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Centuries

von

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Kapitel 3

„Also …“ Zwei Herzschläge lang zögerte Zero, schob die Zweifel dann aber endgültig beiseite. Jetzt hatte er schon angefangen, da konnte er es auch durchziehen. Leise räusperte er sich, damit seine Stimme nicht verraten würde, wie trocken sein Hals geworden war, bevor er zu erzählen begann.

„Zu dieser Zeit der Entbehrungen lebte ein Dieb, ein Meister seiner Zunft, der nicht nur dem Hunger, sondern auch den Kriegseintreibern seines Fürsten ein ums andere Mal ein Schnippchen schlug. Er war frei und blind in seiner arroganten Annahme, dass er sich immer und überall all das nehmen konnte, was sein Herz begehrte. Essen, Juwelen, kostbare Tuche – es gab nichts, was seinem scharfen Verstand und seinen geschickten Fingern lange verborgen blieb. Bis er eines Tages das Wundervollste sah, das seine Augen je erblickt hatten. Eine Frau so schön wie fallender Schnee, doch ebenso vergänglich. Sie war die Geliebte des Fürsten, unerreichbar für jedermann und zu kostbar, um von seinen gierigen Fingern berührt zu werden. Diese Wahrheit jedoch wurde ihm erst viel zu spät bewusst. So sah er nur die Herausforderung, das Abenteuer und den Ruhm vor sich und dachte nicht an Konsequenzen. Er fasste den Entschluss, ihr den Hof zu machen, und schlich sich im Mantel der Dunkelheit in den Palast, ohne dass er von ihr oder einer der Wachen bemerkt wurde.

Als Zeichen seiner Huldigung brachte er ihr einen zarten Kamm aus Jade, aber als er in der folgenden Nacht wiederkam, lag dieser unberührt auf der Kommode, auf der er ihn zurückgelassen hatte.

Sein nächstes Geschenk war ein Gewand aus feinster Seide, so rot wie das Herbstlaub, aber auch dieses schien sie nicht einmal angesehen zu haben.

Also brachte er ihr Schuhe aus gesponnenem Gold, strahlend wie die Sonne, doch, als er sich in der nächsten Nacht wieder Zutritt in den Palast verschaffte, war sein Geschenk ein weiteres Mal unangetastet geblieben.

Als er dieses Mal für immer gehen wollte, gekränkt von ihrer Abweisung, wurde er aufgehalten. Zunächst erkannte er nur den Dolch, dessen Spitze knapp vor seiner Kehle innegehalten hatte, dann brach das Mondlicht durch die Wolken und offenbarte seinen Angreifer. Doch es war keine Wache, die ihn nun für sein dreistes Eindringen richten würde …

‚Wenn ihr denkt, mich mit Euren Geschenken kaufen zu können, muss ich Euch enttäuschen. Diesen Preis hat bereits der Fürst gezahlt, als er mich mit sich fortnahm. Welchen Grund sollte es also für mich geben, Euch nicht hier und jetzt an die Wachen zu verraten?‘, sprach eine liebliche Stimme und kluge Augen musterten ihn scharf.“

 

„Die Gute hat Pfeffer und weiß, was sie will, das gefällt mir.“

 

„Warum wundert mich das nicht.“

 

„Mh? Wie meinst du das?“

 

„Ach, nichts. Darf ich jetzt weitererzählen?“

 

„Ja.“

 

„Der Dieb tat also das Einzige, was in dieser Situation richtig war …“

 

„Er hat eingesehen, dass er ein Stalker ist und die Beine in die Hand genommen, bevor die Wachen ihn einen Kopf kürzer machen konnten?“

 

„Nicht ganz.“ Zero schmunzelte. „Er bat sie um Verzeihung und versprach ihr, ihr ein Geschenk zu machen, das kein Reichtum der Welt würde kaufen können, wenn er sie nur noch einmal sehen durfte.“

 

„Hartnäckig ist er, das muss man ihm lassen.“ Karyu bewegte sich leicht auf seinem Schoß, schien die Beine auszustrecken, nur um sie doch wieder anzuziehen.

 

„Unbequem?“

 

„Nein, das ist es nicht.“

 

„Rückenschmerzen?“

 

„N… nein, das auch nicht.“

 

„Karyu, mach deinen Mund auf, ich kann nicht hellsehen.“

 

„Ist es in Ordnung, wenn ich mich doch wieder an dich lehne? So wie vorhin?“

 

Für einen langen Moment haderte Zero mit sich, denn während in seinem Inneren alles danach verlangte, Karyu wieder in den Armen halten zu dürfen, fühlte sich sein Geist schon seit Minuten zum Zerreißen gespannt an. Er ertrug die Nähe des anderen kaum und gleichzeitig fühlte er sich wie ein Verdurstender, der endlich Wasser vor sich sah. Karyus Körper verkrampfte sich, vermutlich in Erwartung einer Ablehnung, und diese Regung war es, die seinen Widerstand wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen ließ.

 

„Na, dann mach. Ich will morgen aber kein Gejammer hören, wenn dir deine Knochen wehtun“, merkte er etwas ruppiger als geplant an, öffnete jedoch ohne weiteres Zögern die Arme, als sich Karyu aufrappelte und wieder gegen seine Brust lehnte.

 

„Keinen Mucks.“

 

„Gut.“

 

„Erzählst du weiter?“

 

„Sag bloß nicht, mein Märchen interessiert dich plötzlich doch?“

 

„Tut es … und außerdem lenkt es mich ab.“

 

„Gut.“ Zero räusperte sich, drückte Karyus Hand, die sich im Stoff seines Oberteils verkrallt hatte kurz, bevor er sie wieder losließ. Er musste um den Kloß herumschlucken, den die anhaltende Furcht seines Freundes in ihm auslöste und sich räuspern, bevor er weitererzählen konnte.

„Neugierig darauf, was dieses außergewöhnliche Geschenk wohl sein mochte, sah sie also davon ab, die Wachen zu rufen, und ließ ihn ziehen. Sie glaubte zwar nicht daran, ihn noch einmal zu sehen, hielt sein vollmundiges Versprechen für nichts als eine List, die ihn mit silberner Zunge vor der Strafe des Fürsten hatte bewahren sollen, doch im Geiste hatte sie ihm längst dafür vergeben. Sie war sogar froh, ihn in Freiheit zu wissen, und dennoch blieb die Hoffnung in ihrem Herz bestehen, er möge sie nur noch ein einziges Mal mit seiner Anwesenheit aus der Tristes ihres Lebens reißen. Tag um Tag zog ins Land, der Sommer verstrich und als der Herbst die ersten Blätter rot färbte, stand der Dieb eines Nachts erneut in ihren Gemächern. Seine Reise war gefahrvoll gewesen, hatte ihn durchs ganze Land geführt, aber war von Erfolg gekrönt. Ein Gefäß aus gebrannter Erde mit einer einzigen, blauen Blume gebettet in dunklem Mutterboden überreichte er ihr, doch in ihrem Blick lag keine Freude, während sie sein Geschenk betrachtete.

