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Metropolentänzer

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Heute habe ich keinen Song, sondern eine Playlist :D
Wer neugierig ist, wie Yuriys Musik (bzw. seine DJ-Sets) klingen könnte, darf mal hier vorbeigucken. Bei ihm ist eigentlich nur wichtig, dass der Bass schön wummert xD
Wenn ich viel Langeweile habe, mach ich noch ähnliche Listen für Mathilda, Salima und Vanja.

Dieses Kapitel ist laaaang. Ich habe ewig überlegt, ob ich es teilen soll, aber ganz ehrlich - nö. Komplett anzeigen

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True Romantics

Kai und Takao bezogen Hiromi längst in ihre gemeinsamen Sushiabende mit ein. Zu dritt war es zwar nicht dasselbe wie vorher, aber trotzdem sehr schön. Und mit der Zeit merkte Kai, dass er vor Hiromi genauso offen sein konnte wie vor Takao, was das Ganze erleichterte. Sie hatten es schon ein paarmal geschafft, sehr beschwipst von Sake zu werden und einige ziemlich peinliche Geschichten aus der Zeit aufzutischen, als Kai und Takao zusammen gewesen waren. Das war am Anfang noch nicht so leicht gewesen. Hiromi und Kai hatten sich sehr lange sehr zurückhaltend beäugt. Und ja, auch für Kai war es seltsam gewesen, Takao wieder langfristig in festen Händen zu sehen. Es war einfach anders als kurze Flirts, der er nie hatte ernst nehmen können. Inzwischen waren diese Differenzen aber aus dem Weg geräumt; Kai konnte sich für Takao und Hiromi freuen und Hiromi wusste seine Vorzüge ebenfalls zu schätzen.

Und so stand er am Samstag vor ihrer Wohnungstür. Normalerweise trafen sie sich bei Takao, daher war er zum ersten Mal bei ihr. Für ihn war es eine halbe Weltreise, denn sie wohnte in Moabit. Es war eine ruhige Gegend mit hübschen Altbauten, wenn auch nicht so hip wie Friedrichshain. Hiromis Wohnung bestand aus einem großen Zimmer, Küche und Bad, die sie allesamt hell und luftig gestaltet hatte. Die Fenster gingen zum Innenhof, der Hauptraum hatte einen seltsam asymmetrischen Schnitt und es gab keinen Balkon, dafür aber Stuck an der hohen Decke. Als er hinter Hiromi in die Küche trat, fiel sein Blick auf Takao, der in den elektrischen Reiskocher starrte. Wasserdampf stieg auf. „Das sieht doch gut aus”, urteilte er und drehte sich um. „Hey, Kai! Schön, dass du da bist!”

„Ich habe Sake und Bier”, sagte Kai, „Soll das in den Kühlschrank?”

„Eine Flasche bitte gleich zu mir”, entgegnete Takao.

Hiromi dirigierte ihn an den Küchentisch und gab ihm eine Tüte mit Nori-Blättern, damit er auch etwas tat. Währenddessen mischte Takao Essig und Zucker unter den Reis und Hiromi selbst widmete sich dem Fisch.

„Wie geht’s dir?”, fing Takao an, „Was macht die Firma?”

Das war ein guter Einstieg, denn mit Anekdoten aus seinem Leben als CEO konnte er die beiden immer gut unterhalten. Allein mit Takao sprach er auch mal über tiefgreifendere Themen. In Hiromis Gesellschaft klappte das noch nicht so gut, obwohl sie sich während ihrer gemeinsamen Reise zusammengerauft hatten. Hiromi hatte durchaus die Stilaugen bemerkt, die Takaos Bruder auf Kai geworfen hatte, doch anstatt ihm das zum Vorwurf zu machen hatte sie sich köstlich mit ihm darüber amüsiert. Und natürlich fanden alle Berichte über seinen neuen Praktikanten hier ihr bestes Publikum.

„Aber komm, Kai”, rief Takao irgendwann, „Die Ringbahn ist gemein. Wie lange hast du gebraucht, um dahinter zu steigen, wie sie funktioniert?”

„Lange genug”, gab Kai zu, „Ich brauche heute noch manchmal ein paar Sekunden, um mich zu vergewissern. Und wenn ich mir dann endlich sicher bin, kommt sie nicht.”

„Das ewige Leid. Wir sollten froh sein, dass du es hierher geschafft hast.”

Während sie den Reis abkühlen ließen, öffneten sich auch Kai und Hiromi das erste Bier. Draußen wurde es schon langsam dunkel. So lang die Tage im Sommer auch waren, im Winter waren sie dafür umso kürzer. Im Dezember ging die Sonne schon um drei Uhr nachmittags unter, und das war einer der Gründe, weshalb Kai wirklich froh über Weihnachtsbeleuchtung war. Aber noch war es nicht soweit. An manchen Tagen schien eine goldene Herbstsonne und der Himmel war blau und wolkenlos. Neulich erst war er mal wieder mit Giulia und Raoul über den Flohmarkt auf dem Boxhagener Platz geschlendert - bald würde der auch in die Winterpause gehen. Es war beinahe angenehmer als im Sommer, weil nicht ganz so voll und, weil der Kaffee, den sie sich gekauft hatten, nicht zu warm sondern gerade richtig war.

„Übrigens.” Takao ergriff das Wort, als längst das Essen auf dem Tisch stand und sie sich schon am Reis und Fisch bedienten. „Wir überlegen gerade, ob wir dieses Jahr über Weihnachten und Neujahr nach Japan fliegen. Hiromi hat noch ziemlich viel Urlaub und ich bin bis dahin wahrscheinlich auch wieder reif für die buchstäbliche Insel.”

„Gute Idee”, gab Kai zu, „Wollt ihr nur zu euren Familien oder plant ihr was Besonderes?”

„Silvester in Tokio wäre schon gut, oder?”, meinte Hiromi. Sie war gerade sehr auf ihr Essen konzentriert, und Takao warf Kai über den Tisch hinweg einen bedeutungsschweren Blick zu. Kai war sich nicht sicher, ob er das meinte, was er dachte. Seine Mundwinkel zuckten. „Silvester in Tokio ist super, das solltet ihr auf jeden Fall machen.”

„Was machst du? Bleibst du hier?”, fragte Takao.

Kai nickte. Ein Besuch bei seiner Familie im Jahr genügte ihm vollkommen. Den Konflikt mit seinem Großvater hatte er bis heute nicht beendet, vielmehr machten sie beide lediglich gute Miene, wenn sie aufeinander trafen. Kais Mutter war mit dieser Situation weniger als einverstanden, und ja, es tat Kai leid, dass sie das Ganze mit ansehen musste, aber sie war auch nicht der Typ Mensch, der Machtworte sprach. Und so saß sie zwischen den Stühlen und griff nur dann ein, wenn es zwischen Soichiro und ihm zu eskalieren drohte. Das machte ihre Treffen nicht entspannter. So sehr er sich auch jedes Mal freute, Misaki zu sehen, so froh war er auch, wenn er nach spätestens zwei Wochen wieder gehen konnte. Es war kompliziert.

