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Der lange Fall

von

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Der Sturz

3. Teil – Der Sturz

 

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.

Und sieh dir andre an: es ist in allen.

 

***

 

Feuer flammten in der nahenden Dunkelheit auf und tauchten den Korso in einen orangenen Schimmer. Aufgeregtes Flüstern drang von den Tribünen, als sich die Türen des Vorbereitungsgebäudes öffneten. Eine laute Fanfare erklang und der erste Streitwagen rollte hinaus auf die breite Straße. Die Tribute aus Distrikt eins funkelten im Licht der Feuerschalen wie Diamanten. Bis hoch zu seiner Präsidentenloge konnte Coriolanus die erregten Ausrufe der Menge hören. Scharfkantig wurde das Licht von den großen Glasscherben reflektiert welche die seidenen Unterkleider der Tribute bedeckten. Sie sahen aus wie ein ungeschliffene Diamanten, die jeden der sie berührte schmerzhaft schneiden würden. Das harsche rote Make-up auf den jugendlichen Gesichtern verstärkte den Eindruck noch. Bereits auf den ersten Blick wurde deutlich, dass die Tribute gefährlich waren. Ihre Schönheit jedoch wurde erst auf den zweiten Blick ersichtlich, verborgen unter der martialischen Erscheinung. Das Publikum schien von diesem unerwarteten Auftakt etwas irritiert, denn es dauerte etwas bis der Applaus einsetzte. Es war definitiv etwas anderes als die harmlos glitzernden Outfits der Vorjahre. Früher einmal hatte Coriolanus Tigris Entwürfe immer als Erster gesehen, doch jetzt wurde er bei der Wagenparade überrascht wie jeder andere auch.

Nach außen hin gab er sich unbewegt, doch er beobachtete genau die Reaktion des Volks entlang des Korso. Die Wagenparade gehörte zu den wichtigsten Momenten der Hungerspiele, denn sie gab den Sponsoren ersten Eindruck der Tribute. Es war einst Tigris gewesen, die ihm die Wichtigkeit dieses Moments bewusst gemacht hatte. Vor unzähligen Jahren war es ihre Idee gewesen die Tribute auf dem Korso zu präsentieren, anstatt sie in einem Käfig im Zoo begaffen zu lassen. Er musste zugeben, es war eine ihrer besten Ideen gewesen. Auf der prächtigsten Straße des Kapitols wurden die Tribute in opulenten Roben gefeiert, ihrer ärmlichen Distrikte völlig entfremdet.

Coriolanus sah die Gesichter der beiden Tribute aus Eins in Großaufnahme auf den Bildschirmen und stellte erfreut fest, dass der Ehrgeiz sie erfüllte. Distrikt eins war zu einem ehrfürchtigen Diener des Kapitols geworden. Ihre wunderschönen aber auch kampferprobten Tribute waren die perfekten Teilnehmer für die Spiele. Jedes Jahr hielt neuerliche Überraschungen bereit, doch am Ende beugte alles sich dem Willen der Spielmacher – und jene wiederum beugten sich seinem Willen. Auch nach unzähligen Jahren der Hungerspiele freute Coriolanus sich noch immer, dass es ihm gelungen war die Hungerspiele zu einem derart mitreißenden Fest werden zu lassen. Caesar Flickerman vertiefte diesen Eindruck noch, als er sich mit Bemerkungen zu der wagemutigen Aufmachung von Distrikt eins und natürlich der verantwortlichen Stylistin überschlug. Die Hungerspiele wurden wahrlich geliebt. Lächelnd applaudierte Coriolanus gemeinsam mit allen anderen für Tigris Arbeit.

Unten auf dem Korso fuhren weitere Wagen auf. Manche Tribute erstrahlten unter der Hand ihrer Stylisten, doch andere wirkten unscheinbar oder gar lächerlich. Coriolanus hatte nie viel übrig gehabt für die Modewelt und diese Tigris überlassen. Doch selbst er erkannte es wenn die Grenze von Extravaganz zu Absurdität überschritten wurde. Er machte sich eine mentale Notiz, dass Distrikt zwölf nach diesen Spielen einen neuen Stylisten benötigen würde. Pitarchus Malander hatte in diesem Jahr eben jene Grenze überschritten, befand er. Die Bergarbeiter Outfits des letzten Jahres waren zwar langweilig gewesen, doch der Versuch sie dieses Jahr als Kanarienvogel, der die Minenarbeiter vor Unglücken warnte, zu verkleiden war gründlich schief gegangen. Er hatte keine Lust mehr sich derartigen Absurditäten gegenüber zu sehen.

