Das Monster zerrte an seinem Bein und brachte ihn zu Fall.

“Hilfe!”, schrie er. Aber wer sollte ihm helfen?

Verzweifelt versuchte er, sich dagegen zu stemmen, in die Finsternis gezogen zu werden.
 

FORTSETZUNG FOLGT…



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Regina_Regenbogen
2022-07-15T22:16:25+00:00 16.07.2022 00:16
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll! Und im Nachhinein ist das Zitat noch viel geiler!
Also, beginnen wir doch bei Victor und Ruby. Ja, auch wenn Victor ein Idiot ist, ich bin seiner Meinung, was den Namen anbelangt. XD Und zu deiner Frage: Ja, das ist definitiv sexuelle Belästigung. :'D Aber Ruby geht ziemlich locker damit um. XD Das T-Shirt von Victor. Er ist einfach so ein herrlicher Depp. Seine Scherze sind so dumm. XD Ich sollte nicht darüber lachen. XD Aber dafür kann man dann auch drüber lachen, wenn er von Ruby eins auf die Mütze kriegt.

Woah! Die ganze Story um Catherine und ihre Abwehrmechanismen!
Und dass dann auch noch Jian dazu kommt! 😍😍😍 Er ist ja mein heimlicher Favorit. Ich shippe ihn jetzt schon mit Catherine! XD Wie er in ihre Seelenwelt eingedrungen ist und das Ganze, was dort passiert! Die Bilder und die Bedeutung dahinter! So cool! 😍😍😍 Ich liebe es! Erinnert mich an Destiny Seelenwelt, nur in richtig böse. XD
Ich finde es so genial, dass Jian nicht nur mit Systemen, sondern auch mit Menschen eine Verbindung herstellen kann! 😍 Und die Beschreibung, was da auf ihn einprasselt von Catherines Seite und wie das von außen aussieht. Das war auch von beeindruckend. Der Horror in diesem Horror-Krankenhaus war genial umgesetzt, wie in einem Horrorfilm.
Haha und vorher dieses Spiel-Problem der KI! XD XD XD Wie kommst du nur auf so geniale Ideen! Und dazu dann der Vergleich zu der KI, als Jian Catherine sieht. Das passte sehr viel besser als im ersten Moment vermutet, denn er verliert sich ja auch in ihrem System.
Aaaah, ich bin so gespannt, wie es weitergeht!!!!!
Der Titel passt auch perfekt, wirklich großes Kino hier! 💖
Antwort von:  totalwarANGEL
16.07.2022 00:33
Na was soll man zu so einem schönen Kommentar noch hinzufügen?

> Und zu deiner Frage: Ja, das ist definitiv sexuelle Belästigung. :'D
Na gut, dann werde ich seine Anmachen zukünftig etwas entschärfen. In die Richtung soll das nicht abdriften. Lustiger Idiot mit Matchozügen, (erstmal) mehr nicht. Aber es gibt eine Erklärung, warum er so ist, wie er ist. Habe nur noch keinen Platz für die Erklärung gefunden.

> Und dass dann auch noch Jian dazu kommt!
Er ist der einzige, der noch nicht besonders viel Screen Time hatte.
> Er ist ja mein heimlicher Favorit.
Victor hat es definitiv bei dir verschissen, was? ^^

> Die Bilder und die Bedeutung dahinter!
Ich wollte schon lange etwas in die Richtung machen. Ich freue mich schon darauf, den Rest zu schreiben.
Antwort von:  Regina_Regenbogen
16.07.2022 00:53
>> Und zu deiner Frage: Ja, das ist definitiv sexuelle Belästigung. :'D
>Na gut, dann werde ich seine Anmachen zukünftig etwas entschärfen. In die Richtung soll das nicht
>abdriften. Lustiger Idiot mit Matchozügen, (erstmal) mehr nicht. Aber es gibt eine Erklärung,
>warum er so ist, wie er ist. Habe nur noch keinen Platz für die Erklärung gefunden.
So war das nicht gemeint! Da ich auch wirklich nicht davon ausgehe, dass er wirklich viel Erfahrung mit Frauen hat, sondern nur eine sehr große Klappe, sehe ich ihm das eh nach. Dass er sie als Arzt verkleidet gebeten hat, sich freizumachen, war da übergriffiger. 😂 Noch ein Grund, dass ich Jian mag.
Allgemein gilt, sexuelle Belästigung ist es dann, wenn die angesprochene Person es als solche empfindet. Merrill wirkt eher genervt, wobei ihre Reaktion schon darauf hindeutet, dass sie die Belästigung darin wahrnimmt. Ich denke, dass dieser Zug ja auch zu Victor und seiner Charakterentwicklung gehört. Bisher haben wir ihn auch nur Merrill gegenüber so erlebt, das lässt die Interpretation zu, dass er halt denkt, so ginge Flirten. 😂

>> Und dass dann auch noch Jian dazu kommt!
>Er ist der einzige, der noch nicht besonders viel Screen Time hatte.
Du weißt doch, ich steh auf Nerds. XD

>> Er ist ja mein heimlicher Favorit.
>Victor hat es definitiv bei dir verschissen, was? ^^
Nein, ich liebe Victor! Er ist so ein herrlicher Idiot! 💖 Und ganz ehrlich, bei einer Frau wie Merrill braucht es jemanden, der sie in den Wahnsinn treibt. XD Ich bin ja, um ehrlich zu sein, immer auf Victors Seite, aber pscht, als Feministin sollte ich das wohl nicht sein. XD XD XD Aber wie gesagt, ich denke nicht, dass er tatsächlich so mit Frauen umgeht, wie er es proklamiert. So quasi eine nach der anderen, Hauptsache flachgelegt. Er ist halt ein hormonaufgepumpter Jugendlicher und gerade gegenüber Merrill macht er erst recht einen auf große Klappe, weil er auf sie steht. Und sie macht ja den Eindruck, als wäre sie voll die Männerfresserin mit ihren sexy Bühnenauftritten, da denkt er wohl, dass er besonders machomäßig auftreten muss, um diese Frau zu beeindrucken.

>> Die Bilder und die Bedeutung dahinter!
>Ich wollte schon lange etwas in die Richtung machen. Ich freue mich schon darauf, den Rest zu
>schreiben.
😍Und ich freue mich darauf, den Rest zu lesen!


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