„Verstehe”, sagte Takao und ging nicht weiter auf das Thema ein. Hiromi hob den Kopf und blickte verständnislos von einem zum anderen, doch sie sagten jetzt nichts mehr, und sie akzeptierte ihr Schweigen. Die nächsten Minuten verstrichen in einträchtiger Stille. Dann rang Kai sich dazu durch, das Gespräch wieder aufzunehmen und Hiromi nach ihrem Befinden zu fragen. Sie war Referentin der Geschäftsführung bei einer großen Versicherung und hatte nach eigenen Angaben ihre Seele an den Teufel verkaufen müssen, um diesen Job zu bekommen. Kai hatte großen Respekt davor, hoffte aber, dass sie und Yuriy nie für ein längeres Gespräch aufeinander treffen würden. Jetzt erzählte sie bereitwillig von den neuesten Eskapaden ihres Bosses und dem Chaos, das, genauso wie bei anderen großen Firmen, bei ihnen herrschte. Nun war Takao derjenige, der eher wenig mitreden konnte, was er aber gut verkraftete. Sein Blick wanderte zwischen ihnen hin und her und er schien ehrlich glücklich in dieser Situation.

Schließlich beendeten sie das Abendessen und lehnten sich auf ihren Stühlen zurück. Hinter den Fenstern war es vollkommen dunkel geworden. Takao stand auf und stellte drei Sakebecher nebst der Flasche auf den Tisch.

„Wir gehen morgen übrigens zu einem Kneipenquiz”, sagte er, während er ihnen einschenkte, „Willst du nicht mitkommen?”

„Danke, aber ich bin schon verplant”, entgegnete Kai und nahm nickend einen Becher entgegen. „Ich habe ein Date mit Yuriy.”

Ihm fiel erst auf, was er gesagt hatte, als Takao beinahe sein Getränk aus der Hand rutschte. „Wie ist das denn passiert?”

„So war das nicht gemeint”, stellte Kai klar und versuchte zu grinsen, „Wir treffen uns einfach in der Lilli für ein paar Drinks.”

„Zu zweit?”

„Ja?”

„Und ihr habt es Date genannt, weil…?”

„Weil es witzig ist”, sagte Kai ungeduldig, aber es war offensichtlich, dass weder Takao noch Hiromi ihm ein einziges Wort glaubten. Takao räusperte sich vernehmlich und prostete ihnen zu. Sie tranken.

„So, und jetzt die Wahrheit”, sagte er dann.

„Es ist die Wahrheit”, antwortete Kai mit Nachdruck. „Ich treffe mich mit Yuriy. Wir trinken was. Weiter… weiß ich nicht.” Ihm wurde schon wieder so warm; hoffentlich lag es am Alkohol.

„Hmm…” Eins musste man Takao lassen, er konnte Kais charakteristisches Brummen sehr genau nachahmen. „Wer hat denn den Vorschlag gemacht, dass ihr euch trefft?”

„Yuriy. Und bevor du fragst, er hat angefangen, es ein Date zu nennen. Aber das ist nichts Besonderes, wirklich. Wir werfen uns die ganze Zeit dumme Sprüche an den Kopf.”

„Kai, ohne Scheiß”, sagte Takao, „Das sind keine dummen Sprüche. Sobald ihr zusammen seid, flirtet ihr. Hart. Ich muss es wissen, ich habe es schon live erlebt.”

Er öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch ihm wollte keine einfallen. Also schnaubte er nur.

Hiromi legte den Kopf schief. „Hättest du was dagegen, wenn es ein Date wäre?”

Er hob die Schultern, mehr, um noch eine Sekunde Zeit zu gewinnen. „Nein”, gab er zu.

„Und denkst du, Yuriy hätte was dagegen?”

Nun musste er wirklich überlegen, wenn auch nur unwesentlich länger als vorher. „Ich glaube nicht”, sagte er.

Sie Lächelte. „Na dann ist doch alles klar.”

Auf einmal fühlte Kai sich hilflos. War wirklich alles klar? Er hatte gar nicht so genau über sein Treffen mit Yuriy nachgedacht. Sie verabredeten sich ja regelmäßig zu zweit, und das zu wesentlich intimeren Dingen als Drinks in einer Bar. Herrgott, sie schliefen sogar im selben Bett, wenn sie beieinander übernachteten! Also was bitte war jetzt anders als sonst?

Wenn er ehrlich zu sich war, so musste er nicht lang über die Antwort nachdenken. Was aber nicht bedeutete, dass er sich intensiv damit beschäftigen wollte. Sein Plan war, dieses Date - oder was immer es war - möglichst ohne große Erwartungshaltung auf sich zukommen zu lassen.

„Drei verdammte Jahre, Kai”, sagte Takao in diesem Moment. Kai hatte gar nicht bemerkt, wie er eine zweite Runde Sake eingeschenkt hatte. Auf einmal war sein Becher wieder voll. „Seit drei Jahren zieht ihr Kreise umeinander. Ich weiß noch, wie du mir von ihm erzählt hast. Du hattest so ein krasses Pokerface - ich wusste sofort, es hat dich voll erwischt.”

„Takao-”

„Und dann ist er zu mir gekommen und war so klein mit Hut.” Takao deutete die Größe zwischen Daumen und Zeigefinger an. „Weil er dachte, dass ich als dein Exfreund noch irgendwas zu sagen hätte. Und glaub mir, ich habe Yuriy Ivanov noch nie kleinlaut erlebt.” Er sah zu Hiromi, als würde er ihr eine Anekdote erzählen, deren Protagonist nicht gerade mit am Tisch saß. „Ich wäre damals jede Wette eingegangen, dass es nur eine Frage von Tagen ist, bis sie sich aufeinander stürzen. Aber irgendwie haben sie sich wirklich einzigartig blöd angestellt.”

„Takao, ganz ehrlich…” Kai beendete den Satz nicht. Stieß die unverbrauchte Luft aus, frustriert. Er wusste nicht, was er erwidern, ja nicht einmal, was er denken sollte. Emotional war er auf einem ganz seltsamen Level, seit Yuriy ihm so schamlos seine Einladung hatte zukommen lassen. Deswegen hatte er auch nicht viel mit ihm kommuniziert - was aber nicht weiter auffiel, denn Yuriy hatte zwei lange Tage im Studio verbracht und war dann nach Warschau gefahren, von wo er erst morgen wiederkam. Und Kai selbst war beschäftigt damit, sein erstes Treffen mit Grypholion vorzubereiten. Er hatte sich schlicht nicht die Zeit genommen, über den morgigen Abend nachzudenken und fand das eigentlich auch ganz gut so.

„Hey, ich wollte dich jetzt nicht outcallen oder so”, sagte Takao. „Was ich sagen will, ist: Was hast du zu verlieren?”

