Zum Inhalt der Seite

Die Geister der Unterwelt

Wichtelgeschichte für Futuhiro
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich habe komplett vergessen, die Geschichte weiter hochzuladen. Ups. Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Die Prüfung

Die Fenster knirschten in der an diesem Tag plötzlichen Kälte. Olga schaute zu ihnen hinüber, halb damit rechnend, dass sie brechen würden. So war es letzten Monat schon passiert. Das alte Haus war nicht unbedingt in besten Zustand nach den letzten drei Jahren.

Yefim stellte seine Ohren auf und spannte den buschigen Schwanz an, während auch er das Fenster beobachtete. Er hatte denselben angespannten Blick dabei, den Olga auch von den normalen Hauskatzen kannte. Sein ganzer Körper war angespannt.

„Ist da etwas, Yefim?“, fragte sie den Fuchs.

Das Tier machte einen erstickten Japslaut, entspannte sich dann jedoch.

Ob es einer der Wintergeister gewesen war? Sie hatte viele Geschichten von ihnen gehört und wie sie gerade an diesem letzten Tag des Jahres ihr Unwesen trieben. Dabei hätte das Jahr nach dem alten Kalender bereits an Yule geendet.

Sie hatte ihr Haar geflochten, trug es in einem Knoten gebunden und stand in der großen Vorhalle vor dem Zimmer ihres Onkels. Das Haus stammte noch aus Zarenzeiten, als ihre Familie mehr Einfluss gehabt hatte. Als sie für den Adel gearbeitet hatten, als Seher, als diejenigen, die kleine Wunder gewirkt hatten und die Ernten verbessert hatten. Ihr Großvater kannte viele von diesen Geschichten. So lange war es ja auch gar nicht her.

Die Tür des Büros von Onkel Pyotr wurde geöffnet und ihre Tante schaute hindurch. „Komm rein“, meinte sie freundlich und mit einem weiten Lächeln.

Olga nickte und durchquerte mit einigen eiligen Schritten das Vorzimmer, um in das Büro des Onkels zu treten, wo Pyotr, aber auch Vaska und Vanya auf sie warteten. Vanya war ihr kleiner Bruder, selbst wenn Vaska, ihre Cousine, wohl eher für ihre Schwester durchgegangen wäre. Vanyas Haar war dunkel, wie das Gefieder eines Rabens, Vaskas dagegen blond wie Olgas. Ja, das Haar des Mädchens, das trotz seines Alters kaum älter als 12 wirkte, war so hell, dass es beinahe weiß wirkte. Genau deswegen war sie hier mit Vanya.

Die beiden waren keine Geschwister und doch am selben Tag zur selben Stunde geboren. Ein Zeichen, hatte ihr Großvater damals beschlossen. Und so waren die beiden Seite an Seite aufgewachsen. Und vielleicht mochte es ein Zeichen gewesen sein, war die Magie der beiden jenseits dem, was Olga sich je hätte vorstellen können. Dennoch würde das hier wohl genau so ihre Prüfung wie die der beiden werden.

„Olga, meine Liebe“, meinte ihr Onkel in seinem üblichen dröhnenden Bariton. „Es freut mich, das du wirklich gekommen bist.“

Man hat ihr keine Wahl gelassen. Es war Familienehre, nicht. Familie steht vor allem. Und dieser Tag war wichtig für die Familie, selbst wenn sie lieber bei den Studenten an der Universität gewesen wäre, um das Ende des Jahres zu feiern.

Dennoch machte sie einen Knicks. „Es ist mir eine Ehre.“

„Du kennst deine Aufgabe“, erwiderte Pyotr.

„Ja.“ Sie sah die beiden Jugendlichen an, beide etwas mehr als ein halbes Jahrzehnt jünger als sie. Vanya war groß gewachsen und relativ kräftiger Natur, Vaska dagegen klein, ging ihm kaum bis zur Brust. Eine Eule thronte auf Vanyas Schulter, beobachtete alles auf verschlafenen Augen und mit aufgeplusterten Gefieder. „Ich werde die beiden nach Ostankino bringen und darauf achten, dass die Aufgabe der Hexe bis Mitternacht abgeschlossen war.“ Für die beiden war es die Prüfung, um in die nächste Phase ihrer Ausbildung aufzusteigen. Für sie war es die Prüfung zur Meisterin erklärt zu werden. Sie würde selbst die Kinder ausbilden dürfen, wenn sie es wollte, oder ihren eigenen Weg wählen dürfen. Einen Weg, dessen sie sich bereits recht sicher war.

Die Göttinnen, denen Olgas Geburt gewidmet war, waren schwach. Das Land war das zweite Mal in einem Jahrhundert komplett neugegründet worden. Dabei gab es wenig, auf das man sich verlassen konnte. Bis auf eins. Es war nicht das Moralischste, war weit ab von Idealen doch trotz aller Widersprüche, gab es dort vielleicht eine Zukunft. Und es war die Zukunft, die sie suchen würde, anstatt sich wie der Rest der Familie an die Vergangenheit zu klammern.

„Sehr gut.“ Ihr Onkel nickte nun. Sein Kopf wurde von einer großen kahlen Stelle geschmückt. Mit Bart und der grauen Haarkrone, um die Stelle hätte er vielleicht weise ausgesehen, wäre sein Haar nicht so kurz geschoren. So sah er eher aus, wie einer der Banker aus dem Westen. Jetzt griff er in die Schublade seines alten Schreibtischs und zog vier Gegenstände heraus. Eine goldene Taschenuhr und drei Amulette aus Holz. „Komm her, Olga.“

Sie trat vor, trat an den Schreibtisch und streckte die Hand aus. „Ihr habt zwölf Stunden“, sagte er und hob die Uhr, laut der es kurz vor Mittag war.

„Ich weiß, Dyadya“, antwortete sie und steckte die Uhr in die Tasche ihres Wollrocks, machte das Band an ihrem Gürtel fest.

„Für jeden von euch ein Amulett. Für den Notfall. Wir wissen nicht, was die Belaya euch auftragen wird“, fuhr ihr Onkel fort und nickte Olga zu.

Sie nahm es sich. Es war ein einfacher Anhänger aus Holz. Eine vereinfachte Darstellung des Donnerzeichen von Peruns. Ein Zeichen des Schutzes, sowohl des Gottes, aber auch ihrer Familie. Sie konnten sie rufen, wenn sie es verbrannten. Vorsichtig holte sie ihre Kette unter dem Pullover hervor und hängte es zu den anderen Amuletten, die es bereits zierte. Einen Teil von ihnen hatte sie selbst vorbereitet – um sich die Anstrengung der Zauber unterwegs zu sparen. Hoffentlich würde es reichen. Auch an ihren Armen hingen Amulette. Vorbereitet war sie, soweit es möglich war.

„Vaska, Vanya, ihr nehmt euch beide ebenfalls ein Amulett“, sprach Pyotr, als Olga zurücktrat und wartete, bis die beiden sich ihre Anhänger genommen hatten. Vaska machte ihres an einem Armreif fest, Vanya nutzte wie Olga eine Kette.

„Ihr könnt einen Wagen nach Ostankino nehmen. Wie es von da aus weitergeht, liegt in der Entscheidung der Balaya.“

Olga seufzte. Sie glaubte nicht wirklich, dass sie weit vor Mitternacht fertig werden würden. Ihre eigene Prüfung allein war an einem Frühjahrstag stattgefunden, zur Sonnenwende, doch war auch sie nur wenige Minuten vor Ende des Zeitlimits fertig geworden. Was ein Abschluss für ein seltsames Jahr.
 

Wenigstens stand die Sonne hoch an einem klaren Himmel, als Olga den neuen Wagen ihres Onkels Richtung Ostankino lenkte. Sie lebten wie schon ihre Großeltern, Urgroßeltern und die fünf Generationen davor im Familienanwesen in Ostozhenka. Angeblich, erneut laut ihrem Großvater, einst ein Geschenk einer Tsarin. Aber vielleicht war das auch nur eine Familienlegende.

Was dies allerdings bedeutete, war eine lange Fahrt nach Ostankino. Wann es angefangen hatte, dass ihre Prüfungen in Ostankino stattfanden, wusste niemand mehr. Zumal es nicht bei jedem der Fall war. Es war ihre Großtante, die dies bestimmte, nachdem sie in die Zukunft sah. Olga selbst hatte ihre Prüfung im Wald abgelegt, hatte ein altes Haus aufgesucht. Dass sie dabei Baba Yaga nicht über den Weg gelaufen war, schien ein Wink eines guten Schicksals gewesen zu sein.

So oder so, heute ging es nach Ostankino, wo auch ihre Mutter ihre Prüfung absolviert hatte. Dabei kannte die Geschichte der weißen alten Frau sogar die normalen Menschen der Stadt. Die Prüfung von ihr zu bekommen galt als gutes Zeichen, war sie doch auch großen Herrschern des Landes erschienen.

Vaska und Vanya saßen auf der Rückbank. Während Yefim auf dem Beifahrersitz hockte, hatten die beiden jungen Magier ihre Familiare auf ihrem Schoß. Keine alte Tradition, sondern etwas, das erst vor vielleicht hundert Jahren in ihre Familie gekommen war.

Zumindest Vanyas Eule hatte sich aufgeplustert und schien alles in allem mit der Situation nicht zufrieden. Vanya schaute still aus dem Fenster, während Vaska ein Buch aufgeschlagen hatte. Sie war wahrscheinlich die belesenste Hexe in ihrer Familie.

Trotz der Sonne herrschte eisige Kälte im Wagen. Kein Wunder. Draußen waren die Temperaturen seit den Morgenstunden gefallen, statt gestiegen.

Es war Vaska, die am Ende das eisige Schweigen brach. „Hast du die Balaya schon einmal gesehen?“, fragte sie auf einmal und schaute von ihrem Buch auf. Auch Kir, der buschige Kater auf ihrem Schoß sah auf.

„Nein“, erwiderte Olga. „Die Balaya erscheint nur den wichtigeren Mitgliedern der Familie und ich bin, dankbarerweise, nicht wichtig genug.“

„Wie kann man froh sein, kein großes Schicksal zu haben?“, murmelte Vanya, ohne den Blick von dem Straßenrand abzuwenden.

„Indem man lieber sein eigenes Schicksal wählt.“ Olga zuckte mit den Schultern. Mit einer Hand zog sie sich ihre Mütze zurecht, da jedes freie Stück Haut vor Kälte schmerzte.

Vanyas Blick war düster, während er ein paar Passanten am Straßenrand beobachtete. „Menschen treffen falsche Entscheidungen“, murmelte er.

„Fang nicht wieder damit an, Van“, murmelte Vaska und verdrehte die Augen.

Selbst Olga hatte davon genug mitbekommen. Für einen Sechszehnjährigen hatte Vanya sehr ausgereifte Meinungen, die ihn häufiger mit dem Großvater in Konflikt gebracht hatte. Er verfluchte das Referendum aus dem Vorjahr noch immer.

Es war etwas, über das man besser keine Diskussion mit ihm anfing. Er war ein Junge und gerade in einem Alter, in dem seine Meinungen ihm unglaublich wichtig waren.

„Nun, es sieht aus, als hättet ihr ein großes Schicksal“, erwiderte Olga daher, um das Thema in eine andere Richtung zu lenken. „Immerhin bekommt ihr die Ehre mit der Balaya zu sprechen und einen Auftrag für sie zu erfüllen.“

„Ich hätte es bevorzugt eine alte Prüfung zu vollziehen.“ Vaska packte das Buch in ihre Tasche und strich durch Kirs Fell. „Ich finde, das wäre mehr im Geiste mit den alten Bräuchen.“

„Bräuche verändern sich, Vaska“, murrte Vanya. „Wir sind keine Vrac mehr.“

„Ich denke dennoch, dass es mehr im eigentlichen Geiste der Prüfung war.“

„Meine Prüfung war in einem Wald“, erwiderte Olga. „Allerdings auch mit Zeitlimit.“

„Aber war der Sinn nicht einmal für eine Woche draußen zu bleiben?“

Olga lächelte. „Ich fürchte, die Zeiten sind vorbei.“ Wieder sah sie nach vorne, um sich auf die Straße, die an einigen Stellen recht glatt war, zu konzentrieren. „Immerhin könntest du dich später entscheiden aufs Land zu ziehen. Vielleicht wirst du eine Naturhexe.“ Selbst wenn alles im Leben des Mädchens dafür sprach, dass sie einmal eine Kampfmagierin werden würde.

„Ja. Und dann würde ich meine Kinder in den alten Ritualen prüfen“, murmelte Vaska und entlockte dafür nun Vanya ein genervtes Stöhnen.

„Nun, erst einmal solltet ihr sehen, dass ihr eure Prüfung übersteht“, erwiderte Olga. „Und denkt daran, dass auch meine Zukunft davon abhängt.“

„Es ist deine Aufgabe, uns am Leben zu erhalten.“ Vanya seufzte. „Wenn wir nicht bestehen, kriegst du noch einmal eine Chance.“

Dies ließ Olga unkommentiert. Denn bei allen Chancen, so wartete sie schon seit vier Jahren darauf, aus dem Familienanwesen auszuziehen. „Ich denke es ist in unser aller Interesse, wenn wir das heute Meistern und vor dem neuen Jahr mit der Prüfung fertig sind, oder? Immerhin wollt ihr das Feuerwerk auch nicht verpassen, oder?“

Vanyas Murren sagte deutlich, dass er auf ein Feuerwerk verzichten konnte. Hätte man ihn gelassen, wäre es wohl gefolgt worden von irgendeiner Beschwerde über Verschwendung und Nutzlosigkeit.

„Letztes Jahr hat Mutter mich Silvester mit nach Tschechien genommen“, erzählte Vaska. „Wusstest du das, Olga?“

„Nein“, antwortete Olga, froh, dass das Mädchen ihren Bruder unterband.

In der Ferne war ihr Ziel schon zu sehen: Der Fernsehturm von Ostankino. Warum auch immer die Balaya sich in diesem niedergelassen hatte. Vielleicht genoss sie die Aussicht.

Vaska war davon jedoch abgelenkt, als sie begann die Feinheiten von Prag zu beschreiben und den Dingen, die sie dort gelernt hatte. Zumindest das hatten die beiden gemeinsam: Sie hatten beide Themen, bei denen es schwer war, sie zum Schweigen zu bringen.

Balaya

Wenigstens im Aufzug war es warm. Nun, „warm“ war relativ, doch zumindest hatte man nicht das Gefühl zu erfrieren. Die anderen Gäste schauten irritiert zu ihnen, da sie keinen Aufzug für sich bekommen hatten und die Tatsache, dass alle drei Familiare bei ihnen waren nun einmal neugierig machte. Vor allem zwischen Yefim und der Eule Nika, die wahrscheinlich kaum jemand je in einem Innenraum gesehen hatte.

Olga vergrub ihre Hände in den Taschen. Die Anwesenheit der anderen Menschen sorgte dafür, dass ein Gespräch über die Aufgabe kaum möglich war – selbst wenn wenigstens ein Teil der anderen Menschen wie Touristen aussah. Gerade die Frau, die offenbar zwei Mäntel übereinandertrug wirkte nicht ganz wie von hier.

