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Fortune Files

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Alex 3: Ein verhängnisvoller Auftrag für einen Diener

In der Nacht bekam ich kaum ein Auge zu, so heftig wie sich die unterschiedlichsten Gefühle in mir gegenseitig jagten. Bevor ich endlich irgendwann zwischen Drei und Vier Uhr morgens einnickte, war das Vorherrschende ein Übelkeit verursachendes Schuldgefühl, das mich auch am Morgen noch quälte. Als wäre das einem Teil von mir vollkommen egal, war ich trotzdem richtig schön hart. Im Zusammenspiel fühlte sich das total bescheuert an. Das konnte mein Körper doch nicht wirklich ernst meinen.

Ich setzte mich im Bett aufrecht und fuhr mir durch die offenen, wirren Haare. Sie hatten sich mir vors Gesicht gelegt und stahlen mir mit ihrer Schwärze das wenige Licht des trüben Morgens. Die Übelkeit war so unangenehm, dass ich mir die Hand auf den Bauch legte. Obwohl mein Herz schwer wie Blei war, versteckte sich darin dieses klitzekleine, heimliche Hochgefühl, für das ich mich selbst hätte ohrfeigen können. Nur mit Mühe hinderte ich meine Hand daran, weiter an mir nach unten zu rutschen.

Seit wann war ich denn bitte so triebgesteuert? Allein an Lyz' Blut zu denken, war schon unverzeihlich und vor allem verboten, verdammt nochmal! Mein Blutdiebstahl musste eine einmalige Sache bleiben, das schwor ich mir bei Saris Ehre. Im Nachhinein betrachtet, hätte ich an diesem Morgen vielleicht besser auf die Ehre meiner Mutter schwören sollen...

Das Problem war folgendes: Einmal gekostet, war es unmöglich, diesen unvergleichlichen Geschmack wieder zu vergessen. Genau so stellte ich mir Ambrosia vor, die Speise der Götter. Für mich ähnelte es aber eher der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis. Wie schön war mein Leben, als ich noch unwissend im Paradies herumspazierte? Geiler Job, nette Kollegen und ein süßes Mädel an meiner Seite. Plötzlich hinterfragte ich meinen Herrn, hatte keine Frau mehr und musste mich von der Welt zurückziehen, damit keiner von meinem Dilemma erfuhr.

Diese ganze Scheiße ließ nur einen logischen Schluss zu. Ich musste kündigen, und zwar solange ich noch halbwegs klar denken konnte. Wenn ich weiterhin in den Diensten der Lucards bleiben wollte, gab es noch zwei realistische Möglichkeiten. Naja, eigentlich nur eine, denn um in die Dienerschaft von Rovas mittlerem Bruder Vicco zu kommen, fehlten mir eindeutig die Brüste. Davon abgesehen ging mir das Messer in der Tasche auf, wenn ich sah, wie dieser Patriarch mit Frauen umsprang. Das war einfach nur abstoßend. Beim Ältesten hingegen, Saris Vater, konnte ich vorsprechen und mein Glück versuchen. Vielleicht würde ich mein Leben auf diese Weise wieder in den Griff kriegen, ohne ernsthaften Schaden davonzutragen, … oder anzurichten. Zur größten Not gab es immer noch meine Familie und die Don Velas, die mich niemals zurückweisen würden.
 

Mit diesem Entschluss im Kopf stand ich auf und suchte die Räume der WG nach Pete ab. Er musste sich unbemerkt in der Nacht davongeschlichen haben, als ich endlich eingeschlafen war. Gar nicht gut, denn Rova würde sich nicht sonderlich erfreut darüber zeigen und mir die Schuld dafür geben. Vielleicht hatte ich damit sogar eine „Audienz“ bei ihm gewonnen, doch das machte mir weniger Sorgen als Lyz' Sicherheit. Eilig machte ich mich auf den Weg zu den beiden.

