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Search & Rescue

Halloween-Geschichte
von

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Der verschwundene Junge

Es war das furchtbare, tiefgreifende Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Ja, irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Sie sollten nicht hier sein. Sie sollten zurückkehren, zur Station, zur Wärme, zur Sicherheit. Doch da war Jim, ein kleiner Junge, der vermisst wurde. Er wurde schon seit fünf Stunden vermisst und hier draußen schwand mit jeder vergehenden Minute die Chance, ihn lebend wieder zu finden.

Und dennoch … Cyan stand wie angewurzelt am Rand des Weihers. Hier gingen seltsame Dinge vor sich.

Vielleicht war es nur ein Streich, versuchte der rationale Teil ihres Gehirns, einzuwerfen. Und ja, vielleicht waren es nur ein paar Jugendliche gewesen, die geangelt hatten, um die toten, aufgeschlitzten Fische dann hatten am Ufer liegen lassen.

Der instinktgetriebene, animalistische Teil ihres Gehirns mochte den Anblick dennoch nicht. Er sagte ihr, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging, dass der Wald heute gefährlicher war, als sonst. Da lauerte etwas, verborgen hinter Bäumen, Büschen und Nebelschwaden. Sie wusste nur nicht was.

„Komm, Cyan“, forderte Heath sie auf. Ihr Partner im SAR. „Wir sollten weiter.“

„Ich weiß“, erwiderte sie leise. Noch einmal sah sie zu den Fischen hinüber. Ihr Magen protestierte, aber dennoch folgte sie Heath. Sie nahm ihren GPS-Tracker vom Gürtel, nur um sicher zu gehen, dass er auch funktionierte. Es würde zur Stimmung passen, dass auf einmal technische Geräte ausfielen. Sie hatte genug Horrorfilme gesehen, um zu wissen, dass sowas in dunklen, nebligen Wäldern geschah.

Nun, dunkel war es noch nicht wirklich. Nur klamm. Der Himmel war von dichten Wolken bedeckt und der Nebel zog sich durch den Nationalpark.

Eigentlich sollte es ihr weniger Gedanken machen. Eigentlich …

„Hast du etwa Angst?“, fragte Heath.

Was sollte sie darauf sagen? Sollte sie die Schwäche eingestehen? Sie vertraute Heath, konnte sich aber dennoch nicht dazu bringen. „Es ist ein wenig komisch, das mit den Fischen“, erwiderte sie. „Ekelig. Das ist alles.“

„Wahrscheinlich irgendwelche Jungs.“

Aber wer sollte im Oktober an einem Weiher jenseits der üblichen Wanderrouten angeln? Sie sprach den Gedanken nicht aus, nickte stattdessen bloß: „Ja. Wahrscheinlich.“

Sie waren schon zwei Stunden unterwegs. Mittlerweile waren sie mehr als 3 Meilen von der Stelle entfernt, an der der Junge verschwunden war. Jimmy war laut seinen Eltern einfach mit ihnen wandern gewesen. Sie hatten sich ein ruhiges Halloween gönnen wollen, fern ab von Trick or Treat und etwaigen anderen Feierlichkeiten. Dann war Jimmy mit dem Familienhund vorgelaufen. Er war 11 und wusste, auf dem Weg zu bleiben. Dennoch war hinter einer Biegung nur noch der Hund gewesen und kein Junge.

Es war nicht das erste Mal, das Cyan von so einem Fall gehört hatte. Es gab diese ganzen Gruselgeschichten, die man sich unter SAR-Mitgliedern erzählte. Und natürlich die ganzen Sachen, die man online so las. Tatsächlich aber war es nicht das erste Kind, was sie hier suchte und würde auch nicht das letzte sein.

Sie verstand es dennoch nicht. Wie konnte der Junge einfach so verschwinden? Die Stelle, wo er verschwunden war, war zwar bergig gewesen, aber nicht so steil, das er hätte irgendwo richtig herunterfallen können. Natürlich war da die Möglichkeit eines wilden Tieres, aber dann waren sie ohnehin zu spät.

Die meisten Leute, die sie suchten, waren Erwachsene, die allein auf Wanderungen gewesen waren und sich übernommen hatten. Das passierte häufig. Auf einmal lag jemand mit gebrochenem Fuß irgendwo abgeschlagen in einem Graben. Genau dafür waren sie ausgebildet. Kinder … Ja, mit Kindern war da immer dieses ungute Gefühl.

„Worüber denkst du nach?“, fragte Heath und warf ihr einen Seitenblick zu.

Sie waren schon seit zwei Jahren ein Team. Heath war groß und recht muskulös. Er trainierte. Auch war er ein ausgezeichneter Kletterer. Sie war dafür ausdauernder und hatte zudem ein gewisses Talent dafür Dinge im Wald zu sehen, die sonst niemand sah.