Doch sie schwiegen.

Vanya wippte auf seinen Füßen vor und zurück, während er die Hände in die Taschen seiner Jacke gesteckt hatte. Vaska hatte sich gegen die Wand gedrückt und wartete, Kir auf dem Arm.

Endlich erklang das Pling, dass sie aus der kleinen Metallkabine erlösen sollte und die Türen des Aufzugs wurden vom Begleiter geöffnet.

Yefim steckte den Kopf aus der Tür heraus, bevor es jemand anderes machen konnte. Innerlich strafte Olga sich dafür, ihrem Familiar kein Halsband angelegt zu haben. Zwar hasste er es, doch es war eine Möglichkeit weniger aufzufallen. Immerhin gab es die ein oder andere Person, die einen Fuchs als Haustier hielt. So aber zog er Blicke auf sich, als sie das Restaurant im Hauptraum der Aussichtsplattform betraten.

Ihr Onkel hatte die Betreiber informiert. Sie waren noch immer angesehen genug als Familie, als dass niemand sie aufhielt, doch seltsame Blicke gab es dennoch. Umso mehr von den Touristen, von denen es dieses Jahr wirklich viele zu geben schien.

Vanya schaute besonders missmutig zu einem deutlich amerikanischen Paar hinüber. Sie trugen ihre Nationalität sehr offen mit sich herum.

Dagegen war Vaska mehr auf ihre Aufgabe konzentriert: „Wo müssen wir hin?“

„Nach oben“, antwortete Olga mit gesenkter Stimme. Sie glaubte nicht, dass die Balaya im vollen Restaurant auftauchen würde. Daher vermutete sie die Plattform darüber.

Auch wenn sie sich selbst nicht auskannte, führte sie die beiden Jugendlichen zu einer Treppe, die nach oben ging. Da müsste es langgehen. Wahrscheinlich gab es eine Tür, doch Olga hatte den Schlüssel.

Tatsächlich stand sie kurz darauf vor einer metallenen Tür. Die herrschende Kälte verriet ihr, dass es herausging.

Sie tauschte einen Blick mit Yefim, der die Ohren angelegt hatte, ehe sie in ihrer Manteltasche wühlte und schließlich den Schlüssel hervorzog. Tief atmete sie sich durch, fasste ihren Mantel enger und trat hinaus.

Die Kälte schlug ihr hier besonders stark entgegen. Der in der Höhe sausende Wind verstärkte sie nur, bließ ihr den Schal um die Ohren. Auch Yefims Ohren und Schwanz schlackerten im Wind, während er versuchte sich eng am eigentlichen Turm zu halten.

Sie standen auf einer weiten Betonfläche, die an den Seiten abgezäunt war. Wahrscheinlich konnten bei besserem Wetter sogar Touristen hier heraus. Von der Balaya fehlte jedoch soweit jede Spur, wie auch Vanya bemerkte.

„Wo ist denn nun die weiße Frau?“, meinte er.

Olga seufzte. Sie wusste es nicht, bevorzugte es aber deutlich mit diesem Teil der Aufgabe schnell abzuschließen, um so sich in die Wärme zurückziehen zu können – selbst wenn nur für einen Moment. Allerdings mussten sie dafür wohl die eigentliche Aufgabe erst einmal erhalten. Und dabei konnte sie den beiden nicht helfen. Immerhin war es ihre Prüfung und sie war nur dafür da, die beiden zu schützen und auf dem rechten Pfad zu halten. So wirklich hatte nie jemand gesagt, wie viele Hinweise sie geben durfte. Doch im Moment wusste sie nicht einmal, was sie ihnen hätte raten können. Die Balaya hatte sie selbst ja nie gesehen.

Kir drückte sich an Vaska, während diese weiter auf die Fläche lief. Offenbar passte der Katze trotz langem Fell der eisige Wind so gar nicht. Doch während sich ihr Cousin am Turm hielt, schaute Vaska sich weiter um. Sie nahm ein Amulett von unter ihrem Mantel und hob es.

Auf die Entfernung konnte Olga nicht erkennen, was für ein Amulett es war, doch einen Moment später spürte sie einen magischen Puls über die Fläche hinwegfegen, während das Mädchen sich weiter umsah, Kir eng an sich gedrückt.

Da knallte die Tür zur Treppe hinter ihnen zu, ließ auch Vanya und Olga zusammenzucken, ehe für einen Moment der Wind nachzulassen schien.

„Seid willkommen, Sichel und Stern“, flüsterte eine leise Stimme. „Seid ihr gekommen, um die Münze zu werfen?“

Die beiden jungen Magier sahen sich um. Da ging ein neuer, dieses Mal jedoch deutlich wärmerer Windstoß über die Plattform hinweg, als eine Frau am Rand eben dieser erschien.

Sie war schwer zu beschreiben, wirkte gleichzeitig alt und jung. Während ihre Gesichtszüge glatt waren, so war ihr Körper doch klein und in sich eingefallen. Weiße Gewänder waberten um sie herum, wie auch ihr ebenso weißes Haar. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Hände an einen Stab geklammert.

Vanya runzelte die Stirn. „Münze?“ Dennoch gesellte er sich zu seiner Cousine und trat näher.

Olga hielt sich zurück. Sie war sich nicht sicher, wie sie sich dem Geist gegenüber verhalten sollte. Deswegen schwieg sie, beobachtete nur.

Eine Art Lächeln erschien auf dem Gesicht der Frau. „Die Münze des Schicksals hat mehr als zwei Seiten“, sprach sie und zog tatsächlich eine Münze aus dem Ärmel ihres Gewandes. Eine silberne Münze, so viel konnte Olga erkennen, jedoch nicht die Symbole, die die Balaya den beiden zeige, indem sie die Münze mehrfach drehte. „Sie kann Segen und Fluch mit sich bringen.“

Offenbar schienen weder Vanya, noch Vaska zu wissen, wie sie reagieren sollten. Es war jedoch das Mädchen, das sich am Ende ein Herz fasste. „Wir sind wegen der Aufgabe hier. Unsere Großmutter hat vorhergesehen, dass du sie uns geben sollst.“

„Es ist eine Aufgabe, die ihr sucht, oder einen Pfad zu einem noch unbekannten Ziel?“

Jetzt tauschten die beiden Blicke und zuckten beinahe synchron mit den Schultern. „Den Pfad?“, meinte Vanya mit einem deutlich fragenden Ton.

Die Frau lächelte weiter und hob die Münze ein Stück. „Dann hört mir zu, Sichel und Stern. Denn was ich euch auftrage, ist so leicht nicht zu finden:
 

Folgt dem Silber

in den Schoß der Welt.

Erlangt den Einlass

aus der göttlichen Hand.

Hinab und wieder hinauf.

Dann findet die Tür,

hinter der sich verbirgt,

ein Schicksal golden wie Sterne,

oder schwarz wie die Nacht.
 

Als die Balaya verstummte, tauschten die beiden einen noch verwirrteren Blick. Vanya hatte die Stirn gerunzelt. „Bitte was?“

Die Balaya lächelte, als hätte sie damit gerechnet und wiederholte ihren kleinen Spruch noch mal. Ein Gedichtsrätsel, soweit konnte es Olga zuordnen. Von so etwas hatte sie häufiger gehört. Es kam in der ein oder anderen Legende vor. Dass es wirklich Geister gab, die so etwas stellten … es erschien doch unnötig kompliziert.

„Das ist unsere Aufgabe?“, fragte Vaska, als die Balaya das zweite Mal fertig war, und strich durch Kirs Fell.

„So ist es“, bestätigte der Geist.

Vaska zögerte, ehe sie Kir, die empört fauchte, auf den Boden absetzte. Dann zog sie dank ihrer Handschuhe sehr ungeschickt ein Notizbuch aus ihrer Umhängetasche hervor, wie auch einen einfachen Füller. „Könntest du es bitte ein drittes Mal wiederholen.“

Die Balaya kam der Aufforderung nach, während Vaska mit raschen Strichen mitschrieb. „Vielen Dank.“

„Ihr habt bis das Jahr endet“, meinte die Balaya.

„Wissen wir“, murrte Vanya auf eine dem Geist gegenüber vielleicht etwas unfreundliche Art.

„Dann wünsche ich euch viel Glück“, erwiderte die Balaya.

Eine eisige Bö fegte über die Plattform hinweg, ehe der Geist verschwunden war.

Das Rätsel

Bereits im Aufzug brütete Vaska über ihrem Block. „Folgt dem Silber“, murmelte sie. „Folgt dem Silber …“ Sie seufzte schwer, die Stirn in tiefe Falten gelegt. „Welchem Silber sollen wir folgen?“

„Vielleicht der Münze?“, entgegnete Vanya und zog diese hervor.

Wann hatte er diese bekommen? Olga hatte davon nicht einmal etwas mitbekommen. Doch vielleicht war es Absicht der Balaya gewesen.

„Vielleicht …“ Vaska nahm ihm die Münze ab und schaute diese ebenfalls grübelnd an. „Sie ist silbern.“

„Das ist ein Rubel aus zweiter Prägung“, meinte Vanya und erntete damit einen Seitenblick. „Die wurden kurz nach Beginn der UdSSR geprägt.“

„Hmm.“ Vaska drehte die Münze in ihrer Hand. „Sichel und Stern“, stellte sie in Hinblick auf die Prägungen fest. „Hat sie das gemeint?“

„Du bist diejenige, die so viel liest.“

„Nun, ein Buch wird uns schon nicht sagen, wie wir dieses Rätsel zu lösen haben“, erwiderte Vaska missmutig. „Aber … vielleicht hat es etwas damit zu tun.“ Sie schürzte die Lippen. „Aber wie sollen wir der Münze folgen?“

Olga hatte bereits eine Idee. Nun, zwei oder drei. Es gab ein paar Möglichkeiten, wie das möglich wäre. Sie jedenfalls konnte sich gut vorstellen, dass ein Zauber auf der Münze lag. Doch war sie nicht sicher, ob sie den beiden etwas sagen sollte. Es war kurz nach eins. Sie hatten noch elf Stunden. Würde sie einen Vorschlag machen, konnte es die Zeit beschleunigen, aber es blieb die Frage nach den nie näher definierten Regeln. Immerhin waren diese beiden besonders, so hatte die Familie es gesagt. Eine Aufgabe von der Balaya zu bekommen war etwas besonderes. Es hatte eine größere Bedeutung als ihre damalige Aufgabe. Oh, wieso war sie eigentlich die Betreuerin für diese beiden? Es wäre vielleicht besser gewesen nächstes Jahr mit ihrer jüngeren Schwester zu gehen, die genau so langweilig und wenig besonders war, wie sie selbst.

Gerade als der Aufzug unten ankam, sprach jedoch auch Vaska denselben Gedanken aus, den Olga bereits früher gehabt hatte: „Vielleicht ist die Münze verzaubert.“ Sie bekam dafür zwei, drei verwirrte Blicke von umstehenden Menschen.

Was diese sich wohl denken mussten?

Gemeinsam mit den jungen Magiern blieb Olga beim Ausgang des Turms stehen und wartete, dass die anderen aus dem Aufzug ausgestiegen waren.

„Inwiefern verzaubert?“

„Ich weiß es ja selbst nicht.“ Vaska klang ein wenig verärgert. „Du kannst solche Dinge sehen, oder? Ich meine, du hast so etwas mit Tante geübt, oder?“

Vanya zuckte mit den Schultern. „Na ja, ja, schon, aber …“ Er seufzte schwer und murrte.

„Jetzt mach schon“, drängte Vaska ihn und stieß ihn mit dem Ellenbogen an.

Vanya antwortete nicht, nahm dafür aber einen Anhänger von seinem Armband ab und setzte dann Nika von seiner Schulter auf seinen Schoß. Dann schloss er die Augen, hielt seinen Anhänger in einer Hand, die Münze in der anderen. Stille herrschte. Sein Atem kondensierte vor seinen rauen Lippen, während Nika sich mit geschlossenen Augen aufplusterte. Schließlich öffnete er die Augen und betrachtete die Münze. Ein seltsamer Schimmer umgab die Iris seiner Augen. „Ja, da ist etwas mit der Münze.“

„Was?“, fragte Vaska sofort.

„Sie hat eine Aura“, erklärte Vanya. „Grün. Violett. Sie vermischen sich. Ich kann sehen, dass etwas daran verzaubert wurde. Aber ich kann so nicht sagen, was für ein Zauber es ist. Nichts starkes.“

„Schade“, murmelte Vaska.

„Kann ich ja auch nicht ändern“, murrte ihr Cousin.

„Ich habe mich nicht beschwert.“

Vanya murmelte etwas für Olga unverständliches, schloss dann aber die Augen wieder, um sie einen Moment später zu öffnen. „Das ist alles was ich sagen kann“, murrte er, hängte den Anhänger an den Armreif zurück und strich durch Nikas Gefieder, während die Eule ein müdes Gurren vernehmen ließ.

„Hmm.“ Ohne zu fragen nahm Vaska die Münze wieder aus seiner Hand. Sie zog ihren Handschuh aus und hielt die Münze zwischen Zeigefinger und Daumen. „Was, wenn wir sie an ein Pendel hängen?“

„Du kannst es versuchen“, murmelte Vanya.

Olga hielt sich heraus. Sie hatte sich auf dem Fahrersitz umgedreht und wünschte sich gerade nichts mehr, als irgendwo zu sein, wo es eine Heizung gab. Diese furchtbare, bittere Kälte schien in ihre Haut einzudringen, sich durch ihr Fleisch zu fressen. Sie wollte nur ein warmes Kaminfeuer. Ein Haus. Einen Rückzugsort. Zumindest Yefim saß im Moment auf ihrem Schoß und wärmte sie dadurch ein wenig.

Mit zittrigen, steifen Fingern holte Vaska ein Band aus ihrer Manteltasche und wickelte es um die Münze herum. Dann ließ sie die Münze unter ihrer Hand baumeln.

Es war direkt auffällig, dass etwas magisches vor sich ging. Erst fiel die Münze gerade hinab, ohne hin und her zu schwingen, so als würde sie weit mehr wiegen, als sie es tat. Dann schwang sie auf einmal nach schräg vorne rechts und blieb in der Luft schweben.

„Nun, ich denke das ist die Antwort“, meinte Vaska und wirkte etwas selbstzufrieden. Sie nahm ihren linken Handschuh und zog ihn sich mithilfe des Mundes an, ehe sie das Pendel mit links nahm und auch den rechten Handschuh wieder anzog.

„Dann navigier mich“, murmelte Olga und startete den Wagen.

Yefim sprang auf den Beifahrersitz und bleib dort sitzen, während sie losfuhr.

Was folgte war das übliche Problem, das jeder Magier, der je einen Aufspürzauber probiert hatte, kannte: Der Zauber zeigte in eine Richtung und durchweg in eine Richtung, doch natürlich erlaubten Straßen es nicht direkt dorthin zu fahren. Also folgte Ratearbeit, um in die richtige Richtung zu kommen.