Ich erreiche die alte Villa, die einer dringenden Renovierung an der Fassade bedurfte. An diesem Tag wurde sie von einer ganzen Schar kreischender Krähen belagert, die den Eindruck des Gemäuers nicht gerade verbesserten. Außer dem Wohnbereich im Obergeschoss hatten die Lucards, oder besser Rova, alles so belassen, wie es vor Einhundert Jahren war und nur kleine Reparaturen genehmigt. Der Garten war ebenfalls eine Katastrophe. Millionen oder vielleicht sogar Milliarden auf dem Konto, aber keinen Sinn für eine gepflegte Umgebung. Vielleicht brauchte dieser Mann einen Berater, der ihm so etwas sagte, … mich zum Beispiel. Ein verrückter Gedanke, wo ich gerade zu ihm ging, um meine Kündigung einzureichen. Wäre Lyz nicht gewesen, hätte ich dieses Ziel wahrscheinlich irgendwann einmal erreichen können, doch dieser Traum rückte nun in unerreichbare Ferne.

Im Haus war es totenstill, was wohl bedeutete, dass das Dornröschen noch schlief. Das Dornröschen… dieser Vergleich gefiel mir. Sie war die Auserwählte des Prinzen und wurde immerzu in Watte gepackt wie ein richtiges Prinzesschen. Ich erwischte mich dabei, wie mir ein liebevolles Lächeln über die Lippen huschte. Dieselben Lippen, die sich nur einen Tag zuvor auf ihren blutenden Unterarm gepresst hatten. Sofort verkniff ich mir mein Schmunzeln wieder.
 

Mit einem unguten Gefühl im Bauch ging ich die Treppe nach oben und danach den Flur entlang durch den gepflegten Teil des Hauses. Ich zögerte zunächst, doch dann überwand ich mich an der Tür es Aufenthaltsraums im Obergeschoss zu klopfen. Nach einem kaum durch die Tür hörbaren „Komm rein“ von meinem Herrn, trat ich ein. Er saß allein auf der restaurierten, roten Couch, die baugleich zu der modrigen im Erdgeschoss war. Die Vorhänge waren fast vollständig zugezogen und ließen nur gedämpftes Licht hinein, was die gedrückte Stimmung unterstrich. Gerade nahm Rova eine Hand aus seinem Gesicht, als er zu mir aufblickte.

„Setz dich,“

befahl er mit weicher Stimme. Etwas verwundert nahm ich neben ihm Platz, eine große Ehre und das, obwohl ich so versagt hatte. Mein Herz zersprang fast. Zum Glück verschleierte meine Trauer um Sari alle anderen Gefühle. Rova beugte sich erneut nach vorn und verbarg sein Gesicht gleich wieder in seinen Händen. So fertig hatte ich ihn überhaupt noch nie erlebt, aber ich kannte ihn auch erst seit zwei Jahren.

„Wo ist Peter?“,

fragte er angespannt in seine Handflächen hinein. Ich antworte wahrheitsgemäß, woraufhin er enttäuscht, aber nicht überrascht, seufzte.

„Hör zu, es wird richtig schwer werden ohne… ohne Sari. Ich weiß, dass du ihr oft zu Diensten warst, wenn ich sie zurückwies, deshalb… danke ich dir, dass du dich um sie gekümmert hast.“

Rova bedankte sich niemals. Das war ein ungeschriebenes Gesetz, ebenso wie er sich niemals entschuldigte oder um etwas bat. Dass er mir eine Anerkennung dieses Ausmaßes aussprach, zerriss mir fast das Herz, nachdem ich sein Vertrauen am vorangegangenen Tag auf übelste Weise missbraucht hatte. Direkt spürte ich die Last der Schuld wieder auf meinen Schultern, aber auch, wie sehr ich diesen Mann verehrte.

Er setzte sich aufrecht und sah mir mit seinen glasigen, bernsteinfarbenen Augen direkt in die meinen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals von ihm auf diese bohrende Weise angesehen worden zu sein. Wahrscheinlich sah er bis in den tiefsten Schlund meiner Seele hinab und wollte mich mit seinen schmeichelnden Worten nur in Sicherheit wiegen, um meine Bestrafung umso schmerzhafter zu gestalten. Eindeutig musste mich dieser erhabene Hochadelige ertappt haben. Ich atmete tief ein, in Erwartung meiner Strafe, doch, … ich glaubte es nicht. Er blieb immer noch ruhig.

