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Hin und her gerissen

zwischen Liebe und Freundschaft
von
Koautoren:  Jevi  Meitantei

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16. Januar – Rescue me

Die Tür wurde gerade einmal um einen Spalt geöffnet – nicht sehr einladend – und die junge Frau sah den Braunhaarigen traurig an, bevor sie langgezogen aufseufzte. „Du schon wieder.“

„Guten Morgen. Ist er startklar?“ fragte der 18-jährige.

Ihr Blick ging Richtung Boden, als er fragte. „Ihn hat eine Grippe erwischt.“ Während des Satzes schaute sie ihm nicht einmal ins Gesicht.

Gestern ging es ihm nur nicht gut, heute sollte es schon eine Grippe sein. Sehr zweifelhaft für ihn, immerhin war sein bester Freund noch nie wehleidig gewesen. Jeder wunderte sich bloß immer, wenn er sich dann doch mal was einfing.

„Okay, wünschen Sie ihm gute Besserung und richten Sie ihm bitte aus, dass ich heute Nachmittag vorbeikomme, um ihm die Hausaufgaben zu bringen.“ Als guter Freund war er stets hilfsbereit, geradezu vorbildlich.

Seit sie im Präsidium aufgemischt worden waren – also eigentlich eher sein Freund – stimmte etwas nicht. Zwar konnte Takahashi einige Dinge richtigstellen, aber Toshi hatte irgendwie nicht ausgesehen, als wäre er okay. Und die Grippe war es auch ganz bestimmt nicht…

„Aber das ist doch ansteckend!“ durchfuhr es die Angestellte schockiert. Dabei durfte sie bei den zwei Jungs nichts mehr wundern. Sie hatten einmal Lagerfeuer im Garten gemacht und dabei einen ganzen Rosenbusch abgefackelt.

„Aber das ist doch ansteckend!“ durchfuhr es die Angestellte schockiert.

„Ach, das macht nichts, ich bring einen Mundschutz mit. So empfindlich bin ich nicht.“ Er würde sich doch von denen nicht verscheuchen lassen… Bisher hatte er mit der Familie keinerlei Schwierigkeiten gehabt, da war es schon etwas ungewöhnlich, das Gefühl zu haben, gerade nicht erwünscht zu sein.

Als jedoch wenig später auch die Hauseigentümerin in der Tür stand und dem Hausmädchen Anweisung gab, in der Küche ihre Arbeit fortzuführen, war er ein bisschen stutzig.

„Warum musst du so unvernünftig sein?“ seufzte sie. „Er ist sowieso nicht in der Lage die Hausaufgaben zu machen. Er ist richtig krank! Du kannst heute nicht vorbeikommen!“

Was sollte das? So etwas hatte er noch nie erlebt. Bisher war es nie ein Problem, wenn er vorbeikam und er war auch noch nie so seltsam angesehen worden, wie heute. Als hätte er Schuld daran, dass Toshizo die Grippe hatte.

„Aber…“

„Nichts aber! Geh jetzt!“

Nicht mal auf Widersehen hatte sie gesagt, sondern die Tür vor seiner Nase zugedonnert.

 

Doch die Dunkelbraunhaarige hatte ihre Rechnung nicht mit ihrem werten Gatten gemacht. Als dieser noch aus dem Wohnzimmer mitbekam, dass sie Toshis besten Freund fast ein wenig angefahren hatte, kam er raus und erwischte sie mit ihrem grimmigen Blick im Gesicht.

„Was war los? War das Takahashi?  Warum hast du ihn nicht reingebeten?“

„Oh bitte, lass es gut sein. Ich will, dass die sich eine Weile nicht sehen…“

„Warum?“ Das verstand Ichiro überhaupt nicht. Er mochte diesen Kerl, der war ihm von Anfang an sympathisch gewesen. Ein taffer Junge mit dem richtigen Sinn für das Gute.

„Weil er mit den falschen Leuten zusammen ist!“

Ihr Mann seufzte theatralisch. „Du hörst zu viel auf die falschen Menschen, Schatz. Takahashi ist ein guter Junge.“

„Nein, er ist ein harter Kerl, der dir nur gefällt, weil unser Sohn deswegen seinen Kummer verbirgt.“

„Das unterstellst du mir? Wie kommst du denn darauf?“ amüsierte sich der Schwarzhaarige – es war zwar nicht unbedingt ganz unwahr, aber das war nicht der einzige Grund. „Und was unterstellst du den Kindern?“

„Dass Toshi vorgibt eine Grippe zu haben, liegt nur daran, weil er den Starken markieren muss!“

Kurz darauf drehte sich der Schwarzhaarige verärgert herum. „Das höre ich mir nicht länger an!“ Bevor er die Treppe hinaufging und gegen die Zimmertür klopfte. Er hatte seine eigene Art und Weise mit den Mitgliedern seiner Familie umzugehen. Nichtsdestotrotz hatte er hier das Sagen, auch wenn es nach außen hin vielleicht nicht wirkte, als sei er wie die anderen Ehemänner, die ihre Frauen zum Besitz erklärt hatten. Er wirkte wie ein lieber Familienvater, der sich nie etwas zu Schulden kommen lassen würde, was auch nur ein schlechtes Wort gerechtfertigt hätte. Er kümmerte sich immer sehr um alle, war bemüht, das Beste für sie zu schaffen.

„Lasst mich doch bitte zufrieden“, tönte es von innen. Daraufhin drückte der Schwarzhaarige die Türklinke hinab. Er konnte ihm den Gefallen leider nicht tun – hier wurde nicht geschwänzt; das konnte er ihm nicht durchgehen lassen. Es war dunkel und sein Vater sah nur, dass Toshizo sich die Decke über den Kopf gezogen hatte. Immer dieser Ärger mit den Kindern, zum Glück hatte er sich nur für eines entschieden. Er sah in einer Tochter nicht so viel Nutzen, wie in einem Sohn. Mädchen interessierten ihn nicht besonders, sie waren in seinen Augen nur für eines gut: Die Zeugung eines Kindes. Also etwas, was ein Junge genauso gut konnte. Plus die anderen Dinge, zu denen Männer besser in der Lage waren.

Japan lebte diesbezüglich im Mittelalter und er sah keinen Grund an dieser Lebensweise etwas zu rütteln. Ihre Erfolge gaben ihnen Recht.

„Raus aus den Federn, ich dulde nicht, dass hier Schule geschwänzt wird!“ Er war noch nie besonders feinfühlig, deswegen zog er ihm die Decke weg.

„Ichiro, lass doch den Jungen!“ mischte sich seine Frau ein.

„Dass ihr Frauen den Kindern immer so viel durchgehen lassen müsst, verstehe ich nicht!“

Natürlich hasste das Kind ihn wieder, weil er mit seinem Verhalten nicht durchkam. Dennoch traf ihn der verärgerte Blick keineswegs.

„Er hat Fieber, er muss im Bett blei-!“

Schon hatte Ichiro dem Kind an die Stirn gefasst und runzelte die Stirn. „Ich kenne die Krankheit, die unser Sohn hat“, meinte er, fast etwas besserwisserisch. Der Junge sah ihn schmollend an. Dass er bei einer Lüge erwischt wurde, passte ihm wohl nicht.

„Ich will nicht, dass du deine Mutter anlügst, Toshizo!“ ermahnte er ihn mit erhobenem Zeigefinger. „Und jetzt wirst du aufstehen und dich beeilen. Wenn du Glück hast, erwischst du Takahashi noch. Wie kannst du deine Mutter dazu anstiften, auch deinen besten Freund zu belügen? Das macht man nicht!“ Es gab hier gewisse Regeln und die änderte er selbst, sonst keiner.

Das macht man nicht. Ja, in diesem Haus herrschten scharfe Regeln, was man durfte und was nicht. Aber um sie durchzubringen, müssten seine Eltern sich dafür interessieren, was in diesem Haus nicht alles passierte. Sie hatten eine Schulfreundin quasi vergewaltigt. Und als Wiedergutmachung hatten sie sich nicht so sehr für ihre Probleme interessiert, wie sie gesollt hätten.

Er fühlte sich echt nicht nach Schule. „Vater, mir geht es nicht gut, ich kann nicht zur Schule.“

„Und was hast du?“ Außer Faulenzia konnte er sich nichts Gravierendes vorstellen, vielleicht war er etwas müde. Das lag aber nicht an einer Krankheit, sondern daran, dass er nie rechtzeitig ins Bett ging. Gestern Abend war noch der Fernseher bis spät in die Nacht gelaufen – als wüsste er das nicht.

„Ein schlechtes Gewissen. Aber das ist dir sowieso fremd.“

Es könnte ihn wütend machen, dass man ihm das frech unterstellte, aber die Wahrheit war noch nicht verboten.

„Toshi, das sagt man nicht! Sei nicht so frech zu deinem lieben Vater!“

Ach… So ein Käse. Seine Mutter war hervorragend darin, sich Dinge vorzustellen. Dinge, die er selbst sich nicht vorstellen konnte. Er sah auf, ins Gesicht seines Vaters. „Tut mir leid, Vater. Mir geht es wirklich nicht gut…“ Nur einmal wollte er stur bleiben, nicht alles nur schlucken. Warum konnte er nicht einfach mal der Vater sein, den er gerade nötig hatte?

Der Mann blickte von seinem Sohn zu seiner Frau. Er setzte sich auf das Bett. „Verlass bitte das Zimmer.“

„Sei bitte nicht so streng, ja?“ Natürlich machte sich die zartbesaitete Frau Sorgen, er lächelte.

„Keine Sorge, ich will nur wissen, was ihm fehlt. Anscheinend möchte er es nur mir sagen.“

Das war sogar überraschend. Für wen am meisten wussten sie nicht, aber Toshizo war schon ein bisschen perplex, als sein Vater sich auf einmal dafür interessierte, was ihm fehlte. Aber wer wusste schon, was dahintersteckte?

„Was ist los? Hast du dich mit Takahashi gestritten?“

Einfach jeder wusste, dass das mit am schlimmsten für ihn wäre. Ein Witz gegen das, was gerade in ihm vorging.

„Nicht direkt.“ Dann senkte der Junge traurig den Kopf. Zum Glück fehlte es seinem Vater nicht an Intuition, so bemerkte er, dass es etwas gab, worüber sein Junge dringend reden musste.

„Nun lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.“ Das war ihm viel zu anstrengend.

„Du kennst die Okitas näher, oder?“

Das Schweigen des 45-jährigen sagte bereits mehr, als hätte er sofort geredet.

„Wer kennt sie nicht näher? Sie spielen sich ja auch ganz schön auf“, lachte er schließlich. „Warum fragst du?“

„Ich war an Takahashis Geburtstag bei ihnen…“

„Oh je, was hast du mitbekommen?“ Es gefiel seinem Vater absolut nicht, egal was auch dort passiert war, also hatte er keine gute Meinung über diese Familie. „Du hast aber nichts mit dem Mord an Yoshio Okita zu tun, oder? Oder Takahashi?“

Erschrocken sah er seinen Vater an, mit weit aufgerissenen Augen, dieser Ausdruck verschwand aber genauso schnell, wie er gekommen war und machte Platz für einen Blick, der ihn wohl emotional berühren sollte. So traurig wie er aussah. „Nein.“ Er schloss die Augen. „Ich wollte eigentlich nur Saki abholen, weil sie bis zu dem Zeitpunkt nicht aufgetaucht war… Ihr Bruder kam zur Tür… das muss kurz vor seiner Ermordung gewesen sein…“

„Ach und du machst dir jetzt Sorgen, weil du glaubst, du hättest es verhindern können?“ Sein Vater fand das offenbar lustig, er lachte, sehr herzhaft sogar. Okitas Sohn hatte es in seinen Augen verdient – was sollte man da bitte verhindern? Er wünschte, dass andere Mistkerle genauso von der Bildfläche verschwinden würden, weil sie durch ihre bloße Anwesenheit das gesamte Umfeld vergiften konnten. Ihre brutale und grausame Art machte sie in seinen Augen verabscheuungswürdig. Es gab nichts Schlimmeres als Hochmut und Verachtung gegenüber denjenigen, die freundlich und nett mit den Menschen umgingen.

„Das ist nicht komisch, Papa…“  Sie redeten hier von einem Ermordeten, obwohl es ihm um diesen Teufel nicht leidtat. „Ich weiß, du würdest nie etwas bereuen. Und es ist auch gar nicht so, dass er seine Rettung verdient hätte. Nein, er verdient, dass er draufgeht.“

Das waren harte Worte, die diesem Akaja bestimmt wieder nicht gefallen hätten. Der würde auch die retten, die es nicht verdienten. Bestimmt würde er Toshizo sagen, dass man so etwas für sich behalten, nicht einmal denken sollte. Absolut übertrieben. Es reichte, wenn man sich im Griff hatte. Für einen Moment hatte er wirklich befürchtet, Toshizo hätte etwas getan, was auf ihn zurückfallen könnte. Nur deswegen strich er ihm nun über den Kopf. Das waren die Momente, in denen er froh war, dass der Junge ein Lämmchen war, was keiner Fliege etwas tun könnte. Dann machte er keinen Mist.

„Die Polizei hat ganz komische Dinge über Saki wissen wollen… wir haben sie nämlich besucht…“

Sein Vater wusste weitestgehend nicht, was sein Sohn so machte, er hatte bisher immer darauf vertraut, dass sein bester Freund schon wusste, was sich gehörte, seine Mutter hatte ihn gut erzogen – auch wenn einige regelrecht nach Fehlern suchten, um die arme Frau zu terrorisieren.