„Ich frage mich ja, ob wir nicht einfach in die Metro sollen“, murmelte Vanya nach einer Weile.

„Die Metro?“, fragte Olga, ehe sie sich davon abhalten konnte.

„Na ja. Schoß der Welt. Hinab und hinauf. So war es doch, oder?“

Vaska zuckte mit den Schultern. „Könnte sein. Wir werden ja sehen, wohin uns das ganze führt.“

„Solange es keine Falle ist“, murmelte Vanya.

„Ach, sei nicht so pessimistisch. Soweit liegen wir wenigstens gut in der Zeit.“

„Solange wir nicht in die falsche Richtung rennen.“

„Ach komm, warum sollte uns die Balaya-“ Vaska unterbrach sich. „Hier rechts, bitte, Olga.“

„Ich wäre dafür, ihr schaut erst einmal, wohin wir kommen“, meinte Olga. „Ich werde euch aber nicht aus Moskau rausfahren.“ Dabei sagte ihr ein unbestimmtes Gefühl, dass sie bereits wusste, wohin sie unterwegs waren. Aber wieso da? Es war nicht wirklich ein „Schoß“ von irgendetwas und hinab ging es dort nur insofern, dass es einen Keller und natürlich eine Metro-Station gab.

Sie würde abwarten müssen.

So ging ihre Suche weiter. Dank der Raterei, einigen Einbahnstraßen und ähnlichen Problemen vergingen fast vierzig Minuten, bis sie am Gelände der Universität ankamen.

„Ich glaube wir sind näher“, merkte Vaska an. „Es bewegt sich mehr.“

Als hätte sie es geahnt. Olga atmete tief durch und bereute es sogleich, als die eisige Luft in ihren Atemwegen brannte. Sie steuerte den Parkplatz an. „Dann lasst uns uns hier einmal umsehen, ja?“

„Sollten wir nicht erst um das Gelände rumfahren?“, fragte Vanya.

„Wir haben nicht ewig Zeit“, murmelte sie.

Wieder murrte Vanya etwas, doch auf eine Art, dass sie es nicht verstand.

Also fuhren sie auf den Parkplatz, stellten den Wagen ab und stiegen aus. Der eine Vorteil an der nicht funktionierenden Wagenheizung war, dass die Kälte ihnen so nicht entgegenschlug.

Missmutig warf Olga Vaska einen Seitenblick zu, während diese mit dem Pendel vor sich die Führung übernahm. Auch wenn Silvester war, war der Campus nicht verlassen. Tatsächlich liefen einige Studenten herum und es dauerte nicht lang, bis sie ein bekanntes Gesicht sah.

„Olga?“ Dimitri kam direkt auf sie zu, Maria an seinem Arm.

Sie ergab sich ihrem Schicksal, setzte ein Lächeln auf und nickte ihm zu. „Hallo.“

„Was machst du hier?“, fragte er. „Ich dachte du hättest Familienangelegenheiten …“

Olga legte eine Hand auf Vanyas Schulter, während ihr Bruder sein bestes tat, so zu wirken, als würde er gar nicht hier sein. „Mache ich auch. Ich bin mit meinem Bruder hier. Und unserer Cousine. Wir erledigen gerade noch ein paar Sachen für unseren Onkel.“

Maria, eine hübsche, mollige Studentin mit langem dunklen Haar, schaute zu Vaska, die dank ihrer kleinen Gestalt noch mehr fehl am Platz wirkte. „Was macht sie?“

„Ach, sie hat Pendeln für sich entdeckt“, meinte Olga halbherzig. „Sie sucht wahrscheinlich nach Wasserrhren oder so.“ Sie lächelte auf eine Art, die hoffentlich implizierte, dass sie es für albern hielt. Hier musste niemand wissen, was ihre Familie genau machte. Sicher hatten manche von diesen alten Vrac gehört, doch konnte sie auf Fragen in die Richtung verzichten. Wirklich dran glauben tat ja eh kaum jemand.

„Du kommst heute Abend nicht mehr?“, fragte Dimitri nach einer kurzen peinlichen Stille.

„Ich werde sehen, ob ich es schaffe.“ Olga zuckte mit den Schultern, die Augen nun auf Vaska gerichtet, die unbeirrt über den verschneiten Rasen lief. „Und ich glaub ich muss weiter, ehe meine Cousine noch vor ein Auto rennt“, meinte sie rasch.

„Viel Spaß noch.“ Maria schenkte ihr ein halbherziges, leicht mittleidiges Lächeln.

„Danke.“ Damit sprintete Olga los, um Vaska einzuholen.

In den Schoß der Welt

So wie Olga mit der Uni Recht behalten hatte, sollte auch Vanya Recht bekommen: Vaska und ihr Pendel führten sie zum Eingang der Ubahn-Station und genau dorthin. Einmal am Rand der Treppe angekommen hing die Münze wie ein Stein einfach vom Pendel hinab.

„Was ist da los?“, murmelte Vaska und besah sich die Münze.

„Ich würde behaupten, der Zauber sollte uns hierher führen“, erwiderte Olga, bevor sie sich zurückhalten konnte.

„Und jetzt?“, fragte Vaska.

Vanya zuckte mit den Schultern und trat auf die Treppe. „Wir gehen runter.“

„Ich glaube aber kaum, dass wir in der Station was finden“, erwiderte Vaska und nahm erneut Kir auf den Arm, damit dieser nicht die Treppe laufen musste.

Olga hoffte nur, dass es bald einen neuen Hinweis gab. Auch weil sie wenig Lust hatte ausgerechnet hier an der Station herumzustehen. Zumindest eine Sache war jedoch dankbar: Als sie die Rolltreppe in die Tiefe hinabfuhren, schlug ihnen die warme, wenngleich stickige Luft der U-Bahnschächte entgegen, die im Vergleich zum eisigen Winterwetter nahezu saunenhaft wirkte. Sie zog sich die Mütze vom Kopf und steckte sie gemeinsam mit ihren Handschuhen in die Taschen ihres Mantels.

Es war nicht voll an der U-Bahnstation. Jedenfalls nicht wenn man es mit einem üblichen Tag während der Vorlesungszeit verglich. Allerdings war heute erstaunlich viel Sicherheit unterwegs, wie sie feststellen musste. Gleich zwei Polizisten kamen ihnen entgegen, als sie den recht edlen Bahnsteig entlang gingen. Irgendwann hatte man mal viel Geld in die Stationen der Universität gesteckt.

Sie liefen beide Bahnsteige auf und ab, wobei Vanya erneut ihr Pendel herausholte. Sie hatte nun Kir neben sich abgesetzt, so dass der Kater neben ihr hertapperte, mit der Situation jedoch nicht zufrieden wirkte.

Sie liefen beide Bahnsteige ab und die Gänge und Treppen drumherum, ernteten mehr und mehr misstrauische Blicke. Waren Eulen überhaupt hier unten erlaubt? War Olga wirklich so selten mit ihrem Bruder und Nika gemeinsam unterwegs gewesen, dass sie das nicht wusste? Yefim zumindest konnte, wenn jemand nicht genau hinsah, mit seinem eher bräunlichen Fell als Hund durchgehen. Er blieb direkt neben ihr, schaute ab und zu mit aufgestellten Ohre zu ihr hinauf, blieb aber ruhig, unauffällig.

Egal wie weit sie liefen, das Pendel tat nichts mehr.

„Und jetzt?“, fragte Vaska mit einem Seufzen.

„Ich nehme an das ist Teil der Aufgabe.“ Vanya seufzte mürrisch und sah sich um. Sein Blick fiel auf einem der U-Bahn-Pläne, die an diversen Stellen an den Wänden hingen. Mit kyrillischen und römischen Buchstaben beschriftet. Er hielt inne, ging dann hinüber.

„Was ist?“ Vaska trat neben ihm.

Ihr Cousin antwortete nicht sofort. Er hatte die Lippen geschürzt und schien zu überlegen. „Schau mal“, meinte er und zeigte auf die Station, an der sie waren.

Vaska schaute, zuckte aber mit den Schultern. „Was meinst du?“

„Ich habe dir doch gesagt: Die Aura der Münze war Grün und Violett.“

Zumindest Olga erkannte nun, was er meinte: An der Universität verliefen die Linie 2 und 7. Die eine grüngelb, die andere und violett eingezeichnet.

„Hinab und wieder hinauf“, murmelte Vanya. Seine Augen wanderten über den Plan. „Was ist, wenn wir in eine U-Bahn sollen?“

Vaska holte ihr Notizbuch wieder heraus. Sie runzelte die Stirn. „Wäre das nicht zu einfach?“

„Olga war einfach im Wald und hat Kräuter gesammelt.“

Dazu murrte Olga nur. So leicht war es auch nicht gewesen.

„Hmm.“ Vaskas Blick flog über die Zeilen. „Aber 'Erringe den Einlass aus göttlicher Hand' kommt vor 'Hinab und wieder hinauf'“, warf sie dann ein. „Wenn wir von hier aus die U-Bahn nehmen sollen, dann sollte es doch anders herum sein, oder?“

„Was weiß ich.“ Ein wenig zu aggressiv zuckte Vanya mit den Schultern. „War ja nur ein Gedanke.“

„Vielleicht ist es ja auch eine … göttliche U-Bahn?“, murmelte Vaska.

„Göttliche U-Bahn?“

„Ich überlege nur.“ Sie seufzte.

Konnte Olga es wagen einen Hinweis zu geben? Sie sah zu Yefim, der von ihren Gedanken wahrscheinlich nichts wusste. Er hatte sich auf den gekachelten Boden gesetzt und kratzte sich gerade hinter dem Ohr, während Kir ihn angespannt beobachtete.

Ach, sie versuchte es einfach. „Glaubt ihr denn, dass das hier schon der 'Schoß der Welt' ist?

Die beiden tauschten einen Blick.

„Wie sollte es denn noch tiefer gehen?“, fragte Vanya und hielt inne. „Es sei denn es wäre wirklich …“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Das wäre schon spannend.“

„Was?“ Vaska stieß ihn an.

„Die Metro-2. Die Metro unter der Metro.“

Er hatte ja vorhin schon davon gesprochen.

„Dieses Ding das Stalin abgeblich gebaut hat?“

„Ja.“ Er sah sie an, nun mit einer gewissen Begeisterung in den Augen. „Das soll irgendwie noch mal tiefer liegen. Das wäre doch ein Schoß der Welt, oder?“

„Meinst du?“

„Absolut.“ Er streckte die Hand aus. „Gib mir mal die Münze.“

„Wieso?“

„Mach einfach!“

Vaska zuckte mit den Schultern und fischte die Münze aus ihrem Beutel, um sie ihm samt Band zu geben.

Er löste das Band und musterte die Münze, drehte sie zwischen den Fingern. „Das könnte sogar ein Hinweis sein. Die wurde geprägt, als die Pläne für die Metro-2 beschlossen wurden.“

Auch wenn Vaska nicht überzeugt wirkte, zuckte sie mit den Schultern. „Und wie finden wir dahin? Ich nehme nicht an, du weißt, wie man dahinfindet?“

Wieder schürzte Vanya die Lippen, während er nachdachte.

„Nun, wenn die Münze uns hierher geführt hat und es wirklich die Aufgabe sein soll, dann sollte es hier unten einen Zugang geben, oder?“, warf Olga vorsichtig ein. Immerhin lief ihnen die Zeit davon.

Die beiden sahen sie an.

„Wie wäre es mit einem Aufspürzauber?“, meinte Vaska.

„Und was wollen wir aufspüren?“, fragte Vanya.

„Sag du es mir.“

„Es war deine Idee.“

„Aber deine mit diesem Metro-Ding.“

„Der Metro-2.“ Vanya schwieg. Er verzog das Gesicht. Gedankenverloren spielten seine Finger mit den Amuletten an seinem Armband. Er wusste nicht genau, was er machen wollte, ahnte aber sicher, dass er etwas machen sollte, was ihm nicht lag. Oder eher: Etwas, das ihm lag und was ihm nicht gefiel.

Schließlich seufzte er schwer. „Ich brauche mal ein Klo. Und ein paar Minuten.“ Er klang geschlagen. Auch wenn sein Talent in der Weissagung lag, so wusste Olga doch genau, dass er Kampf- oder Elementarmagie deutlich bevorzugt hätte. Vielleicht war es besser, dass er diese nicht hatte. Immerhin war er rebellisch genug, als dass er mit einem entsprechenden Talent ihnen noch einige Probleme bereitet hätte.

Mit hängenden Schultern marschierte er zum nächsten öffentlichen Klo und verschwand darein.

Vaska blieb unschlüssig neben Olga stehen, wippte auf ihren Füßen vor und zurück. „Glaubst du wirklich, er hat einen Plan?“

Das konnte Olga nur offen. Sie zuckte dennoch mit den Schultern. „Hoffen wir mal. Du kennst ihn besser als ich.“

„Dann vielleicht …“ Vaska seufzte schwer. „Glaubst du, wir sind auf der richtigen Spur?“

„Ich weiß es nicht.“ Olga zuckte mit den Schultern. „Ich habe weder die Aura gesehen, noch das Gedicht auswendig gelernt. Und selbst wenn dürfte ich euch nicht helfen, oder?“

„Wohl wahr.“

Wieder machte sich Schweigen breit und Vaska ging zu einer marmornen Bank hinüber, die gegenüber den Toiletten lag. Kir sprang auf ihren Schoß, mauzte und presste den Kopf gegen Vaskas Brust.

Nach kurzem Zögern ging Olga zu ihr hinüber, setzte sich neben sie.

„Wenn wir die Prüfung bestehen, bist du Meisterin, nicht?“, fragte Vaska, als würde sie es nicht genau wissen.

Olga nickte. Sie schaute zu Yefim, der sich zu ihren Füßen unter die Bank verkrochen hatte.

„Und, was hast du vor zu machen, wenn du fertig bist?“

Olga zuckte mit den Schultern. „Erst einmal weiter studieren.“ Es war nicht die beste Idee, dem Mädchen von ihren unausgereiften Plänen, sich den Vory v Zarkone anzuschließen, zu erzählen. „Danach mal sehen. Vielleicht ins Ausland.“

„Mmhmm.“ Vaska brummte eine Bestätigung und nickte.

„Und du? Ich meine, was willst du später mal machen?“ Olga hatte mit ihrer Cousine bisher selten gesprochen. Kein Wunder, hütete Pjetre sie doch meist wie seinen Augapfel.

Vaska zuckte mit den Schultern. „Mutter sagt, ich habe ein Talent für Feuermagie. Das heißt Kampfzauber und sowas.“

Ja, soviel hatte Olga schon mitbekommen. Wahrscheinlich hätten die beiden ihre Talente gerne getauscht. „Also wirst du Kampfmagierin? Vielleicht auf Söldnerbasis?“

„Ich weiß nicht.“ Vaska seufzte. Gedankenverloren strich sie sich eine Strähne ihres aschblonden Haares, die sich aus dem geflochtenen Kranz gelöst hatte, hinter das Ohr. „Ich würde hauptsächlich gerne aus der Stadt raus, weißt du?“

„Und wohin?“

„Keine Ahnung. Irgendwo in den Wald. So etwas?“ Sie streichelte Kirs Kopf. „Oder die Welt sehen.“

„Nun, wenn du einmal Erwachsen bist, wird dich niemand aufhalten“, meinte Olga aufmunternd.