„Deine Familie ist für ihre Loyalität bekannt, deshalb will ich dir vertrauen. Ich habe einen Spezialauftrag für dich.“

„Ja?“,

fragte ich verunsichert darüber, ob er das Spiel nur weitertrieb oder mich vielleicht gar nicht, … nein, unmöglich. Was, wenn er mich gar nicht durchschaut hatte? Ich musste versuchen, konzentriert bei der Sache zu bleiben und ihm meine Kündigung mitteilen, bevor er mir den Inhalt des Auftrags nannte. Ich holte Luft und… ließ ihn doch weitersprechen. Meine Neugier war einfach zu groß.

„Ich glaube, Lyz hat suizidale Gedanken, aber ich werde sie trotzdem nach Hause schicken. Sie braucht ihre gewohnte Umgebung, um das Trauma zu verarbeiten. Alexander, ich will, dass du über sie wachst, aber sie soll nichts mitbekommen. Außerdem achtest du darauf, dass ihr Peter nicht zu nahekommt. Ihm traue ich absolut nicht über den Weg.“

„Aber Rova, ich…“,

begann ich meinen Satz, den ich gleich wieder abbrach. Scheiße, ich konnte nicht kündigen. Es war unfassbar. Rova hatte wirklich nichts mitbekommen und reichte mir dieses Mädchen auch noch auf dem Silbertablett. Ich fragte mich langsam, ob ich die Fähigkeiten der Lucards überschätzt hatte. Andernfalls hätte er mein falsches Spiel doch sofort durchschauen müssen. Ihm schien überhaupt nicht klar zu sein, dass Lyz in meinen Händen nicht viel sicherer war als in Peters. Danach, mich meinem Chef zu offenbaren und ihm meine geheimen Sehnsüchte nach ihr mitzuteilen, stand mir trotzdem nicht der Sinn. So weit ging meine Loyalität dann doch nicht.

„Was ist? Hast du den Auftrag nicht verstanden?“,

fragte er misstrauisch, weil ich so eine lange Denkpause eingelegt hatte. Solche Fehler waren sehr gefährlich, also versuchte ich möglichst entspannt zu wirken.

„Nein, verstanden. Was glaubst du, wie lange ich das machen muss?“

Er nickte, dachte kurz nach und antwortete anschließend:

„So lange, bis die Gefahr vorüber ist. Lyz wird hoffentlich trotzdem studieren wollen. Am besten, ich besorge dir vorsorglich einen Studienplatz. Ihr Wohl liegt mir sehr am Herzen. Du wirst nicht versagen, Alexander. Ich denke, wir verstehen uns.“

Mein Leben hing also von ihr ab. Nach dem, was ich getan hatte, war das nicht mal was Neues. Ich bestätige seine Aussage, als würde sie mich nicht anheben, aber in mir war die Hölle los, schon wieder. Verriet ich meinen Herrn eigentlich damit, seine Befehle auszuführen? Irgendwie ergab das alles keinen Sinn.

Mit dieser Anweisung machte mich Rova nun offiziell zu seinem Diener, denn zum Verein passte sie nicht und auch nicht zu meiner Tätigkeitsbeschreibung. Alles klar. Ich hatte eine neue Aufgabe, die ich mit vollem Einsatz ausführen würde. War doch nichts dabei, dass ich den Auftrag super fand. Meine Selbstsicherheit kam Stück für Stück wieder zurück, allerdings untermauert mit einem Hochmut, der für einen Diener nicht gesund sein konnte. Mich meinem Herrn in gewisser Weise überlegen zu fühlen, war neu für mich, aber auch verdammt aufregend. Nur ein Fehler in diesem Spiel konnte mich mein Leben kosten, aber seit wann war ich ein Feigling?
 

Bevor ich zum Leibwächter befördert wurde, machte mich Rova zusätzlich kurzerhand zum Spion. Keine dieser beiden Aufgaben hatte ich bisher erfüllen dürfen, ein grandioser Aufstieg, aber an Erfahrung mangelte es mir trotzdem. Ich musste mich auf das verlassen, was ich in meiner Ausbildung gelernt hatte und kramte mein Spionagewissen aus meinem Kopf hervor. Das Haus verwanzen, die Zielperson auf Schritt und Tritt verfolgen, ohne aufzufallen, Telefonate abhören, Internetaktivitäten überwachen, ... sollte alles kein Problem sein.

