Zum Inhalt der Seite

Centuries

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kapitel 4

Karyu war ihm so nah, dass er jeden seiner hektischen Atemstöße als zarten Windhauch auf seiner Wange fühlen konnte. Der gelbliche Schein einer Straßenlaterne ließ die hellen Sprenkel, die sich durch seine Iris zogen, golden schimmern und verlieh dem Braun seiner Augen einen warmen Unterton. Zero hätte sich in diesem Blick verlieren können, der so viel Sanftheit und Zuneigung ausstrahlte. Seine Hand lag auf Karyus Brust, die Finger weit gefächert, und er konnte den schnellen Herzschlag spüren, der dem seinen nicht unähnlich war. Sein Körper zitterte, seine Nerven flatterten, und die Spannung zwischen ihnen war kaum noch zu ertragen. Als sich ihre Lippen trafen, fühlte er sich, als würde der Boden unter seinen Füßen nachgeben, als würde er fliegen und fallen zugleich. Tränen stiegen ihm in die Augen, rannen in einem warmen Rinnsal über seine Wangen und nahmen all die Sehnsucht, all den Schmerz und die Verzweiflung mit sich.

Als er eine kleine Ewigkeit später die Lider hob, war es nicht mehr Karyu, dem er ins Gesicht sah, und gleichzeitig war er es doch. Die sanften Züge einer jungen Frau lächelten ihn an, das dunkle Blond war zu einem natürlichen Schwarz zurückgekehrt und umrahmte in einer komplizierten Knotenfrisur ein herzförmiges Gesicht. Ein Häubchen saß auf ihrem Kopf, passend zum Weiß ihrer veraltet anmutenden Schwesterntracht. Die Augen waren noch immer dieselben, der Schwung der vollen Lippen so vertraut, dass er sie noch einmal geküsst hätte, hätten sie sich in diesem Moment nicht geteilt.

„Du wirst mich nicht verlieren, Liebste. Wir stehen das gemeinsam durch. Egal, was mit unseren Ehemännern ist, wir finden einen Weg, zusammen zu sein.“

Er spürte, wie ein erleichtertes Lächeln seine Mundwinkel hob, obwohl es nicht sein heutiges Selbst war, dem sie ihre Zuversicht schenkte. Ihre Worte waren nur ein Echo, eine Erinnerung an ein Leben, das in weiter Ferne lag. Dennoch atmete er tief ein, roch die Süße reifer Früchte und nahm seine Umgebung mit allen Sinnen war. Er hörte das Schrillen der Zikaden, fühlte die warme Sommersonne und die Schwüle, die seine weiße Schwesternuniform unangenehm an seiner Haut kleben ließ. Und obgleich ihm bewusst war, was im nächsten Augenblick geschehen würde, kam das durchdringende Heulen der Sirenen wie ein Schock. Die Hand seiner Liebe schloss sich um die seine, als sie zu rennen begannen. Die Klinik war nur noch einen knappen Kilometer entfernt, sie konnten das rettende Gebäude bereits in der Ferne sehen, doch sie waren zu langsam. Der ohrenbetäubend laute Knall einer Explosion ließ die Luft um sie herum erbeben. Er wurde in eine feste Umarmung gezogen, die Ausdruck purer Verzweiflung war. Genau wie der Kuss, den sie teilten, als ein gleißend helles Licht, Hitze und Schmerz sie von den Beinen riss, sie einhüllte, bevor alles im endlosen Nichts versank.

 

Zero erwachte, ein trauriges Lächeln auf den Lippen und die Spuren seiner Tränen auf seinen Wangen trocknend.

„Akemi“, flüsterte er in die Stille des Raums den einzigen Namen, der das Vergessen nach dem Tod überdauert hatte. Dieser Umstand hatte ihn bislang nie irritiert, doch jetzt fragte er sich, ob er sich erinnern konnte, weil es ihr beider letztes Leben vor diesem hier gewesen war. Akemi, ein so schöner Name, dass er sich das ein oder andere Mal dabei ertappt hatte, wie er Karyu beinahe so genannt hätte. Er richtete sich auf und rieb sich übers Gesicht, bevor sein Blick auf das Fenster seines spartanisch eingerichteten Hotelzimmers fiel, hinter dem die Welt gerade aufzuwachen begann. Die Sonne schob sich träge über den Horizont und versprach mit ihrer schwachen Helligkeit, dass er noch genügend Zeit zum Dösen hätte. Allerdings kannte er sich nur zu gut und wusste, dass er nach einem Traum wie diesem ohnehin nicht mehr zur Ruhe kommen würde. Es verwunderte ihn eher noch, dass er überhaupt hatte schlafen können, nach all dem, was gestern vorgefallen war. Vermutlich war sein Körper nach mehreren ruhelosen Nächten so ausgelaugt, dass er sich eine dringend benötigte Auszeit genommen hatte, ohne mit seinem Gehirn Rücksprache zu halten. Wenn es nach ihm ginge, könnten die beiden das gern öfter so handhaben.

Behäbig schob er die Beine über die Bettkante und erhob sich. Eine warme Dusche würde ihm guttun und gegen ein Frühstück ohne die Gegenwart seiner Bandkollegen sprach definitiv nichts. Im Gegenteil, er war froh, wenn er Karyu noch nicht sehen musste. Bei dem Gedanken an den Gitarristen stieg erneut das schlechte Gewissen in ihm hoch. Es war ungerecht von ihm gewesen, den anderen gestern einfach so stehenzulassen, aber er hatte nicht aus seiner Haut gekonnt. Und solange ihm Hizumi nicht erklärte, was genau im Aufzug und danach mit ihnen geschehen war, würde er sein Bestes tun, seinem zu groß geratenen Kollegen weiterhin aus dem Weg zu gehen. Karyu hatte die unpraktische Angewohnheit, dass er sich in seiner Gegenwart viel zu schnell viel zu wohl fühlte, und die gestrigen Ereignisse hatten deutlich gezeigt, was passierte, wenn er nur für einen Augenblick unaufmerksam war.

 

~*~

 

Bis auf zwei Geschäftsmänner und ein älteres Ehepaar war der Frühstücksraum ihres Hotels leer, als sich Zero nach einer ausgiebigen Dusche an einen der Tische setzte. Sein Hunger hielt sich in Grenzen und die überschaubare Auswahl der Speisen hatte ihn nicht vom Gegenteil überzeugen können. So hielt er sich vielmehr an seiner Tasse Kaffee fest und stocherte lustlos in der Schale gefüllt mit Reis, etwas Gemüse und gegrilltem Lachs herum. Von seinem Sitzplatz aus hatte er die Lobby im Blick, aber auch dort gab es nichts Interessantes zu sehen. Die meisten Gäste schienen noch zu schlafen – verdenken konnte er es ihnen nicht.