„Ja, du wolltest ja wissen, wo sie ist.“

Toshizo beobachtete die Mimik seines Vaters, denn aus seiner Stimme war wie immer nichts deutlich zu hören, außer dass ihm das Schicksal von Menschen egal zu sein schien, solange es sich nicht um das der eigenen Familie handelte. Er schwieg, um ihn dazu zu bringen, mehr zu sagen. Wenn er ihn direkt fragte, ignorierte er nur alles, was er nicht beantworten wollte.

„Und, wie geht’s ihr?“

Interessierte das seinen Vater wirklich? Er hatte ja schließlich mitbekommen, dass die Okitas sich das Maul über sie zerrissen.

„Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl… Vor knapp zwei Monaten wollte sie noch Tak verzeihen, dass er sie erpresst und beleidigt hat… Und dann wollte sie noch mit ihm zusammen sein. Jetzt will sie uns nicht mal sehen… Bestimmt wurde sie vergewaltigt.“

Das Thema war in diesem Haus nicht gerade willkommen, aber wenigstens wurde er nicht gleich angefahren, wie er auch nur davon sprechen konnte. Nein, sein Vater tat etwas ganz und gar Atypisches. Er legte die Hand auf seine Schulter und strich darüber.

„Deswegen geht es dir nicht gut. Weil du glaubst, dass man ihr etwas angetan hat.“

Er selbst wusste noch ganz andere Dinge, von denen er hoffte, dass sein sensibler Sohn besser nicht erfahren hatte – er wäre prädestiniert dafür gewesen…

Er hatte Takahashi einmal gefragt. Der war entsetzt davon, dass man überhaupt in Erwägung ziehen könnte, dass sie Drogen nehmen könnten. Tja, der junge Okita war genau so einer. Ein reicher Junge, der sich alles rausnehmen konnte, sogar Drogenkonsum in einem Land, das Konsumenten beinahe härter anfasste als Vergewaltiger. Vermutlich war er beides, er hatte sich nicht im Griff – verachtungswürdig, fand der 45-jährige. Sein Vater hatte ihn gelehrt, was sich gehörte. Drogen gehörten nicht dazu, ebenso wenig Frauen falsch anzufassen. Die Familie schon gar nicht.

„Vielleicht hilft es dir… Aber… Versuch froh zu sein, dass sie lebt. Und nur ihr Bruder tot ist.“

„Du hast wohl keine gute Meinung von ihm, oder?“ Warum musste er nicht fragen, sein Vater würde ihm schon sagen, wieso.

„Warum sollte ich auch? Mit 20 sollte er seine Nase mehr in Bücher stecken als in Kokain!“ So, wie sein Vater es sagte, würde er ihn verachten, wüsste er, dass er schon mal zumindest einen Joint geraucht hatte, also hielt Toshizo aus Angst die Klappe. „Ich bin froh, dass du vernünftiger bist.“

Es war lange her, dass sein Vater geäußert hatte, er sei froh, dass sein Sohn nicht so wie andere war, meistens kritisierte er ihn. Toshizo musste zugeben, dass sich das doch ganz angenehm anfühlte, mal gut genug zu sein.

„Tut mir leid, dass ich manchmal nicht so lernbegierig bin, wie du gern willst.“

„Ich weiß deine Bemühungen zu schätzen, Junge.“

„Aber… was mich wirklich beschäftigt…“

In seinem Sohn war irgendetwas, was ihm Angst machte, er konnte das nicht einmal nachvollziehen. Außer vor Rufschädigung fürchtete er sich beinahe vor nichts. „Was ist los?“

„Ich habe das Gefühl, dass ich hätte verhindern können, dass Saki so lange im Krankenhaus sein muss…“ Er traute sich nicht mal diese Grausamkeit, die in seinem Kopf vorherrschte, auszusprechen.

„Die Polizei hält alle Informationen unter Verschluss und uns Kindern sagen sie sowieso nichts… Kannst du was für mich rausfinden?“

„Du weißt doch, wie beschäftigt ich bin!“ Toshizos Vater war aufgestanden. Im Grunde interessierte er sich überhaupt nicht dafür, was mit diesem Mädchen war. Sie war wie viele einfach nicht gut genug für seinen Sohn.

„Es ist aber wichtig! Ich will wissen, ob sie zu meinem Besuch schon verletzt war… oder ich einfach hätte wissen müssen, dass er sie zuhause eingesperrt hat!“

„Warum willst du dir das antun?“ seufzte er.

„Weil sie vielleicht schwanger war.“

‚Na, da sollte sie wohl besser froh sein, wenn sie es nicht mehr ist.‘ Er verstand überhaupt nicht, was das sollte, genauso wenig, wusste er, was er zu Toshizos merkwürdigem Engagement sagen sollte, er war sprachlos. Wie konnte ein Mensch sich nur für all diese Nebensachen interessieren? Es gab wirklich Wichtigeres, wie zur Schule zu gehen. Für eine gute Zukunft.

„Gehst du brav zur Schule, wenn ich versuche es herauszufinden?“

„Ja!“ Leichtfertig darauf anzuspringen, war typisch für ihn. Obwohl es ein bisschen was von Erpressung hatte – gegenseitig.

„Gut.“

Damit sein Sohn funktionierte, tat er alles. Als er merkte, wie froh er war, dass er ihm helfen wollte, schüttelte er innerlich nur den Kopf. Es war so einfach…

So schnell war der Junge noch nie aus dem Bett gesprungen und das nur wegen Informationen. Er war skeptisch und fragte sich, ob sein Junge… Nein, der war doch viel zu schüchtern. Und hatte er nicht gesagt, dass Takahashi…

In der Tür hielt er ihn am Arm fest. „Hast du mir noch was zu beichten?“ Der durchdringende Blick dieser grünen Augen war so furchteinflößend, dass Toshizo beinahe zurückgewichen wäre. Aber er hatte keine Angst vor seinem Vater, der tat ihm nichts. Dafür war er zu gut.

„Was meinst du?“

„Du willst nicht wissen, ob sie von dir schwanger war, oder?“

„Was? Nein! Wieso denn von mir?...“

Ichiro seufzte tief. „Halse dir so eine Verantwortung ja nicht so früh auf. Egal, wie hübsch sie sind!“

„Keine Sorge.“

Mit finsterer Miene blieb er in der Türschwelle zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Wenn das stimmt, ist der Junge sicher nicht so blöd, traurig darüber zu sein. In seinem Alter.“ Außerdem regelte das seine Veranlagung. Er war kein Typ, der sich gern opferte. Sein Sohn war da eher gefährdet. Emotionale Menschen dachten immer, dass man es ihnen schon danken würde, wenn sie sich für andere Menschen aufopferten. Leider war eher das Gegenteil der Fall. Meistens jedenfalls. Ob der gute alte Akaja wohl bereit war, sein Wissen mit ihm zu teilen? Wenn die Kleine schwanger gewesen war, dann wusste die Polizei ganz sicher von wem.

Seine Ehefrau war auch eine der Menschen, die lange Zeit geglaubt hatte, dass man ihr dankte, wenn sie zu allen Menschen freundlich war. Und dann hatte ihre eigene Schwester versucht ihr den Mann auszuspannen. Er fühlte sich damals nicht zu Frauen seines Kalibers hingezogen. Es war langweilig, sie immer zu durchschauen, weil sie ähnlich tickten. Außerdem mochte er gute Menschen. Auch, wenn nicht jeder sie dafür liebte, dass sie so gut waren. Seine Frau akzeptierte ihn immer so, wie er war, obwohl sie bestimmt sehr oft weinen musste, weil sie sich nicht genug geliebt fühlte. Er erniedrigte sich nicht zu allem, so wie die meisten anderen Männer, wenn sie verliebt waren. Er war bereit ihr entgegenzukommen, aber nicht immer.

 

 

 

Im Polizeipräsidium war Kommissar Megure mit seinem Latein am Ende.

„Geht es Ihnen nicht gut?“ fragte Yamada.

Sein Kollege sah ihn mit einem traurigen Blick an. „Das Problem ist, wenn Opfer tot sind und einem nichts weiter bleibt, als die Überlebenden zu traktieren. Das Opfer kann sich weder verteidigen, noch kann man ihm seine Mitschuld nachweisen. Und die hatte er ganz gewiss.“

„Seine Freunde und Angehörigen werden nur Gutes von ihm berichten“, meinte der Grauhaarige.

„Dann haben die es alle nicht so damit, ihr Gewissen zu erleichtern.“

„Akaja versucht sich gerade selbst an einem der Typen, mit denen er so zusammenhing. Ihr würdet nicht glauben, wer das ist.“

 

 

Was fiel denen ein, ihn so lange in einem Büro alleine sitzen zu lassen? Er hatte wichtige Dinge zu tun, trotzdem dauerte es ewig, bis der Polizeipräsident endlich erschien. Er gab ihm freundlich die Hand, obwohl er ganz schön angepisst war.

Als der 42-jährige ihn sah, musste er zugeben, er hielt, was von ihm versprochen worden war, aber er war in keiner Hinsicht feindselig. Er hatte verboten, dass dessen Vater ihn selbst verhörte, denn der war ganz schön emotional beeinträchtigt. Weil sein Sohn sich nicht so benahm, wie er ihm das gelehrt hatte. Die Schande der Familie.

[Keiji Tanaka (23) ältester Sohn von Hauptkommissar Ryuji Tanaka – Student der Sportwissenschaften & -marketing]

„Warum bin ich hier?“

„Wir verhören die engen Freunde eines Opfers.“ Das alleine war schlimm genug, ihn als Opfer zu bezeichnen. Aber leider war er eines.

„Ich helfe Ihnen so gut ich kann“, sagte der junge Mann – jedoch nicht ohne einmal auf seine Armbanduhr zu schauen.

„Haben Sie es eilig?“

Leuten wie Akaja fiel aber auch alles auf. „Ich musste sehr lange warten. Es dauert doch nicht lang, oder?“

„Nicht, wenn Sie meine Fragen beantworten.“

„Kommt ganz darauf an, was Sie hören wollen…“

Dem Kerl nachzuweisen, dass er mit Drogen dealte, war ausgeschlossen, sie hatten keine Beweise, nur Aussagen von anderen Leuten, deren Glaubwürdigkeit auch nicht gerade gegeben war.

„Sie sind ein enger Freund von Yoshio Okita, richtig?“

„Kann man meinen, ja.“

„Wie lange kennen Sie ihn?“

„Ich kannte ihn seit unserer Schulzeit. Er war eng mit meiner Schwester befreundet.“ Für ihn war dieser Fall bereits abgeschlossen. Tote interessierten ihn nicht.

„Wussten Sie, dass er schwer Drogen abhängig war?“

„Ja, aber ich habe keine Ahnung, wo er das Zeug herhatte.“

„Und Sie haben nicht für nötig befunden, ihn davon abzuhalten? Oder der Polizei Bericht zu erstatten?“

„Oh Gott, was wäre ich denn da für ein Freund, wenn ich ihn verpfeifen würde?“

„Haben Sie ihm gesagt, dass Sie es nicht gut finden, wenn er Drogen nimmt?“

„Das war mir völlig egal. Es war seine Entscheidung.“

„Haben Sie einmal mitbekommen, dass er seine Schwester unangemessen berührte?“

„Sie meinen Saki?“

Das Grinsen im Gesicht des Typen gefiel dem Polizeipräsidenten absolut nicht, er sah ihn streng an.

„Was gibt es da zu grinsen?“

„Nur, dass er förmlich damit geprahlt hat, dass er ihr die Unschuld nehmen konnte, bevor sie sie an irgendeinen anderen verliert. Die hat gerade mit wachsender Begeisterung Jungenreviere abgecheckt. Hätte bestimmt nicht mehr lang gedauert, dass sie es wild mit einem getrieben hätte.“

„Und wann war das?“

„Oh, das muss so drei Jahre her sein, kurz nach ihrem 14. Geburtstag. Da kam er zu mir und sagte, er hat sie geknattert. Sie sei noch ganz eng. Ob ich auch mal will. Die ist ja fast noch Jungfrau. Er war angeblich vorsichtig, nicht, dass sie ihn anzeigt.“

„Und da haben Sie es nicht in Erwägung gezogen, Ihr Wissen mit der Polizei zu teilen? Was glauben Sie, was sie durchgemacht hat?“

„Oh, eine Menge, aber die steckt auch eine Menge weg.“

„Ach ja?“ In seinen Augen steckte sie viel weniger weg, als viele glauben würden. Er schüttelte den Kopf. „Wussten Sie, dass er sie immer noch vergewaltigt?“

„Also vergewaltigt würde ich es nicht nennen, wenn die Schwester einem Typen hörig ist, weil sie es nicht besser weiß.“

„Was soll das bitteschön heißen, es nicht besser weiß?“

„Ach, ihre richtige Mutter hat sie immer zu Bekannten abgeschoben – und ihr Bruder kam doch liebend gern vorbei, um Schwesterchen zu besuchen. Dabei sprang immer eine Nummer bei raus. Würde mich nicht wundern, wenn ihr nicht ganz bewusst war, dass Brüder ihre Schwestern nicht anzutatschen haben.“

„Haben Sie ihm das auch gesagt?“

„Ja, ich habe gesagt, dass man seine Schwester nicht antatscht – oder noch mehr. Ich habe übrigens auch eine Schwester. So etwas hätte ich nie getan.“

„Das sollte man auch nicht. Können Sie uns noch etwas sagen, zum Beispiel darüber, ob es weitere Leute gibt, die ihn dafür verachtet haben könnten?“