Ich brach also unbemerkt in die kleine Villa ein, in der Lyz mit ihren Eltern lebte, brachte Funkmikrofone an, spielte eine Spyware auf ihren Laptop und ging in einem nahe geparkten Kleintransporter in Lauerstellung. Rova schien keine Schwierigkeiten gehabt zu haben, mal eben einen Mercedes-Benz Sprinter mit voller Überwachungsausstattung zu besorgen. Wahrscheinlich lief hinter den Kulissen noch viel mehr als ich ahnte.

Ich wusste, es würden nur zwei Wochen sein, in denen ich Lyz in ihrem Elternhaus beobachten musste, aber, dass sie zu den härtesten meines bisherigen Lebens zählen würden, konnte ich nicht vorausahnen. Ich Trottel hatte mir diesen Überwachungs-Mist total spannend vorgestellt. In der Realität war alles ganz anders, langweilig und vor allem deprimierend. Tag für Tag wechselte dieses arme Mädchen nur wenige Worte mit ihren Eltern, telefonierte aber auch mit keiner Menschenseele und Besuch bekam sie sowieso keinen. Sie hatte niemanden, der sie tröstete, also versuchte sie ihren Kummer ganz alleine zu bewältigen. Wen wunderte es da, dass sie sich abends in den Schlaf weinte?

Ich hielt es kaum aus, ihre Trauer so hautnah miterleben zu müssen, schließlich spürte ich diesen grausamen Schmerz genauso in mir. Im Gegensatz zu Lyz hatte ich liebevolle Eltern, denen ich von meinem heftigen Verlust berichten konnte und auch getröstet wurde. Leider wohnten sie aber zu weit weg, um so für mich da zu sein, wie ich es gebraucht hätte. Ein Heimaturlaub wäre wohl die beste Wahl für mich gewesen, vor allem nach dem, was ich mit Lyz angestellt hatte. Hah, diese Lösung fiel mir ein bisschen zu spät ein.

Nun blieb mir nichts anderes übrig, als auf den zwei Quadratmetern dieses trost- und fensterlosen Sprinters eingesperrt, meine Trauer mit mir selbst auszumachen. Ob Tag oder Nacht war, zeigten mir nur die Digitalanzeigen einiger Gerätschaften an, denn solange Lyz das Haus nicht verließ, sah auch ich die Sonne nicht. Meine einzigen Lichtquellen waren nur noch die kalten LED-Leuchten im Laderaum des Transporters, ganz so, als herrsche um mich eine ewige Nacht. Ich fragte mich langsam, ob es sie überhaupt noch gab, die Sonne. Vielleicht war sie mit Sari ein letztes Mal untergegangen.
 

Erst eine Woche war vergangen und schon begann ich in meiner Einsamkeit zu verwahrlosen. Im Andenken an Sari hatte ich mir ein paar Tage zuvor die Haare geflochten, doch der Zopf war schon nur noch ein krauses, schwarzes Etwas. In die Mitte, zwischen all den Geräten, von denen ich gerade einmal die Hälfte bedienen konnte, hatte ich einige Decken gelegt, die mir als Matratze dienten. Keiner hatte daran gedacht, es mir ein wenig gemütlicher einzurichten, wo ich doch geschlagene zwei Wochen in diesem Wagen leben musste. War doch auch egal, denn ich war nur ein einfacher Diener, der den Anweisungen seines erhabenen Herrn gehorchte und dabei versuchte, den Verlust seines Lebens zu verarbeiten, verdammt.

Als ich aus den Lautsprechern hörte, wie Lyz in der Küche herumwerkelte, wahrscheinlich kochte und dabei anfing, leise zu weinen, steckte sie mich damit an. Ich saß auf den Decken auf dem Boden und hatte die Beine an den Körper gezogen, während mir stumme Tränen übers Gesicht rannen.

Unweigerlich erinnerte ich mich an mein letztes Bild von Sari, das sich in mein Gedächtnis eingebrannt hatte. Ich wollte nicht wahrhaben, dass sie einfach verschwunden war, als hätte es sie nie gegeben, dabei war sie nicht irgendein Vampirmädchen. Der Adel bestand fast vollständig aus berechnenden Realisten oder gar Pessimisten, die einen baldigen Untergang vorhersagten und schon ein oder zwei Jahrhunderte alt waren. Die nur 18 Jahre junge Sari musste mit ihrer positiven Lebenseinstellung einmalig unter ihnen gewesen sein.