„Ja.“ Ganz überzeugt klang Vaska nicht.

Olga lächelte ihr zu, ehe Yefim den Kopf hob.

Die Tür öffnete sich und Vanya kam heraus. Er hielt ein eigenes Pendel in der Hand und kam zu ihnen hinüber. Er wirkte frustriert, während Nika sich auf seiner Schulter aufgeplustert hatte. „Ich habe vielleicht eine Ahnung, wo wir hin müssen“, murrte er.

Der Einlass

Eigentlich hätte man meinen sollen das an einem Silvester um diese Zeit nicht so viele Leute an der Universität unterwegs sein sollten. Dennoch gab es keinen guten Zeitpunkt, den sie hätten abpassen können, an denen die Bahnsteige leer gewesen wären. Sie hatten schon einen Zug abgepasst, gehofft, dass sich der Bahnsteig danach leerte, doch irgendwie geschah genau dies nicht. Und der Sicherheitsmann dahinten in seiner schwarzen Uniform behielt sie misstrauisch im Auge.

Olga schürzte die Lippe und sah zu Yefim, als würde der Fuchs ihr bei der Entscheidung helfen können. Selbst wenn er als Familiar etwas intelligenter war, als es wohl bei einem normalen Fuchs der Fall gewesen wäre, so verstand er die Regeln ihrer Familie ziemlich sicher nicht. Konnte sie einen kleinen Zauber wagen?

„Lass uns jetzt“, murmelte Vaska und stupste ihren Bruder an.

„Noch nicht“, warnte Olga. Sie schaute zum Sicherheitsmann hinüber, der sich ihnen langsam näherte. Er war ein Mann sicher schon um die fünfzig und mit einem dichten, grauen Schnauzer. Würde der Name ihrer Familie ihr helfen können? Sie wollte es nicht riskieren.

Vorsichtig griff sie an ihre Kette und löste eins der Amulette. „Auf mein Kommando“, meinte sie.

Ein Rauschen im anderen Tunnel verriet, dass sich dort eine U-Bahn näherte. Genau darauf wartete sie. Sie schloss ihre Augen, spürte das Amulett in ihrer Hand, spürte den darin schlafenden Zauber und die Energie, die sie mit Yefim verband. Aus dieser Energie nahm sie etwas, erweckte dem Zauber damit zu neuem Leben und ließ ihn genau in dem Moment aufflackern, als die andere Bahn einfuhr.

An sich war es ein simpler Zauber. Ein Zauber, der für einen Moment die Augen einfach über sie hinweg wandern ließ. Keine Unsichtbarkeit. Nicht mal ein richtiger Ablenkungszauber. Doch für einen Moment sollte der Wachmann vergessen, warum er eigentlich in diese Ecke starrte.

„Jetzt!“, flüsterte sie angespannt, als der Zauber sie umgab und tippte den beiden auf die Schultern. Dann hob sie Yefim hoch und kletterte auf die Gleise hinab, vorsichtig nirgendwo gegen zu kommen.

Die beiden Cousinen taten es ihr gleich, kletterten samt Familiare hinab und verschwanden gemeinsam mit ihr in den Metrotunnel hinein.

Nach wenigen Metern wurde die freie Laufstrecke am Rand der Gleise etwas breiter. Vielleicht war das der Grund, warum Vanyas Zauber sie hierlang führte. Es sah zumindest sicherer aus, als eine etwaige Alternative.

Der modrige Geruch der unterirdischen Tunnel war hier deutlicher zu vernehmen, als an den Bahnsteigen. Die Luft war warm und seltsam feucht. Kalk hatte sich an den rauen Wänden abgelagert, in die alle zwanzig Meter oder so eine Kerbe eingelassen war. Sicherheit für Leute, die wie sie hier herumschlichen.

Aus der Ferne wurde das Klappern der alten Züge zu ihnen getragen, die durch andere Tunnel fuhren. Dann hinter ihnen ein näherkommendes Klappern.

„Schnell“, scheuchte sie ihre beiden Schützlinge in Richtung einer Kerbe, wo sie die U-Bahn abwarteten.

Langsam reichte auch das Licht der Notlampen nicht mehr, brachte Olga dazu ein weiteres ihrer Amulette zu nehmen und aus diesem einen einfachen, leuchtenden Ball zu beschwören. Zumindest dies war ihnen unter dem Schutz Peruns ein leichtes.

Sie gingen weiter, dem Amulett folgend. Der Boden war nicht besonders leicht zu laufen und sie mussten hintereinander gehen. Aber am Ende fanden sie, wohin das Pendel zeigte: Eine Treppe am Rand des Tunnels, die zu einer Tür führte. Die baumelnde Münze zerrte nun deutlich in diese Richtung.

Noch einmal sah Olga sich um. So weit waren sie gar nicht gelaufen. Das Licht von der Station war noch sichtbar.

Nun gut.

Vanya rüttelte an der Tür, doch diese ließ sich nicht öffnen. Natürlich nicht.

„Und jetzt?“, fragte Vaska.

Vanya schenkte ihr einen kurzen verschrobenen Blick. „Auf sowas bin ich vorbereitet“, meinte er und zog einen einfachen, grob geformten Metallschlüssel aus der Tasche.

Der Schlüssel sah nicht aus, als sollte er passen, doch als Vanya ihn in das Schlüsselloch schob, ging er doch klackend in Position und blieb stecken. Der junge Magier schloss die Augen, ehe er den Schlüssel drehte und die Tür aufsprang.

„Ein Universalschlüssel?“, fragte Olga.

„Ein eigener Zauber“, grinste ihr Bruder.

Olga musterte ihn, kam aber nicht umher matt zu lächeln. Das war kein Zauber, der ihrer Familie gefallen sollte, aber definitiv eine interessante Idee. Allerdings wollte sie lieber nicht wissen, was Vanya damit nicht schon alles angestellt hatte.

Sie zogen die knirschende Tür ganz auf. Olga ging voran, leuchtete mit ihrem Zauber den dahinterliegenden Gang aus. Dieser war rechteckig, die Wände betoniert und grob belassen. Der Geruch von nassem Sand und rostigem Metall lag in der Luft. Viel mehr gab es jedoch nicht zu sehen, abgesehen von einem alten und deutlich angerosteten Schild an der Wand. „Zugang 2-41“, stand da und darunter eine Warnung, die jedoch nicht mehr gut zu lesen war.

Nun, hoffentlich keine Warnung vor giftigen Gasen oder vergleichbaren. Das konnten sie nun wirklich nicht gebrauchen.

Vaska und Vanya folgten ihr in den Gang und dann diesen entlang, während die Tür mit einem weiteren Knirschen zurück ins Schloss fiel.

Was auch immer das hier war: Es wirkte unfertig und verlassen. Der Gang war breit, was sie an einen Arbeiterzugang denken ließ. Auf ihrem Weg kamen sie an zwei Türen vorbei, doch das Amulett führte sie erst einmal voran.

Auch hier hörte man noch das Rattern der Metro, jedoch weit entfernter.

Der Gang weitete sich und dann sahen sie, was sie wahrscheinlich suchten: Da war eine Treppe – und ein Aufzug.

Vanya war der erste, der den oberen Treppenabsatz erreicht hatte. Er schaute hinab und verzog das Gesicht. Die Münze zeigte deutlich in die Richtung – schräg nach unten. „Das sieht nicht vertrauenserregend aus.

Als Olga neben ihn trat, erkannte sie, was er meinte. Die Treppe war nicht aus Beton gegossen, wie man vielleicht hätte meinen können, sondern aus Metall. Rostigem Metall. Es sah fast so aus, als hätte man hier eine Treppe bauen wollen und abgebrochen, bevor man zu weiteren Arbeitsschritten gekommen war.

Vorsichtig drückte sie den Knopf des Aufzugs, der in der Mitte der Treppe gelegen war. Nichts passierte. Wahrscheinlich hatte der Aufzug keinen Strom.

Was sollten sie jetzt machen?

Sie schaute zu Vaska und Vanya, als das Mädchen meinte: „Ich gehe vor.“

Olga seufzte. „Nein, wirst du nicht.“

„Ich bin die leichteste“, protestierte Vaska. „Und ich bin besser im Klettern als ihr.“

„Genau deswegen sollte jemand anderes vorgehen. Selbst wenn du runterkommst, wissen wir nicht, ob die Treppe uns trägt“, erwiderte Olga. „Und wenn du einbrichst haben wir keine Möglichkeit etwas zu machen, um dich zu retten.“

„Aber …“

„Ich gehe vor“, meinte Olga. „Wenn alles gut geht, kommt ihr nach.“

„Hältst du das für eine gute Idee?“, fragte Vanya.

Olga erwiderte nichts. Wenigstens gab es hier ein an der Wand befestigtes Geländer aus Seil. Zwar war dieses modrig und feucht, bot aber genug Halt, als dass sie an die Wand gedrückt und von Yefim gefolgt sich auf die ersten zwei Stufen vortasten konnte.

Das Metall unter ihr knarzte gefährlich, hielt sie aber.

Olga schluckte, machte dann den nächsten Schritt, dann den nächsten. Sie hielt sich an der Wand, wo sie sich besser am Seil festhalten konnte und wo – zumindest in der Theorie – die Stufen stabiler sein sollten.

Noch ein Schritt und noch einer … Sie beschritt einen langen Halbkreis auf der Treppe, ehe sie endlich wieder auf festem Boden trat.

Sie atmete auf. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, doch schien alles geklappt zu haben.

„Alles in Ordnung“, rief sie die Treppe hoch. „Ihr könnt herunterkommen. Aber bitte einer nach dem anderen.“

Windende Dunkelheit

Eine weitere Betonkaverne. Es war ein einfacher Absatz, dahinter zwei abzweigende Gänge. Beide breit genug, als dass ein kleiner Wagen hätte hindurchfahren können. Die Münze jedoch hing wieder von ihrem Band hinab. Sie schlug nicht aus. In keine Richtung. Also hatte der Zauber sie nur ein weiteres Stück geführt. Langsam wurde es frustrierend.

Während sie einen Stück ihrer Konzentration darauf verwendete, den Lichtzauber aufrecht zu erhalten, holte Olga die Taschenuhr hervor. Sie hatten noch etwas mehr als achteinhalb Stunden. Hatten sie schon so viel Zeit verschwendet? Ach, verflucht. Sie wusste noch immer noch, was dass Rätsel meinte und die beiden Prüflinge schienen dahingehend nicht weiter zu sein.

Sie seufzte. „Wohin sollen wir?“

Vanya schaute auf die Münze, löste sie schließlich vom Band. „Ich weiß es nicht.“

„Vielleicht sollten wir es einfach ausprobieren“, meinte Vaska und schaute von einem Gang zum anderen. Ihre Stimme war etwas höher als normal. Wahrscheinlich gefiel ihr das ganze nicht.

Zugegebenermaßen: Die Atmosphäre ware irgendwie drückend. Die Luft war dicht und rich moderig. Sie war warm, feucht, seltsam still. So viel tiefer waren sie nicht. Eigentlich sollten sie noch etwas höheren von der Metro, oder? Gerade die Felsen sollten es doch tragen.

Doch das einzige Geräusch war ein seltsames, statisches Rauschen, das nur ab und an von einzelnen Tropfen, die irgendwo zu Boden fielen, unterbrochen wurde. Das Rauschen war vielleicht einfach ein Geräusch leichter Luftbewegung in den tiefen Gängen. Genau wusste sie es aber nicht.

Angespannt schaute sie zu den beiden. Zugegebenermaßen wäre sie lieber wieder die unsichere Treppe hinaufgestiegen, als weiterzugehen. Etwas sagte ihr, dass sie hier nicht sein sollten. Die Tatsache, dass Yefims Fell aufgestellt war, machte es nicht besser. Auch Kir hatte sich an Vaskas Beine gedrückt und war alles in allem nicht angetan von der Idee, sich länger als nötig hier aufzuhalten.

„Ich könnte Nika vorausschicken“, meinte Vanya.

Olga sah ihn an. Es war eine Möglichkeit. Er konnte durch die Augen des Familiars sehen und die Eule war schneller, als irgendetwas anderes. Allerdings war sie nicht sicher, ob hier unten etwas war, dass sie fressen konnte.

„Dann mach.“ Vaska klang weiterhin angespannt, trat nun einen Schritt näher zu Olga.

Vanya nickte und schloss seine Augen. Er streckte die Hand auf, selbst wenn Nika nicht sofort reagierte. Verschlafen blinzelte die Eule, ehe sie gewichtig mit dem Gefieder raschelte und seitwärts weiter auf Vanyas Arm watschelte. Sie streckte sich, was dafür sorgte, dass sie für einen Moment doppelt so groß und halb so breit wirkte, wie normal, ehe sie ihre Flügel ausbreitete und losflatterte. Wie von einer Eule zu erwarten, waren ihre Flügelschläge gänzlich leise.

Sie flog in den Gang zu ihrer linken hinein, während Vanya die Augen geschlossen hielt. Er zögerte. „Der Gang wirkt verlassen“, murmelte er. Seine Stimme klang seltsam hohl, fast wie in Trance. Es ist sehr Dunkel. Unnatürlich Dunkel. Irgendwas … Ich glaube etwas bewegt sich. Vielleicht sind es nur Schatten. Da ist eine Wand. Wir drehen um.“

Kurz darauf flatterte Nika wieder an ihnen vorbei, bog nun in den zweiten Gang ein. „Hier sind Türen in der Wand“, erklärte Vanya. „Eins, zwei, drei Stück. Jetzt nichts. Die Kabel an der Decke sind komplett durch. Irgendwoher kommt Wasser. Da ist irgendwas … Eine Öffnung. Hier geht es in einen größeren Gang. Hier sind Gleise. Ja. Und dahinten … ich glaube da ist noch etwas. Eine Gabelung.“

„Ruf Nika erst einmal zurück“, wies Olga ihn an. Wenn die Eule zuweit vorausflog, würde es ihnen auch nichts bringen.

„Okay.“ Vanya klang matt.

Es dauerte einige Sekunden, die sich in der Dunkelheit ewig anfühlten, ehe Nika wieder auf seinem Arm landete und zurück zu seiner Schulter ging. Dort drehte sie den Kopf und verfiel dann wieder in ihren dösenden Schlaf.

„Also nehmen wir den Gang?“, fragte Vaska und zeigte auf den, aus dem Nika gekommen war.