‚Eine Blume? Was lässt Euch glauben, dass ich nicht jede Blume haben könnte, die mein Herz begehrt?‘, sprach sie, doch der Dieb lächelte nur und streckte ihr die Hände entgegen.

‚Vergebt mir, meine Schöne, denn obgleich die Suche nach dieser besonderen Blume mich vieles gekostet hat, ist sie nicht mein Geschenk an Euch.‘

Ihre Augen waren voll Verwunderung, als sie nach den Händen des Diebs griff und sich ans Fenster ziehen ließ, wo der anbrechende Morgen den Horizont in warme Farben tauchte.

‚Mein wahres Geschenk werden meine Erlebnisse sein, von denen ich Euch erzählen will. Ich will Euch mit in die entferntesten Winkel unseres schönen Landes nehmen, werde Euch von Wundern berichten, die Eurer Vorstellung trotzen. Wollt Ihr Euch mit mir auf diese Reise begeben?‘

Geschickt sprang der Dieb auf den Fenstersims, die rechte Hand seiner Schönen noch immer haltend und abwartend nahe an seine Lippen gezogen. Während seiner langen Reise war ihm bewusst geworden, dass es kein materielles Gut auf dieser Welt geben würde, welches ihr Herz erobern konnte. Für sie, die gefangen hinter Mauern aus Reichtum war, würde es nur eines geben, was er ihr zum Geschenk machen konnte – Freiheit. Und selbst, wenn diese Freiheit nur in ihrem Geist existieren konnte.

‚Ich will Euch begleiten‘, sprach sie schließlich und der Dieb besiegelte sein Versprechen mit einem Kuss auf ihren Handrücken.

‚Dann wartet morgen Nacht auf mich.‘

Mit diesen Worten ließ er sich aus dem Fenster fallen, sprang leichtfüßig über die Dächer des Palasts und verschwand in den langen Schatten des heraufziehenden Morgens.

So kam es, dass sie jeden Abend ein Licht in ihr Fenster stellte, sobald der Fürst ihr überdrüssig und es somit sicher war. Nacht um Nacht besuchte sie der Dieb, brachte ihr kostbare Worte, knüpfte unbezahlbare Fantasien und spann Geschichten, deren Abenteuer ihr Herz in Aufregung versetzten und ihren Geist mit sich in die Ferne nahmen.“

 

Zero spürte, wie er sich mehr und mehr in seiner Erzählung verlor, wie die Erinnerungen an sein erstes Leben immer bunter, lebendiger in seinem Geist wurden. Er sah ihre schönen Augen, die feinen Gesichtszüge vor sich – optische Merkmale, die auch Karyu in sich vereinte. Fast glaubte er, wieder ihr Parfum riechen zu können, die Weichheit ihres Haars fühlen, durch das er so oft seine Finger hatte gleiten lassen. Unbewusst spiegelten eben jene Finger seine Erinnerungen, fuhren durch Karyus Strähnen, bis er den anderen noch ein Stück näher an sich zog. Er senkte den Kopf, lehnte ihn sacht gegen den seines Freundes und fuhr mit rauer gewordener Stimme fort: „Aus Herbst wurde Winter, doch selbst das dickste Eis musste tauen und dem Frühling weichen. Als das erste Grün die Schneedecke durchbrach, reichte er ihr erneut die Hand.

‚Kommt mit mir‘, bat er sie. ‚Geht mit mir fort, weg von diesem Ort, der Euch gefangen hält.‘

Nichts lieber würde sie tun, nichts Sehnlicheres hatte sie sich während der zahllosen Stunden gewünscht, in denen Sie den Worten ihres Diebes lauschen durfte. Längst hatte er ihr Herz gestohlen und dennoch haderte sie nun. Sie wusste, dass der Fürst sie jagen würde, sie würden ihm nie entkommen können. Doch der Dieb hatte keine Furcht, denn noch nie war er gefasst worden.

‚Ich bin ihnen bislang noch allen entkommen‘, sprach er überzeugt von sich und seinem Können. ‚Komm mit mir, ich werde immer auf dich achten, dich beschützen und dich ehren, wie es einer Königin gebührt … meine Königin.‘

Zum allerersten Mal küsste er ihre Lippen und eine ungekannte Wärme in ihrem Herz vertrieb die Zweifel aus ihrem Geist. So floh sie mit ihrem Dieb durch die Nacht, reiste mit ihm bis an die Grenzen des Landes, weit entfernt genug, um in Sicherheit zu sein …“

 

„Warum glaube ich, dass diese Geschichte kein Happy End haben wird?“ Karyus Frage war so leise gesprochen, dass er sie beinahe überhört hätte. Der Leib des Größeren zitterte nun nicht mehr, doch noch immer hielten sich seine Finger krampfhaft an Zero fest, ganz so, als würde er in der endlos scheinenden Dunkelheit des Aufzugs verschwinden, sobald er den Kontakt verlor.

 

„Vielleicht, weil meine Geschichten nie ein Happy End haben?“ Auch Zeros Stimme war leise geworden, brüchig beinahe, während Karyu den Kopf gehoben hatte und ihn nun wohl ansehen würde, wäre ihm das möglich. Himmel, sie waren sich so nah, dass er den Atem des anderen an seiner Wange fühlen konnte …

 

„Warum …“ begann Karyu eine Frage, die Zero gar nicht erst hören wollte. Rasch drehte er sich etwas zur Seite, weg von der Versuchung, die der andere in diesem Augenblick für ihn darstellte. Karyus Finger auf seiner Brust zuckten und er konnte seine stockenden Atemzüge an seinem gestreckten Hals fühlen, spürte jeden Einzelnen wie eine hauchzarte Liebkosung.

 

„Soll … soll ich weitererzählen?“, fragte er, um Karyu – von was auch immer er sich gerade in den Kopf gesetzt hatte – abzulenken, ohne ihn ruppig wieder auf Abstand halten zu müssen.

 

„Ehm …“ Der Größere räusperte sich und mit einer Mischung aus Erleichterung und einem unbestimmten Gefühl des Verlusts spürte er, wie Karyu wieder etwas auf Abstand ging. „Natürlich musst du weitererzählen. Jetzt wo du mich neugierig gemacht hast, kannst du ja wohl nicht einfach aufhören, Happy End hin oder her.“

 

‚Gut, dass sich manche Dinge nie ändern.‘, dachte Zero und entspannte sich, als er Karyus Kopf wieder gegen seine Schulter gelehnt fühlen konnte. Die Hand des Gitarristen lag nun flach und warm auf seiner Brust und vermutlich entging ihm nicht, wie schnell sein Herz schlug, aber sagen tat er nichts.