Sari, strahlend wie der hellste Tag. Selbst aus mir holte diese Maus stets das Beste heraus, ganz anders als dieses gequälte Mädchen, deren Schluchzen ich aus den Lautsprechern hörte. Lyz erschien mir zeitweise wie Saris Gegenpart, zwar genauso wunderschön, aber brandgefährlich und immerzu umgeben von einer düsteren Melancholie. Auch meine Dunkelheit brachte sie zum Vorschein, dabei kam sie im Gewand der Unschuld, wie ein Wolf im Schafspelz.

Ich legte meinen Kopf mit einem absichtlichen kleinen Stoß auf meinen Knien ab. Was ich da dachte, war Lyz gegenüber einfach nicht fair. Ich hörte doch, wie bitterlich sie litt.

Inzwischen war es schon gegen 21 Uhr und ihre Eltern nach Hause gekommen. Den Geräuschen nach zu urteilen, war Lyz mit dem Kochen fertig und hatte den Tisch eingedeckt. Bis zu diesem Punkt verlief alles vollkommen normal, bis ihre Mutter sie auf ihren Verlust ansprach. Ich hatte jedes Gespräch der beiden mitgeschnitten und wusste, dass sie es einzig und allein durch Rovas Anruf wissen konnte. Kein einziges Mal hatte sie sich ans Bett ihres trauernden Kindes gesetzt. Ich war froh, dass Lyz bald aus dieser frostigen Umgebung herauskam.
 

„Du scheinst dich langsam wieder zu erholen. Das ist sehr gut. Dann kannst du dich vielleicht doch noch ordentlich auf das anstehende Studium konzentrieren. Wir haben uns darum schon ein wenig Sorgen gemacht“,

würgte Lyz' Mutter vorwurfsvoll hervor. Ich lachte kurz verzweifelt auf, denn was diese abgestumpfte Viper da vom Stapel ließ, war inakzeptabel. Leider hatte sich Lyz an diesen lieblosen Umgang gewöhnt und bestätige mit leidender Stimme:

„Keine Sorge, Mutter. Ich gebe mein Bestes.“

Ich schnappte mir die Funkkopfhörer und meine Lederjacke und sprintete aus dem Transporter. Verdammt! Diese entsetzliche Unterhaltung musste ich mit eigenen Augen mitverfolgen, auch wenn man mich in meinem räudigen Zustand für einen Penner halten würde. Da es draußen aber schon stockdunkel war, bemerkte mich wahrscheinlich sowieso keiner, wo ich doch wie immer nur Schwarz trug.

Die Küche konnte ich gut von der Straße aus durch das helle Fenster beobachten. Die drei saßen am Esstisch. Ich sah Lyz' Hinterkopf und die Gesichter ihrer Eltern. Von den beiden hatte Lyz ihre Schönheit schon mal nicht geerbt. Ihr fast kahlköpfiger Vater aß stoisch weiter, während nur ihre Mutter, die wie eine gealterte, strenge Lehrerin aussah, mit ihr sprach.

„Ein merkwürdiges Studienfach hast du dir ausgesucht. Warum nicht Betriebswirtschaft wie dein Vater und ich? Es ist noch nicht zu spät, sich umschreiben zu lassen.“

Lyz schüttelte nur den Kopf, was ihren Vater nun übel aufzustoßen schien. Er knallte energisch sein Besteck auf den Tisch und brüllte in einer Intensität, die wie aus dem Nichts kam:

„Lass es endlich sein, Regina! Mit diesem Kind ist es hoffnungslos. Soll sie doch Köchin in einem Obdachlosenheim werden, Hauptsache sie verschwindet endlich aus unserem Haus.“

Dann stand er auf und verließ die Küche. Wieso auch immer, erwartete ich schlichtende Worte von ihrer Mutter, doch sie vertrat wohl eher die Meinung ihres arschgesichtigen Mannes.