 

Er lehnte sich etwas zur Seite, um an sein Portemonnaie heranzukommen, das in seiner hinteren, rechten Hosentasche steckte. Unschlüssig drehte er es in den Händen, legte es beiseite, nur um es keine Sekunde später wieder an sich zu nehmen. Seufzend trank er einen großen Schluck seines Kaffees und schloss für einen langen Moment die Augen. Wollte er das nun wirklich tun?

Er hörte, wie sich die Aufzugtüren öffneten und sich ihm nur allzu vertraute Schritte näherten. Ein Lächeln, das sich nicht entscheiden konnte, ob es besiegt oder triumphierend sein wollte, legte sich auf seine Lippen. Die Frage hatte sich soeben von selbst beantwortet, wem wollte er also noch etwas vormachen? Sein Verlangen war ohnehin stärker als seine Vernunft – wie so oft. Langsam klappte er das Leder auf, zog ein gräulich braunes Quadrat aus einem versteckten Reißverschlussfach und entfaltete es vorsichtig. Die Kanten waren bereits derart dünn, dass sich an einigen Stellen Risse im Papier zeigten, und auf den ersten Blick war lediglich das etwas unscharfe, körnige Foto einer jungen Frau zu erkennen. Die Bildunterschrift war verblasst, aber Zero musste sie nicht lesen können, um zu wissen, was dort geschrieben stand.

«Oberschwester Shiroda Akemi bei der feierlichen Einweihung der neuen intensivmedizinischen Abteilung»

Er lächelte und strich mit dem Zeigefinger vorsichtig über das Gesicht der Frau, als würde ihr Bildnis zu Staub zerfallen, würde er zu viel Druck ausüben.

 

„Wer ist sie?“

Zero sagte nichts, war nicht einmal zusammengezuckt, als sich Hizumi ihm gegenüber hingesetzt und ihn angesprochen hatte. Seine Augen lagen unverwandt auf dem Foto, während mehr und mehr Details seines Traums aus der tiefe seiner Erinnerungen aufstiegen. Wenn er sich anstrengte, konnte er beinahe wieder das Kamelienöl riechen, nachdem Akemis Haare immer geduftet hatten. Ein winziger Luxus inmitten des Krieges, den sie sich nie hatte nehmen lassen. Er hob den Blick, sah Hizumi für einen langen Moment in die Augen, bevor er wortlos den Zeitungsausschnitt herumdrehte und ihm zuschob.

„Ist das …?“, wisperte sein Gegenüber und er hätte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen müssen, um den Unglauben zu hören, der in seiner Stimme mitschwang.

 

„Karyus früheres Ich, ja. Die Ähnlichkeit ist unglaublich, nicht wahr?“

 

„Ja.“

 

Unter anderen Umständen hätte er Hizumis Einsilbigkeit und die Verblüffung, die ihm noch immer ins Gesicht geschrieben stand, unterhaltsam gefunden. Gerade zauberten sie ihm jedoch nur ein müdes Lächeln auf die Lippen, bevor er sich wieder seinem Kaffee widmete.

 

„Akemi war meine Vorgesetzte. Wir waren OP Schwestern, kannst du dir das vorstellen?“ Nun schlich sich ein ehrliches Lächeln auf Zeros Züge.

 

„Ihr wart beide …?“ Hizumis Augen weiteten sich und seine Mundwinkel zuckten, als könnten sie das anzügliche Grinsen kaum noch zurückhalten.

 

„Was? Krankenschwestern? Frauen?“ Zeros Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als er mahnend den Zeigefinger hob. „Ich weiß, was in deinem nicht jugendfreien Hirn gerade vor sich geht, und ich rate dir, solche Gedanken zu unterlassen.“

 

„Leichter gesagt als getan“, nuschelte der Sänger, verzichtete jedoch auf weitere, unpassende Einwürfe. „Erzählst du mir mehr?“

 

„Was willst du wissen?“

 

„Alles.“

 

Zero versteckte ein Schmunzeln hinter dem Rand seiner Tasse. Im Regelfall war ihm Hizumis notorische Neugierde unangenehm und brachte ihn schneller aus der Fassung, als ihm lieb war, aber gerade spielte sie ihm prima in die Hände. Wer wäre er also, dem Sänger diesen kleinen Wunsch nicht zu erfüllen?

 

„Unsere Männer waren im Krieg, wie so viele zu dieser Zeit, und Akemi und ich versorgten neben den regulären Patienten hauptsächlich Opfer der unzähligen Fliegerbomben oder Verwundete, die direkt von der Front zu uns geschickt wurden. Zugegeben, für uns war es weniger schlimm, als für die vielen Lazarettschwestern, aber dennoch. Wenn du so viel menschengemachtes Leid siehst, macht das etwas mit dir.“ Zero schüttelte den Kopf, bevor er sich noch gänzlich in seinen Erinnerungen verlor. „Aber so herausfordernd die Zeit in der Klinik auch war, ich erinnere mich daran, dass ich mich nie zuvor lebendiger gefühlt habe.“

 

„Wie seid ihr gestorben?“

 

Bei jedem anderen hätte ihn die Direktheit dieser Frage überrascht, ja, womöglich auch verärgert, aber er kannte Hizumi und seine Eigenarten mittlerweile gut genug, dass er nichts anderes von ihm erwartet hatte.

 

„Wir arbeiteten in der Daiichi-Klinik in – Nagasaki.“

Es dauerte einige Sekunden, bis Hizumi begriff, was er ihm gerade erzählt hatte, und das fassungslose Entsetzen in seinem Blick, als er die Fakten zusammenzählte, schmerzte tief in Zeros Brust.

„Ja, die Atombombe“, er lächelte schwach, „Es war der 09 August 1945, ein Donnerstag. Ich hatte tags zuvor die Nachricht erhalten, dass mein Mann schwer verwundet worden war und in Kürze in ein Krankenhaus in der Nähe von Tokyo verlegt werden würde, um dort weiterbehandelt zu werden. Ich weiß noch, wie aufgewühlt ich war. Einerseits war ich froh gewesen, nach all den Monaten der Ungewissheit endlich ein Lebenszeichen von ihm erhalten zu haben, aber andererseits war da Akemi, die ich um nichts in der Welt verlieren wollte. Denn wie hätten wir noch zusammen sein können, wenn mein Mann erst wieder hier sein würde? Es hatte so lange gedauert, bis wir zu unserer Liebe stehen konnten, weil wir uns unseren Männern verpflichtet fühlten, Gefühle für sie hatten. Ihr Einsatz an der Front war wie unser Befreiungsschlag gewesen, so schrecklich sich das anhören mag. Doch diese Nachricht hatte alles ins Wanken gebracht, was Akemi und ich uns aufgebaut hatten.