 

„Ihre Flucht war ein Kinderspiel gewesen, niemand hatte sie bemerkt und als der Fürst am nächsten Morgen nach seiner Geliebten schicken ließ, waren sie bereits Kilometer vom Palast entfernt. Sie lebten ein glückliches Leben, waren nie für lang an einem Ort, gab es doch so vieles, was seine Schöne noch nie gesehen hatte. Das Meer, die Berge, dunkle Wälder voller Leben. Obwohl sie nichts besaßen, aßen, was sie auf ihren Wanderungen fanden oder der Dieb durch Arbeit oder seine geschickten Finger aufbringen konnte, schwelgten sie in einem nie gekannten Luxus. Er hatte seinen Anker, seinen Mittelpunkt gefunden und trieb nun nicht mehr wie ein Blatt im Wind umher, und seine geliebte Frau war endlich frei. Viele Monate verstrichen und als in ihrem Leib neues Leben heranwuchs, unterbrachen sie ihre Reisen, um sich in einer kleinen Hütte am Waldesrand niederzulassen. Ihre Vergangenheit hatte sie längst hinter sich gelassen, keinen Gedanken mehr an den Mann verschwendet, dem sie noch immer gehörte. Doch der Fürst hatte sie nie vergessen, ließ wie ein Besessener nach ihr suchen und eines Tages war er erfolgreich. Seine Schergen spürten sie auf, nahmen sie gefangen und brachten sie zurück in den Palast. Der Dieb war machtlos gewesen, war selbst gefangen genommen worden und …“

 

Zeros Stimme versagte, als die Erinnerungen drohten wie eine Welle über ihn hereinzubrechen. Wie hatte er so dumm sein und glauben können, dass er es durchstehen würde, Karyu von seiner Vergangenheit zu erzählen? Um fair zu sein, hatte er nie vorgehabt, mit seiner Geschichte so weit zu kommen, aber dieser dumme Fahrstuhl machte noch immer keinerlei Anstalten, sich wieder in Bewegung zu setzen.

 

„Was ist mit ihnen passiert?“, fragte Karyu flüsternd und riss ihn damit aus seinen Gedanken.

 

„Sie …“ Er schluckte und presste für lange Sekunden fest die Lider aufeinander, um sich zu sammeln. „Der Dieb wehrte sich mit Leibeskräften, schrie sich die Lunge wund, als seine Schöne, seine Frau dem Fürsten vor die Füße geworfen wurde. Das Messer in der Hand des Edelmanns glänzte heller, als die vielen Juwelen, die seine Kleidung schmückten – bis er es ihr in den Leib stach. Hilflos musste er mitansehen, wie das ungeborene Leben in ihr vernichtet wurde, aber noch schlimmer waren das Entsetzen und die Furcht, die in ihren Augen standen. Wieder und wieder rief er ihren Namen, versuchte, zu ihr zu gelangen, doch die Wachen des Fürsten hielten ihn mit eiserner Entschlossenheit zurück.

‚Erinnere dich an mich‘, bat sie mit vor Schmerz verzerrter Stimme. „Erinnere dich über die Jahrhunderte hinweg.‘

Unter Tränen versprach er ihr, sie niemals zu vergessen …“

Zero spürte ein allzu vertrautes Brennen hinter seinen noch immer fest geschlossenen Lidern und die Nässe, die sich einen Weg seine Wangen entlang suchte. Er legte den Kopf etwas in den Nacken, fühlte das Kitzeln nun an seinen Schläfen, bis die ungewollten Tränen in seinem Haar versickerten.

„Der Dieb versprach, sie in jedem Leben wiederzufinden …“ Er war erstaunt, wie fest seine Stimme klang, wie wenig ihr der Schmerz anzuhören war, der sein Herz zu zerreißen drohte. „Unter dem grausamen Gelächter des Fürsten versprach er ihr, nie wieder zuzulassen, dass sie verletzt wurde, leiden musste, aber sie starb, bevor er zu Ende gesprochen hatte.“

 

Stille legte sich über sie, so vollkommen und erdrückend, dass er glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Ein feines Zittern hatte von seinem Körper Besitz ergriffen und obwohl Karyu es spüren musste, so nahe, wie sie sich noch immer waren, schien sein Freund für lange Sekunden nicht einmal zu atmen. Dann jedoch zuckten die langen Finger auf seiner Brust und Karyu verbarg sein Gesicht gegen seine Schulter.

 

„Grausam“, flüsterte er, „warum erzählst du immer nur Geschichten, die mir entweder Angst machen oder … oder …“ Ein leichter Schlag folgte, der mehr ein Ausdruck der Empörung war als ein tatsächlicher Angriff und diese Reaktion war es, die Zero aus dem Käfig seiner Erinnerungen riss. Er lachte leise, kratzig auf und verstärkte für einen Moment seine Umarmung.

 

„Du bist wirklich zu sensibel für diese Welt.“

 

„He, kann doch ich nichts dafür, wenn du so traurige Sachen erzählst.“

 

„Tja …“ Zero wusste nicht, was er darauf sagen sollte, also schwieg er und rieb sich über die brennenden Augen, um die letzten Spuren seiner Trauer zu verwischen.

 

„Eigentlich will ich nicht fragen, weil ich es mir beinahe denken kann, aber was … was ist mit dem Dieb geschehen?“

 

„Der Fürst sperrte ihn ein, ließ ihn hungern und foltern, bis er dem Tod näher war als dem Leben, nur um ihn heilen zu lassen, damit seine Qualen von vorn beginnen konnten. Doch irgendwann, Jahre nachdem seine Geliebte getötet worden war, hatte der Fürst es endlich übertrieben …“

 

„Er ist also gestorben?“

 

„Ja.“

 

„Und … hat er seine Geliebte in späteren Leben wiedergefunden?“

 

„Es ist ein Märchen, Karyu, was denkst du?“

 