Bei dieser Frage verdrehte er die Augen. „Unsere Freundschaft, Takao!”, sagte er laut, „Verstehst du das denn nicht? Berlin ohne Yuriy - das geht nicht! Nicht nach dem ganzen Scheiß der letzten Jahre.”

Sein Gegenüber öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. Sah ihn ungeduldig an. Hiromi an seiner Seite verfolgte die Auseinandersetzung sichtlich überrascht von Kais Ausbruch, jedoch nicht im Mindesten beunruhigt. „Ist er der Grund, warum du hier gegründet hast?”, fragte sie neugierig.

„Nein”, sagte Kai sofort und meinte es auch so. „Eventuell habe ich mich auch wegen unserer Freundschaft dafür entschieden, hier bleiben zu wollen. Aber es war nur ein Grund von vielen.”

„Kai, alles was du hier sagst, zeigt mir, dass du mehr für ihn übrig hast als ein rein sexuelles Interesse”, sagte Takao sehr ruhig, und Kai hatte das Gefühl, dass er gerade den Streetworker vor sich hatte, der sich jeden Tag mit Familiendramen auseinandersetzte. „Also warum denkst du, es gäbe zwischen euch nur reine Freundschaft oder einen Fick? Ich kenne Yuriy nicht so gut wie du inzwischen, aber ich bin ziemlich sicher, dass er dich ähnlich schätzt und respektiert wie du ihn. Also sollte es doch möglich sein, dass ihr einfach mal über eure Gefühle füreinander redet.”

In Kai kochte sehr kurz Ärger hoch, der sich aber eher gegen ihn selbst als die anderen richtete. Wann zur Hölle war es so kompliziert zwischen Yuriy und ihm geworden? Sie hatten jahrelang eine wunderbare Freundschaft geführt und es war nie ernsthaft etwas passiert, was anderes vermuten ließ. Lag es daran, dass er, während er Miguel gedatet hatte, merkte, wie er trotzdem mehr Zeit mit Yuriy verbrachte? Oder daran, dass er schon seine Meinung zu Garland und Yuriy hatte, diese aber niemals aussprach?

Er seufzte resigniert. „Ich möchte das nicht unbedingt mit euch ausdiskutieren”, sagte er, weil es der Wahrheit am nächsten kam. Takao war sein Exfreund, verdammt. Und Kai merkte, dass er deswegen der letzte Mensch war, mit dem er sich über sein Liebesleben unterhalten wollte. Zum Glück respektierte der andere das.

„Okay”, sagte er. „Dann lass uns noch ein paar Gläschen trinken, und ich lästere ein bisschen über meine Klientel.”
 


 

Am Sonntagabend stand Yuriy unschlüssig vor seinem Kleiderschrank. Er war müde und nervös, eine seltsame Kombination. Erst vor drei Stunden war er aus Warschau zurückgekommen, und anders als sonst war es ihm nicht gelungen, im Zug ein bisschen Schlaf nachzuholen. Sein Gepäck lag noch unangetastet auf dem Boden, er würde sich morgen darum kümmern.

Sich für die Lilli schick zu machen war absurd. Die Bar lag im Wrangelkiez und war ziemlich ungezwungen - im Hemd fiel man dort eher auf als im Fummel. Er hatte diesen Ort vor allem wegen seiner Lage gewählt - Kai wohnte quasi, also für Berliner Verhältnisse, um die Ecke - aber auch, weil sie im Notfall einfach dort abhängen konnten, ohne Hintergedanken.

Nicht einmal Boris wusste von diesem Treffen. Es war einfach zu wahrscheinlich, dass die Information dann an die falschen Leute geriet und sie am Ende zu zehnt dort aufkreuzten. Hatte es alles schon gegeben. Er liebte seinen Freundeskreis, aber manchmal waren sie einfach zu eng verbandelt. Boris schraubte heute mit Sergeij in dessen Werkstatt an seinem Subaru herum, daher wähnte Yuriy sich in Sicherheit. Er zog ein recht unspektakuläres, aber gut sitzendes schwarzes Shirt aus seinem Schrank, warf es über und fuhr sich durch die Haare. Er musste unbedingt zum Friseur gehen, denn so langsam ließ sich der Mob auf seinem Kopf nicht mehr bändigen.

Yuriys Gedankengang wurde unterbrochen, als er einen flüchtigen Blick in den Spiegel warf und ihm dabei etwas ins Auge stach. Mit gerunzelter Stirn trat er näher. Tatsächlich: Ein einzelnes weißes Haar zog sich durch eine der roten Strähnen, glitzernd im Licht der Deckenlampe. Vielleicht war es bisher verdeckt worden, jedenfalls war es ihm noch nie aufgefallen. Und das, obwohl es sehr dicht an seinem Haaransatz wuchs. Ergeben seufzend wandte er sich ab. Wenn Boris ihn demnächst stressen sollte, würde er ihn lautstark für sein plötzliches Ergrauen verantwortlich machen. Verdient hatte sein bester Freund es allemal.

Obwohl es nachts bereits merklich kühler wurde, zog Yuriy nur seine Lederjacke über das Shirt. Seinen alten Mantel hatte er letzten Winter verschlissen, und bisher hatte er auch noch keine Zeit gefunden, sich einen neuen zu besorgen. Da es vom Schlesischen Tor aber nicht sehr weit war bis zur Bar, ließ er es drauf ankommen. Während der Fahrt dorthin nahm wieder die Nervosität Oberhand. Er redete sich ein, dass dies hier nur ein normales Treffen mit Kai sein würde, aber er konnte sich nichts vormachen. Dabei hatte er nicht einmal einen Plan im Kopf, kein großangelegtes inniges Geständnis und schon gar keine unangebrachten Annäherungsversuche. Wahrscheinlich würde er einfach mit ein wenig Nachdruck flirten und dann sehen, wohin der Abend führte. Bloß keine zu hohen Erwartungen.

Klar, dass Kai die wenigen Erwartungen, die er hatte, weit übertraf. Er wartete am Gleis auf ihn, und als Yuriy ihn sah, wurde ihm das ganze Ausmaß seines „Problems” bewusst. Jepp, das hier war ein Date, er hatte es angezettelt und in Kais Blick lag etwas, das ihm bestätigte, dass das alles absolut richtig so war.

Kai war genauso unauffällig gekleidet wie er selbst, doch irgendwie schaffte er es, dass Klamotten an ihm immer saßen wie maßgeschneidert. Als Yuriy ihm entgegen gekommen war, hatte er noch gelächelt, doch nun hob er die Augenbrauen. „Du siehst fertig aus. Bist du sicher, dass du den Abend durchhältst?”

„Hey, ich werde jetzt erst richtig wach”, entgegnete er, und das war nicht einmal gelogen. Sein Körper begann sich daran zu erinnern, dass er nachts arbeitete und bescherte ihm einen kleinen Energieschub - der hoffentlich nicht sofort wieder verpuffen würde.