Wir waren auf dem Weg in die Klinik gewesen, als ich ihr von dem Telegramm erzählt hatte. Ich weiß noch, wie erleichtert ich war, als Akemi mir Mut zugesprochen hatte. Sie war sich so sicher gewesen, dass wir auch diese Herausforderung überstehen würden, würden wir nur zusammenhalten … Dann detonierte die Bombe über unseren Köpfen.“

Zero verstummte, hatte während seiner kurzen Erzählung das Foto wieder an sich genommen und lächelte traurig auf die junge Frau herab.

„Sie war immer so zuversichtlich gewesen, ganz anders als ich.“

 

„Manche Dinge ändern sich wohl nie.“

Hizumi lächelte ihn an, als er den Kopf hob, und ohne sein bewusstes Zutun begann er, diese Geste zu erwidern.

 

„Scheint so.“ Zeros Lächeln verblasste, als er aussprach, was ihn nach jeder Erinnerung an ein früheres Leben quälte. „In jedem Leben fühlt es sich so an, als würde ich dafür bestraft werden, Glück zu empfinden. Kaum finde ich meine Liebe, wird sie mir wieder genommen, und falls uns doch einmal mehr Zeit vergönnt ist, verliere ich sie, sobald ich ihr zu nahekomme.“
 

„Ist das der Grund, weshalb du Karyu und dich in diesem Leben so quälst?“

Zero sagte nichts, doch der Schmerz in seinem Herzen musste ihm ins Gesicht geschrieben stehen, denn Hizumis leises Seufzen klang weniger frustriert, als er in dieser Situation erwartet hätte.

„Ich verstehe.“
 

Er musste den Blick abwenden, um sich zu sammeln. Für einen langen Moment kehrte Stille zwischen ihnen ein, bis Zero sich soweit wieder unter Kontrolle hatte, dass er sein Gegenüber ansehen konnte.
 

„Wo kommt dieser skeptische Ausdruck auf deinem Gesicht so plötzlich her?“

 

„Es wundert mich nur …“ Hizumi summte überlegend und rieb sich übers Kinn. „Ich war bislang davon ausgegangen, dass zwischen euren Leben deutlich mehr Zeit liegen würde, aber das sind gerade einmal …“

 

„Vierunddreißig Jahre, wenn man von meinem Geburtstag ausgeht.“

 

„Ist das nicht eigenartig?“

 

„Was fragst du mich das? Ich habe nie behauptet, ein Experte zu sein.“

 

„Wie bist du zu dem Zeitungsfoto gekommen?“

 

„Normalerweise erinnere ich mich nie an spezifische Details aus meinen früheren Leben. Ich weiß nie, wo wir gelebt haben oder wie unsere Namen waren. Aber die Erinnerung an Akemi … Ich wusste, dass wir in Nagasaki lebten, wie sie hieß, selbst in welchem Viertel wir gewohnt haben. Die Erinnerungen waren so lebendig, dass sie mir keine Ruhe ließen, also hab ich recherchiert. Du kannst dir sicherlich vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich tatsächlich fündig geworden bin.“

 

„Nein, um ehrlich zu sein, kann ich das nicht.“ Hizumi legte den Kopf schief, beinahe wie ein Vogel, der versuchte, den seltsamen Menschen ihm gegenüber zu verstehen, und musterte ihn.

In Momenten wie diesen fiel Zero verstärkt auf, wie übernatürlich sein Freund wirken konnte, ohne es darauf anzulegen. Er war zu still, der Blick zu intensiv – ein Raubtier, das seine Beute fixierte. Ein Schauer rann ihm über den Rücken und die feinen Härchen auf seinen Unterarmen richteten sich auf, als hätte sich die Luft zwischen ihnen elektrostatisch aufgeladen.

 

„Das – habe ich auch nicht wirklich erwartet“, murmelte er und konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, seine Augen eingeschüchtert abzuwenden. Doch so schnell dieser unangenehme Moment gekommen war, so schnell war er wieder vorbei, als Hizumi die Hände aneinander rieb und aufstand.

 

„Ich hol mir was vom Buffet, Geschichten machen mich immer so hungrig.“

 

Zero wusste nicht, ob er gekränkt oder froh über die mangelnde Empathie des anderen sein sollte, entschloss sich schließlich dafür, diese Tatsache ohne Wertung hinzunehmen. Hizumi war nun mal, wie er war, und ausschweifende Gefühlsbekundungen lagen nicht in seiner Natur. Außerdem war es weder Mitgefühl noch Empathie, die er von ihm brauchte.

 

Als der Sänger beladen mit einem vollgepackten Teller und einem Kännchen Tee an ihren Tisch zurückkehrte, sah er sich mit einem forschenden Blick konfrontiert.

„Ja?“, fragte er interessierter als er sich fühlte und kaute mit wenig Elan auf einem Stückchen Lachs herum.

 

„Es gibt einen Grund, weshalb du dich diesmal nicht geziert hast, mir mehr über dich zu erzählen, stimmt’s?“

 

„Du warst auch schon mal schneller.“ Ein berechnendes Lächeln hatte sich auf Zeros Lippen geschlichen, während er langsam die Stäbchen beiseitelegte. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte nickend die Arme vor der Brust.

„Aber ja, ich hab dir nicht aus Spaß an der Freude von Akemi erzählt. Ich will Antworten, Hizumi, und ich will dir nicht wieder alles aus der Nase ziehen müssen.“

Sein Gegenüber presste die Lippen aufeinander und es war eindeutig, dass er mit dem Verlauf ihres Gesprächs alles andere als zufrieden war.

„Schau nicht so. Du warst es doch, der mir beigebracht hat, dass in dieser Welt nichts umsonst ist. Auge um Auge, Zahn um Zahn oder in diesem Fall – meine Vergangenheit gegen dein Wissen.“

 

„Du hast mich reingelegt.“

 

„Nein, so würde ich das nicht nennen.“ Zeros Augen funkelten, während er Akemis Foto behutsam zusammenfaltete und in seinem Portemonnaie verstaute. „Ich bin nur ein guter Zuhörer.“

 

„Ich bin nicht verpflichtet, dir zu antworten.“

 

„Das stimmt wohl, aber dein Stolz lässt es nicht zu, in meiner Schuld zu stehen, hab ich nicht recht?“

 

Hizumi knurrte und für den Bruchteil einer Sekunde flackerte ein blaues Glühen bedrohlich hinter dem Braun seiner Iris.