Bevor der Gitarrist antworten konnte, ging ein erneuter Ruck durch die Kabine, der diesmal jedoch vom Surren und dem flackernden Aufleuchten der Halogenstrahler begleitet wurde. Karyus erschrockener Aufschrei war auf halbem Weg verstummt, stattdessen kam ihm nun ein fast schon gestöhntes „Oh, Gott sei Dank!“ über die Lippen. Während sich der Gitarrist also etwas ungelenk zum Stehen aufrappelte und so nah an die Aufzugtür herantrat, als könnte er sich durch den schmalen Spalt zwängen, blinzelte Zero überfordert die bunten Punkte vor seinen Augen fort. Deutlich langsamer als sein Freund rappelte auch er sich hoch und kam mit wenigen, etwas wackligen Schritten an Karyus Seite an. Der andere war blass, seine Augen gerötet und in den Sekunden, die der Aufzug brauchte, um endlich an seinem Zielort anzukommen, fuhren erneute Schauer durch den dünnen Leib. Zero war versucht, ihn zu berühren, ihn schützend in die Arme zu nehmen, aber das melodische Leuten, welches ankündigte, dass sie das Erdgeschoss erreicht hatten, nahm ihm diese Entscheidung ab. Die Türen öffneten sich und gaben die Sicht auf das hell erleuchtete Foyer preis, aber anders als Zero erwartet hatte, stand nicht schon ein besorgter Hotelmanager parat, der sich tausend Mal für die Unannehmlichkeiten entschuldigte. Mit zwei großen, jedoch unsicher wirkenden Schritten ließ Karyu die Kabine hinter sich und selbst über das laute Stimmengewirr einer Reisegruppe, die gerade im Hotel eingetroffen sein musste, hinweg hörte er das erleichterte Ausatmen, das seinen Lungen in einem einzigen Luftstoß entkam.

 

„Alles wieder in Ordnung?“ Er war Karyus Beispiel gefolgt und hatte den Fahrstuhl verlassen, nur um irritiert einige Zentimeter hinter ihm stehen zu bleiben und sich umzusehen. Es machte tatsächlich den Anschein, als wäre es niemandem aufgefallen, dass sie eine halbe Ewigkeit im Aufzug gefangen gewesen waren. Verunsichert warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und stutzte.

„Was?“, murmelte er fassungslos und klopfte mit dem Fingernagel gegen das Uhrglas. „Ich glaub, meine Uhr ist stehen geblieben.“

 

„In Ordnung würde ich das nicht nennen“, entgegnete Karyu und rieb sich über die Schläfen, als hätten sich dort Kopfschmerzen eingenistet, die er zu vertreiben suchte

 „Wie …?“ Blutunterlaufene Augen blinzelten Zero an, nachdem ihm wohl mit einiger Verspätung aufgefallen war, dass er noch mehr gesagt hatte. „Deine Uhr?“ Fast traumwandlerisch blickte sich sein Freund in der Lobby um, und wären sie allein gewesen, hätte Zero dem Drang, ihn zu berühren und ihm Halt geben zu wollen, vermutlich nachgegeben, so verloren wirkte er gerade.

„Also, wenn deine Uhr stehen geblieben ist, dann spinnt die dort drüben genauso.“ Er deutete auf eine große Bahnhofsuhr, die hinter der Rezeption an der Wand hing. „Wir waren angeblich nur zehn Minuten im Aufzug.“ Karyu rieb sich über die Unterarme, als wäre ihm plötzlich kalt geworden und Zero konnte diese Reaktion nur allzu gut nachvollziehen

 „Und einen Stromausfall scheint es auch nicht gegeben zu haben.“ Er fuhr sich durch die Haare und begann, in einer unbewusst wirkenden Geste an seinen hellbraunen Strähnen zu ziehen.

 

„Lass das“, murmelte Zero und streckte die Hand aus, legte sie beruhigend auf Karyus Schulter. Große Augen suchten seinen Blick, schienen in seinem Gesicht krampfhaft nach etwas zu suchen, was ihre verschobene Realität wieder geraderücken würde.

 

„Ich spinn doch nicht, oder? Wie können nur zehn Minuten vergangen sein und wie kann niemand bemerkt haben, dass dieser beschissene Aufzug eine Fehlfunktion hatte?“

 

„Ich hab keine Ahnung“, war das Einzige, was Zero daraufhin sagen konnte, als ihm plötzlich wieder Hizumis Worte in den Sinn kamen.

‚Dein Kampf über die Jahrhunderte und deine Beharrlichkeit haben, wenn schon nicht ihr Mitgefühl, dann aber zumindest das Interesse höherer Mächte geweckt, zählt das denn nicht?‘

Ein Schauer rann ihm über den Rücken und sogleich spürte er Karyus besorgten Blick auf sich, der ihn daran hinderte, zusätzlich noch seine Hände zu Fäusten zu ballen. Verdammt, er musste mit Hizumi sprechen. Wenn das wahr war, was er glaubte, dann …

 

„Geht es dir gut?“

 

Zero blinzelte aus seinen Überlegungen gerissen und erwiderte wenig überzeugend: „Ja, nur übermüdet und hungrig.“ Er versuchte sich an einem halben Lächeln und als dieses seinen Freund nicht zu beruhigen schien, machte er energisch einen Schritt in Richtung Ausgang.

„Komm … ich will was essen. Vielleicht haben wir beide ja nur falsch auf die Uhr gesehen und die Rezeptionistin war einfach zu beschäftigt, um irgendwas zu bemerken.“

 

„Das wären aber viele Zufälle auf einmal, findest du nicht? Außerdem erklärt das nicht, warum wir stecken geblieben sind.“

 

„Ich bin kein Techniker, Karyu.“ Zero zuckte mit den Schultern. „Wer weiß schon, was bei so viel Elektronik alles schiefgehen kann.“

 

„Schon, aber …“ Karyu wirkte verunsichert, als er seinen Blick über die Menschen gleiten ließ, die in Grüppchen zusammenstanden und sich lebhaft unterhielten. Ob sein Freund sich gerade ebenso fehl am Platz fühlte, wie Zero selbst es tat? Als hätte der Aufzug sie in einer Parallelwelt ausgespuckt, in der auf den ersten Blick alles richtig zu sein schien, doch die sich an den Rändern ihres Bewusstseins grotesk verzerrte, sobald sie sich zu stark auf Details konzentrierten.

„Wir sollten wenigstens Bescheid sagen, dass der Fahrstuhl überprüft werden muss, nicht das noch jemand stecken bleibt.“

 

Karyus Stimme klang weit entfernt, als wäre der Größere unter Wasser gefangen, bis die Umgebungsgeräusche wie das Rauschen dutzender Flügelschläge plötzlich wieder in sein Bewusstsein drangen. Zero blinzelte, als wäre er aus tiefem Schlaf erwacht und musste sein Gegenüber wohl genauso konfus angesehen haben, wie er sich gerade fühlte, denn nun waren es Karyus Finger, die sich locker um sein Handgelenk schlossen und ihn in Richtung der Rezeption dirigierten. Sein verträumter Blick fixierte sich auf die Stelle ihres Körperkontakts, der unter den grellen Lichtern des Foyers schmerzhaft real wirkte. Kein Vergleich zu der diffusen Nähe, die in der Finsternis der Aufzugskabine zwischen ihnen geherrscht hatte. Zero schloss die Augen etwas länger als ein Blinzeln und ließ Karyus Stimme wie warmen Frühlingsregen über sich waschen. Obwohl er sicher war, dass bei einer Überprüfung des Aufzuges kein Fehler gefunden werden würde, hielt er den Leader nicht zurück, als er der verwunderten Rezeptionistin erklärte, dass der Lift eine Fehlfunktion hatte und sie kurz vor dem Erdgeschoss stecken geblieben waren. Ebenso wenig interessierten ihn die Erklärungen der jungen Frau, dass es keine Fehlermeldung gab und sie sich den Vorfall nicht erklären konnte. Erst, als ihm ihre Entschuldigungen zu viel wurden, schlug er höflich die angebotene Entschädigung in Form eines Cocktails an der Hotelbar aus und bedeutete Karyu, ihm nach draußen zu folgen.