„Dein Wort in Gottes Gehör”, stichelte Kai, aber er ging nicht weiter darauf ein, sondern schlug den Weg raus aus dem Bahnhof und in Richtung Wrangelkiez ein. Während sie zur Bar liefen, stellten sie beide fest, dass sie schon seit einer ganzen Weile nicht mehr dort gewesen waren. Die meisten LGBTQIA+ Lokalitäten befanden sich im Westen der Stadt, es gab überhaupt weniger Orte in der Nähe, an denen sie sich ungestört treffen konnten. Womöglich lagen ihre wenigen Barbesuche aber darin begründet, dass sie, wenn, dann meistens auf direktem Weg in einen Club zogen.

Die Lilli war mäßig voll, eine recht normale Situation für einen Sonntag im Herbst. Draußen saßen die eher Hartgesottenen, und da Yuriy bereits auf dem kurzen Weg hierher ziemlich kühl geworden war, stand außer Frage, dass sie sich drinnen einen Platz suchen würden.

Sie bereuten ihre Entscheidung, sobald sie die Bar betraten. Denn die ersten Personen, die sie dort sahen, waren Gianni und Oli.

„Na schau mal einer guck.” Prompt schallte Olis bühnenerprobte Stimme durch den Raum. „Wen haben wir denn da? Hanni und Nanni.”

Immer noch wie angewurzelt verharrten sie am Eingang; Yuriy warf Kai einen Blick zu, den der andere erwiderte. Er formte stumm das Wort „Fuck” und Kai verzog den Mund zu einem resignierten Grinsen.

„Eeeey!” Das war Giancarlo. „Wir haben noch was frei, kommt rüber!”

Etwas anderes blieb ihnen auch nicht übrig. Yuriy jedenfalls hatte keine Lust, den ganzen Abend die Blicke der anderen beiden im Rücken zu spüren, wenn sie ihnen keine Gesellschaft leisteten. Außerdem würde das die Gerüchteküche innerhalb ihrer Clique durch die Decke gehen lassen. Also schoben sie sich durch den Raum und ließen sich auf eine winzige gepolsterte Bank sinken. Immerhin wurde ihm jetzt wieder warm. Die Leute saßen recht eng an bunt zusammengewürfelten Tischen; erst auf den zweiten Blick wurden die tatsächlichen Ausmaße der Bar erkennbar, die Perspektive wurde verzerrt durch Spiegel an der Wand und das schummrige Licht. Die kleine Bühne in der Ecke lag heute allerdings in der Dunkelheit.

Yuriy spürte Kais Bein an seinem, während der sich umständlich aus seinem Mantel schälte. Es war ein tröstliches Gefühl. Noch einmal trafen ihre Blicke sich, und Yuriy versuchte ein entschuldigendes Lächeln, woraufhin Kai nur kaum merklich die Schultern hob. „Gianni”, sagte er dann und deutete auf die leeren Gläser, die schon auf dem Tisch standen, „Sollen wir eine neue Runde besorgen?”

„Auf jeden Fall!”, entgegnete Giancarlo gut gelaunt. Als sie sich erhoben, um zur Bar zu gehen, strich Kais Hand kurz über Yuriys Schulter, was ihn dazu brachte, ihm nachzusehen. Er merkte erst, was er tat, als Oli ihn ansprach. „Und, warum seid ihr an einem Sonntagabend noch unterwegs?”

„Nur was trinken”, entgegnete er, „Du weißt doch, mein Wochenende fängt jetzt erst an.” Er wollte Oli keine Chance geben, seine Antwort anzuzweifeln, als schob er sofort eine Frage hinterher: „Und ihr? Ich hätte euch nicht unbedingt in einem Laden wie diesem erwartet. Ihr wohnt doch um die Ecke vom Nolle.”

„Das ist wohl wahr”, sagte Oli, „Aber bevor ich zu dem großen Star wurde, der ich jetzt bin, habe ich mich auf vielen kleinen Bühnen herumgetrieben - unter anderem auf dieser da.” Oli zeigte in den Raum hinein. „Und Gianni und ich wollen das ein bisschen feiern. Zumindest mit ein, zwei Drinks. Unser Wochenende ist nämlich tatsächlich schon zu Ende.”

„Verstehe.” In diesem Moment kamen die anderen beiden zurück. Kai reichte ihm ein Glas, von dem sofort kaltes Kondenswasser auf seine Jeans tropfte. „Gin Tonic”, sagte er, als er sich wieder neben Yuriy setzte. Sie prosteten sich mit Gianni und Oli zu, und dann nahm der Abend irgendwie seinen Lauf.

Yuriy hielt sich weitestgehend aus dem Gespräch heraus. Kai hatte wohl angefangen, mit Gianni über „The Fab Shop” zu sprechen, als sie an der Bar waren, und nun nahm letzterer den Faden wieder auf. Auch Oli mischte sich irgendwann in den Business-Talk ein. Es war Yuriy nicht unrecht, dass er schweigen konnte. Irgendwie war er doch ziemlich müde von den letzten Tagen. Das Festival in Warschau war ziemlich wild gewesen, er hatte letztendlich bestimmt eine Stunde länger gespielt als geplant, und dann hatte es eine ganze Weile gedauert, zurück zum Hotel zu kommen. Und auch wenn die Planung und Koordination seine Gedanken fast vollständig eingenommen hatten, so hatte er doch nie ganz seine Verabredung mit Kai verdrängen können. Auch die ständige unterschwellige Nervosität forderte nun ihren Tribut. Natürlich hatte er sich diesen Abend anders vorgestellt, aber ändern konnte er an der Situation nun nichts mehr. Er hoffte lediglich, dass Gianni und Oli wirklich nach dem nächsten Drink gehen würden; schließlich waren sie ziemlich weit von zu Hause entfernt. Sein Blick wanderte von den beiden, die ihm gegenüber saßen, zu Kai. Seine neue Frisur war noch nicht wieder herausgewachsen, wenn auch etwas voluminöser als noch vor ein paar Wochen. Die feinen Härchen in seinem Nacken glänzten im Licht einer gedimmten Glühbirne, die neben ihnen von der Decke hing. Yuriy wusste, dass seine Haut dort sehr weich war, doch er wagte nicht, Kais Hals zu berühren. Stattdessen legte er irgendwann wie nebenbei den Arm hinter ihm auf die Lehne, eine weit unverfänglichere Geste. Seine Finger strichen unauffällig über Kais Schulter, und nach ein paar Sekunden merkte er, wie der andere sich ganz leicht in die Berührung lehnte. Spätestens jetzt blendete Yuriy vollkommen aus, was um ihn herum passierte, und konzentrierte sich auf den Stoff von Kais Shirt unter seiner Hand und seine Wärme, die auf ihn abstrahlte. Er musste sich zusammenreißen, um nicht die Augen zu schließen und stattdessen doch ein paarmal in die Runde zu blicken, als würde er dem Gespräch interessiert folgen.

Wie nebenbei leerten sich ihre Gläser. Gianni bemerkte es als erstes und hob seines in die Höhe. „Was meint ihr, noch eine Runde?”