„Ich kann dir nicht alles sagen.“

 

„Dann sag mir das, was du kannst. Was ist gestern mit Karyu und mir geschehen? Wer hat den Fahrstuhl manipuliert und warum hat niemand im Hotel etwas davon bemerkt? Es war kaum Zeit vergangen, obwohl wir ewig in diesem Aufzug festsaßen, wie ist das möglich? Und was war dieses Leuchten, als du mich berührt hast?“

 

„Stopp, Zero, eines nach dem anderen.“ Hizumi fuhr sich durchs Haar und zog die Stirn kraus. „Wo fang ich an?“

 

„Am Anfang, würde ich sagen, das ist meist das beste“, brummte er genervt über die Hinhaltetaktik, die sein Freund zur Schau stellte.

 

„Würde ich das tun, wäre dein Leben vorbei, bevor ich überhaupt zum Interessanten gekommen wäre.“ Hizumi grinste, verschränkte die Finger auf der Tischplatte und lehnte sich etwas vor. „Wie lange geht dieser ganze Zirkus nun schon?“

 

„Bitte?“ Zero runzelte die Stirn. „Was meinst du?“

 

„Dieser Wiedergeburtshokuspokus. Das wievielte Leben ist das hier?“

 

„Ich …“ Er zuckte mit den Schultern und versuchte angestrengt, die oftmals verwirrenden Erinnerungen in eine zeitliche Abfolge zu bringen. „Ich bin mir nicht sicher. Das Neunte, glaub ich.“

 

„Es ist das Zehnte, um genau zu sein, und das sollte dir eigentlich schon alles beantworten.“

Zero starrte ausdruckslos in Hizumis Gesicht und weigerte sich, diese kryptische Aussage mit einer Nachfrage zu würdigen.

„Verstehst du nicht? Wenn wir davon ausgehen, dass zwischen einer Wiedergeburt und der nächsten immer ungefähr einhundert Jahre vergehen …“

Hizumi machte eine auffordernde Handbewegung, als wollte er ihm die Antwort aus der Nase ziehen. Falten erschienen auf Zeros Stirn, während er ernsthaft versuchte, herauszufinden, worauf der andere hinaus wollte.

 

„Wieso fragst du mich Dinge, die du selbst viel besser weißt?“

 

„Halt mich bei Laune.“ Hizumi zwinkerte und sein breites Grinsen zog sich beinahe von einem Ohr bis zum anderen.

 

„Ich hab keine Ahnung, was du von mir hören willst“, zischte Zero und pflasterte ein unehrliches Lächeln auf seine Lippen, als die alte Dame einige Tische weiter einen deutlich zu interessierten Blick riskierte. Sein Gesichtsausdruck schien trotz aller Mühe nicht freundlich genug gewesen zu sein, denn pikiert wandte sie sich ab, sprach wenige Worte mit ihrem Begleiter und verließ kurz darauf den Frühstücksraum.

 

„Du bist und bleibst ein zauberhaft charmantes Wesen, wenn du es darauf anlegst.“

 

„Wenn du glaubst, dumme Sprüche halten mich davon ab, dich weiterhin zu löchern, hast du dich geschnitten.“

 

„Spielverderber.“ Hizumi pustete in seine Teetasse, was sich für ihn jedoch mehr wie ein genervtes Seufzen anhörte.

 

„Hör auf, mich hinzuhalten, Hizumi“, knurrte er. „Nach allem, was gestern geschehen ist, habe ich ein Recht darauf, endlich mehr als nur Bruchstücke zu erfahren.“ Am liebsten wäre er laut geworden, hätte seine Faust auf den Tisch geschlagen oder wäre seinem Gegenüber wahlweise an die Gurgel gegangen. Nichts davon tat er jedoch. Er hatte in der Vergangenheit zähneknirschend akzeptiert, dass Hizumi sein Wissen wie einen Augapfel hütete. Vielleicht auch, weil er Angst davor hatte, was der andere ihm offenbaren könnte, würde er nur wollen, aber diesen Luxus konnte er sich nicht mehr leisten.

 

„Ist ja schon gut.“ Der andere atmete schwer aus, als müsste er sich für das wappnen, was nun kommen würde, setzte sich jedoch gerader hin und fixierte ihn mit seinen durchdringenden Augen, die ihm einen Schauer über den Rücken jagten.

„Zehn Leben, einhundert Jahre – und in wenigen Tagen wird es ein ganzes Millennium her sein, seit du Karyus Seele an die deine gebunden hast. Eintausend Jahre, Zero, begreifst du nicht, wie signifikant das ist?“

 

Um ehrlich zu sein, verstand Zero überhaupt nichts und versuchte vielmehr, all die Informationen, die ihm Hizumi so nonchalant vorgesetzt hatte, nachzuvollziehen. Es sollten bereits tausend Jahre vergangen sein? Und was hieß hier, ER hätte Karyus Seele an sich gebunden? Eben diese Frage stellte er, nicht ohne seiner Entrüstung Ausdruck zu verleihen.

 

„Du tust gerade so, als hätte ich mir wissentlich Karyus Seele unter den Nagel gerissen. Ich hatte doch keine Ahnung, was mein Versprechen auslösen würde.“

 

„Natürlich hattest du die nicht, du warst und bist nur ein Mensch. Es waren die Mächte, die …“

 

„Mich verflucht haben“, unterbrach er Hizumi knurrend und fühlte erneut die Ungerechtigkeit seiner ganzen Misere in sich aufsteigen.

 

„Du schreibst ihren Taten zu viel Bedeutung zu, glaub mir. Sie haben dich weder verflucht, noch dir deinen sehnlichsten Wunsch erfüllt, deine Liebe auf ewig beschützen zu können.“

 

 „Ach nein? Was haben sie deiner Meinung nach dann getan? Warum dürfen Karyu und ich nicht endlich unseren Frieden finden?“ Zero senkte den Blick und starrte ausdruckslos auf seine Finger, die er so fest ineinander verschränkt hatte, dass die Knöchel weiß und blutleer wirkten.

 

„Weil ihr unterhaltsam seid.“

Sein Kopf ruckte nach oben und sein Blick war mörderisch, als er Hizumi fixierte.

„Sieh mich nicht so an, ich hab nicht behauptet, dass ich gutheiße, was sie tun.“ Sein Gegenüber hob beschwichtigend beide Hände. Zero schnaubte, versuchte jedoch, sein übersprudelndes Temperament zu zügeln. Es war schließlich nicht klug, den Boten für die Taten seiner Herren verantwortlich zu machen.

 

Er öffnete den Mund, hielt jedoch inne, als sich die beiden Geschäftsmänner erhoben und leise miteinander diskutierend zu den Aufzügen gingen. Nun waren sie also allein hier und er fragte sich insgeheim, ob dieser praktische Umstand reiner Zufall war oder Hizumi seine Finger mit im Spiel hatte. Zuzutrauen wäre es ihm, ihn danach fragen würde er jedoch nicht. Es gab schließlich Wichtigeres, das sie zu besprechen hatten.