Dafür blieb ihm jedoch Distrikt vier positiv in Erinnerung, denn die Tribute in ihren gewagten Outfits aus Netzen erregten viel Aufsehen. Anders als die einschüchternde Aufmachung von Distrikt eins, die Tigris gewählt hatte, wirkten diese Tribute elegant und begehrlich. Das Mädchen war gerade einmal 16, doch ihr Stylist ließ einen das geschickt vergessen. Für diesen Stylisten machte Coriolanus sich ebenso eine Notiz, allerdings von der positiven Sorte. Bereits jetzt versprachen die 63. Hungerspiele spannend zu werden. Es waren nicht nur die Tribute die sich in der Arena bekriegten, sondern auch die Beteiligten auf Seiten des Kapitols die ihre eigenen Spiele spielten, die er im Blick behielt. Stylisten die einander ausstechen wollten um die besten Tribute zu bekommen konnten genauso weit gehen wie ihre Tribute.

Im Anschluss an die Parade gab es wie immer ein rauschendes Fest im Präsidentenpalast um den Auftakt der Hungerspiele zu feiern. Coriolanus selber wählte die geladenen Gäste sorgfältig aus. Die Stylisten der Distrikte, ebenso wie ihre Betreuer, Spielmacher und einige hochrangige Persönlichkeiten. Früh hatte Coriolanus gelernt, dass ein Fest eine ausgezeichnete Gelegenheit war um Menschen zu beobachten. Ausgezeichnetes Essen und viel Alkohol machten die Leute ausgelassen und unvorsichtig. Der ein oder andere hatte auf derartigen Festen schon Äußerungen getroffen die er danach gerne zurück genommen hätte. Im Prinzip, so fühlte er, war diese Party ihr eigenes Füllhorn. Wer die richtigen Verbindungen schloss konnte Ruhm ernten. Wer unvorsichtig wurde war jedoch bald schon kein Teil der Spiele mehr.

Caesar Flickerman und sein Team zogen in der Menge umher um Stylisten und Betreuer zu interviewen. Auf einer großen Leinwand wurde das Live-Programm übertragen, damit auch jeder der Gäste die Interviews verfolgen konnte. Coriolanus saß gerade mit einigen seiner Gäste beisammen, als er sah wie Flickerman Tigris vor die Kameras zog. Ihr Gesicht erschien überlebensgroß auf der Leinwand. Tigris Menschlichkeit war immer mehr der Karikatur einer Katze gewichen. Die meisten fanden ihren Anblick insgeheim unangenehm, vor allem wenn man im Kontrast dazu einen makellosen aber menschlichen Caesar Flickerman präsentiert bekam. Dennoch war sie als Stylistin im ganzen Land angesehen. Aber schließlich galt sie als Mutter aller Stylisten. Eine Königin war nicht so einfach von ihrem Thron zu stoßen. Und eine Snow sowieso nicht, selbst wenn sie ihren Nachnamen längst nicht mehr nannte. Heute hieß sie einfach nur noch Tigris und die meisten schienen zu vergessen, dass sie die Cousine ihres Präsidenten war. Früher einmal hätte es Coriolanus gestört, doch darüber war er längst hinweg. So konnten Tigris Verfehlungen ihm weniger anhaben. Das Getuschel, welches sich jetzt wegen ihrer neuen, noch längeren Schnurrhaare erhob, ignorierte er geflissentlich.

„Die nächste in unserem exklusiven Interview ist die geniale Designerin Tigris, verantwortlich für Distrikt eins!“, donnerte Caesar Flickerman in sein Mikrofon.