Erst bei diesen Worten schreckte Yuriy wieder hoch. Natürlich wollte er absolut keine neue Runde, jedenfalls nicht zu viert, doch anders als sonst hatte seine Schlagfertigkeit dank der letzten Tage ganz schön an Geschwindigkeit verloren. .

„Ich weiß nicht, Gianni”, sagte Kai in diesem Moment. „Ich hab morgen ein ziemlich wichtiges Meeting.” Er drehte sich zu Yuriy um. „Sollen wir gehen?”

„Was?” Enttäuschung schwappte über ihn, doch Kai blickte ihn bedeutungsschwer an. „Ich kann dich zur Warschauer bringen. Oder wir spazieren zu mir nach Hause und du nimmst die U5.”

„Oh.” Langsam dämmerte ihm, was sein Begleiter ihm sagen wollte. „Oh! Ja, lass uns das machen.” Endlich erlaubte er sich ein Gähnen, das vielleicht einen Ticken zu stark ausfiel. „Ich bin auch irgendwie müder als gedacht”, behauptete er.

„Schade! Das war kurz.” Oli streckte die Arme nach ihnen aus, doch da sie sich einig waren, ließen sie sich nun nicht mehr aufhalten. „Lasst uns doch noch mal was ausmachen”, schlug Yuriy vor, und tatsächlich konnte er Oli damit etwas besänftigen. „Dann auch gerne im Regenbogenkiez, wenn es mal wieder entspannter ist.” Er zwinkerte.

„Ich nehm dich beim Wort, Ivanov!”, rief Oli ihm hinterher, doch er winkte nur noch einmal, bevor er Kai folgte, der schon fast an der Tür angekommen war.
 

Draußen war es still und kalt. Zwar standen ein paar Leute zum Rauchen hier und da, aber sonst war so gut wie niemand auf der Straße.

„Tja”, sagte Kai amüsiert, „Das war tatsächlich kurz.”

Yuriy schüttelte den Kopf. „Wie viel Pech kann man haben? Sorry. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.”

„Naja.” Kai nestelte an seinen Mantelknöpfen herum, warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. „Wenn du mich wirklich bis nach Hause bringst, haben wir schätzungsweise noch eine halbe Stunde. Mehr, wenn wir noch irgendwo ein Wegbier finden.”

„Ich mag wie du denkst, Hiwatari…” Er zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Anschlag hoch und schob die Hände in die Taschen. Sein Outfit war absolut ungeeignet für einen langen Spaziergang, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Kai hingegen schien die Kälte nicht so viel auszumachen.

Sie liefen zurück zum Schlesischen Tor und dann hinauf Richtung Warschauer Straße. Einmal ratterte eine U-Bahn vorbei, ein paar Meter über ihnen. Auf der Oberbaumbrücke wehte ein recht scharfer Wind. Sie vermieden die alte Brückenkonstruktion, unter der es immer nach Pisse roch. Yuriys Blick ging über die Spree, hin zu einem Apartmentturm etwas weiter weg, gegen dessen Bau er vor bald zehn Jahren noch demonstriert hatte. Davor waren die Flussufer hier Brachland gewesen; Brachland und Mauerreste.

Obwohl ihm durch die Bewegung höchstens minimal wärmer wurde, schlug Yuriy keinen schnelleren Schritt an. Sie schwiegen sich die meiste Zeit an, aber es war nicht unangenehm, im Gegenteil. Sie genossen die Gesellschaft des anderen. Es war immer so zwischen ihnen, wenig Worte, viel Gucken, selbst bei ernsthaften Gesprächen. Yuriy mochte es, wie schnell Kai seine Gedankengänge verstand - und das trotz ihrer Sprachbarriere. Schwierig wurde es eigentlich nur, wenn Kai von Dingen sprach, für die es nur in Japan ein Wort gab. Aber ihm gelang eigentlich immer eine präzise Beschreibung, ob nun auf Englisch oder auf Deutsch. Im Notfall versuchten sie es mit russischen Begriffen. Russisch war Kais schlechteste Sprache, aber Yuriy sagte nie etwas dazu; er hatte zu viel Respekt davor, wie gut Kai die anderen beherrschte.

Sie erreichten die Warschauer Straße, wo sich ein paar Hotels und Spätis abwechselten, in denen auch zu dieser späten Stunde zumindest noch das touristische Leben weiterging. Auf den Stufen des U-Bahnhofes gegenüber und in dem Haltestellenhäuschen der Straßenbahn saßen Teenager und tranken.

„Sollen wir uns hier was mitnehmen?”, schlug Kai vor. Im Sommer hatten sie es regelmäßig so gehalten wie die Kids hier: Sich mit einem letzten Bier auf den Bordstein oder eine Bank gesetzt und es irgendwie geschafft, zu reden (oder besser: zu schweigen? Oder was auch immer sie taten, um miteinander zu kommunizieren), bis die Sonne aufging. „Später”, entgegnete Yuriy aber, da er ahnte, dass die Spätis hier teurer waren als dreihundert Meter weiter. Vor ihnen stolperte eine Gruppe Menschen aus einem der Hoteleingänge, sodass sie ausweichen und etwas näher zusammenrücken mussten. Er spürte, wie sich Kais Hand unter seinen Oberarm schob, während sie etwas schneller liefen. Die Touristen bogen gleich wieder in die Karakokebar ab, aus der selbst heute schräges Wummern nach draußen drang. Dann hatten sie die S-Bahn-Brücke erreicht. Schwarzer Himmel über der Stadt ohne Sterne und der Fernsehturm, wesentlich näher als Yuriy es gewöhnt war. Kai löste den Griff um seinen Arm.

Je näher sie dem Frankfurter Tor kamen, desto mehr ebbte das nächtliche Gewimmel wieder ab. In der Mitte der breiten Straße war ein Grünstreifen, die Bäume ließen langsam ihre Blätter, das trockene Laub raschelte über ihnen im Wind. Nach ein paar Minuten überholte sie eine Straßenbahn, verströmte dabei ihr gelbliches Licht. Drinnen ein paar Menschen wie in einem Hopper-Bild. Der nächste Späti kam auch bald in Sicht - leuchtend und blinkend an einer Straßenecke, als hätte man den Ton abgedreht. Sie waren die einzigen Kunden, auch das ungewöhnlich, in den wärmeren Monaten war einfach mehr los. Kai nahm zwei Flaschen aus einem der Kühlschränke und Yuriy legte noch eine Schachtel Zigaretten drauf, bevor er bezahlte. Als sie wieder draußen standen, reichte er Kai eine der Flaschen. Dabei streiften sich ihre Hände.

„Gott, Yuriy, deine Finger sind eiskalt!”

Er hob nur die Schultern. „Das ist ja nun nichts Neues.”

Kai schnaubte, sein Blick war zweifelnd. Yuriy hoffte, dass man ihm nicht ansah, wie kalt ihm wirklich war, aber er machte sich nichts vor; er war komplett durchgefroren. „Guck mich nicht so an, wir sind doch sowieso gleich da.” Das stimmte leider, und eventuell ignorierte er in den nächsten Minuten die Kälte und lief absichtlich etwas langsamer.