 

„Den Cocktail hätten wir ruhig annehmen können“, murrte der Große ein wenig enttäuscht wirkend und stopfte seine Hände in die Hosentaschen.

 

„Jammer nicht rum, so ein bisschen Saft mit billigem Alkohol wirst du dir gerade so noch selbst leisten können“, brummte Zero vor sich hin, aber als sich ihre Blicke trafen, schenkte er dem Größeren ein verschmitztes Lächeln. „Aber ich kann dir ein Bier spendieren, wenn du magst.“

 

„Na, dazu sag ich bestimmt nicht nein.“ Im gelblichen Licht der Lampen, die den Eingangsbereich des Hotels beleuchteten, wirkte Karyus Gesicht endlich nicht mehr so ungesund fahl und mit diesem schiefen Grinsen auf den Lippen hätte Zero sich beinahe einreden können, dass wieder alles in Ordnung war. Aber die langen Finger zitterten, als sie das Feuerzeug an die Spitze der Zigarette hielten und der Zug, den Karyu nahm, hatte etwas angestrengt Triviales an sich.

„Lass uns gehen, ich bin froh, wenn ich jetzt erst einmal etwas anderes als dieses Hotel sehen kann.“

 

„Du sprichst mir aus der Seele“, stimmte Zero ohne Umschweife zu, steckte sich ebenfalls eine Zigarette an und ging langsam an Karyus Seite über die Straße. Er konnte den würzigen Duft des Currys bereits riechen, als er den ersten Fuß auf den Gehweg setzte, obwohl die Türen des Ladens fest geschlossen waren. Sein Magen schlug einen Übelkeit erregenden Purzelbaum und das bisschen Hunger, das die letzten angespannten Minuten mit Karyu im Aufzug gefangen überstanden hatte, verpuffte und ließ nichts weiter als ein flaues Gefühl zurück. Die Zigarette schmeckte plötzlich bitter und alt, also schnippte er sie zur Seite, obwohl noch über die Hälfte des Tabaks übrig war. Karyu warf ihm einen fragenden Seitenblick zu, doch er zuckte nur mit den Schultern und widerstand dem automatischen Impuls, seine Arme vor der Brust verschränken zu wollen.

 

„Wollen wir reingehen?“ Der Gitarrist hatte sich noch zwei lange Züge seiner Kippe gegönnt, tat es ihm jetzt jedoch gleich und vernichtete den Rest unter seiner Schuhspitze.

 

„Kann ich ehrlich sein?“

 

„Immer.“

 

„Wenn ich jetzt nur an Essen denke, wird mir übel.“

 

„Aber, gerade eben …“ Nun war es an Karyu, nonchalant die Schultern zu zucken, als hätte er soeben verstanden, was Zero nicht aussprach. „Willst du zurückgehen? Du siehst noch immer so müde aus.“

 

„Nein, ich würde ohnehin nicht schlafen können. Könnten wir nicht einfach …“ Zero biss sich auf die Unterlippe, fühlte sich mit einem Mal schrecklich jung und nervös und konnte nicht begreifen, wo dieses unangebrachte Gefühl so plötzlich herkam. Irritiert schüttelte er den Kopf. „Ich lauf besser noch ein bisschen herum, ich brauch frische Luft.“

 

„Na, dann komm ich mit, nicht, dass du mir verloren gehst.“

 

„Es gibt Menschen, die haben so etwas wie Orientierungssinn“, stellte er trocken fest und setzte sich in Bewegung.

 

„Ehrlich?“ Karyus große Augen schauten ihn gespielt überrascht von der Seite her an und das freche Grinsen, das seine Lippen zierte, ließ ihn wie einen zu groß geratenen Schuljungen wirken. „Ich kann aus Erfahrung sagen, dass du eindeutig nicht zu diesen Menschen gehörst.“

 

„Ein einziges Mal hab ich mich verlaufen und das darf ich mir jetzt auf ewig anhören.“ Kopfschüttelnd fasste Zero seine langen Rasterzöpfe zusammen und zog sich den Haargummi vom Handgelenk, um sie im Nacken zu fixieren. Ein angenehm kühler Windstoß trocknete den dünnen Schweißfilm dort und bescherte ihm eine nicht unangenehme Gänsehaut. Karyu neben ihm lachte und stieß ihn mit der Schulter an.

 

„Wer sich im Backstagebereich eines Klubs verläuft, der kaum größer als eine Schuhschachtel war, muss damit rechnen, dass man ihm in Sachen Orientierung nicht mehr wirklich viel zutraut.“

 

„Uhg“, stöhnte Zero übertrieben auf und fasste sich an die Brust. „Das trifft mich jetzt.“

 

Karyu sagte nichts darauf, nur sein Grinsen blieb unverändert und sein rechter Arm zuckte, ganz so, als hätte er ihn am liebsten um Zeros Schultern gelegt. Stattdessen fanden seine großen Hände erneut den Weg in seine Hosentaschen und seine Schultern rundeten sich leicht, als wäre ihm plötzlich kalt geworden. Zero verbat sich einen Kommentar, stellte jedoch in der Heimlichkeit seiner Gedanken fest, dass er nichts dagegen gehabt hätte, hätte Karyu ihn an sich gezogen.

 

Ohne ein Ziel vor Augen gingen sie die Gassen entlang und ließen die hell erleuchteten Bereiche schnell hinter sich. Die Gegend konnte nicht gerade als sonderlich schön bezeichnet werden. Dunkle Hofeinfahrten tauchten wie gähnende Münder vor ihnen auf, schlanke Fabrikschornsteine schraubten sich meterhoch in den Nachthimmel und über allem lag ein Hauch der Vernachlässigung. Dennoch genoss Zero es, einfach nur einen Fuß vor den anderen zu setzen, seine Gedanken schweifen zu lassen und gleichzeitig nicht allein zu sein. Er hatte das Gefühl, als hätte die Zeit im Fahrstuhl seine innerlichen Barrieren aufgeweicht wie Wasser, das sich langsam aber stetig selbst durch den härtesten Stein fraß. Es kostete ihm ehrliche Anstrengung, sich daran zu erinnern, warum es nicht richtig war, nach der Hand seines Freundes zu greifen, ihre Finger miteinander zu verschränken und sich endlich die Nähe zu nehmen, auf die er nun schon so lange verzichten musste. Er blickte zur Seite, direkt in Karyus Gesicht und ließ das Lächeln, welches er ihm schenkte wie einen warmen Sommerwind über sich wehen.