 

„Okay, Hizumi, ich hab genug von deinen kryptischen Andeutungen. Erklär mir endlich, was Sache ist.“

 

Einen langen Moment sagte Hizumi kein Wort, während er zwei präzise gehäufte Löffel Zucker in seinen Tee gab und so lange umrührte, bis kein Körnchen mehr in der Tasse kratzte. Erst dann sah er ihm wieder ins Gesicht, trank einen Schluck und spitzte überlegend die Lippen.

 

„In Ordnung.“ Einen Herzschlag lang schloss er die Augen, dann sah er Zero derart durchdringend an, dass sein Magen zu krampfen begann.

„Die Mächte sind unsterbliche Wesen, älter als die Zeit, und im Regelfall ständig gelangweilt. Ein Menschenleben ist für sie nichts weiter als ein Sandkorn in der Wüste, klein, unbedeutend, bis etwas passiert, das ihr Interesse weckt. Dein Versprechen vor fast eintausend Jahren war so ein Ereignis und hätten sie geahnt, dass ihre Einmischung das prekäre Gleichgewicht der Welten aufs Spiel setzt, hätten sie dich damals sterben lassen, ohne dich auch nur eines zweiten Blickes zu würdigen.“ Hizumi hustete, ein derart schmerzvoller Laut, dass sich Zero besorgt nach seinem Wohlbefinden erkundigt hätte, wäre er von seiner Erzählung nicht so gefangen und würde er nicht so dringend die Antworten hören wollen, die nur der andere ihm geben konnte.

„Aber sie haben sich eingemischt, haben dich befähigt, eure Seelen aneinanderzubinden, weil sie sehen wollten, was du daraus machst. Für Jahrhunderte beobachteten sie, bis sich langsam zwei Fraktionen bildeten. Eine Seite, die für dich ist, eine Seite, die dich scheitern sehen will. Schwarz und Weiß, wie die Figuren auf einem Schachbrett. Für die längste Zeit war es ihnen verboten, sich in den Lauf der Dinge einzumischen, war es ganz dir, deiner Liebe und dem Zufall überlassen, wie eure Leben verlaufen.“

 

„Warum konnten wir dann bislang nie ein Leben zu Ende leben? Warum wurde mir meine Liebe wieder und wieder entrissen, kaum hatte ich sie gefunden?“

 

„Hast du schon einmal daran gedacht, dass es einer Seele vorherbestimmt ist, wie viel Zeit sie auf dieser Erde hat?“

 

Zeros Atem stockte und mit einem Mal wurde ihm schrecklich übel. Dieser Gedanke war ihm nie in den Sinn gekommen, aber jetzt, da Hizumi ihn ausgesprochen hatte, wurde ihm plötzlich bewusst, wie aussichtslos sein Streben in all den Jahrhunderten gewesen war.

„Ich hatte also nie eine Chance?“

 

„Nein, so gesehen nicht, zumindest nicht während eurer ersten Leben. Doch dann begann eine Partei, sich nicht mehr an die Regeln zu halten, euch ...“ Hizumi verstummte, atmete schwer.

 

Zero hingegen konnte nichts weiter tun, als vor sich auf das weiße Tischtuch zu starren, auf das Geschirr und das dekorative Blumengesteck, das darauf stand. Die Welt vor seinen Augen verschwamm und sein Hals wurde derart eng, dass er kaum noch Luft bekam. Alles war umsonst gewesen, all sein Leid, all sein Verzicht.

Plötzlich umfasste Hizumi sein Handgelenk so fest, dass sich seine spitz gewordenen Fingernägel schmerzhaft in seine Haut bohrten. Zischend wollte Zero seine Hand zurückziehen, hielt jedoch inne, als er in das blasse Gesicht ihm gegenüber sah.

 

„Diesmal wirst du deine Chance bekommen“, presste der andere zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch und Zero verstand nicht, was auf einmal mit seinem Freund los war.

„Beide Fronten haben Wächter geschickt, um zu beobachten, um die Fairness aufrechtzuerhalten, wenn du so willst. Ich sagte dir bereits, dass ich eingreifen kann, wenn sich die Gegenseite nicht an die Regeln hält.“ Hizumi schluckte. „Und das werde ich auch weiterhin tun, versprochen.“

 

„Aber warum das alles? Wieso sollte mein Schwur, der einzig und allein meiner Liebe gilt, irgendein mystisches Gleichgewicht in Gefahr bringen? Karyu und ich sind nur unbedeutende Menschen, das hast du selbst gesagt. Was ist diesmal anders?“

 

„Ihr seid nicht unbedeutend, ganz im Gegenteil. Karyu … seine Seele, sie ist … unendlich wertvoll … für beide …“

 

„Hizumi!“ Erschrocken war Zero halb aufgesprungen, als sich sein Freund krümmte und erneut zu husten begann. Ein feines, rotes Rinnsal rann aus seinem Mundwinkel, das er hektisch mit einer Serviette fortwischte.

 

„Mach keinen Aufstand“, krächzte er, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, und lächelte ihn an. Die Tatsache, dass seine Lippen unnatürlich gerötet waren und sich ebenso rote Schlieren auf seinen Zähnen zeigten, verhinderte erfolgreich, dass diese Geste auch nur im Ansatz beruhigend wirkte. Dennoch setzte sich Zero wieder, ohne aber den Blick von Hizumi zu nehmen.

 

„Was war das?“

 

„Ich scheine die Geduld der Bosse ein wenig überstrapaziert zu haben.“

 

„Wie meinst du das?“

 

„Ich sagte dir doch schon, dass es Dinge gibt, die ich dir nicht sagen KANN – wortwörtlich.“

 

„Aber …“ Mit geweiteten Augen und leicht offenstehendem Mund beobachtete er, wie sich Hizumi erneut über den Mund wischte, einen Schluck Tee trank, und dann beinahe wieder normal aussah. Nur der verkniffene Zug um seine Augen und seine anhaltende Blässe bewiesen ihm, dass er sich das alles nicht nur eingebildet hatte. „Deine … Bosse haben das gerade getan?“

 

„Dachtest du, das wäre nur eine Ausrede, um dich hinzuhalten?“

Hizumis Worte trafen genau ins Schwarze und beschämt senkte Zero den Blick.

„Du hast es hier mit Wesen zu tun, deren Macht sich dein menschlicher Verstand nicht einmal im Ansatz vorstellen kann.“

 

„Vielleicht ist das so, aber ich kann es zumindest versuchen, um Karyus Willen.“

 

„Nein, das kannst du nicht, glaub mir.“ Hizumi erhob sich, warf die blutbefleckte Serviette unachtsam auf seinen Teller und machte Anstalten, ihn allein hier sitzenzulassen.