Nun da sie die Hauptstraße verlassen hatten, war es noch ein wenig dunkler. Zu beiden Seiten standen Wohnhäuser, in denen nur noch wenige Lichter brannten. In der Ferne rauschte leise der Verkehr auf der Frankfurter Allee. Kais Wohnung war nur noch ein paar Aufgänge entfernt. Yuriy hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen - beispielsweise die Dinge, die er Kai eigentlich schon den ganzen Abend sagen wollte. Es wäre alles leichter gewesen, hätten sie sich zwischen fremden Menschen einen leichten Schwips antrinken können. Jetzt waren sie allein in der Dunkelheit und etwas passierte zwischen ihnen, schon die ganze Zeit, aber er war zu befangen, um es anzusprechen. Warum zur Hölle fehlten ihm ausgerechnet bei Kai die Worte?

„Trinken wir noch aus, oder ist dir zu kalt?” Kais Stimme holte ihn aus seinen Gedanken. Sie standen vor dem Hauseingang, dessen Bewegungsmelder offensichtlich mal wieder kaputt war. Und das bei einem Neubau. Kurz kam Yuriy die Idee, dem anderen vorzuschlagen, oben noch einen Tee zu trinken. Aber das bedeutete auch, dass sie im grellen Licht der Wohnung sitzen würden, und er war sich nicht sicher, ob das so eine gute Entscheidung wäre. Also machte er nur eine vage Bewegung mit dem Kopf, und sie setzten sich auf die zwei Stufen, die zum Eingang führten. Schräg über Kai leuchtete das Klingelschild, ansonsten war kaum noch etwas zu erkennen. Die nächste Straßenlaterne wurde von einem Baum verdeckt. Jetzt, im Sitzen, berührten sich auch ihre Beine, ihre Hüften, ihre Schultern. Endlich war ihm nicht mehr ganz so kalt. Er griff in seine Tasche und zog die Zigaretten heraus.

„Das hier ist eine gefährliche Stelle”, sagte Kai sehr leise, „Im Sommer sitzen hier manchmal Leute, und es ist schrecklich. Der Eingang ist wie ein Verstärker. Wenn du Pech hast, kann das ganze Haus mithören.”

Yuriy schmunzelte und stieß den ersten Rauchschwaden in die Nacht. „Das erinnert mich an etwas”, sagte er. „Als wir gerade in unsere Wohnung gezogen waren, hat direkt unter uns ein Typ alleine gewohnt. Im Sommer haben wir immer die Fenster offen gelassen, und so konnten wir eigentlich alles hören, was er so in der Nacht getrieben hat. Das war nicht viel, aber einmal hatte er eine Frau dabei. Die beiden saßen wohl bei ihm auf dem Balkon, und er wollte sie rumkriegen. Hat gefühlt stundenlang rumgeturtelt, kam aber einfach nicht zum Stich. Was nervig war, weil er laut genug geredet hat, um mich wach zu halten. Aber irgendwann höre ich, wie Boris aus dem Bett steigt, das Fenster aufreißt - und dann brüllt er einfach nach draußen: Mädel, jetzt sag schon endlich ja! - und knallt das Fenster wieder zu.” Er nahm einen Zug. „Danach war Ruhe.”

Kai lachte leiste. „Deutsches Dating, schweres Dating”, meinte er, „Euer Nachbar hat sicher den ganzen Abend gekämpft.”

„Aber hallo”, sagte Yuriy. Er hob seine Flasche an und stellte enttäuscht fest, dass diese schon fast leer war. Aber er hatte ja seine Zigarette, und Kai schien auch noch ein bisschen länger zu brauchen.

„Ich habe nie kapiert”, sagte Kai, „Wie daten hier funktioniert. Also, abgesehen davon, dass sich sowieso niemand festlegen will. Aber es gibt auch keine Datingkultur wie in den USA, oder?”

„Nein”, bestätigte Yuriy, „Ich weiß gar nicht, ob es überhaupt eine einheitliche Kultur gibt. Kann ja nur für Berlin sprechen. Als ich aufgewachsen bin, war es so: Du gehst in die Disko, gräbst wen an, ihr knutscht rum und dann wart ihr zusammen. Klar, vielleicht hielt es nur ein, zwei Wochen. Aber es galt. Und war für die Zeit auch exklusiv.”

Wieder erklang Kais Lachen. Yuriy schloss kurz die Augen, spürte die Wärme der herunterbrennenden Zigarette an seinen Fingern.

„Und wie gräbt man Berliner so an?”, fragte Kai.

„Hmm”, machte Yuriy langgezogen. „Ist eigentlich nicht so schwer. Du gehst hin und machst einen dummen Spruch. So…” Er senkte die Stimme und beugte sich zu Kai. „Na Kleener, wie wär’s mit uns beiden?”

Der andere brachte wieder etwas Abstand zwischen sie, um ihn anzusehen. „Was bitte soll man darauf antworten?”, kam es verständnislos von ihm.

„Oh, also entweder mit einem genauso dummen Spruch - dann weiß ich, dass es geklappt hat. Oder du lässt mich abblitzen.”

„Ah.” Kai legte den Kopf schief. „Gib mir eine Minute.” Er griff nach seiner Flasche und trank sie aus. In Yuriy stieg leises Bedauern auf, denn das bedeutete, dass der Abend sich dem Ende neigte. Was sollte er tun, wenn Kai jetzt aufstand, um nach drinnen zu gehen? Ihn aufhalten?

Doch Kai blieb sitzen. Irgendwann wandte er sich ihm wieder zu. „Ich hab was”, sagte er und Yuriy hörte sein Grinsen. „Mach nochmal.”

„Was? Oh!” Es dauerte einen Augenblick, bis er verstand, und vielleicht setzte sein Herz für einen Pulsschlag aus. Dann riss er sich zusammen, räusperte sich theatralisch und stieß Kai mit der Schulter an. „Na Kleener”, säuselte er, „Wie wär’s mit uns beiden?”

Er konnte nicht erkennen, was in Kais Gesicht vorging, aber ihm schien, als würde er ihn verschmitzt anblinzeln, bevor er ebenfalls näher kam. Seine Hand strich ganz leicht über Yuriys Bein. „Sag mal”, raunte Kai, „Ist das dein Handy in deiner Tasche oder freust du dich nur, mich zu sehen?”

In jedem anderen Moment hätte Yuriy wohl losgeprustet. Aber gerade waren Kai und er sich so nahe, dass ganz andere Gedanken ihn beherrschten. Es dauerte ein paar Sekunden, bevor er feststellte: „Das war ein dummer Spruch.”

„Allerdings”, sagte Kai. „Der dümmste, den ich kenne.”