Sie war schon immer sehr schüchtern gewesen und dies hatte sich auch nie gelegt. Auch jetzt sah sie unglücklich aus als Flickerman ihr das Mikrofon reichte. Sie bemühte sich um ein Lächeln, doch dabei entblößte sie nur ihre gespitzten Eckzähne. An Enobaria aus Distrikt zwei mochte das wirken, aber an der hageren Tigris, die sicherlich nie jemandem die Kehle zerfleischt hatte, wirkte es grotesk. Aufgrund ihrer Schüchternheit wäre sie beinahe gar nicht bekannt geworden, dachte er, all ihr Ruhm war nur gekommen, weil er für sie eingetreten war. Sie dankte es ihm, indem sie sich in Schönheitsoperationen verlor. Aber auch ein Äußeres wie ein Tiger konnte ihr nicht den nötigen Mut verleihen.

„Meine Liebe, was für ein Auftritt heute, Chapeau! Wir sind alle schon ganz gespannt zu hören, was die Geschichte hinter diesen wahnsinnigen Outfits heute ist! Ich glaube wir sind uns einig, dass das echt verrückt war?“

Tigris Blick wich der Kamera aus als sie antwortete.

„Danke, Caesar. Eigentlich ist es gar keine so große Geschichte“, ihre Katzenohren zuckten verlegen, „ich wollte einfach nur etwas finden, dass die Stärke und Gewalt zeigt die in ihnen ruht, ebenso wie… ah, den Glanz ihres Distriktes. Etwas anderes wagen als in den Jahren davor. Ich glaube wenn alle darüber reden habe ich mein Ziel erreicht.“ Sie lächelte schief, doch es sah wenig einnehmend aus. Sie konnte vielleicht Kleider entwerfen wie keine zweite, aber Worte waren nicht ihre Stärke. Das schien auch Flickerman zu wissen, denn er fragte nicht weiter nach.

„Nun, das ist dir definitiv gelungen! Dann wollen wir mal sehen, was das Volk zu sagen hat, nicht wahr? Was sind wohl die beliebtesten Stylings von dieser Parade?“ Einen Moment legte Flickerman eine kunstvolle Pause ein. „Hier sind die Ergebnisse des Publikumsvotings!“

Das Voting war der erste große Wettkampf der Stylisten. Wer das Volk auf seiner Seite hatte konnte ganz groß werden. Andererseits konnten hier auch Karrieren enden. Auf der Leinwand flammte eine Liste auf. Insgeheim verglich Coriolanus die Liste mit seinem eigenen Ranking. Distrikt vier lag auf Platz eins, ganz wie er es erwartet hatte. Distrikt eins jedoch lag nur auf Platz fünf. Es schien ganz als hätte Tigris Experiment nicht allzu viel Anklang gefunden.

Über den Saal hinweg traf sein Blick kurz den von Tigris, die sich eilig von Flickerman fort geschlichen hatte. Ihre Katzenohren zuckten heftig ehe sie sich abwandte und in Richtung Balkon verschwand. Sie wusste selber nur zu gut was ihre Platzierung bedeutete. Da ihr Verwandtschaftsverhältnis in Vergessenheit geriet hieß das auch, dass er sie wie jede andere Stylistin behandelte. Vielleicht, so überlegte er, war es Zeit ihr einen anderen Distrikt zuzuweisen. Etwas um sie wachzurütteln. Distrikt zwölf war auf dem letzten Platz und würde damit einen neuen Stylisten benötigen. Doch zunächst galt es dem frischen Gewinner des Publikumsvotings zu gratulieren. Es war das erste Mal für den jungen Roan Vainworth, dass er das Voting gewonnen hatte.

Coriolanus stand auf, ein Sektglas zum Toast erhoben.

„Wo ist unser neuer Gewinner?“, rief er laut.

Die Menge teilte sich um einen schlanken Mann mit stechend blauem Haar durchzulassen. Alle Kameras waren auf ihn gerichtet als er sich lächelnd verbeugte. Ein Avox reichte ihm ein Sektglas und der Mann trat zu Coriolanus in die Mitte des Raumes. Anerkennend nickte er dem Stylisten zu.

„Wirklich ausgezeichnete Arbeit bei der Parade. Distrikt vier erstrahlt dank ihrer Arbeit!“

Mit einem Klingen trafen sich ihre Sektgläser.