„Ich habe ihn nicht verachtet, nein. Er war schwach, nichts weiter.“ Er sah dem Polizeipräsidenten ins Gesicht. „Fragen Sie ruhig. Mein Vater hat ihnen doch sicher erzählt, dass ich es mit Gesetzen nicht so genau nehme.“

„Was genau fragen?“

„Ob ich ihn getötet habe.“

„Nein, das haben Sie nicht.“

„Was macht Sie so sicher? Vielleicht bin ich nur raffiniert genug, meine Motive nicht preiszugeben.“

„Was soll das?“

„Tun Sie doch nicht so, als würden Sie meinem Vater nicht glauben. Er erzählt es doch überall herum, dass sein Ältester sich nicht benimmt.“

„Und das macht aus Ihnen direkt einen Mörder?“ Das fand er eben nicht. „Wissen Sie, wir haben keinen Täter. Nur ein armes, 18-jähriges Mädchen, was ihren Vergewaltiger nicht mehr hinter Schloss und Riegel bringen kann.“

„Tja, manchmal ist das eben so. Er war bestimmt kein Heiliger, aber was solls. Seine Eltern wollen wohl unbedingt nen Schuldigen. Man, ich wünschte, meine würden das machen, wenn ich mal draufgehe. Die sind noch erleichtert, wenn ich weg bin. Fall zu den Akten und nie wieder drüber reden.“

„Ich glaube kaum, dass mein Kollege so kaltschnäuzig ist, den Täter nicht mal kennenlernen zu wollen. Ich hoffe, Sie lassen sich nicht auf zwielichtige Gestalten ein, die Sie Ihr Leben kosten könnten.“

Manchmal erschien ihm die Gutherzigkeit mancher Menschen als falsch. „Das ist jetzt ganz alleine mein Problem. Mein Vater will nichts von den Leuten wissen, die ich so meine Freunde nenne.“

„Ich muss das fragen: Wo waren Sie in der Tatnacht?“

„Keine Ahnung, sagen Sie mir, wann die Tat stattgefunden hat?“

„Donnerstag, fünfter Januar, zwischen fünf Uhr und sechs Uhr morgens.“

„Da war ich nicht in der Stadt. Ich war in Kyoto, ein paar Dinge regeln. Um genau zu sein hatte ich ein Vorstellungsgespräch in der Kyoto International Highschool. Man wird es Ihnen bestätigen. Ich bin schon um sechs Uhr in der Früh mit dem Shinkansen hingefahren. Der Termin war um acht Uhr morgens.“

Ganz unmöglich war es nicht. Der Kerl war aalglatt genug wie ein Fisch, um so eine Tat zu begehen und dann ohne die Miene zu verziehen, an einer Schule vorzusprechen, ohne dass man es ihm anmerkte, was er gerade getan hatte.

„Es ist mir auch völlig egal, ob Sie es mir zutrauen oder nicht. Oder das Alibi nicht ganz passt. Ich habe meine Termine schließlich nicht danach ausgerichtet, ob sie mir ein Alibi verschaffen, oder nicht. Zuvor war ich zuhause und habe geschlafen. Theoretisch kann sich die Forensik auch irren.“ Der Schwarzhaarige zuckte die Schultern, Takeshi glaubte ihm sofort, dass es ihm relativ egal war, ob er verdächtigt wurde. Er war es nicht, sonst hätte er zumindest direkt einen Anwalt mitgebracht. So gestört war er auch wieder nicht, um nicht wenigstens alles zu versuchen, um damit davonzukommen. Typen wie er sahen nicht ein, für irgendwas im Gefängnis zu landen, außerdem wirkte er nicht so, als würde er sich für irgendwelche Schicksale von anderen Menschen interessieren.

Genauso wenig wie Katō. Er war hier gewesen, weil die Okitas ihn belästigt hatten. Er wollte eine Unterlassungsklage. Nur, weil sein Sohn Toshizo mit diesem Mädchen Kontakt hatte, gab denen das schließlich nicht das Recht, ihn kaufen zu wollen. Er sollte sagen, dass Saki genau das war, was einige Polizisten hier fälschlicherweise auch glaubten – leicht zu haben. So leicht, dass sie auch mit ihrem Bruder geschlafen hatte – ganz freiwillig natürlich. Die würden Tanaka für seine Aussage bestimmt erwürgen. Aus seinem Mund klang das Ganze völlig anders. Glaubhafter. Die anderen waren alle bestochen, nur damit das Mädchen bekam, was es verdiente. Nur wussten die nicht, was das wirklich war. Familie Okita fühlte sich um ihren Sohn beraubt, die würden jeden zerfleischen, um sich besser zu fühlen. Und sie war natürlich gefundenes Fressen, denn sie war der Grund für seinen Tod. Weil irgendeiner glaubte, in der Hölle war dieser Kerl besser aufgehoben.

 

Wenig später klingelte das Telefon. Seine Sekretärin kündigte ihm einen unangemeldeten Besuch an. Er fragte sich, was Katō diesmal wollte. Hoffentlich nicht schon wieder Ärger mit seinen Konkurrenten. Reiche betrachteten in der Regel alles als ihre Konkurrenz.

„Schicken Sie ihn zu mir. Tanaka war gerade dabei zu gehen.“

„Mit Freuden“, sagte er, grinsend und winkend. Bei dem Typ lief auch alles falsch, irgendwie. Aber er musste ihn gehen lassen, solange kein dringender Tatverdacht bestand. Nur, weil er davon wusste, war er nicht gleich verdächtig. Das passte nicht ins Bild. Wenn sie ihn verhafteten, ohne richtige Beweise gegen ihn in der Hand zu haben, würde die Tante von Saki sie wohl in der Luft zerreißen. Da war diese dünne Lücke in ihrem System, die besagte: Unschuldig, bis die Schuld zweifelsfrei bewiesen ist. Sie angelten in der Luft. Eher kam derjenige davon, als dass sie einen Unschuldigen einsperrten. Wobei Tanakas Sohn nun bestimmt nicht die Unschuld vom Lande war, immerhin hatte er seinem Vater gesagt, er würde ihn umbringen. Nur glaubte nicht jeder, dass er so weit gehen würde. Dessen Vater schon, weil sein Kind völlig gestört war. Das sagte man aber auch nicht über seine Kinder, egal ob es stimmte. Er vertrat immer noch die Meinung, dass keinem das Verbrechen in die Wiege gelegt wurde. Katō verhielt sich auch anständig – aber das lag im Auge des Betrachters, was anständig war. bei dem wusste man nie, wie weit er bereit war zu gehen, für seinen anständigen Ruf. Die waren ihm ja die Liebsten. Sie gaben vor Emotionen zu haben und waren im Grunde leer. Aber wer bestimmte das überhaupt, ab wann jemand leer war? Er war immerhin noch emotional genug, um etwas Gutes in seiner Frau zu sehen und sie ihrer etwas seltsamen Schwester vorzuziehen. Er hatte doch einmal ernsthaft gesagt, sie sei genauso gestört wie Sêiichîs Mutter. Leider musste er das damals hinterfragen, nachdem sogar Takahashi gesagt hatte, die würde ihm immer ganz merkwürdig über den Kopf streicheln. Das fand er eben nicht gut. Außerdem hatte sie Sêiichî unangemessen berührt. Sêiichî würde es diesem armen Jungen niemals danken, dass er es gewagt hatte, das den Eltern von Ryochi zu sagen. Weil es keiner wissen sollte. Sogar seine Psychologin hatte gesagt, er habe den Missbrauch verdrängt, keiner durfte jemals wagen, es auch nur auszusprechen, dann drehte Sêiichî total durch. Er vermutete, dass Takahashi auf das Spiel keine Lust hatte und es einmal gewagt hatte, Sêiichî auf den Kopf zuzusagen, was seine Mutter mit ihm getan hatte. Warum auch immer.

 

 

<„Hast du einen Knall? So etwas kannst du doch nicht tun! Wie kommst du auf die Idee, dass ich dazu in der Lage wäre, die Scheiße wieder zu korrigieren… Schau doch, sie blutet immer noch, sie braucht einen Krankenwagen! – „Ach was, die muss nochmal kräftig rangenommen werden!“ – Lachen war zu hören, ein Sadistisches noch dazu, bevor sie ein stechender Schmerz durchfuhr. „Was tust du da, Yoshi? Hör sofort auf mit dieser Scheiße!“ – „Wieso? Bin gerade erst so richtig in Fahrt!“ – „Sie ist deine Schwester, also runter von ihr!“ – „Stell dich nicht so an! Danach bist du dran!“ – Da war dieser eine Moment, als sie schniefend zu ihm aufblickte und ihn anbettelte, dass er ihr half. Sie war am Ende ihrer Kraft gewesen und konnte den Typen, den er zur Party eingeladen hatte, endlich erweichen. Vermutlich hatte er Angst und hatte deswegen nichts unternommen – jedenfalls nicht sofort.>

 

Sie war schweißnass als sie schreiend aufsprang und um Luft rang. Mehrmals würgte sie und sprang vom Bett, direkt ins Badezimmer, wo sie unter Angst zu ersticken mehrmals dem Drang sich zu übergeben nachgab.

Noch während sie am Verbluten gewesen war, konnte er sie nicht in Ruhe lassen. Kein Wunder, dass der Typ ausgerastet war und ihn von hinten niederschlagen musste. Alles, was danach geschehen war, wusste sie nicht mehr. Es war wie ausgelöscht – vielleicht war das auch gut so. Wer wusste schließlich, wer noch ins Haus eingedrungen war und sie in diesem Zustand gesehen hatte? Aber sie wollte schon ganz gerne wissen, wer sie außer Haus gebracht hatte. Denn der hatte ihr Leben gerettet. Als sie nicht gerettet werden wollte. Bei so schweren Blutungen war ausgeschlossen, dass das Baby überlebt hatte. Es war zu diesem Zeitpunkt sicherlich schon tot. Auch wenn Ashida-san behauptete, es hätte zu ihrer Einlieferung noch gelebt. Das waren zu viele Wunder auf einmal. Kein Kind überlebte die Attacken eines Monsters. Niemals.

 

Nach einem Moment beruhigte sich ihr Atem und eine Schwesternschülerin kam herein. „Um Himmels Willen. Geht es Ihnen gut?“ fragte sie und half ihr auf die Beine zu kommen.

„Ja, ich bin okay. Hatte bloß einen Albtraum… Und musste mich übergeben. Ich glaube, ich verzichte lieber wieder auf das Essen.“ Das nächste Mal erstickte sie womöglich. Das war kein schöner Tod, absolut nicht.

Sie wünschte, dass all das wirklich in die Kategorie Albträume gehören würde. Weil es hieß, dass nichts davon passiert war. Nicht mal ihr Spaß mit den Jungs. Das erinnerte sie nur daran, was sie jetzt nicht mehr haben konnte. Sie musste sich jetzt nicht mehr davor fürchten, ungewollt schwanger zu werden. Diese Frau hatte kein Herz. Für sie war das wohl alles ein lästiges Übel und sie würde diese Fähigkeit liebend gerne loswerden. So eine sollte keine Menschen therapieren. Hoffentlich würde die Nächste sie nicht hinstellen, als sei sie schwach. Sie war nicht schwach, immerhin hatte sie all das Zeug, was ihr Bruder so mit ihr angestellt hatte, überlebt. Schwache Mädchen hätten sich schon lange umgebracht.

Sie wollte all das Erlebte gar niemandem sagen müssen. Am liebsten wollte sie vorgeben, dass sie alles vergessen hatte und sich an überhaupt nichts mehr erinnerte. Dann sagte sie, sie war okay und die Leute ließen sie in Ruhe. Es gab ja nun keinen Grund mehr, sich damit zu befassen, oder? Ihr Bruder war tot. Sie könnte ihn nicht mehr einsperren lassen. Ob sie wohl damit durchkäme, ihm einen Mord an einem ungeborenen Kind anzuhängen? Vermutlich würde die Staatsanwaltschaft nicht mal das durchgehen lassen. Bestimmt war es für sie auch bloß ein Zellhaufen, der kein Recht auf Leben hatte. Für sie war das nicht so. Es gehörte zu ihr und zu ihm. Unter diesen Umständen konnte sie es ihm nicht mehr sagen. Aus Angst- und Schuldgefühlen. Sie könnte nicht ertragen, sich eingestehen zu müssen, dass sie beide davongekommen waren und es vielleicht besser so war.

Mehr noch als die Vergewaltigung wollte sie gern vergessen, was ihr Bruder zerstört hatte. Bestimmt würde man sie verspotten, wenn sie das jemals wagte, zu sagen. Dass die Vergewaltigung für sie nicht die schlimmste Tortur war. Worunter sie am meisten litt, wusste nur sie allein und kein Psychologe dieser Welt sollte das je aus ihr rausbekommen…

 

 

 

 

Schon allein die Observierung war so auffällig, dass der 41-jährige darüber nur den Kopf schütteln konnte. Die Verfolger gaben sich wohl nicht besonders viel Mühe, unentdeckt zu bleiben. Der Mann gab erst noch vor, sie nicht zu bemerken, doch als sie die Frechheit besaßen, sogar in den gleichen Aufzug zu steigen, konnte er einfach den Mund nicht halten.

„Warum verfolgen Sie mich?“ Während sein Blick standhaft dem Ihren begegnete, grinsten sie. Sie standen breitbeinig da, wie man es sonst nur von Leibwächtern kannte, die keinen vorbeilassen sollten. Als der Aufzug stecken blieb, lachten sie auf. „Kommt ja wie gerufen“, frohlockte der Schwarzhaarige.