 

Eine Straßenecke weiter tat sich eine Allee aus Bäumen auf, die Zero in dem vorherrschenden Zwielicht nicht identifizieren konnte. Nur der würzige Duft des Laubs stieg ihm in die Nase und war so unerwartet angenehm, dass er innehielt. Karyu neben ihm hatte es ihm gleichgetan, lehnte an einer hüfthohen Mauer, auf die er sich nun geschickt zog, sich setzte und seine langen Beine baumeln ließ. Zero trat näher, lehnte sich ebenfalls gegen die Wand aus grauem Beton und stützte die Ellenbogen nach hinten ab. Leise seufzend legte er den Kopf in den Nacken und suchte im dunklen Himmel nach vereinzelten Sternen, die trotz der Lichter der Stadt hier und da zu erkennen waren.

 

„Danke“, durchbrach Karyus leise Stimme die eingetretene Stille zwischen ihnen und als Zero den Kopf drehte, um ihn anzusehen, wirkte der Große mit einem Mal eigenartig verlegen. „Dafür, was du vorhin für mich getan hast. Du weißt schon, im Aufzug. Das … das war wirklich nett von dir.“

 

„Dafür musst du dich nun wirklich nicht bedanken“, murmelte Zero und folgte dem dünnen Rauchfaden der Zigarette, die sich der Gitarrist soeben angesteckt hatte. Der Wind hatte nachgelassen und so kräuselte sich der Rauch träge nach oben, zeichnete wirre Linien im Schein der Straßenlaterne, bis er irgendwann im Nichts verschwand. Noch immer fühlte er sich wie in einem Traum, eigenartig der Welt entrückt, und so dauerte es einige Herzschläge, in denen Karyu erneut zu sprechen begonnen hatte, bis er seine Aufmerksamkeit wieder auf ihn lenken konnte.

 

„… bin als Kind schon einmal in einem Aufzug stecken geblieben, deswegen … na ja, ich schätze, deswegen hab ich vorhin so überreagiert.“

 

„Es ist okay, Karyu, du brauchst dich nicht zu rechtfertigen.“

 

„Ich will damit nur sagen …“, fuhr er fort, als hätte er Zeros Worte nicht gehört oder würde unbedingt noch etwas sagen wollen, bevor ihn der Mut verließ.

„Na ja, du hast mir wirklich geholfen, obwohl du das nicht hättest tun müssen und … Ich meine, ich hab gemerkt, dass es dir nahe gegangen ist, als du mir diese Geschichte erzählt hast, aber ich … vermutlich bin ich mal wieder nur zu dumm, um alles zu begreifen, aber ich hatte den Eindruck, dass du mir damit mehr sagen wolltest, als nur ein Märchen zu erzählen, das mich ablenken sollte.“

 

Karyu verstummte ebenso abrupt, wie Zeros Herz zu schlagen aufhörte. Ein, zwei quälende Sekunden verstrichen, bevor dieser dumme Muskel in seiner Brust die Arbeit wieder aufnahm und diesmal so hart gegen seine Rippen hämmerte, als würde er ausbrechen wollen. Er blinzelte und spürte, wie taub seine Lippen, sein gesamter Körper geworden waren. Hatte Karyu gerade wirklich das gesagt, was er gehört hatte oder hatten ihm seine Ohren nur einen Streich gespielt?

 

„Ich meine …“ Der Gitarrist räusperte sich, fuhr sich durch die Haare und lachte verlegen. „Solche Geschichten haben doch meist eine Moral, oder? Ich komm nur nicht drauf, welche es sein könnte.“

 

„Ich bin gerade echt erstaunt darüber, dass dir das so nachhängt“, sagte Zero, auch wenn seine Gedanken wie wild durcheinander stoben und er keine Ahnung hatte, wie es ihm gelang, Wörter logisch aneinanderzureihen. Wieder blinzelte er träge wie eine Katze, doch die Panik, mit der er fest gerechnet hatte, blieb aus. Vielmehr breitete sich eine ungekannte Ruhe in ihm aus, als er den Blick hob, um Karyu genau in die Augen sehen zu können.

„Ich denke, wenn diese Geschichte wirklich eine Moral hat, dann vermutlich die, dass du dir immer genau überlegen solltest, was du versprichst. Schließlich könnte es sein, dass deine Worte ernst genommen werden.“

 

„Wäre das denn so schlimm?“, fragte Karyu, ließ sich von der Mauer gleiten und stand innerhalb eines Wimpernschlags so nah vor ihm, dass er selbst im schummrigen Licht der Straßenlampe die goldenen Flecken in seiner Iris erkennen konnte, die das Braun seiner Augen immer viel wärmer als sein eigenes wirken ließen.

„Du kannst mich gern für einen hoffnungslosen Romantiker halten, aber die Vorstellung, meine Liebe in jedem Leben wiederzufinden, ist …“ Karyus Schultern hoben und senkten sich und erst jetzt bemerkte Zero, wie schnell der Atem des anderen ging. „Tröstlich. Findest du nicht auch?“

 

„Und was, wenn du in jedem Leben hilflos dabei zusehen musst, wie sie dir wieder entrissen wird?“ Zero fühlte sich wie ein Beobachter in seinem eigenen Körper, als er die Hand hob und sie kaum spürbar auf Karyus Brust legte. Genau über der Stelle, unter der das Herz des anderen mindestens so schnell schlug wie sein eigenes. Verträumt betrachtete er seine Finger, die kurzen, schwarz lackierten Nägel, die Schwielen an seinen Fingerspitzen, und hob nur langsam den Blick erneut. War Karyu ihm eben auch schon so nah gewesen?

 

„Dann weiß ich wenigstens, dass es immer eine Chance geben wird, alles zu verändern.“

 

„Du bist ein hoffnungsloser Optimist.“ Zeros Fersen hoben sich, bis er auf den Zehenspitzen balancierte und so Karyu noch näher war.

 

„Ich weiß …“

 

Karyu senkte den Kopf.

Er reckte sein Kinn nach oben.

Ihr Atem mischte sich, streichelte warm über seine Wangen, seine Lippen.