„Vielen Dank, Sir, es ist mir eine große Ehre.“

Der Stylist verbeugte sich noch einmal, doch Caesar Flickerman moderierte bereits weiter um das siegreiche Outfit für das Publikum zu analysieren.

„Würden sie einen kleinen Spaziergang mit mir unternehmen?“, fragte Coriolanus ihn, doch er ließ keinen Zweifel daran, dass es nicht wirklich eine Bitte war. Sein Gegenüber schien ohnehin nur auf dieser Gelegenheit gewartet zu haben. Es war gemeinhin bekannt was ein Sieg in diesem Wettbewerb bedeutete, abgesehen von dem ausgeschriebenen Preis.

„Selbstverständlich, Sir“, erwiderte er eifrig.

Gemächlich gingen sie durch die Menge hinaus zu den breiten Balkonen. Frische Nachtluft begrüßte sie.

„Das war wirklich eine ausgezeichnete Arbeit, Mr. Vainworth. Ich verfolge ihre Arbeit schon seit den letzten Jahren. In diesem Jahr scheinen sie endlich voll und ganz erkannt zu haben worauf es in den Spielen ankommt.“

Der junge Mann lächelte breit.

„Ich hatte den besten aller Lehrer.“ Er legte eine kleine Pause ein. „Ich habe alle ihre Bücher gelesen. Zunächst wollte ich nur Kleider entwerfen, doch dann habe ich erkannt, dass ich nicht nur mein Handwerk verstehen muss, sondern auch die Spiele wenn ich Erfolg haben will. Scheint so als hätte es sich endlich ausgezahlt.“

Roan Vainworth war definitiv von sich selbst überzeugter. Vermutlich glaubte er sich schlau und gewieft. So mochte Coriolanus die Stylisten am liebsten, denn so waren sie am Leichtesten zu manipulieren. Selbst die Schlausten unter ihnen waren keine Meister des Integrierens.

„Das Publikum haben sie in jedem Fall überzeugt“, stimmte er ihm zu. „Sieht ganz so aus als hätten sie sich eine Beförderung verdient, nach all den Jahren.“

Im Mondlicht schimmerten die Zähne seines Gegenübers als dieser noch breiter grinste. Alles schien genauso zu laufen wie Vainworth es sich erhofft hatte.

„Da muss ich Sie enttäuschen, Sir, aber ich wünsche keine Beförderung. Ich bin mit Distrikt vier vollauf zufrieden. Ihre Tribute sind sehr inspirierend für mich.“ Ein suggestives Grinsen lag auf seinen Zügen als er dies sagte.

Coriolanus hatte bereits geahnt, dass der Mann auf etwas anders aus war. Distrikt vier war definitiv vielversprechend und wenn man sich seine blauen Haare besah, dann schien es ihm zu gefallen.

„Nun, etwas werden sie von mir wollen, Mr. Vainworth. Sprechen sie ruhig frei heraus.“

Der Mann nahm einen tiefen Zug aus seinem Sektglas. Er fühlte sich ihm überlegen und das wollte er allem Anschein nach auskosten. Coriolanus nahm es gelassen und lehnte sich gegen die Balustrade, den Blick auf das Getümmel im Inneren gerichtet. Sollte der Stylist ruhig in seinem Glauben bleiben. Lange musste er jedoch nicht warten.

„Ich bin vollkommen glücklich, Sir. Wie sie gesehen haben kann Distrikt vier alle überstrahlen, selbst Diamanten. Ich glaube nur, dass manch einer meiner Zunft nicht mehr fit für den Wettbewerb ist. Zu bequem geworden ist. Ich glaube es wäre Zeit für Erneuerungen! Wir sollten neue Wege wagen um die Spiele lebendig zu halten.“

Coriolanus hielt den Blick weiter auf die Feier gerichtet als er antwortete.