Yuriy beugte sich vor und küsste ihn. Erst nach ein paar Sekunden wurde ihm bewusst, was er tat. Kurz schoss die blanke Panik durch ihn, bevor ihm auffiel, dass Kai ihm entgegen gekommen sein musste, und vor allem, dass er den Kuss erwiderte. Und dann dachte er erst mal gar nichts mehr. Vergaß, dass sie auf einer kalten, harten Treppenstufe im Dunkeln saßen wie zwei Teenager, denn Kai brachte ihn in genau diesem Moment dazu, den Mund zu öffnen, damit ihre Zungen sich berührten. Vorsichtig tastete Yuriy nach dem anderen, seine Hand wanderte Kais Arm hinauf und legte sich - endlich - in seinen Nacken, um ihn ein Stück heranzuziehen. Spürte die weiche, warme Haut unter den Fingerspitzen. Kais Lippen waren am Anfang noch kalt gewesen, doch das hatte sich schnell geändert. Und auch Yuriys Körper schien auf einmal ignorieren zu können, dass er eigentlich fror. Es war sicher bald Zeit, sich wieder zu lösen - ernsthaft, Küsse sollten doch nicht so lange dauern, oder? - doch sie fanden immer wieder zueinander, als passierte ihnen das zum ersten Mal.

„Ich kann nicht aufhören”, murmelte Yuriy irgendwann in einer Atempause.

„Dann tu’s nicht”, entgegnete Kai, bevor er ihm wieder entgegen kam und ihn noch verlangender küsste als zuvor. Und das war eigentlich die beste Entscheidung, denn sobald sie hiermit aufhörten, würden sie reden müssen, oder?

In diesem Moment krallte sich Kais Hand, die immer noch auf seinem Oberschenkel lag, ganz leicht in seine Jeans. Diese Berührung löste erschreckend plötzlich einen Schauer in ihm aus, als würde sein Körper erst jetzt begreifen, wo er sich befand. Die Realität brach über Yuriy zusammen, und mit ihr die Kälte. Er fing an zu zittern, musste sich von Kai lösen, was das Ganze nur noch schlimmer machte.

„Oh Fuck, Yuriy”, hörte er Kai sagen, dann fühlte er, wie der andere die Arme um ihn legte und seinen Rücken rieb, als könnte er damit Wärme erzeugen. „Lass uns hochgehen, sonst erfrierst du noch.”

„Ist das so eine gute Idee?”, fragte er.

Als Kai seufzte, spürte er seinen Atem am Ohr. „Es ist mir wesentlich lieber, als wenn du jetzt gehst”, sagte er.



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Kommentare zu diesem Kapitel (7)

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Von:  WeißeWölfinLarka
2021-04-10T20:07:33+00:00 10.04.2021 22:07
Sehr viel Liebe für deine Playlists, die ich natürlich in meinen Favos habe und immer mal wieder reinhöre :D
Gut, dass du das Kapitel nicht geteilt hast. Mehr Lesestoff am Stück!

Ich finde die Einbeziehung von Hiromi sehr lieb an der Stelle. You know what that is? GROWTH! Ich mein das ernst, sehr schön, wie sie miteinander umgehen gelernt haben. … Und von welchen Vorzügen profitiert Hiromi bitteschön?
Außerdem finde ich immer noch was Tröstendes darin, dass Kai und Takao immer noch Freunde sind und sie einander wichtig sind.
Und sie machen gemeinsam Sushi! OMG Toll!
Warte, warte… oh Mann, das hab ich davon, dass ich die anderen Kapitel im letzten Jahr gelesen hab. Da lief aber nichts zwischen Hiro und Kai, oder? Kai hatte sich mit Yuriy schon darüber amüsiert, oder?
Ich fürchte, ich versmische gerade zwei verschiedene Fics von unterschiedlichen Autorinnen miteinander!
Oder doch nicht? Silvester in Tokio, da klingelt irgendwas….

>> hoffte aber, dass sie und Yuriy nie für ein längeres Gespräch aufeinander treffen würden.<<
Oi, das erinnert mich an die Stelle in Chefdaddy, als Kai ziemlich ungefiltert gegen Yuriys antikapitalistische Haltung gewettert hat ^^ (ich mag es, dass man immer so Stellen findet, die uns aneinander erinnert)

AHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHH!!!! ♥♥♥♥♥
>> „Kai, ohne Scheiß”, sagte Takao, „Das sind keine dummen Sprüche. Sobald ihr zusammen seid, flirtet ihr. Hart. Ich muss es wissen, ich habe es schon live erlebt.”<<
TAKAO - ICH FEIERE DICH SO HART !
Thank goodness, endlich einer, der ihm mal sagt, was Sache ist!

>> Aber irgendwie haben sie sich wirklich einzigartig blöd angestellt.”<<
Was kann ich dazu bloß sagen, als dass mir der Dialog zwischen (Kai – hier in Klammern, weil er grad nicht viel zu sagen hat), Takao und Hiromi sehr gefällt. Dieses anekdotenhafte Erzählen (ahahaaha, Yuriy klein mit Hut!!!), die kleinen Reminiszenzen aus GSGF, die Analyse – echt erste Sahne. Ich mag Takao, hatte ich das schon erwähnt? Ja, klar, aus Kais Sicht ist alles schwierig und so weiter und so fort – und ich verstehe das, ich sehe das, ja klar, - aber ein Blinder mit Krückstock sieht’s mittlerweile. Ich hab mir bei Takaos Beschreibung auch echt dieses Umherschleichen wie zwei Raubkatzen kurz vor dem Sprung vorgestellt, die sich immer taktieren… aber nie was machen.

>> Also sollte es doch möglich sein, dass ihr einfach mal über eure Gefühle füreinander redet.”<<
This, einfach nur this.
Sowas treibt mich in Geschichten jedes Mal zur Weißglut, weil die Probleme keine Probleme wären, wenn die Protagonisten mal miteinander reden würden!!
Gut, es ist ein … wie sagt mal, Plot Tool oder so? Die sollen ja zusammenkommen? Aber aaaargh, das ist hier echt slow burn der höchsten Güte!

>> Boris schraubte heute mit Sergeij in dessen Werkstatt an seinem Subaru herum,<<
Warum sehe ich ein blaues Auto vor mir… ? ;)

Und awwww, Yuriy ist nervös!
Hach!

>> Mit gerunzelter Stirn trat er näher. Tatsächlich: Ein einzelnes weißes Haar zog sich durch eine der roten Strähnen, glitzernd im Licht der Deckenlampe. Vielleicht war es bisher verdeckt worden, jedenfalls war es ihm noch nie aufgefallen.<<
Oh ich fühl das so. Just gerade hab ich mit meiner besten Freundin übers Ergrauen gesprochen. Aber Yuriy geht mit dem grauen Haar lockerer rum, als ich es kann. Ich habe eh schon wieder zu lange nicht gefärbt… es wird mal wieder Zeit. (Vor allem sind graue Haare immer so kratzbürstig und borstig?!)

ICH BIN JA SO AUFGEREGT!!! ICH SEHE DAS AUFEINANDERTREFFEN GENAU VOR MIR – DIE BLICKE UND DIE KLEIDUNG UND DAS DÄMMERLICHT!!!!