Seine Lider fielen wie von selbst zu …

 

„Zero? Karyu! Dem Himmel sei Dank, da seid ihr ja!“

 

Erschrocken fuhren sie auseinander, Karyu die Hand auf sein Herz gepresst, Zero beide Arme schützend vor der Brust verschränkt und schauten in die Richtung, aus der Hizumi und Tsukasa mit schnellen Schritten auf sie zugeeilt kamen. In Hizumis dunklen Augen loderte ein selbstgerechtes Feuer, als sich seine Finger um Zeros Oberarm schlossen und er ihn mit wenigen großen Schritten auf Abstand von ihren Freunden zog. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, ein blaues Aufleuchten zu sehen, ausgehend vom Punkt ihres Körperkontakts und im selben Moment lüftete sich der Schleier, der seinen Geist bislang wie in Watte gepackt gehalten hatte. Seine Gedanken waren mit einem Mal wieder so schmerzhaft klar, dass er gepeinigt die Lippen verzog und sich am liebsten losgemacht hätte. Aber der andere hielt ihn unnachgiebig fest und verspätet bemerkte er, wie angestrengt Hizumis Atem kam und wie stark sein gesamter Körper bebte.

 

„Bist du in Ordnung?“, erkundigte sich der Sänger leise und warf einen prüfenden Blick über die Schulter. Doch seine Vorsicht war unnötig, denn Tsukasas enthusiastische Beschwerde darüber, wie unfair er es fand, dass Hizumi plötzlich den Klub, in dem sie die bisherige Nacht verbracht hatten, verlassen hatte, nur um ihre knochigen Ärsche nun irgendwo im Nirgendwo aufzugabeln, hielt Karyus vollkommene Aufmerksamkeit.

 

„Was war das gerade?“ Zero befreite seinen Arm aus Hizumis Klammergriff und rieb sich darüber. Sein Gegenüber erwiderte seinen fragenden Blick nur grimmig und presste die Lippen aufeinander. „Seit wann leuchte ich wie eine Reklametafel, wenn du mich berührst? Und was macht ihr überhaupt hier?“ Zero begann, seine Schläfen zu massieren, hinter denen es zu pochen begonnen hatte. Er wollte wütend sein. Wütend darauf, dass Hizumi ausgerechnet jetzt aufgetaucht war, aber nun, wo er wieder klar denken konnte, fühlte er nichts als eine knochentiefe Müdigkeit.

„Was zum Teufel geht hier vor sich, Hizumi?“

 

„Wir sollten das nicht hier besprechen.“

 

„Oh, doch, wir sollten das genau hier und genau jetzt besprechen.“ Zero verzog den Mund zu einer verärgerten Grimasse, als ihm bewusst wurde, weshalb er sich die ganze Zeit über so seltsam gefühlt hatte, weshalb er Karyu beinahe … Seine Hände ballten sich zu Fäusten.

„Wenn du und deinesgleichen schon in meinem Kopf herumspielt, hab ich ja wohl ein Recht darauf zu erfahren, was die Scheiße soll.“ Seine Stimme war leise, obwohl er den anderen am liebsten angeschrien hätte.

 

„Meinesgleichen“, echote Hizumi, einen verletzten Zug um den Mund. „Ich hab nichts weiter getan, als zu verhindern, dass Karyu und du ein unschöner roter Fleck am Boden des Aufzugschachts werdet.“ Hizumi fauchte wie ein wütender Drache und es hätte ihn nicht gewundert, würden seine Schwingen aus seinem Rücken brechen. Doch die Gestalt vor ihm blieb unverändert und langsam sickerte auch das Gesagte durch den roten Nebel der Wut, der von seinem Geist Besitz ergriffen hatte.

 

„Was?“ Er schüttelte den Kopf und schaute sich um, aber ihre Freunde waren noch immer in einer hitzigen Debatte gefangen. „Ich versteh nicht, was ist aus ‚ich darf mich nicht einmischen‘ geworden?“

 

„Wenn die Gegenseite unfair spielt, muss auch ich mich nicht an die Regeln halten.“ Nur langsam entspannte Hizumi seine Haltung, wurden die durchdringenden Augen sanfter, mitfühlend. „Es tut mir leid. Über die Distanz hinweg konnte ich nicht verhindern, dass sie in deinen Geist eindringen und du warst zu empfänglich für ihre Suggestionen, als dass du dich wie sonst dagegen hättest wehren können.“

 

„Wer sind sie?“, presste Zero zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch und versuchte vergebens, seinen Zorn im Zaum zu halten.

 

„Schachmeister“, murmelte Hizumi, doch er blickte ihn nur weiterhin fragend an. „Zwei Parteien, Gegner, schwarz und weiß und Karyu und du seid nichts weiter als Figuren auf ihrem Spielbrett.“

 

„Wenn das das Interesse höherer Mächte ist, das ich angeblich geweckt habe, dann kann ich gut und gerne darauf verzichten. Sag deinem Verein, dass ich keinen Bock darauf habe, ihm beizutreten.“

 

„Zero, ich …“

 

„Nein“, zischte er und ging einen Schritt zurück, als Hizumi nach ihm greifen wollte. „Ich bin müde, lass mich einfach in Ruhe, okay?“

 

Ohne einen Blick zurück und ohne Tsukasa und Karyu Aufmerksamkeit zu schenken, stapfte er davon. Kaum hatte er die geschützten Häuserschluchten hinter sich gelassen, wehte ihm ein beißender Wind um die Ohren, der mit Nachdruck deutlich machte, dass der Spätsommer schon alt und die Nächte deutlich zu kalt dafür waren, ohne Jacke draußen zu sein. Aber selbst, als sein ausgelaugter Körper ungehalten zu zittern begann, störte ihn das nicht. Das Einzige, woran er denken konnte, war das Gefühl des Verrats, der Manipulation und … Karyus Atem, der über sein Gesicht wisperte wie die zarte Berührung eines Geliebten. Energisch schüttelte er den Kopf, rieb sich über die Augen, die verdächtig zu brennen begonnen hatten, und stieg im Hotel angekommen die vielen Stufen nach oben bis in das Stockwerk, in dem sich sein Zimmer befand.

 

Und als es einige Zeit später zaghaft an seiner Tür klopfte und Karyus verunsicherte Stimme leise seinen Namen rief, zog er sich lediglich die Decke über den Kopf und tat so, als hätte er nichts gehört.

 

 
 

~*~

Some legends are told

Some turn to dust or to gold

But you will remember me

Remember me, for centuries

And just one mistake

Is all it will take

We'll go down in history

Remember me for centuries

~*~

 

 

 

-_-_-_-_-_

Ich bin betrunken und hab keine Ahnung, ob das, was ich hier geschrieben habe, überhaupt Sinn macht. Aber hey, es ist noch Oktober und ich hab wie geplant das nächste Kapitel für euch. Falls es euch gefällt, wäre Feedback echt ein Träumchen. Joa, das war‘s. ;) Bye und … Happy Halloween!