„Mr. Vainworth, bleiben sie nicht in dem Glauben, dass irgendjemandes Positionen sicher ist. Eines jeden Rolle kann sich jederzeit ändern. Sehen sie nur sich selbst an, sie mussten sich den heutigen Sieg auch erst erkämpfen. Egal ob Diamant oder Kohle, einmal angestoßen ist es leicht über den eigenen Ehrgeiz zu stürzen.“

Aus dem Augenwinkel erkannte er wie der Mann die Lippen schürzte. Hatte er ernstlich gehofft, dass Coriolanus ihm anbieten würde seine Konkurrenten einfach so zu entlassen? Da zeigte seine Unerfahrenheit sich doch deutlich. Doch Vainworth nahm es mit Fassung. Sein Lächeln war zwar schmallippiger geworden, doch er grinste immer noch als er entgegnete:

„Es wäre mir eine größte Ehre wenn ich Ihnen eines meiner… Konzepte anbieten dürfte. Es wird wohl schwer die Spiele so zu prägen wie ihr es getan habt, aber ich würde nur zu gerne meinen Teil beitragen sie zu erhalten.“

„Dann bin ich gewillt Ideen von ihnen zu lauschen, insofern sie es in sich haben die Spiele zu bereichern.“

Vainworth schenkte ihm noch ein letztes Lächeln, dann entschuldigte er sich und verschwand in Richtung Feier. Nachdenklich blickte Coriolanus ihm hinterher. Er war definitiv ein großer Eiferer. In ihm war das Potential zu einer von seinen Schachfiguren zu werden, ohne Frage. Ein wenig zurecht stutzen müsste er ihn noch, doch der Mann war noch in einem formbaren Alter. Gerade als er zurück in den Saal gehen wollte sah er Tigris, welche die Treppe zum Garten empor kam. Abwartend hielt er inne. Tigris schenkte ihm einen düsteren Blick.

„Gratulation zum fünften Platz“, sagte er ernst.

Mit dem Rücken zu ihm hielt sie inne.

„Du musst es nicht noch schlimmer machen“, sagte sie bitter. „Ich weiß wenn ich mit dem Rücken zur Wand stehe.“

„Ich glaube du malst dir die Welt schwärzer als sie ist, meine Liebe. Es ist Pitarchus Malander für den ich keine Hoffnung mehr habe.“

Sie drehte sich zu ihm herum. Er stellte fest, dass ihre Augen in der Dunkelheit zu leuchten schienen. „Was gibt mir die Gewissheit, dass ich nicht die Nächste bin?“

Als sie die Augen schloss verschwand das Glühen. „Manchmal wäre ich gerne zurück in den Schlafzimmern der Großmadame. Damals erschien mir alles so viel einfacher.“ Ein Seufzen kam über ihre Lippen. Mit einem Mal erschien sie Coriolanus alt und müde. Tigris war immer bemüht gewesen sich nichts anmerken zu lassen als sie klein gewesen waren, doch jetzt schien sie sich nicht einmal zu bemühen. Überhaupt war jetzt alles anders zwischen ihnen. Früher hatte er sie ermutigen können sich selbst zu übertreffen, doch nun waren sie einander fremd geworden. Er war mit seinen präsidentiellen Aufgaben beschäftigt und sie schloss sich Tage und Nächte in ihrem Studio ein. Jedenfalls, so befand er, hatte er tatsächlich keinen Nutzen mehr in ihr. Was einst ihre Besonderheit gewesen war, konnten nun auch unzählige andere. Ihre Bilder hatten ihm die Idee gegeben Stylisten einzusetzen, die das Beste in den Tributen zum Vorschein brachten, doch nun übertrafen andere ihre Visionen von einst. Tatsächlich musste er Roan Vainworth in einer Sache Recht geben, es war Zeit für Erneuerung, denn sonst würden sie feststecken bleiben. Aber es sah nicht mehr danach aus als wäre Tigris seine Ideengeberin.

„Ich würde sagen es liegt allein an dir. Du hast die Fähigkeiten, du musst sie nur einsetzen.“

Sie schenkte ihm einen müden Blick, doch sie antwortete nicht mehr, sondern verschwand durch die Glastüren ins Innere.

Wenige Tage später ging ein Sommergewitter ging über dem Kapitol nieder, als Coriolanus von einer Bediensteten in den Salon gerufen wurde. Dort wartete eine triefende Tigris auf ihn, vom Platzregen völlig durchnässt. Selbst die Schnurrhaare klebten feucht an ihren Wangen. Sie stand neben dem kalten Kamin, eine Tasche an sich gepresst. Er hätte mit vielem gerechnet, doch nicht mit ihr. Nicht, nachdem sie so unterkühlt auseinander gegangen waren. Und weil bereits übermorgen die Interviews waren, für die sie sicherlich noch etwas vorbereiten müsste.