Noooo, und sie wollten doch ungestört sein! Jetzt sind Gianni und Olli da! Miiiiist ^_________________^°
Ich fühle mich mies, aber ich wünsche, dass Olli und Gianni bitte bald wieder gehen und fertig sind mit ihrer Feierei. Oh Gott, die Blicke zwischen Kai und Yuriy, die leichten Tatschis!

Mir ist ganz warm. Mein Gesicht ist ganz warm. Ich glaub, ich hab wieder die Luft beim Lesen angehalten. Die Berührungen, dieses gegenseitige Berühren und Berührt-werden-wollen… Omg, und wie dann ganz schnell und geschickt den Abflug machen (wollen)! (Wetten, Gianni und Olli merken das doch irgendwie? Bestimmt, wenn ich jetzt gleich in paar Zeilen weiter lese, kommt irgendein Spruch, vllt in die Richtung: Olli: „5 Euro, die schnackseln heut noch!“ - Gianni: „10 Euro die kommen zusammen!“ Oder irgendwie sowas!)
[Oh, doch nicht – ich hab fest damit gerechnet! XD]

>> Schwarzer Himmel über der Stadt ohne Sterne und der Fernsehturm, wesentlich näher als Yuriy es gewöhnt war. Kai löste den Griff um seinen Arm.<<
Diese Sätze sind toll. Die machen was mit mir. Es sind diese Details, die die Berlin AU so lesenswert machen!

Yuriy ist durchgefroren! Los, Kai, jetzt wärm ihn auf! Nimm ihn mit in deine Wohnung, lass ihn duschen und sich wärmen und kuschelt euch in eine warme Decke! Was soll er die S-Bahn wieder zurücknehmen, das ist doch QUATSCH! Außerdem: Der allererste Abend zwischen ihnen hat auch zusammen im Bett geendet, ohne dass was passiert ist, allerdings haben sie geredet. Sie sollten langsam reden, und warum nicht behaglich unter einer Decke? Das scheint ihnen ja zu liegen.

Weil du es weiter oben angesprochen hast, frag ich mich gerade, auf welcher Sprache sie sich unterhalten, wenn sie so miteinander sprechen. Deutsch, oder?

Schön, dass sie übers allgemeine Dating reden. Amerika hat ne Dating-Kultur? Häh? Welche soll das sein? … ich mag kein Dating, glaub ich.

>> Doch Kai blieb sitzen. Irgendwann wandte er sich ihm wieder zu. „Ich hab was”, sagte er und Yuriy hörte sein Grinsen. „Mach nochmal.”<<
MACH NOCHMAL!!! Nein wie … süß klingt fast unpassend, aber es ist es! So Lieb! So klein! (Um Ellis Vokabeln zu gebrauchen) Und JETZT Bin ich gespannt, was er sich überlegt hat, ohhh!

Oh.
Oh.
OH!
Ich habe so viele Schmetterlinge im Bauch!!! So viele! Yuriy kann endlich sehnsuchtsvoll den begehrten Nacken berühren! Und omg, sie küssen sich endlich – und können es genießen und… sie wirken zwar wie Ertrinkende, aber.. ja bitte, geht hoch, sprecht euch aus! Mein Puls, mein Herz, ich kann nicht mehr!
So gut, dass du das Kapitel nicht geteilt hast. Und ich hoffe, Kai wärmt Yuriy jetzt erstmal auf. Tee, Wanne, Wärmflasche, Lapdance, mir egal, Hauptsache es wird geredet und weiter geknutscht!

Der Titel „True Romantics“ ist wirklich hervorragend gewählt. „Wie Teenager“, ja! Das gefällt mir und fühlt sich warm und geborgen an, dieser Vergleich, denn es passt so gut.

Von:  Mitternachtsblick
2020-07-28T08:54:45+00:00 28.07.2020 10:54
AHHHHHHHHHHH!!!!
Da war so viel Schönes in diesem Kapitel (Takao und Hiromi! Olli und Gianni! Stadtbeschreibungen! Diese kribbelnde Spannung zwischen Yuriy und Kai! Boris, der schreiende Kuppler!), aber ich kann gerade echt nur an den Kuss denken. Die Jungs probably auch lol. Endlich haben sie es geschafft, diese Wappler!!
Von:  Phoenix-of-Darkness
2020-07-17T12:21:25+00:00 17.07.2020 14:21
Oh Gott...oh Gott...OH MEIN GOTT!!!!
Es ist passiert 😱😱😱😱
Sie haben sich geküsst und dann auch noch soooo
Ich hyperventiliere fast vor Euphorie. Ich meine das Date liegt echt Scheiße...Yuriy war erschöpft, es ist kalt und dann noch Oli und Gianni...
Aber ich liebe die Entwicklung am Ende und mein Herz ist sehr dankbar dafür.

Liebe pur war für mich aber auch die Szene in der Lilli, als Yura sanft über Kais Shirt streicht. Die Atmosphäre war einfach so...so gut...
Hätte nur noch Sebastian aus Arielle gefehlt, der "Küss sie (ihn) doch" singt.
Am besten hätte die Rolle Takao übernehmen können. Auch dieses Gespräch war gut und vor allem wichtig. Takao hat (wie schon Boris) nochmal die Fakten auf den Tisch gelegt und er war dabei echt gut.

Ich hoffe sehr auf das nächste Kapitel


Liebe das Gespräch Takao und Kai

Wie Yuriy Kai betrachtet..ihm übers Shirt streicht alles ausblendet Wahnsinn!!
Antwort von:  Phoenix-of-Darkness
17.07.2020 14:22
LOL...ein Teil meiner Notizen beim Lesen hab ich vergessen zu löschen 🙈
Von:  LittleLionHead
2020-07-17T08:00:30+00:00 17.07.2020 10:00
Aaaaaaaaaaah es ist endlich passiert! 😍😍😍 Yessssss! Was für ein tolles Kapitel. Ich finde es gut dass du es nicht geteilt hast. Ja, es ist lang - aber in keinster Weise zu lang. Ich habe es zumindest aufgesaugt wie der Staubsauger meine Socken. :) Ich liebe den Ausflug zur Beziehung zwischen Kai und Hiromi; dass es nicht so einfach war unvoreingenommen auf den anderen zuzugehen. Das finde ich wieder mal sehr menschlich, und das liebe ich so sehr an deinen Geschichten: Dass ich immer wieder denke, yes, I can relate. Dass das Date nicht nach Plan läuft war irgendwie klar (nicht im negativen Sinn!), und es hat in mir wieder ein 'Oh COME ON' ausgelöst. Und dann lässt du sie doch noch, endlich zueinander. Es ist soooooo schön! ❤️
Antwort von:  LittleLionHead
17.07.2020 12:33
Ach ja. Mein Highlight war das graue Haar. 👌
Von:  esperluette
2020-07-16T20:42:54+00:00 16.07.2020 22:42
Das war ALLES und noch mehr!
<3 <3 <3


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