Vanya nickte. „Ja.“ Er presste die Lippen aufeinander. „Ich frage mich, wo wir hier sind.“

„Hattest du nicht eben noch von der Metro-2 oder so erzählt?“

„Ja, aber die sollte tiefer sein. Heißt es zumindest.“ Vanya runzelte die Stirn. „Ich meine, das mit dem Zugang passt ja irgendwie. Also zumindest habe ich gehört es gäbe einen bei der Universität und so. Aber es sollte tiefer sein und ich glaube nicht, dass die die Treppen hätten so verkommen lassen.“

„Na, vielleicht ist ihnen halt das Geld ausgegangen“, meinte Vaska und zuckte mit den Schultern.

„Ist es nicht. Und wie gesagt: Es hätte tiefer sein sollen. Das hier kann allerhöchstens ein Zugang sein oder so etwas.“

„Vielleicht haben sie auf den Gleisen ja Materialien transportiert“, meinte Olga. Sie hoffte, dass sie Recht damit hatte, auch wenn sich eine unschöne Idee in ihrem Kopf formte. Es wirkte wirklich verlassen. Was war, wenn irgendetwas hier gewesen war, das die Leute vertrieben hatte. Immerhin hatten Zauber und Münze sie hierher geführt und sie konnte sich allerlei magische Dinge denken, die so etwas verursachen konnten. Und da war das Rätsel. Eine „Göttliche Hand„.

Kurz presste sie die Lippen aufeinander. „Was glaubt ihr ist der Einlass, den ihr erringen sollt?“, fragte sie.

„Vielleicht ist irgendwo eine Tür, die bewacht wird?“, meinte Vanya. „Und dann müssen wir jemanden bekämpfen!“

„Du lässt es fast klingen, als wäre es was gutes“, murmelte Vaska.

„Es ist spannender, als hier durch die olle Dunkelheit zu wandern.“

„Das sagst du jetzt“, erwiderte Olga.

Vaska sah sich um. Ihr Blick wanderte angespannt über die Betonwände, als würde sie erwarten, das jedem Moment sich ein Monster aus einer davon lösen würde. „Außerdem: Heißt es nicht irgendwas mit einem Gott?“ Sie hielt inne. „Also ich meine, es heißt ja: 'Erringe den Einlass aus göttlicher Hand'.“

„Ja, und?“

„Nun, nicht, dass wir am Ende … Ich meine. Die können uns nicht mit einen Gott kämpfen lassen oder so?“

„Selbst wenn wird es sicher kein starker Gott sein!“

„Gott ist Gott.“ Vaska klang nervös. Ihre Finger spielten mit dem Verschluss ihrer Tasche. Es schien, als würden die Zeilen des Rätsels hier unten eine ganz andere Wirkung auf sie entfalten. Sie schluckte schwer. „Ich meine, wir sind darauf wirklich nicht vorbereitet.“

„Du vielleicht nicht.“

Olga legte eine Hand auf die Schulter ihres Bruders. „Komm, spiel dich nicht so auf.“

„Ich spiele mich nicht auf!“

Sie schenkte ihm nur einen langen Blick, ließ es aber unkommentiert. Stattdessen wandte sie sich der ersten Tür zu und versuchte sie zu öffnen.

Das Knarzen klang in der Stille hier unten ohrenbetäubend und ließ ihr die Haare zu Berge stehen. Dahinter jedoch fand sie etwas recht langweiliges: Eine alte Umkleide. Offenbar von Arbeitern. Hier hingen sogar noch Helme. Auch ein alter Werkzeugkasten fand sich in einer Ecke. Zu verrostet, um damit etwas anzufangen.

Die zweite Tür war ebenso unbeindruckend: Ein Lagerraum, in dem sich alte Säcke mit Beton fanden.

Ein wenig seltsam war das alles schon. Die Sachen waren doch besser auf den Schienen zu transportieren. Warum waren sie hier? Die Logistik verstand sie nicht ganz und mit so etwas hatte sie sich beschäftigt. Dennoch behielt sie den Gedanken für sich. Vielleicht hatten sie auch einfach einen anderen Zugang übersehen. Zudem war der Gang, wie sie bald sahen, nicht besonders lang. Und irgendwo musste man Dinge lagern, oder?

Der dritte Raum war leer.

Schließlich aber kamen sie zu der großen Kaverne, die Vanya dank Nika gesehen hatte, durch die gleich drei parallel laufende Schienen führten.

Das Licht des Zaubers reichte nicht weit genug, um zu sehen, wohin die Gleise führten. Es reichte gerade einmal zu den Wänden, die vielleicht zehn Meter auseinander waren.

Etwas rasselte in der Ferne, ließ sie zusammenzucken.

„Was war das?“, fragte Vaska. Sie hielt den Atem an.

„Vielleicht ein Zug?“, erwiderte Vanya.

„Vielleicht etwas anderes …“ Olga sah sich um. Sie schob die beiden zum Rand der Gleise nur für den Fall, dass ihr Bruder Recht behalten sollte, und schloss dann die Augen, um etwas mehr ihrer magischen Energie in den Zauber zu leiten.

Das Licht strahlte nun vielleicht zwanzig Meter weit, reichte jedoch gerade, um zumindest zwei Dinge erahnen zu können: Der Gang schien in einem leichten Winkel zu verlaufen. Links aus Sicht des Gangs, aus dem sie gekommen waren, ging es hinab, rechts leicht hinauf. Ein Stück entfernt aufwärts teilten sich die Gleise, würden wahrscheinlich in unterschiedliche Tunnel führen.

Wieder erklang das Rasseln und dieses mal Japste Yefim auf. Er drückte sich an Olgas Beine, das Fell und die Ohren abgestellt.

Auch Olga spürte es: Da ging eine seltsame Vibration durch den Boden. Anders, als in der U-Bahn. Es war, als würde sich der Tunnel selbst bewegen. Als würde er sich irgendwie winden. Nein, das war falsch, oder?

Sie hielt inne.

„Olga?“ Vaska griff nach ihrem Arm, hielt sich daran fest, als dieses Mal das Rasseln nicht wieder verstummte, wie zuvor.

„Wir sollten uns bewegen“, erwiderte sie. Denn etwas besseres fiel ihr nicht ein. Hier lag etwas Bedrohliches in der Luft. Etwas bedrohliches, dass ihr sagte, dass sie hier genau richtig waren.

Dann hörte sie etwas das von weiter tunnelaufwärts kam. Sie sah dorthin, versuchte etwas zu erkennen, doch die Dunkelheit abseits des Lichtkegels schien undurchdringbar. Aber etwas bewegte sich. Etwas atmete. Etwas … zischte!

„Schlange“, flüsterte Vanya mit einer seltsamen Faszination in seiner Stimme. „Da ist eine Schlange.“

„Schlage?“ Vaska klang nun deutlich eingeschüchtert.

„Ja.“

Das war ein gutes Argument zu laufen.

Olga drückte gegen seine Schulter. „Wir sollten hier weg“, flüsterte sie.

„Was ist wenn die Schlange …“, begann er, kam jedoch nicht weiter. Denn nun erschien der sicher eineinhalb Meter breite Kopf einer riesigen, weißen Schlange im Lichtkegel ihres Zaubers.

Vaska wartete nicht länger. Sie lief.

Die weiße Schlange

Olga konnte nicht schnell genug reagieren, da war Vaska schon aus dem Licht des Zaubers verschwunden. Derweil beobachtete die Schlange sie mit schnellender Zunge. Es war mehr eine Intuition, als sonst etwas, die Olga nach ihrer Perun-Rune greifen ließ. Etwas Energie und das Schild umgab sie, gerade rechtzeitig, um sie vom Stoß der weißen Schlange zu schützen.

Vielleicht hatte Vanya Recht. Eine weiße Schlange konnte Veles oder zumindest einer seiner Avatare sein. Aber niemand konnte ernsthaft von ihnen erwarten, dass sie dagegen kämpften, oder?

Sie sah sich um, sah in die Dunkelheit, während ihr Geisterlicht flackerte, nun, da sie auch Energie brauchte, um ihren Schutzzauber am Leben zu erhalten. „Vaska!“, rief sie in die Dunkelheit und ihre Stimme echote von den Wänden wieder. „Vaska, komm zurück.“

Während sie damit beschäftigt war, hatte ihr Bruder jedoch ganz andere Ideen. Er hatte die Hand geöffnet und einen Feuerball über der Handfläche beschworen.

„Was hast du vor?“, fauchte Olga ihn an.

„Kämpfen. Wir sollen das Biest bezwingen!“

„Sei nicht wahnsinnig!“ Wieder stieß die Schlange gegen den magischen Schild. Ein Stoß, den Olga in Mark und Bein fühlen konnte. „Wir suchen Vaska.“

„Das Vieh folgt uns eh!“ Der Feuerball schwoll an, als er seine Energie konzentrierte. Er warf ihr einen Blick zu, ehe er den Ball in die Luft sausen ließ.

Der magische Schild war nicht dafür gedacht etwas auf ihrer Seite zu behalten, ließ den Feuerball so durch. Dieser schwirrte um den Kopf der Schlange, die irritiert aufsah, nur um sich dann mit Schwung mitten auf ihre Nase zu platzieren.

Die Schlange fauchte und schreckte zurück, hob dann den Kopf soweit, dass er in die Dunkelheit verschwand.

Dann auf einmal preschte der Kopf wieder auf sie hinab, mit genug Geschwindigkeit, dass der Boden unter ihren Füßen bebte, als die Schlange aufschlug.

Olga kämpfte um ihr Gleichgewicht und ihr Lichtzauber erlosch.

Nur einen Moment später flammte ein weiterer Feuerball über einem am Boden liegenden Vanya auf. Wieder preschte er der Schlage entgegen, doch dieses Mal entging sie ihm und das Feuer erlosch bei Kontakt mit der Wand.

Nicht gut.

Was sollte sie tun? Es war ihre Aufgabe die beiden zu schützen. Beide. Und sie wusste nicht mal wo Vaska war. Von allem was Olga wusste, war ihre Cousine bereits von einer weiteren Schlange samt Haut und Haar verschlungen worden.

Sie spürte die Schlange wieder gegen den Schild schlagen. Viel länger würde sie das nicht mehr halten können. Ihre Energie war nicht endlos und der Zauber beinahe aufgebraucht. In der Dunkelheit tastete sie nach ihrem Bruder, fand ihn dann, als er einen weiteren Feuerball beschwor.

„Merkst du nicht, dass es nichts bringt?“, rief sie und griff ihn bei der Schulter.

„Der hier ist anders!“, erwiderte er trotzig. Mittlerweile hatte er es wieder geschafft sich in die Hocke vorzuarbeiten. „Schau!“

Wieder flog der Ball, dieses Mal gegen den Hals der Schlange gerichtet. Diese versuchte erneut sie mit ihrem Kopf zu erwischen, schaffte es nicht dem Ball zu entgegen, der in einem dumpfen Knall explodierte, als er gegen die Schuppen der Schlange traf. Es war genug, um sie ernsthaft umzuwerfen. Ja, der Zauber hatte sogar an zwei, drei Stellen Risse in der Schuppenhaut aufklaffen lassen. Doch nicht genug, um die Schlange ernsthaft zu verletzen.

„Schön. Komm jetzt.“ Sie packte ihn an der Schulter und zog ihn in den Stand. „Wir müssen Vaska finden.“

„Aber ich …“, setzte Vanya an, bevor sie ihn unterbrach:

„Kein Aber. Wir gehen jetzt. Auf!“ Damit sprintete sie abwärts, sogut der Boden hier es zuließ. „Vaska!“, rief sie in die Dunkelheit. Eigentlich wollte sie ein weiteres Licht beschwören, doch fürchtete sie, dann den Schild nicht länger aufrecht erhalten zu können. Sie durfte den Schild auf keinen Fall verlieren.

Zumindest hörte sie Vanya neben sich laufen, streckte eine Hand aus und griff ihn am Arm, bevor er etwas Dummes probieren konnte.

Was sollten sie machen? Sie hatte keine Ahnung wohin sie liefen. Sie wusste nicht einmal, ob sich der Tunnel unten wieder teilte. Sie waren vollkommen blind in der Dunkelheit und wussten nicht, was sie erwartete. Was auch immer der Einlass sein sollte, von dem dieses Rätsel gesprochen hatte. War die Schlange ein Wächter?

Sie konnte hören, wie die Schuppen der Schlange über den Boden hinter ihnen glitten, konnte das Zischen der Schlange hören, auch wenn beides fast unter ihrem eigenen Keuchen und ihren Schritten, die tausendfach von den Wänden des Tunnels reflektiert wurden, übertönt wurde. Wohin? Wohin? „Vaska!“, rief sie wieder.

Wo war das Mädchen nur? Wo konnte sie hinverschwunden sein? „Vaska?!“

Dann, wie von weit, weit her ein Ruf. „Olga? Vanya?“

Irgendwo musste sie sein. Aber wie konnte sie soweit fortgekommen sein? Sollten Rufe hier unten nicht sogar näher klingen, als sie eigentlich waren?

Olga konnte den Gedanke nicht zu einem zufriedenstellenden Ende denken. Ihr Fuß verfing sich in einer der Schienen und ließ sie hart zu Boden gehen. Mit der Wange prallte sie gegen irgendetwas Hartes und für einen Moment verschlug es ihr den Atem. Schmerz rauschte durch ihren Schädel. Sie konnte spüren, wie der Zauber ihr entglitt.

„Olga?“, hörte sie Vanyas Stimme.

Ein weiterer Feuerball erwachte zum Leben.

Gleich würde die Schlange sie haben. Gleich würde sie sie erwischen. Was hatte das Biest vor? Würde es sie einfach töten oder würde es sich verschlingen?

Mühsam versuchte Olga sich aufzurichten. Ihr Kopf schmerzte. Offenbar war sie gegen die andere Schiene geschlagen. Sie konnte froh sein, dass sie sich nichts gebrochen hatte, dass sie noch bei Bewusstsein war. Vielleicht hatte sie sich was gebrochen … Sie schmeckte Blut.

Sie musste sich aufrichten, doch schwirrte ihr Schädel. Wo war die Schlange? Sie konnte sie nicht sehen. Sie sah gar nichts. Wohin war das Feuer verschwunden?

Ein Rattern. Ein lautes Rattern hallte durch die Tunnel. Sie konnte es unter ihren weichen Knien, unter den Händen spüren. Was war es? Das konnte eigentlich nicht die Schlange sein.

Yefim war auf einmal neben ihr und japste laut. Er klang panisch, stupste sie mit der Schnauze an, offenbar in einem Versuch sie zur Bewegung zu bringen. Dann sprang er ein Stück weg.

Auf einmal donnerte ein anderes Geräusch durch die Finsternis. Ein Hupen. Sie kannte dieses Geräusch sehr gut. Aber das konnte nicht sein. Sie war zu benommen. „Vanya?“, fragte sie und schaffte es im Moment nicht einmal panisch zu klingen.

Dann war da auf einmal ein gleißendes Licht. Ein Licht aus einer einzelnen Quelle. Wie ein Scheinwerfer. Das Rattern wurde lauter. Es kam genau auf sie zu.

Auf einmal wurde ihr klar, was es war: Eine U-Bahn. Da fuhr eine U-Bahn auf sie zu!