 

„Warte!“

 

„Mh?“

 

„Ich … nur noch eine Frage, okay, dann lass ich das Thema fürs Erste auf sich beruhen.“

 

„Es ist genug, Zero. Wir geben später noch ein Konzert und ich würde es bevorzugen, das durchziehen zu können, ohne dass sich meine Lunge in Wohlgefallen auflöst.“

 

„Bitte, Hizumi.“ Zero war niemand, der sich sonderlich leicht damit tat, um einen Gefallen zu bitten, und das schien sein Freund zu wissen, denn nach einem tiefen Seufzen setzte er sich wieder an den Tisch und sah ihm erwartungsvoll in die Augen.

 

„Na schön, eine allerletzte Frage noch.“

 

„Danke.“ Die Anspannung, die in den letzten Minuten seinen Körper regelrecht hatte vibrieren lassen, fiel von ihm ab und hinterließ knochentiefe Erschöpfung. Aber er ließ sich nichts anmerken, während er versuchte, seine wirbelnden Gedanken zu sortieren. „Was war das blaue Leuchten?“

 

„Von allem, was du mich noch fragen könntest, ist es das, was du wissen willst?

 

„Ja.“

 

„Das war nur der Bannkreis, den ich um Karyu und dich gelegt habe.“

 

„Du hast uns also manipuliert.“

 

„Nein, ich hab nur dafür gesorgt, dass ihr keine hässlichen Flecken am Boden des Aufzugsschachts hinterlasst.“

 

„Wie meinst du das?“

 

„Ich sagte doch schon, wenn die Gegenseite unfair spielt, kann ich eingreifen. Es war nur nicht so einfach, einen Gegenfluch zu wirken, weil ich zu weit weg war. Darum auch die zeitliche Diskrepanz, während Karyu und du im Aufzug festgesessen habt.“

 

„Aber …“ Zero schüttelte den Kopf. „Woher kam dann diese eigenartige Vertrautheit zwischen uns, wenn nicht du es warst, der uns beeinflusst hat? Verdammt noch mal, Hizumi, wir hätten uns beinahe gek…“ Im letzten Augenblick unterbrach sich Zero selbst, konnte am wissenden Lächeln seines Gegenübers jedoch  deutlich ablesen, das Hizumi wusste, was er nicht ausgesprochen hatte. Er rieb sich übers Gesicht, wütend auf sich und seine chaotischen Gedanken, die Schuld an diesem Fauxpas waren.

 

Mit einem leisen Summen auf den Lippen erhob der andere sich und er wollte schon protestieren, weil er bei Weitem noch nicht zufrieden mit den Antworten war, die er bislang erhalten hatte. Noch bevor er den Mund jedoch erneut öffnen konnte, hielt Hizumi neben seinem Sitzplatz inne, legte ihm die Hand auf die Schulter und flüsterte verschwörerisch in sein Ohr: „Wenn mich nicht alles täuscht, nennt ihr Sterblichen dieses Gefühl – Liebe. Und so wie es aussieht, scheint es auf Gegenseitigkeit zu beruhen, was? Ich könnte jetzt sagen, ich hab es dir ja gesagt, aber das hebe ich mir für ein anderes Mal auf.“

 

„Du kannst froh sein, dass du die einzige Informationsquelle bist, die ich habe“, knurrte Zero und löste bewusst langsam seine zu Fäusten geballten Hände. Seine Kiefer malten, während er sein Temperament zu zügeln versuchte. So sehr er Hizumi das überhebliche Lächeln aus dem Gesicht wischen wollte, so wenig konnte er es sich leisten, den anderen ernsthaft zu verärgern.

„Beantworte mir noch eine Frage.“

 

Hizumi atmete tief ein, als würde er seine Forderung ausschlagen wollen, schloss eine Sekunde später jedoch den Mund, ohne etwas gesagt zu haben. Das halbe Grinsen war verschwunden und hatte diesem bewegungslos analysierenden Blick Platz gemacht, der ihn stets zu verunsichern wusste.

 

„In Ordnung, was willst du wissen?“

 

„Du behauptest, ein Beobachter zu sein, der so lange tatenlos zusehen muss, bis die anderen gegen die Regeln verstoßen, aber unser Gespräch hat nur zu deutlich gemacht, dass du mehr Freiheiten hast, als du zugibst.“

Hizumis Mundwinkel zuckten, als müsste er sie davon abhalten, sich zu einem Lächeln zu formen. Beinahe glaubte er, so etwas wie Stolz in den dunklen Augen erkennen zu können, bis ein Blinzeln diesen Ausdruck wegwischte, als hätte es ihn nie gegeben.

„Du heißt nicht gut, was die Mächte tun und trotzdem arbeitest du für sie, warum?“

 

„Das kann ich dir nicht sagen.“

 

„Und die Gegenseite? Was wollen sie?“

 

„Denk nach, Zero, ich hab dir bereits alles gesagt, was ich konnte.“

 

Überlegend zog er die Stirn kraus. Sein Herz raste, seine Gedanken taumelten wirr durcheinander und machten es ihm beinahe unmöglich, sich zu konzentrieren, bis sich eine Aussage Hizumis in den Vordergrund drängte.

„… keine hässlichen Flecken am Boden des Aufzugsschachts hinterlasst.“

Seine Augen weiteten sich, als ihm klarwurde, was diese flapsigen Worte tatsächlich zu bedeuten hatten.

 

„Ganz genau.“ Hizumi lächelte schmal und zeigte damit zum ersten Mal seit Beginn ihres Gesprächs so etwas wie Mitgefühl.

 „Ich geh jetzt packen, wir sehen uns später, Zero.“

Mit diesen Worten drehte er sich weg, durchquerte zielstrebig die Lobby und verschwand im Treppenhaus, ohne sich noch einmal nach ihm umgesehen zu haben.

 

„Sie wollen dich töten … uns beide“, wisperte Zero und ballte seine rechte Hand zur Faust, bis sein ganzer Arm zu zittern begann. „Das lass ich nicht zu.“ Ruckartig erhob er sich und verließ den Frühstücksraum. Sein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment platzen und er wusste, dass er eine ganze Weile brauchen würde, bis er alle Informationen in eine einigermaßen logische Reihenfolge gebracht hatte. Trotzdem fühlte er sich seltsam energiegeladen, als hätte er plötzlich nicht mehr nur ein vages Ziel vor Augen. Es gab eine konkrete Bedrohung, kein Krieg, keine Naturgewalten, die ihm Karyu raubten, und er würde alles tun, was es bedurfte, um ihn diesmal zu beschützen. Und wenn das hieß, seinem Freund nicht mehr von der Seite zu weichen, dann würde er auch das tun, egal, was sein Herz dazu zu sagen hatte.