Cyan zuckte mit den Schultern. „Nur, wie der Junge so plötzlich hat verschwinden können.“

Heath schwieg für für einen Augenblick und schien zu überlegen. „Wenn ich ehrlich bin, gehe ich von einem Wildtierangriff aus.“

Das war genau auch ihr Gedanke gewesen. „Dann werden wir nicht viel tun können“, murmelte sie.

„Wahrscheinlich nicht.“

Das Funkgerät an ihrem Rucksackgurt rauschte auf einmal und ließ Cyan zusammenzucken.

„Statusupdate, Team 04. Wo seid ihr?“

Cyan drückte auf den Funkknopf. „Wir sind auf der anderen Seite der Senke.“ Sie gab die Koordinaten durch. „Sind weiter unterwegs Richtung Südwest.“

„Irgendwelche Anzeichen soweit?“, fragte Mindy, die in der Zentrale die Einsatzleitung übernommen hatte.

„Negativ“, erwiderte Cyan.

„Okay. Ende.“ Damit brach Mindy die Übertragung ab.

Cyan tauschte einen Blick mit Heath, dann sah sie sich um. Wäre nur dieser verdammte Nebel nicht, dann ließe sich vielleicht etwas erkennen. Laut den Eltern hatte Jimmy einen hellblauen Schal getragen. er sollte aus dem Unterhold hervorstechen. Doch soweit war hier nichts.

Die Nebelschwaden wurden dichter, sorgten dafür, dass sie immer wieder auf Kompass und Tracker sahen, um sicher zu gehen, dass sie nicht in die falsche Richtung gingen. Das letzte, was sie gebrauchen konnten, war, dass sie sich selbst verirrten. Das würde nur noch fehlen. Nein. Sie mussten zusehen, dass sie irgendetwas fanden oder ihren Radius fertig abdeckten. Immerhin konnte der Junge irgendwo sein. In irgendeiner Richtung. Vielleicht fand ein anderes Team ihn.

Cyan war versucht, nachzufragen, noch einmal ins Funkgerät zu sprechen. Doch dann würde sie nur unnötig die Leitung blockieren. Würde jemand den Jungen finden, gäbe es einen Ruf an alle Kanäle, dass die Suche beendet wäre.

Sie hielt sich sich näher an Heath, der nun ebenfalls angespannt wirkte. Seine Hand lag auf dem Schaft seines Messers – ein einfaches Überlebensmesser, wie es jeder von ihnen hatte. Seine Knöchel traten hervor.

„Was machst du?“, fragte sie.

Überrascht sah er sie an, sah dann an sich selbst hinunter und bemerkte seine Hand. Er ließ los, räusperte sich dann verlegen. „Mir gefällt das hier nicht“, gab er zu.

„Ja“, murmelte sie. „Das ist nicht das Wetter um auf einen Berglöwen zu treffen.“

„Oder einen Bären“, erwiderte Heath.

„Das ist unwahrscheinlicher.“

„Ist aber schon vorgekommen.“

Reden tat gut. Auch wenn sie so weniger hörten. „Vielleicht sollten wir Rufen“, meinte Cyan.

„Ja. Stimmt.“ Für einen Moment blieb Heath stehen und legte die Hände an den Mund. „Jim!“, brüllte er in den Wald hinein. „Jimmy!“

Cyan tat es ihm gleich. Die laut sie konnte rief sie den Namen des Jungens. Dann schwiegen sie, lauschten. Und für einen Moment war der Wald still. Gespenstisch still. Nicht einmal das übliche Rauschen der Bäume war zu hören. Wahrscheinlich nur die veränderte Akustik durch den dicken Nebel …

Dann, auf einmal, ein Laut. Es klang wie ein Schrei, nur lauter, schriller. Unnatürlich. Unmenschlich. Es jagte Cyan einen Schauer über den Rücken. Das Kreischen hielt für mehrere Sekunden an, ehe es verklang und die Stille sich wieder über sie senkte.

Halb wartete sie darauf, dass ein weiterer Schrei kam. Doch nichts. „Was war das?“, hauchte sie. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.

„Wahrscheinlich nichts“, erwiderte Heath. „Wahrscheinlich nur ein Tier. Hasen und so ein Kleinvieh kann ganz schön laut sein. Vielleicht ein Fuchs oder so.“

Ja, Füchse konnten gespenstisch klingen, das stimmte. Dennoch wollte sich ihr Instinkt mit dieser Antwort nicht zufrieden geben. Sie wollte einfach hier weg, wollte zurück zur Station, wo es warm und sicher war. Irgendetwas stimmte an diesem Tag nicht im Wald. So gar nicht.



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