Noch bevor er etwas sagen konnte brach es bereits aus ihr heraus:

„Es tut mir leid, dich stören zu müssen, aber ich… ich wusste nicht wohin ich gehen sollte.“ Ihr Blick war auf die Pfütze die sich um ihre Füße herum bildete gerichtet. „Oh, es ist schrecklich!“ sprudelten die Worte aus ihr, „Es ist mein Studio, es ist ausgebrannt! Alles ist vernichtet! Die Arbeit der letzten Monate, alle Entwürfe… alles was ich besaß!“ Sie schien die Tasche noch fester zu umklammern. „Das hier ist alles was ich retten konnte.“ Die Verzweiflung in ihrem Blick war unverkennbar. „Alles ist weg“, hauchte sie noch einmal.

Mit einem Fingerzeig bedeutete Coriolanus der Bediensteten Handtücher für Tigris zu holen, dann trat er schweigend an die Bar in der Ecke. Er ahnte wie sie sich fühlte. Bereits einmal hatte sie alles verloren, im Krieg. Anders als er hatte sie diese Erlebnisse nie ganz hinter sich lassen können. Für Tigris schenkte er einen ordentlichen Schluck Rum ein, für sich selber nur einen kleinen. Er reichte ihr das Glas und führte sie zu einem Sessel. „Setz dich erst einmal und sammel dich“, sagte er nachdrücklich.

Ihre Hand war zittrig als sie das Glas zum Mund führte. In ihrer Nervosität schlang sie den Rum hinunter, ganz wie er es beabsichtigt hatte.

„Besser?“, fragte er scheinbar verständnisvoll.

Sie nickte und trotz all der chirurgischen Veränderungen an ihrem Gesicht konnte er Dankbarkeit in ihren Augen erkennen. Er lächelte leicht und legte eine Hand auf ihre Schulter.

„Also, was ist passiert?“

Tigris holte tief Luft. „Als ich heute Abend in mein Studio kam um die letzten Sachen für Freitag vorzubereiten stand das Hinterzimmer bereits lichterloh in Flammen. Ich konnte nichts mehr tun, nur noch das Wichtigste greifen. Die Stoffe haben angefangen zu brennen wie Zunder.“ Ihr Blick senkte sich auf das leere Glas in ihren Händen und ungefragt schenkte er ihr ein. „Als die Feuerwehr endlich kam war es bereits zu spät. Es ist nichts übrig geblieben als Asche.“

Scheinbar nachdenklich brummte Coriolanus, auch wenn er längst ahnte, was vorgefallen war. Anscheinend war Roan Vainworth noch ehrgeiziger als er ihm zugestanden hatte. Er konnte dem Mann keinen Vorwurf machen. Manchmal musste man die Dinge eben direkt in die Hand nehmen.

„Du vermutest, dass es kein Zufall ist?“, fragte er.

Tigris blickte ihn an. „Nein. Ich befürchte, dass jemand meine Arbeit sabotieren wollte. Jemand der wusste, dass sich das Outfit für die Interviews noch dort befindet.“ Müde rieb Tigris sich das Gesicht und knickte dabei unabsichtlich ein Schnurrhaar ab. „Und es ist ihm auch gelungen“, setzte sie ermattet hinzu. In einem Zug trank sie das Glas leer. Er schenkte ihr wieder nach. Selber nippte er nur an seinem Getränk. Es war immer besser wachsam zu bleiben.

Seine Angestellte kam erneut herein, mit einem Stapel weicher Handtücher für Tigris. Diese trocknete sich dankbar ab. „Es tut mir so leid. Ich fürchte ich habe nichts mehr für das Interview.“ Sie sah ihn elend an.

„Hast du einen Verdacht wer es gewesen sein könnte?“, stellte er die entscheidende Frage.

Doch sie schüttelte nur den Kopf. „Eigentlich könnte es so gut wie jeder gewesen sein“, entgegnete sie matt. „Jeder hat ein Auge auf Distrikt eins geworfen. Bestimmt würde es vielen gefallen mich fallen zu sehen.“ Auch das dritte Glas leerte sie mit einem Zug.