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Ryo-ki
2023-02-09T02:28:00+00:00 09.02.2023 03:28
Wie schön, dass Zero die Geschichte doch erzählt. Nach dem letzten Kapitel war ich mir nicht sicher, ob es wieder einen kompletten Szenen- und Settingswechsel geben würde.
Witzig fand ich die Unterbrechung seiner Erzählung durch Karyus Kommentare. Noch mehr, weil ich bereits vermutet hatte, wer dahintersteckt.
Und daraus ist dir sehr schön gelungen, diesen Witz der Situation, der nie ganz den Ernst der Erinnerung vergessen lässt, wieder in die Schwere überzuleiten, als Zero weitererzählt, heraus aus dieser wunderschönen Erzählung - und bestätigst zum ersten Mal direkt den Verdacht hinsichtlich der Verbindung zwischen der Vergangenheit und dem Jetzt. Dazu die Überheblichkeit des Diebes, die Zero ebenso schmerzvoll bewusst ist und zusätzlich Karyus Reaktionen darauf. Ich vermute, dieser erkennt unterbewusst viel mehr als er das auf der bewussten Ebene tut.
Die Steigerung ist wunderbar intensiv. Im Grunde war mir längst klar, dass das negativ ausgehen muss, aber der Wunsch, dem wäre nicht so, hält sich dann trotzdem immer und umso mehr konnte auch Zeros Reaktion wirken. Zumal ich die Balance mag, mit der er einerseits bisweilen sehr distanziert darüber spricht, so als wäre das wirklich nur ein Märchen, das er nur gut genug erzählen kann, dass Karyu es für eine Tatsache hält, und zum anderen so tief darin versinkt, dass Karyu eigentlich jeden Augenblick erkennen könnte, dass Zero bei Weitem nicht so unbeteiligt ist, wie er sich gibt.
Die Verwirrung, weil ansonsten alle gar nicht zu wissen scheinen, dass die beiden gerade etwas erlebt haben, war gut, auch wenn ich schnell vermutet habe, dass das auch tatsächlich stimmt, genauso wie Zero dann auch. Mir hat gefallen, dass er sofort die richtige Verbindung hergestellt hat, eine Vermutung hatte, selbst wenn es ein bisschen dauert, bis er sich danach erkundigen kann.
Das vor dem Restaurant hat mich kurz verwirrt, weil es so abrupt kam. Was ich interessant dabei finde, es taucht immer wieder kurz auf, im Kapitel zuvor erst als Ziel, dort essen zu gehen, doch der Fokus landet dann auf der Zeit im Aufzug, danach rutscht das Restaurant und das Essen wieder in den Vordergrund - und dann gehen sie doch nicht hinein, sondern verzichten darauf.
Dafür hatte ich Zero an der Mauer direkt vor Augen, weil ich das Bild total gern mag. Und ich finde die kleinen Zwischensequenzen immer wieder gut, die sie charakterisieren, ein Stück zeigen, wie sie sind, was es in der Vergangenheit schon gegeben hat, wie die Schilderung mit dem Orientierungssinn.
Ich zweifele ja noch immer daran, ob Zero wirklich Recht damit hat, dass er sich das alles verbieten muss, gerade nach seiner Erzählung. Natürlich ist es nicht schön, in eine bestehende Beziehung zu platzen, aber der Verlauf lag nicht an ihm allein. Dass das für die Gegenseite anders wirkt, gerade in dem Setting, das ich mir vorstelle, überrascht mich nicht, aber das macht die Handlung des Fürsten nicht richtiger - und deswegen ist eigentlich auch nichts falsch daran, was Karyu und Zero verbindet. Und zugleich verstehe ich, dass er dennoch alles tut, um eine weitere Wiederholung zu vermeiden.
Warum wusste ich nur, dass das nichts wird, je mehr die Spannung zwischen beiden nach oben ging? Nicht nur, weil es so scheint, dass Karyus Unterbewusstsein weiter an die Oberfläche drängt, sondern weil auch Zero sich nicht wehrt. Ich frage mich ja, ob das wenigstens irgendwann belohnt wird, wenn er widersteht oder sie unterbrochen werden. Dass ich auf die Antwort noch warten muss, weiß ich, die Geschichte soll ja auch noch nicht zu Ende sein. Aber es wäre doch schrecklich, das die ganze Zeit zu tun und dann bringt das nicht mal etwas.
Hizumi ist noch immer viel zu mysteriös, aber das setzt du gut um, denn du bringst neue Antworten und wirfst zugleich weitere Fragen auf. Ist er ein Abtrünniger derjenigen, die sich da beständig einmischen und wenn ja, warum? Dazu dessen sehr intensive Reaktion und der Vergleich mit Drachen und Schwingen, was mich zurück zu dem Dämon aus dem 1. Kapitel bringt. Eigentlich ist alles mysteriös, denn was ist denn nun eigentlich unfair, wenn das alles für mich noch nie fair gewesen ist. Irgendwelche Spielregeln haben sich geändert, die Zero verwirren und dann zu sehen, dass sie gerade mal als Figuren in einem solchen dienen, bringt zusätzlich die Frage nach dem noch viel größeren Plan oder Ziel. Und natürlich nach allem auch ein bisschen, wo sich denn der Fürst verbirgt. Es scheint quasi unmöglich, dass er nicht irgendwie auch in der Nähe ist (ich habe da eine Überlegung, aber die behalte ich noch für mich).
Hat Karyu die Treppe auch genommen? Gerade von diesem hatte ich das gedacht, aber Zero hat anscheinend ebenfalls die Nase von Aufzügen voll, jedenfalls fürs Erste (wobei ihm ziemlich sicher nichts geschehen würde, solange er da ohne Karyu drin ist). Und es ist so schade, dass Zero sich dann doch verkriecht, gleichzeitig dachte ich schon ganz zu Anfang des letzten Kapitels, dass er doch so langsam vor lauter Müdigkeit einfach einschlafen müsste. Es ist zumindest vermutlich sicherer, nicht zu reagieren, bevor er sich durch Übermüdung doch noch verplappert oder etwas Unüberlegtes tut (auch wenn ich mir für die beiden etwas anderes gewünscht hätte; und außerdem wollte ich doch wissen, was jetzt in Karyu vorgeht, nachdem sie unterbrochen wurden und was genau er bei Zero wollte T___T).
Der erste Kommentar hat gedauert, aber hier ist er und ich kann endlich weiterlesen (wenn ich erst weiterschaue, schreibe ich keinen Kommentar mehr, also muss ich immer pausieren, egal wie sehr ich weiterlesen will, das macht Cliffhanger auch umso gemeiner xDD).


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