„Allerdings.“ Sie rückten dem Kerl auf die Pelle, stellten sich dicht vor ihn und ließen ihn nicht von der Aufzugswand zurückweichen.

„Dr. med Akihiko Yurikawa“, las der eine Gorilla von einem Schild ab.

 

[Akihiko (41 Jahre) Yurikawa / Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie – Heilpraktiker – Leitung der Fukakusa Fachklink in Kyoto]

 

„Was führt Sie den langen Weg von Kyoto hierher, mhm?“

„Ich wüsste nicht, wieso ich das mit Ihnen besprechen sollte.“ Er ließ sich nicht beeindrucken, immerhin hatte er es alltäglich mit den verschiedensten Menschen zu tun, die teils heftige Persönlichkeitsstörungen aufwiesen. Wieso sollte er da vor zwei Gorillas Angst haben?

„Weil wir das wissen wollen, Mister. Sie sind nicht zufällig auf dem Weg zu Kenichi Ashida, oder?“

Das war der Moment, wo es unheimlich wurde. „Wieso fragen Sie mich das?“ Woher wussten die das überhaupt?

Beide lachten düster. „Sie können uns einen Gefallen tun. Oder sagen wir, sie werden, weil sonst…“

Man hielt ihm eine Tonbandaufnahme hin, betätigte den Knopf und wenig später hörten sie die Stimmen von zwei weiblichen Wesen.

<“Was wollen Sie von uns? Hey, lassen Sie mich los, oder ich schreie!“ – „Keine Sorge, Kleine, dir wird nichts passieren, wenn dein Vater das tut, was wir von ihm wollen.“ – „Mama, wer sind diese Leute?“>

Das Band wurde gestoppt und die Blicke noch gemeiner. Sie sahen augenblicklich, wie der Mann zu zittern begann, vor Wut höchstwahrscheinlich. „Was wollen Sie?“

„Sie werden zu ihrem vereinbarten Termin gehen und sich nichts anmerken lassen. Versuchen Sie dem Arzt so viele Informationen zu entlocken, wie Sie können. Dabei werden Sie das hier tragen.“ Man öffnete ihm den Mantel und befestigte etwas Knopfartiges an seinem Hemd, versteckte es hinter dem Stoff und klopfte ihm dann auf die Schulter. „Wir wollen alles wissen, verstehen Sie? Vor allem über dieses Mädchen, was er behandelt. Das Gespräch mit ihr wollen wir auch. Verstanden? Und keine Tricks! Sonst sind Ihre Frau und Ihre Tochter mausetot. Keine Zettel!“

Verachtend blickte er beide an. „Was interessiert euch so sehr an ihr?“

„Oh, ihr Bruder ist umgelegt worden. Weil er zu uns gehörte. Wir wollen lediglich wissen, ob er vor seinem Tod noch geplaudert hat.“

„Warum bedroht ihr dann nicht sie direkt?“

„Sie stellen zu viele Fragen – darauf stehen wir gar nicht. Sie tun, was wir von Ihnen verlangen. Wir schicken ihre Familie dann heil nach Hause, wenn wir die Infos haben. Niemandem wird ein Haar gekrümmt.“

„Sie verlangen also, dass ich das Vertrauen zwischen Arzt und Patient missbrauche, ja? Glauben Sie wirklich, dass Sie mich erpressen können?“

Nun wurde ein Handy gezückt. Ein Anruf getätigt.

Man hörte eine tiefe Stimme irgendeinen komischen Namen sagen, der nicht besonders japanisch klang, jedenfalls in seinen Ohren – und er hörte wirklich genau zu.

„Unser Psychopathen-Heilpraktiker will nicht tun, was wir von ihm Verlangen. Ich glaube er möchte zur Polizei. Zeig ihm, dass wir keine Witze machen.“

Man hörte ein tiefes Knurren, dann einen dumpfen Schlag. Gefolgt von einem Aufschrei, der zweifelsohne zu einer weiblichen Person gehörte.

Dann wurde der Lautsprecher aktiviert und man hörte sie wimmern. „Tun Sie dem Kind bitte nichts. Wir machen auch, was Sie sagen.“

„Ach ja wirklich? Klang aber nicht so. Sieht so aus, als würde dein kleines Mädchen gleich am eigenen Leib erfahren, was es heißt, einen Mann zu verärgern – oder fünf – oder zehn.“ Schallendes Gelächter wurde hörbar, tief und furchteinflößend. „Oh bitte, nein, tun Sie meiner Tochter nichts.“

„Ich tue, was Sie verlangen!“ warf der Mann ein – er hatte Angst. Dass sie das wahrmachten, was nur angedeutet worden war.

„So ist’s brav.“ Er beendete die Freisprecheinrichtung und sprach ins Telefon. „Er ma-“ Er wurde durch die verängstigten Rufe nach Papa unterbrochen. „Sag der Göre, sie kann ihre Jungfräulichkeit noch ein bisschen behalten.“

Der Blick des Arztes beinhaltete mehr als nur Abscheu. „Sie sind ein widerlicher Kerl.“

„Oh keine Sorge, meistens bin ich nett. Wenn man mich nicht verärgert. Außerdem…“ Er klopfte dem Mann gegen die Wange. „Ich würde der Kleinen nur ungern wehtun lassen. Einer der Typen, die bei ihnen sind, steht auf junge Dinger. Speziell Jungfrauen.“

„Mistkerl!“

In der Regel mussten sie solche Dinge auch gar nicht tun – ein verängstigter Schrei reichte meistens, dass sie brav das taten, was man von ihnen verlangte.

Der Aufzug setzte sich wieder in Gang und der Kerl sprang beinahe panisch raus, als er es konnte. Sie lachten und schlossen die Tür. Bestimmt fragte er sich, ob in dem Aufzug keine Kameras waren. Und selbst wenn, sie hatten Leute im Krankenhaus, die diese schon sorgfältig löschen würden…

 

 

 

Toshizos Vater wurde bei weitem nicht so lange warten gelassen, wie Tanakas Sohn. Das lag aber lediglich daran, dass Takeshi Akaja bereits in seinem Büro war und der Sohn seines Kollegen heilfroh war, als man ihn entließ. Sicherlich war ihm all das nur lästig, wie den Meisten, die keine Zeit für Belanglosigkeiten aufwenden wollten. Umso verblüffter war er, als er Katō zum zweiten Mal heute sprach. Er hatte stets viel zu tun, seine Firma war ihm heiliger als alles andere. Jedenfalls behaupteten viele Menschen das immer. Letztlich wusste nur Katō selbst es ganz genau – keiner von ihnen sollte sich anmaßen, in seinen Kopf schauen zu können.

Er wies ihm den Platz gegenüber und ließ ihm von der Sekretärin etwas Wasser einschenken, bevor er sie darum bat zu gehen.

„Was führt Sie zu mir?“ fragte der Polizeipräsident direkt nach, er hielt sich nicht gern mit Unwichtigem auf. „Wurde Ihr Sohn schon wieder belästigt?!“

„Ach – mein Sohn hat seine Mutter dazu angestiftet, dass sie sogar Ihren Neffen anlügt. Und das alles wegen einem Mädchen.“ Dem nachgesagt gefühlskalten Geschäftsmann entfuhr ein zynisches Lachen, bevor er schnippisch fortfuhr: „Takahashi ist mir ähnlicher und mein Sohn hat dummerweise Angst, ihm alles zu sagen, dabei sollte er das nicht. So ein dummer Junge.“

„Man sollte nicht so von seinem Kind sprechen, nur weil es ein bisschen mehr in Mamas Richtung schlägt. Er möchte seinen Freund eben nicht enttäuschen. Oh, ich kann mir gut vorstellen, was er denkt… Takahashi ist ein sehr wildes Kind, er will zu ihm passen, deswegen denkt er, er muss ihm ähnlich sein. Dabei ist meinem Neffen das alles überhaupt nicht wichtig. Er bevorzugt ihn sogar emotional. Haben Sie Ihrem Sohn denn nicht beigebracht, dass er sich für nichts und niemanden verstellen sollte und ihm das auch nur Nachteile einbringen wird, sollte er es doch versuchen?“

„Doch, eigentlich schon. Aber manchmal ist es klüger mit den Gefühlen hinter dem Berg zu bleiben, er gibt Schutz vor den schlimmsten Stürmen!“

„Ach ja? Dabei sollen Stürme, speziell Gewitter in den Bergen besonders schlimm sein, Katō-san!“

„Sie glauben nicht wie gern ich mich mit Ihnen über so etwas unterhalte, Sie reden niemandem nach dem Mund!“ war Ichiro jetzt direkt, dann legte sich das heitere Gemüt des Mannes und er wurde ernst, so wie man ihn schon eher kannte.

„Und ich dachte, Sie wollen nur hören, was Ihnen gefällt.“

„Ich verachte falsche Menschen! Und schätze Ehrlichkeit. Die bringt einen weiter als Lügen und Intrigen.“

Für einen Mann, der gnadenlos sein Geschäft durchzog, klang das aber äußerst ungewöhnlich, dennoch waren genau die besonders interessant. Menschen waren nie immer und komplett durchschaubar. Weder von Medizinern noch von Möchtegern Wahrsagern.

„Das Problem Ihres Sohnes hat doch nicht rein zufällig mit Okitas Ermordung zu tun? Die Sache hat Sie sehr wütend gemacht.“

„Ich habe diesem Kind den Kontakt zu diesen Leuten untersagt. Ja, ich war wütend, dass sie meinten, sie wären so wichtig, dass ich ihr dreckiges Geld nehme, damit mein Sohn Märchen über seine Freunde erzählt!“

„Dabei nehmen Sie es mit der Wahrheit doch auch nicht immer so genau.“ Vielleicht hätte Takeshi sich auf die Zunge beißen sollen. Aber es fiel ihm schwer, wenn ihm gerade der Schalk im Nacken saß. „Das war sehr unhöflich. Ich weiß. Aber Sie haben doch so geflissentlich verschwiegen, dass Ihr Sohn sehr wohl Geschwister hat.“

„Ach kommen Sie mir doch nicht mit diesen unwichtigen Sachen. Ich tue das zu seinem Schutz. Wie so vieles.“

„Ach ja?“ Welche Art von Schutz sollte das schon sein? Dem Sohn zu verschwiegen, dass er zwei gleichaltrige Geschwister hatte, die sein Vater nur anderen Leuten überlassen hatte.

„Lassen wir das! Es gibt Wichtigeres. Und zwar, dass mein Sohn befürchtet, er hätte Saki-chan retten können.“ Katō seufzte und blickte runter. Takeshi beobachtete dessen Gesichtszüge und egal, was alle sagten, in seinen Augen wirkten diese emotional ergriffen. Aus irgendwelchen Gründen schien ihn das Thema wohl doch zu berühren, was deutlich dafür sprach, dass er schon einmal ähnliche Erfahrungen gemacht hatte, sonst könnte er nicht mitreden. Er war nicht besonders gut darin, sich Dinge vorzustellen, die er nicht mal selbst kannte. Seine Frau war viel besser darin, deswegen war sie auch seine wichtigste Person geworden. Ohne sie wäre die ganze Firma nicht so gut geworden, wie sie es heute war. „Und da kommen Sie zu mir. Warum? Was beschäftigt Sie so sehr, dass Sie sich Hilfe von der Polizei erhoffen?“

„Ich habe es diesem Bengel versprochen. Wenn er brav zur Schule geht, klemme ich mich hinter die Wahrheit. Obwohl ich nichts davon halte, grausame Wahrheiten ans Licht zu bringen, weil sie nur Schaden anrichten. Und ich möchte nicht, dass ihm geschadet wird. Das verstehen Sie doch, nicht? Dennoch halte ich meine Versprechen. Und wer weiß, vielleicht sind Sie gar nicht redewillig? Das könnte ich gut verstehen. Dann werde ich das meinem Sohn auch genau so sagen.“

„Prinzipiell ist mir nicht erlaubt über offene Fälle zu sprechen. Auch mit Ihnen nicht. Es sei denn, es betrifft Sie direkt. Was will Toshi wissen, das ihm schaden könnte?“

„Sein Problem ist, dass er befürchtet, er war zur Tatzeit der Vergewaltigung bei diesen Leuten zu Hause. Er hat wohl Schuldgefühle, dass er ihr nicht geholfen hat.“

„Und Sie wollen das nicht bestätigt wissen, verstehe. Vielleicht sollte ich Ihnen dann auch nichts weiter darüber sagen.“ Takeshi schloss die Augen. Beide verstummten daraufhin, Katō beschwerte sich auch gar nicht. Dennoch war er kein Mensch, der Zeit vergeudete, also musste es mehr geben, was er mit ihm besprechen wollte. „Warum sind Sie sich so sicher, den Schaden, der angerichtet werden könnte, zu kennen?“

„Weil ich es kenne.“

Von einem kalten Kerl erwartete man nicht, dass er jemals Reue gegenüber einer Entscheidung empfand, deswegen sah der Polizeipräsident sein Gegenüber auch ziemlich argwöhnisch an. Es kam einem manchmal fast so vor, als würde Katō jegliche Art von Emotionen verabscheuen. Warum genau? Weil sie einen von Wichtigem abhielten? Dann war er nur halb so kalt, wie seine Familie von ihm glaubte.