Die Panik zuckte wie ein Blitz durch ihren Körper, erlaubte es ihr, sich auf die Beine zu stemmen. Da war Vanya. Die Schlange schien verschwunden. Vielleicht hatte die U-Bahn sie verscheucht. Olga packte ihren Bruder, griff ihn bei den Schultern und warf sich gemeinsam mit ihm zur Seite – gerade rechtzeitig, bevor der Zug über die Schienen bretterte, auf denen sie eben noch gelegen hatte.

Ihr Kopf schwirrte zu sehr. Da war Blut in ihrem Mund. Etwas schimmerte vor ihren Augen. Nichts, was wirklich da war. Dann übermannte die Bewusstlosigkeit sie.

Göttliche Hand

Ohrenbetäubendes Rattern umgab Olga, als sie erwachte. Ihr Kopf fühlte sich an, als hätte jemand einen Keil genommen und schräg hindurch geschlagen. Da war noch immer der Geschmack von Blut in ihrem Mund. Ihre Wange war geschwollen, was es schwer machte, ihr linkes Auge zu öffnen. Dennoch blinzelte sie.

Über ihr schwankten Haltegriffe von einer Stange hinab. Sie lag auf einer hölzernen Bank, die seitlich im Wagen angebracht war. Ja. Sie war in einem Zug. Alt wirkende Lampen leuchteten von über ihr. Sie sahen nicht aus wie die modernen Lichter, die sie aus U-Bahnen und Zügen kannte. Sie waren noch verziert und das Licht war ein wenig gelblicher und weniger hell. Ab und an flackerte es.

Seltsam.

Ihre Augen fielen wieder zu.

Sie brauchte eine Weile, um wieder zurück zu ihrem Bewusstsein zu finden. Noch immer ratterte es, aber dieses Mal waren da auch Stimmen. Zwei Stimmen. Die Stimme eines Jungen und die eines Mannes, der tief und mit einem sehr, sehr deutlichen Akzent sprach.

„Die Stadt verändert sich immer schon, hat sich seit Jahrhunderten verändert. Da merkt man diese Dinge nicht immer sofort. Vor allem heute. Da sind so viele Menschen unterwegs, mein Junge.“

Die Stimme die Antwortete gehörte zu Vanya. „Wie kannst du die Dinge nicht bemerken und dennoch hier unten in einer U-Bahn sitzen.“

„U-Bahn?“ Ein mattes Lachen folgte dem Wort. „Ach, du meinst den Zug? Die Menschen haben manchmal ein Talent an den falschen Orten zu graben und Dinge zu finden, nach denen sie nicht gesucht haben. Das hatten sie schon immer.“

„Und was haben sie hier gefunden?“

„Nun, mich und meine Kinder und die Dämonen, die mir folgen“, erwiderte der Mann. „Dinge, mit denen sie nicht gerechnet hatten.“

„Kommt niemand mehr hier herunter?“

„Nicht hierher. Nein. Sie haben den Tunnel aufgegeben, als die ersten verschwanden, haben stattdessen im Süden weitergebaut. Ganz aufgeben wollten sie es nicht.“

„Die Metro-2 sollte ein Schutz vor den Amerikanern sein“, meinte Vanya.

„Den Amerikanern?“

„Sag bloß nicht, davon weißt du auch nichts!“

„Ich habe davon gehört.“ Eine kurze Stille, während der Mann zu überlegen schien. Dann: „Ja, ja, Amerika, der Kontinent im Westen. Manchmal beten Menschen auch dort noch. Aber weniger, seltener, sehr schade. Wie lange ist es her?“

„Was?“

„Dass sie den Kontinent entdeckt haben. Damals gab es eine Menge Aufruhe deswegen.“

„500 Jahre“, erwiderte Vanya.

„Na sowas …“ Der Mann schwieg erneut. „Nun, und du sagst wir hätten einen Krieg mit ihnen gehabt.“

„Nur beinahe.“

„Ah, das erklärt es natürlich.“ Ein Knarzen erklang, gefolgt von schweren Schritten. „Weißt du, ich verstehe diese modernen Menschen nicht. Sie glauben alle an dasselbe und doch irgendwie nicht und ständig, ständig sind sie dabei sich zu bekriegen.“

Das war nun etwas, das Vanya nicht gefiel. „Wir glauben sicher nicht an dasselbe, wie diese Amerikaner mit ihrem Globalismus und ihrem Kapitalismus!“

„Werden da Leute geköpft?“, fragte der Mann.

„Nein. Sie arbeiten für irgendwelche anderen Menschen, die das Geld dann für sich behalten“, murrte Vanya. „Das ist alles, was bei denen zählt. Und jetzt spielen wir da auch mit.“

„Tun wir das?“

„Nun, ich sicher nicht!“

Der Mann lachte auf eine seltsame Art und Weise. „Na siehst du. Dann musst du dich auch nicht aufregen, mein Junge.“

„Mir geht es darum, dass sie einfach eingeknickt sind. Wir hätten so viel machen können, so viel bauen können, aber sie sind einfach eingeknickt und jetzt ist das Land klein und die Leute? Ich meine, es scheint nicht mal jemanden zu interessieren. Alles was meine Familie interessiert, ist die doofe Tradition und dass wir halt weiterhin für die Regierung arbeiten oder für wen auch immer, der uns halt bezahlt. Die haben keine Ehre.“

„Du aber schon?“

Jetzt zögerte Vanya. „Ich … ich bemühe mich.“

Olga rührte sich vorsichtig. Irgendetwas an dieser Situation gefiel ihr nicht. Sie verstand noch immer nicht wo sie waren oder wie sie hierher gekommen waren, doch etwas daran, wie der Mann mit ihrem Bruder sprach, gefiel ihr nicht. Er klang auf eine seltsame Art, als wolle er mehr über Vanya erfahren.

Ihr Kopf dröhnte noch mehr, als sie sich aufrichtete, um über die Rückbank der nächsten Sitzreihe hinweg zu sehen.

Vanya saß weiter vorne – sie konnte seinen rabenschwarzen Kopf sehen und Nika, die auf der Rückbank hinter ihm zu dösen schien – in der ersten Reihe vor den Türen. Vor ihm stand ein Mann, der in einen ausgeleierten dunklen Mantel gehüllt war, der vielleicht einmal edel gewesen war, nun aber nur noch verschlissen wirkte. Die Haare des Mannes waren dunkelgrau und wellten sich ein wenig, während ein Ziegenbart von seinem Kinn hinabhing.

Aber wo war Vaska?

Yefim kauerte unter dem Sitz, auf dem Olga lag, und schien der Lage genau so wenig zu trauen wie sie. Seine Ohren waren ängstlich zurückgelegt und er hatte die Lefzen halb angehoben, als würde er jeden anknurren oder gar beißen wollen, der ihm zu nahe kam.

Jetzt bemerkte der Mann Olga. „Ah, siehe an, unserer anderer Gast ist aufgewacht“, meinte er galant. „Willkommen in meinem Zug, Bali.“

Noch immer schmerzte Olgas Kopf. Es war beinahe unerträglich. Irgendetwas fühlte sich nicht richtig an in ihrem Mund. Warum blutete sie überhaupt?

Ihr Blick verharrte auf dem Mann in seinem verschlissenen Mantel, dem einige Knöpfe fehlten. Ein langer Schal hing von seinem Hals herab. Er war dreckig, staubig. Mehr konnte sie nicht sehen, da der Körper des Mannes ansonsten von den Sitzbänken verdeckt wurde. „Wo ist Vaska?“, brachte sie schließlich mit heiserer Stimme heraus und verzog sogleich das Gesicht. Auch Sprechen ließ ihren Kopf schmerzen.

„Sie ist hier“, erklärte Vanya halblaut. „Sie ist ohnmächtig.“

Olga hielt sich an der Rückenlehne der Sitzreihe vor sich fest, um sich aufzustellen. Ihr Kopf schwirrte, doch erinnerte sie sich daran, dass sie hier war, um dafür zu sorgen, dass Vanya und Vaska am Ende gesund zurückkamen.

Oh, würde ihr Kopf doch nicht so schmerzen. Sie hatte selbst Heilzauber dabei. Diese einzusetzen wäre leichter, könnte sie klar denken. Wahrscheinlich hätte sie besser einen Trank mitnehmen sollen, doch behielten ihre Tränke oft nicht die Wirkung für lange Zeit. Normal war es leicht einen Zauber eben zu aktivieren.

Irgendwie aber schaffte sie es, sich auf den Beinen zu halten. „Was ist passiert?“, presste sie hervor. Jetzt verstand sie auch, was nicht stimmte. Einer ihrer Bahnzähne fehlte. Daher das Blut. Hatte sie ihn sich ausgeschlagen? Sie traute sich nicht über die raue Stelle an ihrem Zahnfleisch zu tasten.

„Oh, ihr habt euch in meine Tunnel verirrt“, erwiderte der Mann mit einer ausschweifenden Handgeste und einem etwas zu weiten Lächeln. „Ihr habt euch in meine Tunnel verirrt, habt eins meiner Kinder getroffen und seit mir dann direkt in die Arme gelaufen. Dabei solltet doch ihr genau wissen, als Vrac und Bali, dass es keine gute Idee ist in das Land der Geister einzudringen.“

„Wir sind …“ Olga schaffte es nicht genug Worte aneinander zu bringen, um den Satz zu beenden. Sie fasste sich mit der linken Hand an den Kopf, während sie sich mit der rechten noch immer an die hölzerne Lehne klammerte. „Wir …“

„Setz dich hin“, meinte Vanya. „Wir sind hier erst einmal sicher.“

Genau das zweifelte Olga an. Sie spürte etwas. Genau wie auch Yefim etwas spürte. Alles was sie wollte war Vaska finden und wieder an die Erdoberfläche zurück. Vielleicht konnte Vaska sie heilen, wenn sie bei Bewusstsein war. Vielleicht auch Vanya. Ansonsten würden sie wohl die Prüfung aufgeben müssen.

Das Schutzmedallion. Sie konnte Hilfe rufen. Vielleicht sollte sie es tun. Hatte Vaska es schon gemacht? War jemand unterwegs.

„Wo ist Vaska?“, fragte sie schließlich. „Ich will sie sehen.“

Der Mann legte seinen Kopf leicht zur Seite, als versuchte er etwas abzuschätzen. „In einem anderen Wagen“, erwiderte er.

Das machte wenig Sinn. Wieso hatte man sie auf diese Holzbank gepackt, während Vaska woanders war. Etwas daran erschien ihr seltsam. Entweder Vaska war nicht hier oder der Mann hatte etwas mit ihr vor und sie war sich nicht sicher, ob sie wissen wollte, was es war.

„Ich will sie sehen“, wiederholte sie nur.

Ein Lächeln umspielte die Lippen des Mannes. „Aber natürlich, meine Gute“, erwiderte er. „Wenn du gehen kannst, heißt das. Du hast dir den Kopf ganz schön angestoßen.“

Olga sagte nichts dazu. Sie konzentrierte sich auf ihre Füße und tastete sich zur nächsten Sitzreihe voran. Sich auf die Sitzlehnen stütztend, kämpfte sie sich nach vorne voran, wo Vanya endlich an ihre Seite trat. Wenngleich zögerlich bot er seinen Arm an. „Ich helfe dir“, murrte er.

Sie nickte und lehnte sich auf ihn, als der Mann mit klappernden Schritten sie zur Tür führte, die sie auf eine Plattform zwischen zwei Waggons brachte. Aus welchem Jahrzehn, ja, aus welchem Jahrhundert kam dieser Zug eigentlich? Wieso hatte er Strom? Denn das Licht, das das Innere erfüllte, war definitiv kein Feuer. Es sei denn natürlich es war magischer Natur. Doch woher kam dann die Magie?

Trotz des Lichts des Zuges war es unmöglich die Tunnelwände zu sehen. Zwar ratterte der Zug, doch schien es, als würden sie durch komplette Finsternis fahren. Waren sie überhaupt noch in den Tunneln oder war es etwas anderes? Eine Vermutung wollte sich in Olgas Gedanken formen, wurde jedoch von ihren Kopfschmerzen aufgehalten. Yefim war nicht mal bei ihr, versteckte sich wahrscheinlich noch immer unter ihrem Sitz.

Ein kurzes Stechen von Sorge ließ sie sich umsehen, aber sie konnte den Fuchs nicht sehen.

Der Mann führte sie zum anliegenden Waggon, öffnete die Tür und führte sie herein.

Dieser Waggon jedoch war nicht ausgestattet, wie der letzte. Seltsame kleine Metallgegenstände glänzten an den fensterlosen Wänden. Anstatt die üblichen Sitzbänke, wie man sie aus den U-Bahnen kannte, war dieser Raum praktisch leer, abseits von einem Bett, das in seiner Mitte stand.

Auf diesem lag Vanya gebettet, die Arme auf dem Bauch übereinander geschlagen. Kir lag auf ihren zusammengerollt auf ihren Beinen, das schwarze Fell seltsam matt. Etwas lag in Vaskas Hand. Das ohnehin bleiche Mädchen wirkte noch bleicher, beinahe leblos.

Mit eiligen Schritten – so eilig, wie ihre Beine es erlaubten – stolperte Olga zu ihr hinüber und griff nach ihrer Hand unter der eine goldene Taschenuhr lag. Eine Taschenuhr die Olga sehr bekannt vorkam. Sie griff in ihre eigene Manteltasche, nur um festzustellen, dass die Uhr, die sie von ihrem Onkel bekommen hatte, fehlte.

Vaskas Hand war eisig. Dennoch war etwas Leben in ihrem Körper zu spüren. Sie war nicht tot. Aber etwas war seltsam: Ein Kribbeln ging durch Olgas Finger, als sie ihre Cousine berührte. Ein vertrautes Kribbeln.

Mit weiterhin klackenden Schritten ging der Mann um das Bett herum. Was für Schuhe trug er, die so auf dem hölzernen Boden klapperten?

Olga spähte über das Bett hinweg, nur um eine weitere Seltsamheit zu bemerken. Unter der Hose des Mannes zeigten sich zwei Hufe anstelle von Schuhen.

Hufe. Natürlich. Hufe.

Sie sah den Mann an. „Du bist Veles.“

Der Einlass

Ein Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht der Menschengestalt des Gottes. Er musterte sie. „Offenbar hast du dir den Kopf noch nicht zu sehr angeschlagen.“

Vanya sah zu Olga, dann zu dem Mann. „Veles?“ Seine Augenbrauen waren in Verwirrung hochgezogen, während er den Mann musterte und sein Blick schließlich auch bei den Ziegenhufen hängenblieb.

„Deine Schwester hat Recht, Vrac“, erwiderte Veles und sah ihn an. „Deine Cousine hat mich ebenfalls sofort erkannt.“

„Schläft sie deswegen?“, fragte Olga.

Eigentlich hätte sie vorher darauf kommen sollen. Unter der Erde und riesige weiße Schlangen. Natürlich musste es Veles sein. Auch wenn ihr Blick verschwommen und ihre Gedanken verwirrt waren, so hätte es ihr klar sein müssen. Wieso hatte sie so lange gebraucht um ihn zu durchschauen.