Bevor sie noch allzu betrunken wurde schenkte er ihr nur einen halben Schluck nach. Wenn sie keine Ahnung hatte war das gut. Die Feuerwehr war bestechlich. Es musste nur genug Geld fließen und sie würden nie hinterfragen ob es Brandstiftung gewesen sein könnte. Tigris würde nie erfahren ob ihr ehrgeiziger Konkurrent aus Distrikt vier schuldig war. Er hingegen würde es sich zunutze machen können. So wie er einst Tigris zu Ruhm verholfen hatte, konnte er sie jetzt stürzen. Die Zeit für frisches Blut war gekommen. Der Brand in ihrem Studio war in seinen Augen eine günstige Fügung, die in seine Karten spielte. Roan Vainworth hatte nicht zu viel versprochen, als er ihm seine neuen Konzepte geschickt hatte. Auch nach 63 Jahren war es nie zu spät den Hungerspielen einen neuen Schliff zu verleihen.

„Leider kann ich dir dein Studio nicht wiedergeben“, sagte er ruhig. „Aber du kannst natürlich heute hier übernachten.“

Tigris stürzte den letzten Schluck Rum hinunter und zog eine Grimasse. „Also war es das? Meine Karriere als Stylistin?“ Sie schnaubte. „Snow landet immer oben.“ Ihr Blick wurde hart als er ihn traf. „Das gilt wohl nicht für alle von uns.“

In dem Bestreben die Wogen zu glätten legte er eine Hand auf ihren Arm. „Noch ist es zu früh aufzugeben, meine Liebe. Nur weil ich Präsident bin kann ich nicht alle Probleme lösen, aber ich werde mein Bestes tun, nur für dich.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen blickte er ihr fest in die Augen.

Überzeugt schien sie jedoch nicht. „Versprichst du es mir, Coryo?“

Die Erwähnung seines Spitznamens nervte ihn. Ein erwachsener Mann sollte nicht mehr mit einem derart lächerlichen Namen angesprochen werden. Das hatte er Tigris schon wissen lassen, doch dieser Moment von Verletzlichkeit ihrerseits schien ihm nicht richtig um sie daran zu erinnern.

„Natürlich, so wie einst – Snow landet immer oben.“

Nun endlich erschien ein kleines Lächeln auf Tigris Gesicht. „Das habe ich vermisst“, gab sie zu.

Coriolanus nickte zustimmend, auch wenn er es ganz und gar nicht vermisste. Wenn er etwas versprach, dann sich selbst. Und dieses Mal versprach er sich, dass er nur noch etwas Geduld haben musste. Dann wäre auch dieses Problem erledigt.
 

Irgendwann als seine Gedanken bei Tigris waren musste Coriolanus eingeschlafen sein. Anders als die Meisten hatte er nie Träume über fantastische Wolkenschlösser gehabt, sondern vergangene Erlebnisse besucht. Er war froh, dass er selten träumte. Meist war es seine Mutter von der er träumte. Tigris war neu. Seufzend stand er auf. Blut hatte sich in seinem Mund gesammelt. Mit einem Schluck kühlen Wassers spülte er es herab.

Zu keiner Zeit hatte er bereut sein Vertrauen in Roan Vainworth gesetzt zu haben. Dank ihm war der Wettbewerb der Stylisten intensiver als zuvor geworden. Gleichzeitig war der Mann wie Wachs in Coriolanus Händen. Er hatte es ein wenig bedauert ihn nach den Ereignissen des Jubeljubiläums hinzurichten. Und doch fragte er sich jetzt ob er in Bezug auf Tigris geschickter hätte vorgehen müssen, damit ihr Zorn nicht ihn traf. Sie hatte ihm nichts nachweisen können und doch schien sie gewusst zu haben, dass er sich gegen sie gewandt hatte. Vielleicht, weil er sie nicht genug in Schutz genommen hatte.

„Sei dir gewiss, dass du das eines Tages bereuen wirst, Coryo.“

Das waren ihre letzten Worte an ihn gewesen. Sein Spitzname hatte all ihre Verachtung getragen.



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