„Inwiefern?“

„Ich konnte jemandem nicht helfen, den ich zu meinen engsten Freunden zählte, deswegen.“

„Aber sie sind kein Mensch, der enge Bindungen eingeht. Das widerspricht sich ein bisschen, oder etwa nicht?“

„Das liegt daran, dass es mir schwerfällt, andere Menschen als genauso essenziell wichtig zu empfinden, wie mich selbst. Für mich steht mein Wohl an erster Stelle. Das müssen Sie nicht verstehen, aber so ist es. Dennoch gibt es Menschen, die man sehr gut leiden kann und ohne die man einfach nur halb so viel Freude an seinem Leben hat. Und glauben Sie mir, Freude ist etwas, was ich genauso schwer empfinden kann, wie Liebe.“ Er hatte keinerlei Probleme mit einem korrekten Kerl wie Takahashis Onkel über seine Schwächen und Stärken zu sprechen, weil er sich ihrer nicht schämte und sie sogar als Vorteil ansah. „Sie war meine beste Freundin. Schon als wir Kinder waren. Deswegen weiß ich auch ganz genau, dass Toshizo sich keine so großen Sorgen machen muss. Ich weiß, wie sich Psychopathen verhalten, wenn ihnen Menschen egal sind.“

„Psychopathen… Oh wie ich diesen Modebegriff hasse, mit dem um sich geworfen wird. Die Meisten wissen ja nicht einmal, was es genau bedeutet. Aber Sie wissen es, nicht? Daher sollten Sie sich in Acht nehmen. Takahashi ist weit davon entfernt, ein Psychopath zu sein.“ Sogar Katō schien das anzunehmen, immerhin hatte er sogar gesagt, er sei ihm ähnlicher.

„Sie reagieren wohl ein bisschen empfindlich darauf, wenn man so etwas auch nur im Geringsten denken könnte. Was wäre schon so schlimm daran?“ Wie gesagt, für Katō war das kein Grund zur Scham.

„Sagen Sie Takahashi bitte niemals, wie er auf Sie wirkt. Ob Sie es glauben oder nicht, es würde ihn verletzen, weil er sich immer so viel Mühe gibt, ein guter Mensch zu sein und das Psychopathen eben nicht liegt.“

„Das liegt im Auge des Betrachters. Er ist doch schon ein guter Mensch. Ich verstehe sein Problem nicht. Sollen die Leute doch denken, was sie wollen.“

„So einfach ist das nicht. Tief in sich weiß er, was sein Vater für einer ist und er hat geradezu panische Angst auch so zu werden…“

„Sein Vater ist ein widerlicher Kerl, der lediglich seinen Narzissmus befriedigt und sich nicht mal für den Mangel seines Anstandes schämt! Wie könnte er dem denn jemals ähnlich werden? Das ist nahezu ausgeschlossen.“

„Tja, er hat sich nicht jeder Art von Emotion verschlossen, so wie das bei Ihnen offenbar der Fall ist. Sie haben sich Ihrem Schicksal kampflos ergeben. Weil Sie in Emotionen keinen Nutzen sehen, sie behindern Sie ja nur. Ich sehe das ein bisschen anders, aber es ist Ihre Sache, solange Sie nicht gesetzeswidrig handeln, geht es mich auch rein theoretisch nicht mal was an.“

„Mhm.“ Wieder ergab er sich seinem Schicksal, das fand er auch schlimm. Wie konnte man nur so abstumpfen?

„Diese gute – nein beste Freundin – was ist mit ihr geschehen?“ fragte Takeshi jetzt, so als ahne er, dass dort der Grund begraben lag.

„Sie ist umgebracht worden. Was jammert mein Sohn überhaupt? Saki hat ja schließlich überlebt…“ Nun schloss er die Augen, es wirkte beinahe, als wolle er verhindern, dass man Emotionen in ihnen erkennen konnte, von denen Takeshi schwören könnte, dass sie da waren, aber natürlich wusste er das nicht.

„Seien Sie doch nicht so hart mit dem Jungen. Er war mal in Saki verliebt und vielleicht ist er es immer noch ein bisschen. Würde es Sie da nicht auch traurig machen?“ Aber vielleicht verstand er wirklich nichts von Liebe.

„Die Sache erinnert mich an damals. Daran, als ich selbst mit ein paar Leuten eine enge Bekanntschaft geschlossen hatte – zwei davon habe ich später aus meinem Kreis der Bekannten entfernt. Einfach, weil ich verachte, wie sie sich verhalten haben. Wenn man Menschen schon wirkliche Freunde nennt und ihnen das auch immer wieder hoch und heilig schwört, sollte man es auch so meinen. Er wusste damals, dass ich sie mag und trotzdem hat er sie mir vor der Nase weggeschnappt. Und nicht bloß das. Ein Kind hat er ihr gemacht, das Scheusal, weil ihm das Schicksal von Menschen komplett am Allerwertesten vorbeigeht, er genießt es noch, wenn die anderen leiden. Ich habe noch niemals jemanden mutwillig verletzt, ich bin ein guter Kerl. Es ärgert mich immer maßlos, wenn Leute sich so vorbeinehmen!“

„Klingt nach einem sehr hochmütigen Kerl, dem es einen Kick gibt, wenn er andere ausbooten kann. Kommt mir bekannt vor.“

„Natürlich – sie ermitteln gegen dieses Individuum, was einen Menschen getötet und diverse andere ins Verderben gestürzt hat – und er kommt immer noch damit davon!“

„Um welche Frau handelt es sich? Wenn es sich um einen Mordfall handelt, müsste mir der Fall bekannt sein.“

„Miyako Kajiwara.“

„So. Und ihr Mörder ist der alte Keichiro Takagi.“ Worte, die überzeugend klangen, aber gleichermaßen waren sie frustrierend, weil sein Wissen auf Glauben beruhte, man sich da auch sicher war, aber sie keinerlei Beweise dafür hatten, dass es zutraf, sie dem Kerl also nicht mal was konnten.

„Sie waren also mal mit Takagi befreundet. Das muss Jahrzehnte zurückliegen.“

„Manchmal kommt es mir vor, als sei es gestern gewesen. Er war schon damals unkontrollierbar. Andere benahmen sich artig und er… Ja er hatte Spaß daran, besonders zu sein.“

Takeshi wusste nicht, was er in diesem Moment dazu sagen sollte. Besonders verabscheuungswürdig hätte er passend gefunden. Der Grund für den Mord an dieser Frau konnte doch nur sein, dass er damals keine Kinder wollte. Zum Glück war es Takahashis Vater nicht wichtig, die Sache zu bereinigen. Der war einfach nur abgehauen. Takagi war ganz anders drauf, er brach jegliche Regel, weil er sich für so etwas wie einen Gott hielt. Alle Menschen waren ihm zuwider, ja er war nicht bloß ein Frauen-, sondern ein richtiger Menschenfeind.

„Dieser andere Freund – lassen Sie mich raten, sein Name war Kazuya Miura.“

„Verdammt, genau! Woher wissen Sie das?“

„Die Polizei interessiert sich sehr für Takagi und sein gesamtes Umfeld. Es ist immer wieder erstaunlich, wie einem doch Dinge durch die Lappen gehen können. Ich wusste lediglich, dass Sie zusammen zur Schule gegangen sind. Was für eine Freundschaft das wohl war?“

Man bemerkte am Gesicht des 45-jährigen, wie sehr er diesen Kerl verachtete. Und dabei wusste Katō sicher nicht einmal alles über seinen sogenannten Freund…

„Überhaupt keine. Dieser Mistkerl weiß nicht, was das überhaupt bedeutet. Trotzdem ist dieser Miura ihm bis heute total hörig. Es scheint ihm völlig gleichgültig zu sein, was er tut. Angeblich sind beide nach Amerika zum FBI gegangen. Da kann der Soziopath ja nach Herzenslaune morden.“

„Katō-san!“ Takeshi klang, als sei er schockiert von den Worten, tatsächlich war er es kein bisschen. Ein gefühlsarmer Mensch wie Toshizos Vater verfiel in Wut, wenn es um diesen Kerl ging, weil seine Verachtung so immens war, dass er sie nicht verbergen konnte. Sie war so mächtig, dass sogar in ihm Gefühle hochkochten.

„So ein elender Waschlappen!“ Und dann schlug seine Faust sogar auf den Tisch. Sein Sohn sollte nicht mal ansatzweise so ein Waschlappen und Mistkerl werden, der anderen so nach dem Maul redete, wie Miura. Zudem hatte er seine kleine Familie einfach verlassen und vergnügte sich in einem Land, in dem keine Sitte und Ordnung zu finden war, wie er fand. Mit Frauen, die einem Japaner nicht würdig waren – an seiner Stelle würde er sich ja in Grund und Boden schämen, wäre er so gewesen. Schon damals in der Schule hatte er sich mehr für Bücher und die Schule interessiert als für irgendwelche Kicks und Sex. Die anderen beiden hatten es bereits mit 14 wie wild getrieben, so dass man beinahe Angst haben musste, ihre Mutter zu sein. Oder die der Mädchen, die es mit den Kerlen trieben. Er hatte nur einmal gewagt den Mund aufzumachen. Und beiden gesagt, dass er es nicht gut fand, Frauen als Matratzen zu missbrauchen, die keine Rechte hatten und wie nannte Takagi es noch: Freischießen macht aber am meisten Spaß. Es gab ihm ein geiles Gefühl, wenn eine Frau bereit war, so weit zu gehen, dass sie riskierte, ein Kind zu bekommen. Nie im Leben hätte er gedacht, dass der Typ seine Cousine auch so behandelte. Sie gehörte zur Familie, da sollte er wenigstens aufpassen. Aber nein. Er wusste erst, dass die beiden zusammen waren, als sie ihm sagte, dass sie im vierten Monat war.

Er war immer mit Lernen beschäftigt, um später einmal ein guter Ehemann sein zu können. Frauen mochten keine armen Schlucker. Er würde eine gute Frau bekommen und mit ihr eine Familie gründen. Jemand wie er hatte genaue Vorstellungen. Und er nahm nicht irgendwen. Als sie ihm das gesagt hatte und dabei lächelte – weil sie sich auf das Kind freute – wusste er, dass mit ihm etwas nicht stimmen konnte. Er hatte auch so viel gelernt, damit sie beide später ein schönes Leben haben konnten. Alles umsonst. Jetzt würde sie einen anderen ehelichen und ihn vergessen – weil das eben so war. Und der Typ lachte ihn noch aus, als er ihm gesagt hatte, sie ja anständig zu behandeln, weil sie ein Kind von ihm erwartete. Vielleicht war das naiv und dumm. Weil er nicht glaubte, dass dieser Kerl so krank im Schädel war, dass er sich nicht mal freuen würde. Alles andere als das.

Takeshi bemerkte die wilden Gedanken, die Katō haben musste. Er sah irgendwie aus, als hätte er einen Geist gesehen. Leichter Schweiß war in sein Gesicht getreten.

Dieser perverse Bastard hatte ihm diverse Dinge erzählt, wie gut es sich anfühlte, wie geil er es fand, mit ihr rumzumachen. So sehr, dass es ihn angewidert hatte. Er war ihm haushoch überlegen – dachte er damals. Weil sein bescheuerter Freund ihm sowieso immer beistehen würde. Er war so etwas wie das fünfte Rad am Wagen – sie waren zu viert und er hatte nie wirklich dazu gehört, weil er bei weitem nicht so geistesgestört war, wie er. All die Bilder von den Situationen, in denen er den Schikanen Takagis ausgesetzt war, pflügten durch seinen Kopf. Und er hatte geglaubt, dass er all das vergessen hatte. „Ich weiß genau, dass er sie getötet hat. Weil sie ihm nicht gehorcht hat. So ticken Typen wie wir, nur dass ich nie im Leben einen anderen Menschen töten würde. Der Mensch soll nicht töten… Leider juckt das die Meisten nicht, sie tun es trotzdem.“

„Wieso glauben Sie das so genau zu wissen?“

„Er hat es mit ihr getrieben, bis sie im achten Monat das Kind bekommen hat und hat dann versucht das Mädchen nachts im Schlaf zu ersticken, weil er es nicht wollte. Sie hat ihn dabei erwischt und sich gewehrt. Sein Bruder Saturo hat mir erzählt, dass es sich ganz sicher so zugetragen hat, denn sein Bruder will nicht für ein Kind aufkommen. Der hat Wichtigeres mit seinem Geld vor!“ Aus seinem Bruder war wenigstens etwas geworden, er hatte sich etwas aufgebaut, ohne auch nur einmal an Mord zu denken. Takagi würde alles für Macht tun, dem war jegliche Menschlichkeit fremd.

„Bestimmt hat es Keichiro gewurmt, dass sie das Kind bekommen wollte – auch wenn er sich nicht in eine Ehe drängen lässt. Ich hatte mir damals schon überlegt, wie ich ihr helfen kann, um sie zu beschützen. War es denn wirklich nötig sie zu töten? Der Kerl kennt keine Ehre. Er ist schlimmer als der Teufel!“

„Da gebe ich Ihnen Recht und ich verspreche Ihnen, dass ich alles daransetzen werde, damit ihm seine gerechte Strafe zuteil kommt. Jedenfalls sollte er jemals wieder japanischen Boden betreten! Leider besitzt er ja nun die amerikanische Staatsbürgerschaft und sie sehen keinen Grund ihn auszuliefern. Ist ihnen wohl sehr von Nutzen. Tja, vielleicht ist er seinem Freund Miura ja tatsächlich zum FBI gefolgt. Wer weiß, was er dort gerade tut?“

Toshizos Vater nickte, offensichtlich vertraute er ihm, das konnte er auch. Man durfte das ja nicht sagen, aber Takagi hatte wahnsinniges Glück, dass Katō sich im Griff hatte – Takahashi hätte es bestimmt nicht. Der würde keinen davonkommen lassen, der seinen Freunden wehtat oder sie gar wagte umzubringen – der würde explodieren vor alles vernichtender Wut, wie eine Atombombe. Und er würde gewiss nicht warten, bis andere etwas taten, sondern selbst handeln.