„Nun hast du deinen Vater schon wieder wütend gemacht. Ich verstehe nicht, wie du so egoistisch sein kannst, Ellys.“

Auch sie stand auf und verließ den Raum, ohne aufgegessen zu haben. Lyz schien gar nicht darauf zu reagieren, sondern begann mit einem gleichgültigen Gesicht den Tisch abzuräumen. Sie tat mir unendlich leid, auch weil ich kurz zuvor noch so gehässige Gedanken gehabt hatte. Ich verstand nun viel besser, woher die Traurigkeit in ihren Augen kam. Am liebsten hätte ich sie sofort in den Arm genommen, um sie zu trösten, oder sie mich. Das war dasselbe. Ein wenig hatte ich sogar das Gefühl, mich bei ihr entschuldigen zu müssen, aber ich konnte doch schlecht einfach bei ihr klingeln, frei nach dem Motto:

„Hi, war grad zufällig in der Gegend und hätte einen Tüte Trost zu verschenken.“

Stattdessen schlurfte ich zum Sprinter zurück und rief Rova an, denn er musste wissen, was bei ihr Zuhause abging.
 

„Komm nicht auf die Idee, zu ihrem Helden zu avancieren, Alexander. Das mache ich höchst selbst“,

lautete seine schwammige Anweisung, die mich, nach dieser ersten Scheißwoche als Spion, richtig fertigmachte. Na gut, dachte ich, soll er mal machen. Sie aufzubauen, würde nicht leicht werden, vor allem für einen Mann, der so wenig Gespür für die Gefühle anderer hatte wie er.

Auf meine miese Stimmung setzte er das I-Tüpfelchen, als er mir gleich noch gestand, er sei gegenwärtig gar nicht in Deutschland, sondern in Rumänien bei Saris Beisetzung. Das hatte er mir wahrscheinlich in voller Absicht verschwiegen, weil er befürchtete, ich könnte Sari meinem Auftrag vorziehen. Zurecht, denn wahrscheinlich hätte ich das. Stinkwütend legte ich einfach auf, weil es mir zu bunt wurde. Wir waren eh fertig mit dem Gespräch.

Eigentlich sah ich zu meinem Herrn auf, obwohl ich seine wenigen Schwächen kannte, aber sowas konnte er echt nicht bringen. Was fiel ihm ein, mir zu verwehren, Sari die letzte Ehre zu erweisen? Er wusste doch genau, wie nah wir uns standen. Das Prinzesschen würde bestimmt besser mit ihm zurechtkommen als ich, denn sie kannte diese Eiseskälte ja schon von ihrer eigenen Familie. Ganz kurz hatte ich daran geglaubt, dass wir sie vor ihrem Elternhaus retteten, aber wahrscheinlich jagte nur ein Übel das nächste…
 

Zu gern hätte ich die ganze, beschissene, teure Technik in diesem verfluchten Sprinter kurz und klein geschlagen, wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich sie den Rest meines Lebens abbezahlen würde. Rova nahm solche Dinge sehr genau. Am liebsten wollte ich einfach raus aus diesem Auto, raus aus meinem Leben, keine Ahnung.

Es gelang mir einfach nicht, mich selbst wieder aufzubauen. Ich brauchte jemanden zum Reden, jemanden, der mich verstand. Zwar hatte ich schon einen Tag zuvor bei meiner Mutter angerufen und wollte sie ein wenig von meinen Sorgen verschonen, aber… es ging einfach nicht anders.

Ausgelassen über meinen Chef wetternd, brachte ich sie auf den neuesten Stand. Gut, dass sie so ausgeglichen war, denn sie hörte mir mindestens eine Viertelstunde lang nur beim Meckern zu. Ich bemerkte, dass sie sich manchmal ein Lachen verkneifen musste, wenn ich meine deutschen Lieblingsschimpfworte „verdammt“ und „Scheiße“, auch gern in Kombination, zwischen meine spanischen Beschreibungen streute. Einmal nannte ich Rova einen „notgeilen Vollpfosten“, was sie zum Glück nicht verstand. Diese Umschreibung passte wahrscheinlich sowieso besser auf mich als auf ihn.

Erst als ich fertig war, erklärte mir meine Mutter sanft, ich solle mich darauf konzentrieren, ein guter Bediensteter zu sein und den Vorstellungen des Lucards zu entsprechen, damit ich den Posten nicht direkt wieder verlieren würde. Zwar wies das eine gewisse Ähnlichkeit zu dem auf, was Lyz' Eltern zu ihr gesagt hatten, aber bei mir war es etwas ganz anderes. Meine Mutter war geduldig und wusste, wie hart ich all die Jahre gearbeitet hatte. Sie versuchte eine Lösung zu finden, die gut für mich war.