Veles. Veles war der Gott der Unterwelt und des Winters. Er war auch der Gott der Schlangen und der Magie und der Weissagung.

Sie betrachtete die Wände genauer. Die kleinen metallenen Gegenstände, die dort hingen waren Schlüssel. Schlüssel unterschiedlicher Arten. Einige waren klein, hatten eine kleine Plastikkarte daran, wie es bei Schließfächern üblich war, andere waren alt und groß und gehörten zu wahrscheinlich sehr schwergängigen Schlössern.

Schlösser. Ja. In manchen Sagen war Veles auch mit Schlössern und Türen in Verbindung gebracht. Ein Gott der Schwellen.

Veles war nicht ein per se böser Gott. Es kam sehr auf die Mythe an, der man folgte. Dennoch brachte er Winter und Kälte und Tod und galt allgemeinhin als jemand, der Streiche spielte und nicht immer die besten Interessen seines Gegenübers im Sinn hatte. Es war kein Gott, dem man trauen konnte.

Göttliche Hand. Göttliche Hand. War Veles der Gott von dem ihre Cousinen den Einlass erringen mussten. Konnte es sein, dass der Einlass einen Schlüssel meinte? Waren sie deswegen hier?

„Ich sehe, gute Bila, dir kommen einige gute Gedanken“, meinte der Gott und schien sehr entzückt davon.

„Wovon redet er?“, fragte Vanya, doch Olga schüttelte den Kopf.

Sollten sie gegen den Gott kämpfen? Nie im Leben hätten die beiden eine Chance. Sie mussten ihn überlisten. Und auch wenn der Gott als listig galt, so war es in den Mythen öfter gelungen. Die Listengötter waren oft die, die ihre Gegenüber leicht unterschätzten.

„Aber, aber“, meinte Veles, „hast du schon einmal in Betracht gezogen, dass ich euch einfach gebe, was ihr wollt?“

„Du bist der Gott, gegen den wir kämpfen sollen?“, fragte Vanya, bei dem nun offenbar auch der Rubel fiel.

„Nun, die Weissagung sagte, dass ihr etwas von mir bekommen sollt, nicht?“, meinte der Gott.

Vanya verstummte kurz. „Einlass aus göttlicher Hand.“ Er sah sich um. „Ein Schlüssel?“

„Durchaus.“ Veles lächelte.

„Was ist mit Vaska?“, fragte Olga. Sie fischte ihre Kette unter dem Pullover hervor und löste ihren Heilzauber, der in einen Hasenknochen geritzt war. Es war nicht die beste Grundlage, doch sie brauchte einen klaren Kopf. Das hier würde nicht so einfach sein, wie es gerade erschien.

„Sie liegt in einem Zauber“, antwortete Veles. „Sie schläft. Ihr Geist wandert.“

„Aber wieso?“ Vanya sah ihn an.

Der Gott holte etwas aus seiner Tasche hervor und drückte es dem Jungen in die Hand. Dieser hob es hoch.

Mit einem Blick über seine Schulter, erkannte auch Olga was es war. Eine silberne Münze, wie die, die die Balaya ihnen gegeben hatte. Der Stern auf der einen Seite, Hammer und Sichel auf der anderen. Sie verstand nicht.

Matt schloss sie die Augen und wünschte sich Yefim sei hier. Er hätte wenigstens etwas bei dem Zauber geholfen. So war sie auf sich allein, auf ihre eigene Magie angewiesen. Etwas, das unglaublich schwer fiel so, wie sie war.

Sie schloss die Hand um den Zauber und versuchte ihn durch die Schmerzen hindurch zu spüren. Da war das Kribbeln der Magie. Gut. Sie brauchte nur einen Funken, um den Zauber zu aktivieren. Ein Funken, der ihn zum Leben erwecken ließ. Konzentration. Sie musste sich konzentrieren. Ein Versuch. Zwei. Dann erwachte der Zauber aus seinem Schlaf, waberte um den Anhänger herum, darauf wartend auf ein Ziel gerichtet zu werden. Sie befahl ihn, in ihren eigenen Körper zu wandern.

Schon spürte sie den genauen Schaden, den ihr Sturz verursacht hatte. Sie hatte sich einige Kratzer schon vorher eingefangen, doch durch ihren Oberkieferknochen zog sich ein Riss, der wahrscheinlich auch dafür verantwortlich gewesen war, den Zahn zu lockern. Auch hatte ihr Gehirn durch den Sturz selbst eine Prellung. Eine Gehirnerschütterung.

Sie befahl dem Zauber diesen Schaden bestmöglich zu beheben. Sie konnte es nicht ganz verbessern, da ihr dafür die Energie fehlte, aber genug um ihre Gedanken zu Ordnen und die Schwellung zu lindern sollte möglich sein. Der Zahn konnte bis später warten.

Die magischen Kräfte webten ihr Gewebe zusammen, ließen den Schmerz langsam schwinden, als Vanyas Stimme über das Rattern des Zuges hinweg erklang.

„Sichel und Stern“, murmelte er. „Sichel und Stern. Auf der Münze sind Sichel und Stern auf unterschiedlichen Seiten.“

„Das ist richtig“, erwiderte Veles. „Eine Münze kann nicht auf beide Seiten gleichzeitig fallen.“

„Es ist eine Entscheidung.“ Vanya klang zweifelnd. „Ein Schicksal so golden wie Stern oder schwarz wie die Nacht. Eins für jeden von uns?“

„Du verstehst es also.“ Veles schien entzückt darüber, wenn Olga nach seiner Stimme ging. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Sie mochte nicht, worauf das hier hinauslief.

Endlich legte sich ihr Schmerz auf ein erträgliches Maß. Sie hatte zumindest nicht länger das Gefühl, kurz vor der Ohnmacht zu stehen, öffnete wieder die Augen. Sie schaute zu Veles, der auf der anderen Seite des Bettes stehen geblieben war.

„Was willst du?“

„Nun, die Frage ist nicht, was ich will, die Frage ist, was das Schicksal verlangt“, erwiderte Veles.

„Du bist ein Gott!“

„Aber auch wir Götter haben nicht die volle Kontrolle über das Schicksal.“ Dennoch zuckten die Ränder seiner Lippen, als wolle sich sein Lächeln zu einem Grinsen ausbreiten. „Oh, meine liebe Bila, wir sind keine Feinde. Ich will nichts schlechtes für dich, deinen Bruder oder dieses Mädchen, selbst wenn ich ihren Geist aktuell unter meine Kontrolle halte.“ Er bemühte sich seinem Ausdruck eine Spur von Unschuld zu verleihen.

„Aber wieso?“, fragte Vanya und musterte den Mann.

„Weil du und deine Cousine unter einem besonderen Stern geboren seid.“ Veles nickte in Richtung der Münze. „Ihr mögt aus einem Haus Peruns sein, aber ihr seit unter Sternen geboren, die einem anderen Gott gewidmet waren.“

„Dir?“

„Unter anderem“, erwiderte Veles mit einem Lächeln. „Und seht euch an.“ Er zeigte auf Vaska, dann auf Vanya. „Haare wie Sternenlicht und Haare wie die Nacht. Sie ein Kind der Natur, du ein Kind des Krieges und des Widerstandes.“ Er lächelte. „Dein Name ist der eines Königs.“

„Was willst du?“, fragte Vanya.

„Einen Magier, der mir dient“, antwortete der Gott. „Wir Götter haben Auserwählte, die für uns kämpfen, für uns sprechen, für uns in die Welt ziehen.“

„Du kannst nicht einfach meinen Bruder hier behalten.“ Olga sah den Gott an.

„Wer spricht davon, dass ich ihn hierbehalte? Ich gebe ihm die Wahl.“

Vanya schwieg. Er sah auf die Münze in seiner Hand, offenbar unsicher. Dann wanderte sein Blick zu Vaska und Kir. „Welche Wahl genau?“

„Du bist am Ende deiner Ausbildung“, erwiderte der Gott. „Ich kann dir mehr beibringen, dich zu einem der größten Magier machen. Du wünschst dir Macht, die nur ein Gott dir geben kann. Ein Gott, wie ich. Und keine Sorge, ich plane keine Folter oder dergleichen.“

Wieder verfiel Vanya in Schweigen, den Blick auf die Münze in seinen Fingern gerichtet. Er seufzte leise.

Eigentlich wollte Olga etwas sagen, doch sie wusste nicht was. Immerhin hatte sie sicher nicht die Macht etwas zu tun. Sie wollte ihren Bruder nicht aufgeben, nicht einfach einem Gott, der mit der Unterwelt und dem Winter in Verbindung stand, überlassen. Aber was gab es für sie zu tun?

„Was ist mit Vaska? Warum schläft sie?“, fragte Vanya auf einmal.

„Weil ich einen von euch behalten werde. Einer von euch gehört Perun, einer mir. So sollte es sein.“ Wieder drohte das Lächeln auf Veles Lippen zu einem Grinsen zu werden. „Und du weißt, wierum es sein sollte.“

Vanya sah zu seiner Cousine und zögerte. „Ja.“ Er machte eine Pause und wandte sich Olga zu.

„Bist du verrückt?“, flüsterte sie und versuchte in seine Augen zu sehen. Er aber wich ihrem Blick aus. „Du kannst nicht einfach … Das ist nicht der Sinn der Prüfung.“

„Und was ist wenn doch?“, erwiderte er. „Was ist, wenn es die ganze Zeit hierauf hinaus lief? Die Münze hat uns hierher geführt und das Rätsel … Es passt alles zusammen.“

„Ich kann dich nicht einfach in der Unterwelt lassen.“

„Willst du stattdessen Vaska hierlassen?“

Nun sah auch Olga zu dem Mädchen, das totengleich auf dem Bett schlief. „Nein. Aber …“ Als sie wieder zu ihrem Bruder sah, erwiderte dieser endlich ihren Blick.

„Und was ist, wenn ich es will?“

Olga sah ihn an. Für einen Moment rang sie um Worte. „Das kannst du nicht von jetzt auf gleich entscheiden! So etwas will überlegt …“

Vanya unterbrach sie: „Die Zeit haben wir nicht, oder?“

„Du bist mein Bruder!“ Warum sie das sagte, wusste Olga nicht. Es war das einzige, was ihr einfiel.

Für einen Augenblick schwieg Vanya wieder, dann sah er sie an. „Bin ich das wirklich?“

Sie verstand, was er meinte. Sie waren nicht zusammen aufgewachsen. Viel eher waren Vaska und er Geschwister. Sie waren Familie, doch Vaska war es ebenfalls.

„Und was ist mit meiner Prüfung?“, fragte sie schließlich selbst wenn es egoistisch klang.

„Das wird Onkel dann entscheiden.“ Vanya wich ihrem Blick wieder aus und wandte sich Veles zu. „Wenn ich hier bleibe, wird Vaska dann die Prüfung bestehen?“

Veles lächelte. Er nahm einen einfachen Schlüssel von der Wand. Einer jener Spintschlüssel, an dem eine kleine, metallene Plakette hing. „Wenn sie sich beeilt, dann ja.“

Olga fiel noch eine Sache ein: „Sollte Vaska das nicht mit entscheiden? Es ist auch ihre Prüfung und so …“

Doch der Gott hob mahnend den Finger. Nun zeigte er mit einem Grinsen seine spitzen Zähne. „Wer sagt, dass ich nicht schon lang mit dem Sternenkind gesprochen habe?“ Mit diesen Worten streckte er die Hand nach Vanya aus. „Wenn das deine Entscheidung ist, komm zu mir, Vanya Perov.“

Das Schicksal der Sterne

Mit kreischenden Bremsen, fuhr die U-Bahn in die Station ein.

Olga blinzelte. Wo war sie?

Ein Bellen ließ sie zusammenzucken. Yefim war vor sie gesprungen, um sie vom Rand des Bahnsteiges zurückzudrängen.

Wo zur Hölle war sie nur?

Sie sah sich um, erkannte die vertrauten Wände der Station der Universität. Wie war sie hierher gekommen? Ihre Erinnerungen waren seltsam verschwommen. Sie waren wegen der Prüfung hergekommen, waren im Tunnel in eine Tür gegangen und dann …

Ihre Hand wanderte zu ihrer Wange, ehe der Schmerz der Berührung sie zusammenzucken ließ. Die Wange war noch immer geschwollen. Moment … Noch immer? Ja, genau, sie war gefallen, hatte sich gestoßen, sich verletzt und dann …

Sie sah sich um und erkannte eine vertraute gestalt gegen einen der Pfeiler lehnend. Vaska war am Boden zusammengesunken, Kir auf ihrem Schoß. Ihr aschblondes Haar, das bei ihrem Aufbruch noch zu einem Kranz geflochten gewesen war, lag nun offen über ihren Schultern. Schlief sie?

Olga ging zu ihr, legte eine Hand auf die Schulter des Mädchens. „Hey. Vaska. Vaska?“

Das Mädchen zuckte zusammen, blinzelte, sah sie an, während die Katze auf ihrem Schoß sich genüsslich ausstreckte und dabei die Krallen im festen Mantelstoff versenkte. „Wo …“, setzte Vaska an und schaute sich um. Auch sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Die Verwirrung schwand schließlich von ihrem Gesicht, wich einer bitteren Erkenntnis. Sie streckte den Arm aus, in einer stummen Aufforderung.

Olga hörte, half ihr auf die Beine, was eine missmutige Katze auf den Boden vertrieb.

„Bist du in Ordnung?“, fragte Olga.

Vaska nickte, wenngleich sich Müdigkeit auf ihren Zügen abzeichnete. „Ja. Es ist in Ordnung …“ Sie seufzte.

Sie hielt für einen Moment inne, den Blick auf Kir gerichtet, die um ihre Beine strich. „Vanya ist fort …“

Olga blinzelte verwirrt. Ja. Vanya war nicht hier. Warum war Vanya nicht hier? Irgendwo in ihrem Unterbewusstsein war eine Erinnerung, die versuchte aktiv in ihre Gedanken einzudringen, aber eine unsichtbare Wand schien sie aufzuhalten. „Was?“

„Er ist bei Veles“, erwiderte Vaska.

„Veles, wie dem Gott?“ Olga war sich nicht sicher, ob sie verstand, was ihre Cousine sagte. Sie schaute sich auf dem Bahnsteig um, erwartete Vanya irgendwo zu sehen, doch sowohl von dem Jungen als auch seiner Eule fehlte jede Spur.

Vaska schwieg für einen Moment. „Ja. So …“ Sie griff in ihre Tasche und holte etwas hervor. Ein Schlüssel mit einer Metallplatte daran, wie sie für Spints oder Schließfächer üblich waren. „Wie lange habe ich noch?“, fragte sie.

Noch immer tat Olga sich schwer zu verstehen. Ihr fehlten Erinnerungen, so viel war klar. Umso mehr, als sie auf die Uhr schaute und feststellte, dass es halb neun am Abend war. „Noch dreieinhalb Stunden“, erwiderte sie. Ihr fehlten über fünf Stunden. Was war passiert?