 

 

Die Schritte waren kaum eindeutiger zu vernehmen. Jemand kam wohl auf den letzten Drücker. Nichts neues – es gab immer Pennsocken, die es nicht aus dem Bett schafften und den Bus oder Zug – je nachdem, wo man wohnte – gerade so oder nur knapp nicht erreichten.

Zu seiner Verwunderung waren Ryochi und Sêiichî allerdings gerade eingestiegen, so dass er den Blick schweifen ließ und nicht schlecht staunte. Dieser Junge rannte wie der Teufel und er blieb in der Einstiegstür wie angewurzelt stehen. Da warf ihm der Busfahrer schon einen bösen Blick zu und als er die Tür vor seiner Nase schließen wollte, streckte er den Arm aus, der die Tür blockieren sollte.

„Spinnst du, Junge? Da kann wer weiß was passieren?!“

„Aber da kommt noch jemand“, meinte der Braunhaarige. Am liebsten wollte der Fahrer ihn anbrüllen – immer diese elende Korrektheit.

„Es ist Zeit! Einsteigen oder draußen bleiben“, meinte er laut.

„Dreißig Sekunden können Sie jawohl warten!“ gab der 18-jährige selbst nun etwas lauter von sich, so dass ein paar Jungs, die recht weit hinten im Bus saßen, sich ansahen und den Kopf schüttelten.

„Ist wohl mit dem falschen Fuß zuerst aufgestanden, was?“ machte man sich lustig.

„Ach du weißt doch, dass das bei dem voll egal ist. Der tickt doch immer wegen Kleinigkeiten aus…“

„Muss er sich mit dem Busfahrer anlegen? Sitzt am längeren Hebel – ist eben erwachsen…“

„Von der Klügere gibt nach hat Taka wohl noch nie gehört, was?“ lachte Kenji und erntete einen leicht giftigen Blick seitens Ryochi.

„Das sagen gerade die Richtigen.“

Die kleine Jungengruppe war viel schlimmer. Es verging fast kein Tag, an dem sie sich nicht stritten oder gar prügelten.

Zwar blieb die Tür offen, aber kurz bevor der Schwarzhaarige den Bus erreichte, stieg Takahashi ein und das, ohne ein Wort zu sagen. Toshizo keuchte schwer und ging gerade bis zu der ersten Treppe, kurz darauf schloss sich die Tür.

„Bist wohl nicht aus dem Bett gekommen, was, Kleiner?“ fragte ihn der Busfahrer jetzt auch leicht gehässig und er sah auf – sah der nicht, dass er kaum Luft bekam?

„Entschuldigung“, meinte er und rannte dann seinem Freund hinterher, der schnurstracks zu der kleinen Gruppe lief, die er neuerdings seine Freunde nannte – nur weil er so blöd gewesen war, es auch zu tun.

„Guten Morgen“, sagte er zu der kleinen Personengruppe. Toshizo blieb stehen und wunderte sich doch sehr, als sein bester Freund ihm keinen Platz freihielt und sich einfach zu anderen Leuten setzte. Da beschleunigte sein Schritt.

Der Dunkelbraunhaarige hatte Sêiichîs Schultasche einfach über ihn geschmissen und sich neben ihn gesetzt. Wenn Blicke töten könnten – es war ihm wohl nicht so besonders recht, dass er ihm zu nahekam – armer Kerl. Dabei tat er das nicht seinetwegen. Wie Ryochi auch gleich darauf erkennen konnte, als sein Cousin sich quersetzte und den Kopf zu ihnen drehte.

„Morgen“, sagte man ihm im Chor und er legte die Unterarme schließlich auf dem Sitz ab.

„Und, schon aufgeregt wegen des Spiels, Shina?“ sprach er explizit die Freundin seines Cousins an, würdigte Sêiichî nicht eines Blickes und Ryochi schien auch nicht wirklich da zu sein. Jedenfalls war es ihm ganz egal, dass er neben seiner Freundin saß, er quatschte sie trotzdem dreist an.

Mittlerweile hatte es auch Toshizo zu ihnen geschafft. Er blieb – widerwillig direkt vor Takahashi und Sêiichî stehen. Zweiterer sah aus dem Fenster, nur so konnte er die Beiden ignorieren.

Ryochi packte eins seiner Schulbücher aus und hielt es sich passend vor die Nase, damit er ihn nicht sehen musste. Ihm hätte nur noch Kōji gefehlt, aber der war nicht zur Haltestelle gekommen. Traurig war er nicht wirklich.

„Ey, Katō, neben mir ist ein Platz frei!“ hörten sie dann und dieser ignorierte den Jungen völlig.

„Bist du taub? Blödmann, ich hab gesagt, da ist ein Platz frei.“

„Ich steh lieber.“

„Was hast du da gesagt?“ fragte Kenji gereizt und nahm ihn an der Schulter.

„Dass ich lieber stehen will.“

„Erstaunlich – mit Grippe…“ Es war lediglich von Takahashi gemurmelt, in den nicht vorhandenen Bart genuschelt.

„Grippe? Wieso denn Grippe? Soll das heißen, du bist ansteckend?“

Ryochi beobachtete die Jungs. Da war ganz gewaltig etwas faul. Dass sein Cousin ihn und Sêiichî ignorierte, verstand er gerade noch so – auch, dass er das mit der Gruppe rechts neben ihnen tat, weil sie sich gezofft hatten, aber nicht Toshizo.

„Genau, Kenji, ich bin ansteckend, also besser, wenn ich stehe.“

„Bist halt eine Mimose, kein Wunder, dass du die Grippe kriegst.“

Sêiichî stöhnte, bei dem dummen Gerede, dann holte er sich den MP3-Player raus und steckte sich Stöpsel in die Ohren. Er ertrug den dummen Schmus, den sie von sich gaben, nicht am frühen Morgen.

„Wie ihr meint“, sagte Toshizo – versuchend die Idioten zu ignorieren, die er angeschleppt hatte. Die wollten etwas aus seinem besten Freund machen, was er nicht sein wollte, also sollte man sich ganz weit weg von denen bewegen…

„Bist sogar zu feige, dich zu wehren, hue?“

Verdammte Scheiße. Er hatte schlechte Laune, er wollte seine Ruhe haben, aber wenn… Takahashi versuchte es zu ignorieren, so wie Toshi. Er war absolut nicht gut darin, Idioten zu ignorieren, das hatte schon in Kyoto nie funktioniert.

„Lasst mich einfach in Ruhe!“ sagte der Junge und streckte den Kopf vor Takahashis. Der sah hoch, direkt in sein Gesicht.

„Bist aber schnell wieder gesund geworden, was?“ Die kleine Spitze hatte er verdient, man belog seine Freunde nicht.

Der Junge beugte sich runter zu ihm und flüsterte ihm anschließend nur zu, was er zu sagen hatte, damit es nicht alle mitkriegten: „Ich hab mich nicht nach Schule gefühlt.“

„Hättest du mir sagen können, statt deine Mutter vorzuschicken!“ Ja, er war sauer – zurecht fand er. Leider sagte er es wohl ein bisschen zu laut.

„Oh, dein Tak ist böse mit dir. Oh du Armer… Ist eben ein egoistischer kleiner Dreckskerl.“

„Was hast du da gesagt, Kenji?“

„Dass DU ein egoistischer kleiner Dreckskerl bist.“

Der Grünäugige begann laut zu lachen, drehte den Kopf und schaute ihn dann fies an. „Aha. ICH bin also egoistisch und ein Drecksack? Dann bist du ein abartiges Narzissten-Schwein. Mimimi – Takahashi beansprucht alle Miezen für sich allein – mimimimi – er will seine Freundin nicht mit mir teilen. Buhuhuhu, ich bin doch der Anführer. Flenn doch!“

„Leute, müsst ihr euch schon so früh am Morgen streiten?“ fragte Shina, die eindeutig erkannte, dass Takahashi sowieso keine gute Laune hatte, da irgendwas zwischen ihm und Toshi nicht stimmte, von anderen Dingen ganz zu schweigen und die provozierten den noch.  

Die hatten nicht das geringste Mitgefühl für ihr Umfeld. Jetzt drehte sich Toshizo zu Kenji herum. „Du hast nicht das Recht sauer zu sein. Es war seine Freundin, die mit dir ins Bett gesprungen ist.“

„Klar, als wüsste ich nicht, dass er deswegen irgendwelche Tussen anschleppt, um sie vor mir zu ficken.“

„Oh bitte… Könnt ihr euch nicht benehmen?“ Sie schämte sich, immerhin waren das ihre Klassenkameraden.

„Oh, vielleicht hätte ich‘s bei dir versuchen sollen… dann hätte er sicher ne Mordklage am Hals.“

„Es reicht jetzt, Kenji! Als ob du Chancen bei ihr hättest!“ maulte Ryochi den dunkelbraun gebrannten Jungen an. Das machte ihn jetzt echt sauer – von Takahashi wollte er gar nicht sprechen, der platzte vermutlich jeden Moment. Ein falsches Wort reichte manchmal.

„Ist mir eh egal, Akaja. Ich bin nicht so gefühlsduselig. Das kann Toshi besser. Wisst ihr, er hat wie ein Mädchen geflennt, als Riina ihm mit einer Anzeige gedroht hat, dabei ist doch überhaupt nichts passiert. So eine Mimose.“

Um die Anzeige war es dabei wohl kaum gegangen.

Kenji nahm seine Hand und wuschelte Toshizo wild durch die Haare. Eigentlich hatte Takahashi vor, noch ein bisschen beleidigt zu sein, damit Toshizo es verstand, dass er nicht belogen werden wollte – aber als sie ihm die Frisur ruinierten und gleich zu dritt anfingen ihn zu piesacken, indem sie ihm ins Gesicht schlugen, sprang er auf und verpasste Kenji ohne Vorwarnung eine. Er schubste Toshizo zu Sêiichî auf den Platz und ging auf die Typen los.

„Ich hab euch gesagt, ihr sollt ihn nicht nochmal anfassen, ihr Arschgeigen!“

Nun sprang auch Ryochi auf und umklammerte seinen Cousin von hinten. „Das bringt doch nichts! Hör auf damit!“ hörte er ihn.

„Aber eine andere Sprache verstehen die nicht!“

„Halt dein Maul, Arschloch, sonst sagen wir deiner Mutter, was du sonst noch so getrieben hast, als du hackedicht warst!“

Der Junge bekam große Augen, so erschrocken war er von der Aussage, dann knurrte er wütend. „Halt dein Maul, oder ich bring dich um! Du hast mir doch das Zeug untergejubelt!“

„War echt witzig man“, lachte er, wich erneut einem Schlag aus, da Ryochi auch dazwischenfunkte, war es besonders leicht. Doch dann riss sich Takahashi los und schlug ihm so fest die Faust über, dass er mit einem Aufschrei zu Boden ging. Noch, als er zu Boden ging schlug er weiter auf ihn ein. Ryochi versuchte zwar sein Bestes, aber letztendlich schafften sie es erst zu dritt. Und zwar als Shina und Toshizo ihn auch noch festhielten und von Kenji wegzerrten. Kurz schwankten sie etwas, da der Bus eine Kurve fuhr, dann jedoch bremste er auch noch scharf und sie wurden nach vorne befördert.

Ihre  Parallelklasse versuchte es zu ignorieren, doch ein paar Wenige schimpften leise vor sich hin, weil sie noch Hausaufgaben machten, die sie gestern nicht mehr geschafft hatten und ihnen das Heft bei der Bremsung verschmiert wurde. „Muss das denn sein“, hörte man ein Mädchen, gefolgt von einem Jungen, der genervt stöhnte. „Können die sich nicht leise streiten und mit Prügeln bis zur Schule warten?“

„Seit wann plant man Prügel überhaupt?“ Der Hellbraunhaarige mit dickem Schal schaute dabei in sein Buch – der absolute Streber, immer zurückhaltend und nett. Er hätte sich wohl nie geprügelt. Manche fragten sich, ob der überhaupt Gefühle hatte, wo ihn absolut gar nichts seiner Laune berauben konnte…

Der Busfahrer drehte den Kopf zu den Jugendlichen. „Entweder ihr benehmt euch jetzt, oder ich werfe euch alle raus!“

„Wer ist denn alle?“ fragte Toshizo total verstört.

„Ihr alle, die ihr aufgestanden seid! Setzt euch wieder auf eure Plätze!“

„Da kann Tak ja gleich auf Shinas Schoß Platz nehmen, wenn alle sich setzen sollen“, klopfte ein Junge namens Yuki direkt blöde Sprüche, dasah sie ihn vernichtend an.

„Ihr habt wohl zu heiß gebadet!“

„Was denn? Er hat doch als Erster Ärger gemacht!“

„Ach ja?“ fragte die Detektivin verärgert. „Dann kennst du Kenji nicht!“

„Der traut sich wenigstens nicht bloß im Suff, nem Mädel einen Besuch abzustatten!“

Toshizo ging zu dem frechen Kerl und haute ihm eine runter.

„Bahahaha, schlagen wie’n Mädchen tut er auch“, lachte Hajime, Kenji hatte leider weniger zu lachen, der hielt sich den Kiefer.