„Aber Mamá, ich habe ein schlechtes Gewissen wegen Sari und dieses Mädchen, um das ich mich kümmern soll, macht mich total verrückt“,

rief ich verzweifelt auf Spanisch ins Telefon.

„Manténgase profesional, mi hijo!“,

übersetzt, „Bleib professionell, mein Junge!“, rief sie, nicht als Befehl, sondern weich und besorgt, bevor sie meinen Vater ans Telefon holte, der ihr dieses Mantra zuvor von hinten zugerufen hatte. Er hielt mir einen steifen Vortrag über das Pflichtbewusstsein als Bürde, welches jeder gute Diener einmal in seinem Leben durchleiden und doch unbeschadet überstehen würde, nur um gestärkt daraus hervorzugehen. Mitten in seiner ausschweifenden Erklärung platze meine große Schwester dazwischen:

„Agárrala, Alejandro!“, also „Schnapp sie dir!“

Mein Anruf schien zum Familienereignis zu werden. Ich war etwas perplex über den Tipp meiner Schwester Carla, gerade weil ich einige Details zu meinen triebhaften Gefühlen zu Lyz ausgespart hatte. Irgendwie musste Carla es zwischen den Zeilen herausgehört haben. Sie war zwanzig Jahre älter als ich und eine unverbesserliche Verfechterin der wahren Liebe, wie sie früher oft sagte. Ich würde sie irgendwann nochmal in Ruhe anrufen müssen, um mir schildern zu lassen, was genau sie damit meinte, naja und vielleicht auch, wie sie sich das vorstellte.

Ich bedankte mich bei meiner Familie, die sich echt viele Gedanken um mich zu machen schien. Direkt fühlte ich mich besser und auch, wie reich ich im Vergleich zu Lyz war. Das Prinzesschen tat mir richtig leid.

Ich musste ja nicht gleich zu ihrem Helden werden, wie Rova es befürchtete, aber zu einem Freund schon, denn den hatte diese Kleine genauso bitter nötig wie ich.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  KritzelFuchsKurai
2021-04-04T07:12:12+00:00 04.04.2021 09:12
Naww arme lyz mit solchen eltern ist man wirklich bestraft. Ich bin froh heute wieder mahl lesen zu können Alex hat mir richtig gehfählt mit seiner lieben mitfühlenden art >\\\\< naww ich husche mahl schnell weiter
Antwort von:  Elnaro
06.04.2021 17:14
Hab mich riesig gefreut, als ich gelesen hab, dass du wieder fleißig gelesen und kommentiert hast! <3
Ja, Lyz hat es nicht leicht. Selbst Rova, der sich für die tragischste Figur überhapt hält, musste weniger erleiden als sie.
Von:  Schwabbelpuk
2019-05-01T23:36:20+00:00 02.05.2019 01:36
Wieder ein tolles Kapitel! Aber ich glaube auch nicht, dass mir je ein Kapitel nicht gefallen könnte, das von Alex handelt. xD Dass er eine Zeit lang sie die ganze Zeit ausspioniert hat und in einen Auto gehaust hat, fand ich irgendwie...erschreckend. Richtiger Stalker, wenn auch auf Befehl. xD
Auch hat man zwischen den Zeilen nochmal Lyz gestörtes Elternhaus gesehen, aus der Sicht anderer. War eine eine nette Ergänzung~ Und ziemlich überheblich von Rova, dass er der "Held" sein will. War er ja dann eh nicht, wie man im Nachhinein nun weiß...xD
Alex tat mir in dem Kapitel einfach nur Leid, aber seine Schwester ist niedlich...^^'
Antwort von:  Elnaro
02.05.2019 12:36
Ich konnte die Überwachung in der Hauptstory nicht zum Thema machen, weil es Lyz so wie du empfunden hätte. Überwacht werden ist schon echt unangenehm. Es erklärt, warum Alex sie so gut versteht, obwohl sie, seit ihrem ersten Freund Mick, kaum mehr ein Wort über ihre Eltern verliert.
Oh ja, Rova hat wirklich überhaupt keine Ahnung von Frauen, aber sein Part kommt ja noch.
Haha, schön, dass Alex' Schwester gut bei dir angekommen ist. Er wird noch ausführlich mit ihr telefonieren :)


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