 

~*~

 

Die Luft war angenehm frisch, als er vor das Hotel trat und sich eine Kippe ansteckte. Das Nikotin würde sein angeschlagenes Nervenkostüm hoffentlich soweit beruhigen, dass er für die Show später nicht nur einigermaßen wach, sondern auch funktionsfähig sein würde. Er dachte an Hizumi, an sein schmerzvolles Husten und das Blut und verbat es sich, nun ein schlechtes Gewissen zu haben. Er hatte diese Antworten gebraucht – streng genommen sogar mehr, als er erhalten hatte. Er war nicht schuld, nie schuld gewesen, weil die Mächte ein bösartiges Spiel mit ihm gespielt hatten, und allein dafür hasste er sie noch ein ganzes Stück mehr. Grimmig zog er am Filter seiner Zigarette und hatte gar nicht bemerkt, dass sich jemand neben ihn gestellt hatte, bis er angesprochen wurde.

 

„Wenn du so guckst, kann man richtig Angst vor dir bekommen.“

Zero drehte den Kopf und sah Karyu direkt in die Augen, der es trotz seiner Größe irgendwie schaffte, ihn wie ein kleiner Junge von unten herauf anzusehen. Seine Lippen zierte ein schiefes Lächeln, was in ihm zwei gänzlich widersprüchliche Gefühle aufsteigen ließ. Auf der einen Seite wollte er sich abwenden, am besten noch davonlaufen, und auf der anderen Seite hätte er diese schönen Lippen nun zu gern geküsst. Unnötig zu sagen, dass er nichts davon tat, außer das Lächeln seines Gegenübers vage zu erwidern.

 

„Der Blick galt nicht dir, keine Sorge.“ Er zog sein Feuerzeug aus der Hosentasche, ließ es aufschnappen und hielt seinem Freund die Flamme entgegen, bis auch in Karyus Mundwinkel eine Zigarette glomm. „Na, wie war die Nacht nach dem Spektakel von gestern? Tut mir übrigens leid, dass ich nicht reagiert habe, als du geklopft hast. Ich …“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, ich war zu durcheinander, um mit jemandem reden zu wollen.“

 

„Schon gut. Zu behaupten, ich wäre nicht durcheinander gewesen, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts.“ Karyu zog an seiner Zigarette, blickte für einen Moment in den Himmel, bevor er ihn erneut anlächelte. „Ich wollte nur sichergehen, dass du heil in deinem Zimmer angekommen bist.“

Zero sagte nichts, hob nur vielsagend eine Augenbraue und ließ das Schmunzeln zu, das an seinem Mundwinkel zupfte.

„Ich weiß, ich weiß …“ Sein Freund winkte ab und täuschte er sich, oder waren seine Wangen leicht rot geworden?

 

Bevor die Stimmung zwischen ihnen unangenehm werden konnte, fuhr hinter Zero die elektrische Schiebetür beiseite und spuckte Tsukasa aus, der ihnen freudestrahlend einen guten Morgen wünschte.

 

„Wo du deine Energie herhast, würde ich wirklich gern mal wissen, Tsukatchi“, murmelte Zero und blendete für einen Moment den Redeschwall des Drummers aus, der ohnehin Karyu und nicht ihm galt. Man mochte meinen, die beiden hätten sich Tage und nicht nur Stunden nicht gesehen, so viel wie sie sich zu erzählen hatten. Belustigt schüttelte Zero den Kopf, drückte seine aufgerauchte Zigarette im bereitgestellten Aschenbecher aus und wandte sich zum Gehen.

„Ich geh packen. Wir sehen uns später, Jungs.“

 

„Soll ich dir helfen?“

 

Er stutzte und schaute über die Schulter zu Karyu, der so wirkte, als könnte er nicht glauben, dass diese Frage gerade seinen Mund verlassen hatte.

 

‚Verflucht, legt es der Kerl darauf an, süß zu sein?‘, dachte er halb grimmig, halb verzweifelt und wusste für einen Moment nicht, was er tun geschweige denn sagen sollte.

„Solltest du nicht lieber erst einmal frühstücken? Ich bin schon groß, ich kann meine sieben Sachen auch selbst zusammenpacken.“

 

Tsukasa schaffte es nicht ganz, sein Lachen zu unterdrücken, was von Karyu mit einem derart entrüsteten Seitenblick bedacht wurde, dass Zero beinahe in das Lachen miteingestimmt hätte.

 

„Ich hatte oben noch ein Sandwich von der Tanke. Das hab ich gegessen“, murmelte Karyu lahm und wenn er ehrlich war, tat er ihm beinahe leid. „Vergiss es bitte einfach, okay? War eine blöde Frage.“

 

Zero drehte sich weg, weil er sein Lächeln beim besten Willen nicht mehr zurückhalten konnte. In der Spiegelung der Schiebetür sah er, wie Karyus Gesicht fiel und Tsukasa ihm teils mitfühlend, teils noch immer feixend eine Hand auf die Schulter legte.

 

„Ich brauch zwar keine Hilfe, aber du kannst mir Gesellschaft leisten, wenn du magst? Packen ist immer so eine öde Angelegenheit.“ Er versuchte, seiner Stimme einen desinteressierten Unterton zu verleihen, hätte sich aber gar keine Mühe geben brauchen, denn Karyu wirkte, als hätte er ihm nach dem ersten Satz schon nicht mehr zugehört. Ob er ihm sagen sollte, dass er sowohl die in die Luft gerissenen Arme, als auch den vielsagenden Blick, den er Tsukasa zugeworfen hatte, in der Spiegelung hatte sehen können? Lieber nicht, fürs Erste wollte er tatsächlich Karyus Gegenwart genießen und keinen verschämten Gitarristen in seinem Zimmer hocken haben.