„Ey, der kleine Psycho hat mir den Kiefer gebrochen, ich brauch nen Arzt…“

„Du warst der Psycho, der sich nen Spaß draus gemacht hat, ihn abzufüllen!“ schrie ihn Toshizo an, da reichte es dem Busfahrer.

„So ihr zwei Streithammel!“ Er nahm sich zum einen Toshizo und dann Takahashi und zerrte sie Richtung Ausgang. „Ich hab euch gewarnt!“ Er gab Takahashi kräftig eine gegen den Kopf, dann Toshizo.

„Eure Mütter haben euch wohl nicht erzogen!“ Das war der Moment, wo Takahashi ganz stumm wurde, sich verbeugte und eine Entschuldigung stammelte. „Entschuldigen Sie, kommt nicht mehr vor.“

„Strafe muss sein! Wird Zeit, dass ihr zur Schule lauft! Und jetzt raus hier!“

Sie wurden allen Ernstes aus dem Bus geschmissen. Er konnte die Beiden sowieso nicht leiden. Bestimmt dachten das viele.

„Man, was für eine Laune… Und das schon so früh“, seufzte Shina, die sich zurück auf ihren Platz setzte, ebenso wie ihr Freund.

„Geht eben nicht ohne Eskapaden, wenn Hitzköpfe aufeinanderstoßen. Hättest Kyoto mal erleben sollen…. Bestimmt is‘ Sêiichî gerade froh, dass er‘s diesmal nicht war“, lachte er. Sêiichî sah Ryochi mit Halbmondaugen an. „Ich fands nicht witzig, hatte ich nicht verdient…“ Er konnte nicht eindeutiger schmollen.

„Von wem hat er denn Prügel bekommen? Von deinem Cousin etwa?“ wollte Shina mit einem neugierigen Ton wissen.

„Oh ja – und dass er es nicht verdiente, kann man dabei wirklich nicht sagen. Sauber benommen hat er sich auch nicht gerade. Andere aber auch nicht.“ Eigentlich wollte er keine dreckige Wäsche waschen, schon gar nicht die der anderen, aber wenn sie fragte. Da fiel ihm etwas ein. „Frag doch Sêiichî, vielleicht erzählt er es dir, dann kann er sich nochmal dafür schämen.“

„Danach kann sie mich nicht mehr leiden, Ryo“, meinte er.

„Ach, Menschen machen Fehler, sie sollten sie sich nur eingestehen können und wenn sie etwas falsch machen, sich auch dafür entschuldigen.“

„Mhm“, meinte der Schwarzhaarige bekümmert. Unter Garantie war es keine harmlose Sache gewesen.

„Warum hasst ihr Takahashi eigentlich so?“ fragte Sêiichî Kenji, der immer noch kräftig jammerte. Ihm war alles lieber als die Geschichte von damals aufzuwärmen.

„Soll das nen Witz sein? Weil er nen Bastard ist.“

„Warum frage ich überhaupt? Wo es keinen Grund gibt, sucht man sich welche“,

sagte Sêiichî dazu nur. Für ihn war: Er ist ein Bastard jedenfalls alles andere als eine gute Erklärung. „Kein Wunder, dass er fuchsteufelswild wird. Bestimmt haben die ihm auch gesagt, dass er ein Bastard ist.“

„Bestimmt bereut seine Mutter schon längst, dass sie ihn bekommen hat.“

„Man sollte die Klappe halten, wenn man keine Ahnung hat!“ meinte Ryochi äußerst untypisch für seinen Charakter sehr verstimmt. Wie konnten sie wagen, so etwas auszusprechen? Das war unter aller Kanone.

„Was denn? Meine Eltern haben geheiratet.“

„Ihr Glück.“ Mehr als Glück war es schließlich nicht. „Und jetzt will ich nichts mehr hören, sonst sage ich dem Busfahrer, dass euch Laufen auch guttun würde.“ Schlimm genug, dass er die nicht rausgeworfen hatte. Und woran lag das? Der Kerl mochte Takahashi nicht – aus verdammt dummen Gründen, die leider dem Grund für Kenjis Hass sehr ähnlich kamen. Seine Mutter war alleinerziehend und deswegen musste man sowohl sie als auch ihr missratenes Kind natürlich verabscheuen.

 

 

„Warum hast du mich angelogen? Du weißt, dass ich Lügner nicht leiden kann.“ Man sollte Dinge klären, bevor sie eskalierten. Schweigend neben ihm herlaufen, fand er eben auch irgendwie doof.

„Weil ich dich nicht mit meinen Wehwehchen belästigen wollte.“

„Was soll das denn heißen?“ Ihm schien das offenbar nicht logisch zu sein. Sein Freund hatte ihn noch nie mit irgendetwas belästigt und was meinte er mit Wehwehchen? Er hatte sich immer davor gefürchtet, dass der Unterschied zwischen ihnen irgendwann eine Barriere zwischen ihnen bilden würde. Toshizo konnte ihm alles sagen, egal wie abgefuckt es im ersten Moment auch wirkte. Oder wie hypersensibel. Sah er denn wirklich einen derartig eiskalten Mistkerl in ihm, dass er glaubte, alles, was übertrieben gefühlsduselig wirken könnte, würde ihn nerven?

„Es verletzt mich, dass du so von mir denkst“, sagte er. Dabei sah er zwar nicht wirklich verletzt aus, höchstens ein bisschen geknickt, aber ihm war Vertrauen wichtig. Wenn man schon keinem Mädchen vertrauen konnte, dann sollte man es wenigstens den gegenüber können, die man Freunde nannte – oder etwa nicht?

„Was?“ Natürlich verwunderte Toshizo das. „Aber genau das wollte ich damit doch nicht. Ich war depressiv. Davon verstehst du nichts, oder?“

„Oh je“, sagte Takahashi dazu nur. „Meinst du, ja? Zum Arschloch zu mutieren kann einen auch deprimieren. Ich hab im Suff Shina fast vergewaltigt und sie in den Spiegel geschubst. Glaubst du, danach war ich nicht depressiv? Ich hab mich scheiße gefühlt.“

Es passte einfach zu gut. Toshizo senkte den Kopf. „Ich war vermutlich kurz vor Okitas Tod bei Saki“, meinte er, dann kniff er die Augen zu. „Was, wenn sie deswegen im Krankenhaus ist?“

„Du weißt es nicht. Am besten machst du dir darum keine Gedanken. Ich mache mich auch nie verrückt, wenn ich etwas befürchte! Kann ich noch machen, wenn ich es wirklich weiß. Mhm?“

„Wie meinst du das?“

„Na, wer weiß, was Saki hat? Am Ende ist sie auch meinetwegen im Krankenhaus?“

„…“ Toshizo sah ihn rätselnd und dann tieftraurig an. ‚Du meinst, du hast sie geschwängert. Und was, wenn sie genau deswegen so lange dort liegt? Weil ihr etwas passiert ist…?‘ Sie waren sich schließlich einig. Ihr war bestimmt etwas zugestoßen.

„Weißt du, was ich glaube?“

„Mhm?“

„Dass Shizu Kenji gegen dich aufgestachelt hat. Also, dass sie noch ein bisschen nachgeholfen hat. Der will dich nämlich verprügeln und wenn ich mich einmische, krieg ich‘s auch ab.“

„Ach was, du mischst dich da nicht ein.“

„Bist du bescheuert?“ Toshizo schlug ihm gegen den Hinterkopf. „Glaubst du ein Typ wie er legt sich allein mit dir an? Von wegen, der zieht Hajime da auch mit rein. Die sind stinkesauer, weil ich dir helfen würde.“

„Dann solltest du das vielleicht nicht tun…?“

„Aber du bist mein bester Freund. Ich schau doch nicht zu, wenn die auf dich losgehen. Also wenn die was machen, bin ich dabei! Und zwar an deiner Seite, wo ich hingehöre!“ Er nahm seine Hand und klatschte mit ihm ab.

„Es tut gut, einen Freund zu haben, von dem man weiß, dass er einem immer beistehen würde. Glaub mir, so etwas findet man nur sehr selten. Egal, was andere sagen, bitte vertrau mir auch.“

„Was ist mit dir denn heute los?“

„Ich hab keinen guten Tag erwischt, das stimmt.“ Andere merkten das vielleicht nicht, sein bester Freund jedoch immer – und Ryochi oder Shina. Das lag an ihren Wesenszügen. An Dingen, von denen er einfach keine Ahnung zu haben schien. Er bewunderte Menschen, die immer wussten, was richtig und was falsch war.

„Weißt du was? Ich würd dich voll anfeuern, wenn du Hajime mal eine schmieren würdest. Der wär von den Socken und würde zu Kenji rennen – dann kann er mal vor seiner eigenen Tür kehren. Dem sage ich dann auch mal, dass er ne Mimose ist… Nur, weil du keinen Ärger willst und dich zusammenreißt.“ Die waren Toshizo eben nicht mal das wert. Bei Sêiichî scheute er kein Feuer, gegen den hätte er sich gewehrt. Schlimmer, auf den ging er sogar los. Es gefiel ihm nicht, dass sein bester Freund sich von Kenji und Hajime so ärgern ließ und nicht mal zurückhaute. Aber kaum sagten sie etwas Blödes, haute er denen eine runter. Manchmal verstand er das echt nicht.

„Warum hast du Hajime eigentlich eine geknallt? Hat ja nur gesagt, was er gedacht hat.“

„Keiner beleidigt meine Freunde!“ sagte Toshizo erbost. „Er hat dich indirekt als nen Feigling hin gestellt. Konnte ich nicht unbeantwortet lassen.“

„Aber das war doch voll unnötig, lass ihn doch reden.“ Teils stimmte es ja sogar. Auch wenn er so mutig gar nicht sein wollte, um sich ohne SUFF so aufzuführen.

„Das kann ich nicht… Weil ich dich lieb hab.“

„Herrje, man sagt keinem Jungen, dass man ihn lieb hat. Kein Wunder, dass sie dich ärgern. Sei froh, dass ich nicht so bin.“ Takahashi haute ihm gegen die Schulter und grinste dabei leicht fies. Aber es war trotzdem irgendwie niedlich gewesen. Die anderen würden ihn wegen so etwas leider noch mehr piesacken. Sein bester Freund hatte viel getan, um denen zu ähneln – warum? Er war doch so wie er war viel liebenswerter. Die Knallköpfe waren ganz dämliche Vorbilder. So wie die sich benahmen, würden die eines Tages wirkliche Straftaten begehen – dabei erwartete man das von ganz anderen Personen.

 

 

Kenichi blickte auf die Uhr. Gleich würde der Facharzt aus der Psychiatrischen Klinik in Kyoto hier sein und er hoffte wirklich zutiefst, dass er mehr taugte als die, die er bisher kennengelernt hatte. Drei kannte er bisher, einer davon war eine Frau und die machte ihm mal wieder klar, dass psychische Spielchen schlimmer sein konnten als die brutalsten Schläge. Gerade Frauen gingen über die emotionale Ebene und hinterließen die schlimmsten seelischen Verletzungen, kein Mann schien das so hervorragend zu schaffen. In dieser Organisation gab es Dutzende, die nicht ganz tickten, aber er fürchtete nicht die Männer, die einem Gewalt androhten. Yohko Iwamoto zum Beispiel brachte Schlimmeres fertig, als jemandem das Leben zu nehmen. Schlimmer war, wenn man überlebte, so wie nun Saki. Vor ihr gab es zahlreiche Menschen, denen es genauso ergangen war. Kinder, die aus dem Mutterleib geholt wurden, nur damit sie mit ihnen forschen konnte. Es wurden Abtreibungen versprochen, aber nicht korrekt durchgeführt – jedenfalls hätte er das so genannt, wenn man das lebende Kind einfach nahm und es für seine Zwecke benutzte, ohne dass die Mütter es erfuhren. Für ihn war zwar erleichternd zu erfahren, dass es tot war, für die Betroffene jedoch nicht.

Wenig später wurde er durch ein Klopfen aus seinen Gedanken gerissen und rief „Herein!“, daraufhin öffnete man die Tür und ein Mann mittleren Alters trat ein.

„Doktor Ashida, ich grüße Sie“, meinte er freundlich – na hoffentlich hielt er auch, was er versprach. Er drehte sich zu ihm herum, streckte ihm die Hand hin und deutete ihm den Platz vor sich.

„Schön, Sie kennenzulernen“, spulte der Mediziner die üblichen Höflichkeitsfloskeln ab, er war geübt, ihm Schleimen. „Hatten Sie eine einigermaßen angenehme Anfahrt?“

„Wie man’s nimmt. Ich hasse das Reisen. Ich bin gerne in meinem Wohnort.“

„Verstehe. Ja, der Umzug von Kyoto in eine Millionenmetropole wie Tokyo ist mir auch nicht so leicht gefallen – aber naja – Hab eine Weile in Amerika gelebt, da war es dann nicht ganz so übel.“

„Oh, wirklich? Wo haben Sie denn genau gelebt?“ Es kam selten vor, dass ein Arzt sich für lockeren Plausch tatsächlich die Zeit nahm. Er schien ein sehr netter Kerl zu sein. Freundlich, gelassen, aber auch ungemein jung, aber vielleicht täuschte das auch.

„Los Angeles, Detroit, Honolulu. Ich bin viel rumgekommen in meinem jungen Leben.“ Er lächelte zaghaft. Man hatte ihn von einer Stadt in die nächste geschleift, nur damit keiner ihn finden konnte – das war die Wahrheit.