Vaska hatte etwas von Veles gesagt. Ein Gott? Hatten sie wirklich einen Gott getroffen? Wieso hatte er dann ihre Erinnerungen gelöscht?

Olgas Zunge fand die Lücke zwischen ihren Zähnen. Sie wollte wirklich wissen, was geschehen war. Oh Gott, was sollte sie überhaupt ihrem Onkel, ja, ihren Eltern erzählen, wenn Vanya nicht zurückkam?

„Weißt du zufällig, wo das hingehört?“, fragte Vaska und riss sie damit aus ihren Gedanken. Sie zeigte ihr den Schlüssel und die dazugehörige Metallplatte.

Olga schaute herauf. Die Form des Anhängers erkannte sie. Natürlich konnte es sein, dass es solche Schlüssel auch anderswo in Moskau gab – es war immerhin eine große Stadt – doch waren sie an der korrekten Station. „Ja, weiß ich“, sagte sie daher. „Komm mit.“
 

Die Bibliothek war geschlossen gewesen, doch mit ein wenig Magie und etwas Trickserei waren sie hereingekommen, um so das richtige Schließfach zu finden. So standen sie in dem dunklen Flur, als Vaska den Schlüssel in das Schloss steckte und drehte. Das metallene Fach ließ sich öffnen, knarzte ein wenig.

Neugierig schauten sie hinein. Darin war nur ein einzelner Gegenstand, der auf dem grauen Metall lag: Eine Kette, an der ein runder, goldener Anhänger, etwa so groß wie Vaskas Handfläche, hing. Vorsichtig streckte sie die Hand danach aus und zog die Kette aus dem Fach hervor.

„Sie ist warm“, murmelte das Mädchen und betrachtete sie genauer im Licht des Zaubers, der wieder über ihnen schwebte.

Der Anhänger war mit einem ihnen sehr bekannten Symbol verziert: Dem Sonnenzeichen Peruns.

Vaska drehte den Anhänger weiter, wendete ihn hin und her, hielt schließlich aber inne. „Was mache ich jetzt damit?“

Das war eine gute Frage, wenn Olga bedachte, dass ihre Aufgabe so viel direkter gewesen war und kein Rätsel. Wer hatte die Kette überhaupt hier positioniert und warum? „Entweder kehrst du zur Balaya damit zurück oder wir fahren zurück nach Hause.“ Die Idee gefiel ihr gar nicht. Sie hatte keine Ahnung, was sie ihrer Familie erzählen sollte. Vor allem, da sie sich doch selbst an nichts erinnerte. Wie hatte sie Vanya nur verlieren können?

„Lass uns zur Balaya zurück“, erwiderte Vaska. Vielleicht konnte sie Olgas Gedanken erraten. Dabei zögerte sie nur Sachen heraus.

Also verließen sie die Bibliothek, schlichen durch die Kälte zurück zum Parkplatz. Der Wagen war komplett ausgekühlt, auch wenn sich dank der trockenen Luft kein Eis auf der Scheibe gebildet hatte. Dennoch war es innen eisig.

Der Wagen stotterte, als sie den Schlüssel drehte. Noch immer rasten ihre Gedanken. Sie wollte eigentlich nur wissen, wo ihr Bruder geblieben war. Was war passiert? Doch sie wollte Vaska nicht mehr fragen stellen. Das Mädchen sah müde aus. Sie hatte die Arme um Kir geschlungen, die wieder auf ihrem Schoß saß. Wenn sie sich erinnern konnte, gab es für sie vielleicht noch mehr Schrecken, als für Olga.

Ein zweiter Versuch den Wagen zu starten. So viel Zeit hatten sie auch nicht mehr. Doch wieder nur ein Stottern.

Leise fluchte Olga. „Jetzt komm schon“, murrte sie den Wagen an und legte den Kopf gegen das eisige Lenkrad. „Jetzt mach. Bitte.“ Sie wollte einfach nur noch, dass diese Prüfung vorbei war. Sie brauchte … Ruhe. Nein, vielleicht etwas mehr. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Zeit für sich selbst. Zeit, um zu versuchen, sich zu erinnern.

Noch einmal drehte sie den Zündschlüssel und dieses Mal erwachte der schwarze Wagen zum Leben.

Also fuhr sie – zurück nach Ostankino.

Es waren jetzt mehr Leute draußen unterwegs. Leute, die unterwegs waren zu Feiern, von Feiern. Leute die dicke Mäntel und Mützen trugen. Wahrscheinlich war es noch kälter, auch wenn es vom Gefühl her keinen Unterschied mehr machte. Ihre Finger waren trotz Handschuhen so kalt. Wenn sie zurückkamen, könnte sie sich aufwärmen.

Nachdem sie mit ihren Eltern gesprochen hatte, natürlich.

Da. Da endlich war der Fernsehturm.

Yefim hatte sich müde auf dem Beifahrersitz zusammengerollt und war offenbar eingeschlafen. Selbst für ihn musste es kalt sein.

Als Olga endlich in eine Parklücke vor dem Fernsehturm fuhr, stupste sie ihn an. „Komm.“

Der Fuchs hob den Kopf und stellte seine Ohren auf, ehe er gähnte und sich streckte, nur um missmutig vor der Tür zu warten. Olga stieg aus, ging um den Wagen herum, um ihm zu öffnen, während auch Vaska ausstieg.

Das Mädchen ließ die Schultern hängen. Etwas, das Olga verstehen konnte.

Sie seufzte. „Lass uns zur Balaya gehen und hoffen, dass alles …“ Sie beendete den Satz nicht – sie wusste nicht wie.

Doch Vaska nickte und folgte ihr zum Turm.

Die Geister des Winters

Die Fenster von Olgas Zimmer knarzten vor Kälte, während eine Windbö von draußen daran rüttelte. Natürlich war auch die Nacht eisig.

Es war drei Uhr in der früh. Das neue Jahr, 1993 war drei Stunden alt und Olga fand keinen Schlaf. Stattdessen saß sie an ihrem Schreibtisch, hatte ein leeres Buch vor sich aufgeschlagen, den Titenfüller in der Hand. Sie wusste selbst nicht, was sie versuchte aufzuschreiben.

Ihre Wunden waren geheilt. Ihre Familie hatte reagiert, als hätten sie geahnt, dass etwas passieren würde. Als hätten sie gewusst, dass nur einer der beiden Prüflinge zurückkommen würde. Ihr Vater hatte mit ihr nicht gesprochen. Ihre Mutter hatte ihr „Ist schon gut“ zugeflüstert und auf ihre Schulter geklopft. Das war alles. Man hatte sie geheilt. Sie hatte gebadet, während draußen überall das Feuerwerk hochgegangen war. Eigentlich hatte sie bei ihren Kommilitonen sein wollen, doch jetzt hatte es sich falsch angefühlt.

Wieso hatte ihr niemand etwas gesagt?

Jetzt saß sie hier, überlegte, versuchte sich zu erinnern, während Yefim in seinem Korb unter dem Schreibtisch lag. Vielleicht hatte sie deswegen das Buch herausgeholt: Im Versuch sich zu erinnern, im Versuch irgendwelche Erinnerungen zu Papier zu bringen.

Sie konnte die Erinnerungen spüren. Sie waren da. Doch jedes Mal, wenn sie sie in ihr Bewusstsein ziehen wollte, entglitten sie ihren geistigen Fingern.

Ein weiteres Knarzen des alten Glases ließ sie nach draußen schauen. Die Wintergeister hatten sich vom Feuerwerk wohl nicht vertreiben lassen. Es war halt nicht mehr wie früher. Früher, als Gevatter Frost selbst Teil der Feierlichkeiten war. Natürlich kam er noch in einige Häuser, doch die Touristen in Moskau interessierte es nicht.

Darüber hätte Vanya sicherlich auch viel zu sagen gehabt.

Vanya …

Sie war ihrem Bruder nie besonders nahe gewesen. Er war zusammen mit Vaska aufgezogen worden. Es war immer fast gewesen, als wäre er eigentlich Vaskas Bruder und Olgas Cousin. Das schlimmste war die fehlende Erinnerung. Wenn sie nur wüsste, was genau passiert war.

Sie würde es irgendwann erfahren. Und wenn sie einen Gefallen von einem anderen Geist annehmen müsste.

Bis dahin …

Sie starrte auf die leere Seite vor ihr. Zumindest galt ihre Ausbildung als endgültig abgeschlossen, obwohl sie Vanya verloren hatte. Sie verstand es nicht, doch hatte sie nicht widersprechen wollen. Dafür hatte ihr ohnehin die Energie gefehlt.

Ihr Studium wäre in zwei Jahren fertig, wenn alles gut ging. Bis dahin konnte sie die Zeit nutzen, um Kontakte zu knüpfen. Die UdSSR war genau so, wie das Zarenreich gefallen und im Moment war sie sich nicht sicher, ob dieses neue Russland überleben konnte. Eine Gruppe aber hatte durch alles überlebt, oft aus dem Chaos noch Profit geschlagen. Böse Zungen sagten, dass sie nicht zuletzt geholfen hatten, die jetzige Regierung aufzubauen. Die Vory v Zarkone.

Ihre Fähigkeiten waren vielleicht nicht so ausgereift, wie die von Vaska oder Vanya, aber sie wären sicher von Wert. Vielleicht würden sie reichen, um von hier fortzukommen. Um etwas mehr zu erleben, zu erwarten vom Leben, als Berater von irgendeinem Politiker oder Unternehmensführer zu werden. Es war einen Versuch wert. Und sei es nur, um von den Traditionen fortzukommen. Sie hatte genug.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (25)
[1] [2] [3]
/ 3

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Taroru
2021-03-26T16:11:06+00:00 26.03.2021 17:11
öhm.... o.O
okay.... ich dachte erst ich hätte ein kapitel übersprungen, das kam dann doch überraschend, aber gut.... auch nachvollziehbar.
dennoch würde mich interessieren, kommen die erinnerungen irgendwann zurück? gibt es dann ein verstehen, zu dem wieso und weshalb?
Antwort von:  Alaiya
26.03.2021 17:55
Das lasse ich halt irgendwo am Ende ein bisschen offen. Ich habe aber Bock darauf noch mal was mit Olga zu schreiben
Antwort von:  Taroru
26.03.2021 17:58
ich würde mich tatsächlich freuen, noch mehr von ihr zu lesen :-)
um eben doch noch ein paar dinge aufzuklären :-p
Von:  Taroru
2021-03-26T16:04:05+00:00 26.03.2021 17:04
mhm...... okay, das macht es natürlich nicht einfacher, erinnerungslücken sind jedenfalls nicht lustig....
bin gespannt wie sich der kreis schließen wird
Von:  Taroru
2021-03-26T15:59:27+00:00 26.03.2021 16:59
uff.... okay.... das wäre in der tat eine schicksalhafte entscheidung.... das macht es nicht einfacher.. ich würde mit keinen von ihnen tauschen wollen.... und eine entscheidung treffen müssen....
Von:  Taroru
2021-03-26T15:52:42+00:00 26.03.2021 16:52
ui ui ui ui o.o
na da bin ich gespannt, wie die da wieder raus kommen o.o
(der dialog ist großartig, völlig nebenbei erfährt man was sache ist, finde ich unglaublich gut geschrieben)
Von: Futuhiro
2021-03-20T20:48:16+00:00 20.03.2021 21:48
Ich hätte ja gern noch erfahren, was die Balaya zu der Prüfung gesagt hat. Ob sie Vanyas Verschwinden kommentiert hat (vermutlich nicht, denn Olga war ja gerade immer noch nicht schlauer). Oder ob Vaska ihre Prüfung nun gleichfalls bestanden hat.
Jedenfalls finde ich es schön, dass Olga zumindest über Umwege immer noch die Chance hat, ihre Erinnerung nochmal aufzufrischen. :)

Hab nochmal vielen Dank für die wundervolle Geschichte, mit den vielen tollen Charakteren und der fundierten Recherche zur russischen Geschichte. Ich mag sie auch jetzt immer noch total. Du hast dir mit der Story und dem Weltkonzept wirklich viele Mühe gegeben. ^///^

Von: Futuhiro
2021-03-20T20:39:30+00:00 20.03.2021 21:39
Hm~ Ich weiß gar nicht mehr so genau, ob sie in der Original-Version vor einem Jahr auch nochmal zum Fernsehturm zurückgefahren waren, und ob Vaska sich erinnern konnte. Ich weiß nur noch, wie fies ich es fand, dass Olga von nichts mehr wusste. Hast du die Szene später nochmal ausgebaut? ^_^


> ... während die Katze auf ihrem Schoß sich genüsslich ausstreckte und dabei die Krallen im festen Mantelstoff versenkte.

--> Ich liebe diese Stelle. >u<
(Merkt man, dass ich Katzen total liebe? XD)
Von: Futuhiro
2021-03-20T20:23:54+00:00 20.03.2021 21:23
Woah, das Kapitel ist so ... ich finde gar kein passendes Wort dafür ... Schicksalsgeladen. So endgültig. Und tiefschürfend. Das klingt alles so durchdacht. Ich liebe es, wenn Geschichten so ausgefeilt sind. ^_^
Auch wenn ich mit Olga gerade nicht tauschen möchte. ^^°

Es irritiert mich btw., dass du von Vanya und Vaska im Laufe der Story mehrfach von "Cousinen" sprichst. Vanya ist doch kein Mädchen. XD
Von: Futuhiro
2021-03-20T20:04:44+00:00 20.03.2021 21:04
Das Gespräch zwischen Vanya und Veles war ziemlich aufschlussreich. ^^
Man hatte das Gefühl, Veles hätte jahrhundertelang geschlafen (kein Wunder, dass keiner mehr an ihn glaubt), und hätte deshalb nichts mehr von der jüngeren Geschichte mitbekommen. Oder es war alles eine Finte, um Vanyas Gesinnung auszuhorchen. Aber so klang es eigentlich nicht.

In diesem Kapitel mochte ich vor allem, wie toll der Zug beschrieben war. ^^
Von: Futuhiro
2021-03-20T19:47:12+00:00 20.03.2021 20:47
Hm~ Veles ist ein interessanter Gott. Ursprünglich war er mal ein Beschützer und das Gegenstück zu Perun (den Olga ja offenbar verehrt). Später wurde er eher zu einer Teufels-Figur. Wenn man sich ein kleines bisschen in russischer Mythologie auskennt, fragt man sich unweigerlich, welche dieser beiden Rollen er hier wohl annehmen wird. ^^

Puh, die Sache mit dem Zug ist knapp gewesen. >.<
Echt spannend geschrieben. Auch die verwirrte Benommenheit nach dem Sturz konnte man sehr gut nachvollziehen.
Von: Futuhiro
2021-03-20T19:33:27+00:00 20.03.2021 20:33
Ein rasselnde Schlange. Was die wohl gefressen haben mag!? XD


> Etwas bedrohliches, das ihr sagte, dass sie hier genau richtig waren.

--> "bedrohlich" und "genau richtig" ... ähm ... ja. ^^° Ich weiß nicht, ob ich das so empfunden hätte.


Die Grusel-Stimmung war an dieser Stelle sehr cool beschrieben.


Zurück