„Was ist, kommst du?“

 

„Bin schon da!“

 

 

~*~

And I can't stop 'til the whole world knows my name

'Cause I was only born inside my dreams

Until you die for me, as long as there's a light

My shadow's over you

 

'Cause I am the opposite of amnesia

And you're a cherry blossom

You're about to bloom

You look so pretty, but you're gone so soon

~*~


Nachwort zu diesem Kapitel:
Neues Jahr, neues Kapitel. :)
Ich hoffe, es gefällt euch. Sagt mir gern, ob ihr Hizumis Erklärungen einigermaßen nachvollziehbar gefunden habt. Einige Fragezeichen dürfen gerne noch über euren Köpfen kreisen, aber so ein bisschen sollte die ganze Sache klarer geworden sein. Wie immer würde ich mich über Feedback und/oder Favoriten tierisch freuen. Ihr wisst ja, das ist meist der einzige Lohn für uns Schreiberlinge. Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Ryo-ki
2023-02-09T08:54:27+00:00 09.02.2023 09:54
Was ist das? Traum, Erinnerung oder doch eine weitere Realität, der nächste Zeitsprung?
Das waren meine Gedanken, als das Kapitel begonnen hat - du siehst, mittlerweile bin ich immer skeptisch, was genau gerade passiert und inwiefern ich der Sache trauen kann. Das ist positiv, denn es bedeutet, dass du überraschen kannst. Selbst wenn manche Dinge vorhersehbar für mich sind, sind es andere überhaupt nicht und diese Balance finde ich gut und wichtig.
Und zugleich ist diese Erinnerung/Traum erneut so schmerzhaft, auch wenn ich ganz eindeutig keinen positiven Ausgang erwartet habe.
Welcher Schauplatz bzw. welche zeitliche Einordnung das ist, hatte ich sofort vermutet, aber ich nehme an, das liegt am Zusammenhang und das eine nicht zu ferne Vergangenheit für mich einfach wahrscheinlicher gewesen ist und damit war dies die erste Möglichkeit.
Ich mag so unglaublich, dass du nicht nur Karyu in der Vergangenheit, am Ursprung des Ganzen als weibliche Figur eingebaut hast, sondern dieses Mal auch Zero, selbst wenn Hizumis Reaktion darauf für mich überraschend gewesen ist. Im Vergleich zu Zero steht dieser ja doch weit über den banalen irdischen Dingen und entsprechend ist so ein langweiliges starres Konzept von normativer Heterobeziehung völlig unbedeutend, hätte ich gedacht. Zumal Karyus Seele ja zu Beginn zu einer Frau gehört hatte. Warum nicht auch Zeros manchmal? Hinzu kommt - und ich glaube, das war der überraschendste Punkt (und irgendwie bin ich jetzt schon weiter gesprungen, als ich geplant hatte) - wieso weiß Hizumi das eigentlich nicht? Er hilft ihnen bzw. versucht es, und zumindest für mich hatte es im 1. Kapitel den Anschein, dass Hizumi auch in der Vergangenheit schon dagewesen ist, nur eben nicht eingreifen durfte und deswegen nichts hatte verändern können. Deswegen bin ich davon ausgegangen, dass er Zeros und Karyus Vergangenheiten kennt, zumindest die Teile, in denen sie sich begegnet sind, vielleicht nicht die jeweiligen Zeiträume in den Leben bis zum Kennenlernen.
Ebenfalls interessant finde ich, wie viele Erinnerungen Zero einholen, wenn er das doch sonst nie tut. Ich nehme an, da steckt noch etwas hinter und warte mal ab, was das sein wird. Bis dahin beobachte ich, wie sehr er sich auch in diesen verliert, obwohl er seine Seele ja direkt um sich herum hat. Ich mag diese Erinnerungen (auch wenn mir die Szenen mit Karyu und Zero direkt selbstverständlich lieber sind), denn sie zeigen weitere Facetten Karyus auf.
Du hast gefragt, ob Hizumis Erklärungen verständlich sind und ich denke, ja. Zumindest fühle ich mich nicht verwirrter als ich an einer solchen Stelle in einer Geschichte erwarte (sprich: es ist noch längst nicht alles beantwortet, aber ein Teil durchaus und das passt zusammen, ob es so bleibt, hängt von der angedachten Intention ab, aber es wirkt nicht unschlüssig). Einzig das mit der Zeitrechnung irritiert mich. Also dass demnächst tatsächlich das Millenium seit dem Beginn erreicht sein soll, wenn doch beim letzten Mal der Abstand kürzer gewesen ist. Aber das hat nichts wirklich mit den restlichen Zusammenhängen zu tun.
Ebenso verstehe ich nicht, warum diese tausend Jahre so wichtig sind, ich kann Zero da absolut verstehen, dass ihn das verwirrt, aber die Antwort gab es dann ja nicht, weil eben nicht alle gleichzeitig gestellt werden können und er sich auf eine andere fokussiert, die ich ebenfalls beantwortet hätte haben wollen.
„Hast du schon einmal daran gedacht, dass es einer Seele vorherbestimmt ist, wie viel Zeit sie auf dieser Erde hat?“ Aber warum werden sie dann jetzt von der einen Seite so Richtung Tod gedrängt. Das hat doch nichts mit der vorherbestimmten Lebensdauer zu tun, denn wäre dem so, dürfte diese doch nicht überlistbar sein (und war Hizumi dann eigentlich auch bei dem Lkw involviert?). Also ich will nicht sagen, dass das mit reinspielt, aber zumindest im Augenblick geht es eindeutig darüber hinaus.
Und habe ich es nicht gesagt, Zero verbietet sich das völlig umsonst. Und trotzdem zögert er später (als er erkennt, dass sie getötet werden sollen und er beschließt, das nicht zuzulassen, selbst wenn es bedeutet, immer in Karyus Nähe sein zu müssen) schon wieder so sehr, obwohl er doch weiß, dass es entweder ohnehin passiert, weil es vorherbestimmt ist oder aber weil da derzeit noch viel mehr Druck gemacht wird. Also ausnutzen, solange es noch geht und dabei vielleicht doch irgendwie durchkommen und mehr Zeit haben.
Ich finde es super, wie du Hizumi leiden lässt, nicht weil er leidet, sondern weil es eben zeigt, dass er nicht nur zurückhält, wie er mag, sondern weil auch er Regeln unterliegt und irgendwann keine andere Möglichkeit hat als sich an diese zu halten. Dass es diesen dann nicht stört, zur Normalität überzugehen, ist ein schöner Zug, denn es gibt kein ewiges Drumherum, die anderen beiden bekommen es nicht einmal mit. Leider hat diese Unterbrechung aber auch dafür gesorgt, dass noch immer nicht klar ist, was an Karyu so besonders ist, aber das ist, wie ich oben schon gesagt habe, für den Zeitpunkt in der Geschichte zu erwarten.
Haha, nur noch eine Frage. Und dann noch eine. Dass Hizumi die letzte nicht beantwortet, war mir völlig klar gewesen. Darauf hätte ich zwar auch gern gehört, was die Wahrheit ist, aber das wäre vermutlich zu früh für eine Enthüllung (ich hoffe aber, das kommt später noch).
Es ist schön, dass Zero sich für den Vorabend entschuldigt, er hätte ja auch einfach so tun können, als hätte er das gar nicht mitbekommen.
Und was für ein schönes Ende, selbst wenn es erst ein Stück der Enthüllung von Karyus sonst gut bedecktem Inneren braucht, damit Zero es dazu kommen lässt. Und jetzt bin ich absolut gespannt, wie das weitergeht.


Zurück