„Mögen Sie Amerika?“

„Manchmal mehr als Japan, ja. Zwar neigen Amerikaner zu wütenden Anfällen, aber das ist mir lieber als die eisige Kälte, die man hier so bekommt.“

„Aber Sie wirken gar nicht so, als wären sie besonders impulsiv.“

„Ich würde mich eher als besonders empathisch bezeichnen. Was würden Sie von sich behaupten?“

„Stellen Sie jedem diese Fragen, mit dem Sie arbeiten möchten?“

‚Nein! Aber Leuten, wie Ihnen schon. Psychiatern kann man einfach nicht trauen. Sie denken immer, sie wissen es besser. Hoffentlich taugen Sie wenigstens etwas auf dem Gebiet.‘ Kenichi schüttelte den Kopf. „Nein, das tue ich, wenn es mich bei einer Person interessiert.“

„Sie wollten über eine meiner ehemaligen Patienten reden. Vielleicht sollten wir also keine weitere Zeit vergeuden.“

Schon in diesem Moment heimste er viele Minuspunkte ein. Er konnte Menschen, die sich keine Zeit ließen, nicht ausstehen. So passierten die meisten medizinischen Fehler, in Hektik.

„Ja, ich hatte den Arztbrief gelesen und hätte ein paar Fragen an Sie.“

„Was stimmt nicht mit dem Arztbrief?“

„Natürlich bin ich ein Laie in Sachen Psychiatrie, aber – mich haben die Worte ‚dissoziale Persönlichkeitsstörung‘ sehr beunruhigt. Sie ist nicht einmal achtzehn. So weit ich weiß, ist es nicht erlaubt, bei Jugendlichen so eine Störung zu diagnostizieren. Wieso steht es trotzdem in der Patientenakte?“

Dieser junge Kerl ließ wohl keinerlei Kompromisse zu.

„Was wäre Ihnen lieber, Ashida-san? Psychopathin? Soziopathin? Narzisstin? Um einige Ausdrücke zu benutzen, die Menschen noch viel mehr stigmatisieren als eine schwammige Aussage, welche Probleme sie wohl hat.“

„Ach, die da wären? Wissen Sie – Die Störung kann alles bedeuten. Wie stark ausgeprägt ist sie denn? Muss man befürchten, dass sie jemanden umbringt?“

„Nein, dafür ist sie zu intelligent“, antwortete der Psychiater, das ließ Kenichi langsam mit dem Kopf nicken. „Ihre Gewalt ist verbaler Natur. Aber es kommt durchaus vor, dass sie die Fensterscheibe einschlägt, das Gedeck vom Tisch wirft, oder die Mutter ohrfeigt.“

„Tja, wer weiß, was die Mutter ihr getan hat?“ Kenichi konnte es sich nicht verkneifen, er kannte zu viele verkorkste Mütter, die ihre Kinder kaputtmachten, nur leider wehrten die sich nur sehr selten gegen ihre herrischen Eltern.

„Ein Mädchen sollte sich nicht so aufführen. Aber sie kann es nicht abstellen. Sie will Aufmerksamkeit. Wenn sie diese nicht bekommt, rastet sie aus. In unserer Klinik hat sie alle auf Trab gehalten. Sie war alles, nur nicht artig.“

‚Sind jetzt alle nicht artigen Kinder kleine Psychopathen? Nett, dann bin ich auch einer.‘

„Ich war auch nicht artig. Meine Eltern haben mich aber auch nicht misshandelt, wenn ich es nicht war. Nicht, dass sie nie streng waren, aber ich finde, ein liebevolles Umfeld kann vieles heilen. Nicht?“

Womit hatte er es hier zu tun? Mit einem Weltverbesserer? Na hoffentlich wusste er, dass die ein kurzes Leben, oder zumindest kein schönes Leben hatten.

„Wenn ein knapp dreizehnjähriges Mädchen in einer psychiatrischen Einrichtung aus dem Zimmer türmt, um einen labilen Jungen im Zimmer nebenan zu besuchen und sich dann noch zu ihm ins Bett legt, finden Sie das normal? Das sind eindeutige Indizien dafür, dass sie unkontrolliert ist und keinerlei Empathie besitzt, wenn sie nicht einmal bemerkt, wie unwohl ihm dabei ist. Oder ihn fragt, warum er Angst hat. Sie ist auf ihn draufgestiegen, Ashida-san! Er hatte panische Angst, dass sie ihn nötigen würde.“

„Ja, es gibt Jungs, die kleine Schisser sind.“ Kenichi musste lachen. Er hätte es amüsant gefunden, wenn ein Mädchen sich so etwas traute. „Saki-chan hat also gewagt, sich ungezogen zu einem Jungen ins Bett zu legen.“

‚Zu einem labilen Jungen, der von der Mutter körperlich misshandelt wurde.‘

„Als mir mitgeteilt wurde, dass ihr Bruder sie vergewaltigt haben soll, habe ich den Kopf geschüttelt.“

„Und wieso, wenn ich fragen darf? Weil sie dominant ist, vielleicht? Und was, wenn er noch dominanter war?“

Kenichi wusste, wie abgefuckt dieser Typ gewesen war, immerhin hatte er Geschäfte mit einem absolut unmenschlichen, perversen Ungeheuer gemacht.

„Dann hat er sie vermutlich verprügelt, sie fordert es regelrecht heraus, sie will Grenzen austesten und hat vor nichts und niemanden Angst. Es wurde mal Zeit, dass sie es lernt, sich zu fürchten.“

„Aber doch nicht so.“ Bestimmt war dieser Kerl der gleiche Typus Mann, den man in Japan am meisten antraf. Wenn eine Frau sich zu viel traute, wurde sie niedergemacht, schlimmstenfalls wurde ihr Vernunft eingeprügelt. Wie er dieses Land und seine Sitten zu hassen gelernt hatte. Wäre er doch nicht zurückgekommen. Aber er musste…

„Ich halte sie übrigens für empathisch. Sie war äußerst emotional in unseren Gesprächen.“

„Oh, dann muss Sie Vertrauen zu Ihnen haben. Normalerweise macht sie komplett dicht und ist der Eisberg schlechthin.“

„Das ist Eigenschutz und hat garantiert nichts mit einer Störung zu tun“, meinte Kenichi.

„Mir war, ich bin der Psychiater und Sie beschäftigen sich mit dem Unterleib der Frauen.“

Kenichi begann zu lachen, er wusste um sein loses Mundwerk, aber ebenso um seine Besserwisserei, die er noch ein bisschen mehr zum Besten geben musste, wenn ihm jemand nicht so angenehm war. „Jain, nicht nur. Also eigentlich beschäftige ich mich mit Frauen von Kopf bis Fuß. Und mit Säuglingen natürlich.“

„Wobei kann ich Ihnen nun behilflich sein?“

„Oh, ich weiß nicht, ob Sie das können. Ihre Patientin muss mit einer schweren Vergewaltigung fertigwerden, mit ihrer Unfruchtbarkeit und dem Verlust ihres Kindes. Wie bekomme ich Sie wieder auf die Beine? Und sagen Sie bitte nicht, wir sollen Sie mit Anti-Depressiva aufpäppeln.“

„Sie ist nicht suizidgefährdet. Sie hängt am eigenen Leben, das ist kostbarer als das aller Anderen. Wollen Sie noch mehr über Ihre gestörte Psyche wissen? Also ich halte es für einen Segen, dass sie keine Kinder mehr bekommen kann. Sie wäre genauso eine schlechte Mutter wie Ihre Eigene, die vermutlich mit daran schuld ist, dass sie zu einem gefühllosen, egoistischen Gör geworden ist, das seinen Eltern Angst einjagt.“

„Ach nein? Sie ist nicht suizidgefährdet? Und ihr eigenes Leben zählt, sonst nichts? Entschuldigen Sie, dass ich daran zweifle, aber… Das erste, nach dem Koma, was sie fragte, war: Was ist mit meinem Baby? Lebt mein Bruder noch? Und als ich beides verneinte, begann sie fürchterlich zu weinen und fragte: Warum haben Sie mich nicht sterben lassen?“

„Das ist äußerst interessant. Aber das liegt daran, dass sie enorm gestört ist. Sie hält sich für emotional und natürlich wird sie alles besser machen als die Frau, die sie geboren hat. Sie kann dieser Dame nicht auf den Nerven rumtanzen, so wie ihrem sensiblen Vater. Wenn sie sich nicht benimmt, gibt sie sie ins Heim. Oder sie muss wieder in meine Klinik. Da helfen keine Kullertränen. Bei Ihnen offenbar schon.“

Mit Mühe konnte Kenichi ein Knurren in der Stimme verhindern, als er sich dazu äußerte: „Klingt nach einer hartherzigen Mutter, nicht nach einem gestörten Kind. Natürlich will sie Aufmerksamkeit, jedes Kind will das!“ Dazu musste man kein Experte sein.

„Stellt sich die Frage, wer der Vater des Kindes war. Muss ja ein verdammt toller Junge gewesen sein, mit dem sie sich da vergnügt hat.“

„Oder sie war einfach nur in ihn verliebt.“

„Verliebt? Das bezweifle ich. Sie traut keiner Menschenseele, also kann sie auch keinen lieben.“

„Und das wissen Sie natürlich ganz genau, weil Sie diese Störung bei ihr entdecken konnten. Und wie haben Sie versucht sie zu bekämpfen? Womit haben Sie sie vollgestopft, damit sie aufhört, über die Strenge zu schlagen?“

„Eine Weile haben wir ihr tatsächlich Tavor geben müssen, sonst hätte sie die Einrichtung auseinandergenommen. Und fixieren mussten wir sie auch, sonst hätte sie sich selbst wehgetan. Ihr Schmerzempfinden ist nicht besonders groß. Da hatte ihr Bruder sicher Mühe, ihr wehzutun, wenn er das vorhatte. Ich bedauere diesen Kerl in keiner Weise. Bestimmt hat sie den genauso umgarnt, wie die armen Jungs in unserer Klinik.“

„Na, mit Tavor kann man einen Menschen auch zum Psychopathen machen“, meinte Kenichi sich räuspernd. Das Zeug machte gleichgültig. Er hielt nichts davon. Egal, wie verrückt sie auch waren. Kinder tollten eben gern, auch Mädchen wollten nicht immer nur brav und still dasitzen. Das war ganz schön traurig, dass man es von ihnen verlangte.

„Besser, als wenn er in einem Gefühlsausbruch einen Menschen umbringt. Geben Sie mir da nicht Recht?“

„Schon, aber…“ Ihm fiel da echt nichts mehr ein. Er mochte ihn nicht. Und was lernte er hieraus? Frauen, die sich etwas trauten, durfte man niedermachen. Jetzt war sie auch noch selbst schuld, weil sie nicht sauber tickte. Dabei war dieser Kerl der verdammte Psycho, der lachend zu seinem Freund sagte, er müsste sie nochmal kräftig durchnehmen, ihm doch egal, ob sie blutete, das war ja normal für ein Weibsstück. Sein Freund hatte ihn völlig panisch angerufen, er bräuchte seine Hilfe, sonst würde der seine Schwester noch umbringen.

Als er Okitas Anwesen erreichte, hörte er das kranke Lachen aus dem Keller und er hatte wirklich Angst, wie er sie vorfinden würde. Das Mädchen, was er eine Hure nannte, die man bis zur Besinnungslosigkeit durchnehmen musste, weil sie sich nicht von einer normalen Vergewaltigung einschüchtern ließ.

Sie hatte die nackte Panik in den Augen, als er es tat. Kenichi würde nie vergessen, wie ein eher kühler Mann wie einer seiner Studienkollegen den Typen grob von Saki runterriss, ihn anfing zu verprügeln und dabei immer wieder wie wildgeworden geschrien hatte, er sei ein Monster.

Ja, das war er. Sie war so schwer verletzt, dass er nicht mal eingreifen könnte, es war ihm auch völlig egal, was er mit dem Perversen machte. Er hatte nur im Sinn, sie zu befreien und ins Krankenhaus zu bringen, bevor sie an ihren Verletzungen starb. Es war auch wirklich haarscharf. Kaum, dass die Sanitäter sie mitgenommen hatten, ging er wieder ins Haus. Vielleicht hätte er das nicht tun sollen, denn da war das Spektakel in vollem Gange.

Gio, ein Typ, den er aus Italien kannte, wo er einmal wegen eines Geschäftes gewesen war, war auch aufgekreuzt und sie fielen beide über diesen Mann her. Er war schockiert, aber er hatte zumindest gezögert. <„Du elende Ratte! Wie kannst du wagen, das deiner Schwester anzutun?!“> während sie ihm das gaben, was er verdiente. Er hatte noch nie so etwas Brutales gesehen und obwohl er sich Mitleid strikt untersagt hatte, nahm er ihn, als sie endlich von ihm abließen und drückte ihn gegen die Wand. Dort sahen Sie sich für einige Sekunden in die Augen. Die des Mistkerls voller Schmerz und Pein, seine eigenen furchtlos, gnadenlos und gehässig. <“Was vergehst du dich auch an deiner Schwester? Das tut man nicht, merk’s dir für dein nächstes Leben“> Dann drückte er die Waffe an seinen Kopf, nicht ohne wie ein Profikiller vorher seine Hände in Handschuhe zu packen, als könnte er sich die Pest bei ihm holen. Bevor er ohne mit der Wimper zu zucken, abdrückte, ohne das geringste Mitgefühl für ihn.

Die zwei Männer echauffierten sich und fragten ihn doch wirklich: <“warum hast du das getan? Wir waren noch nicht fertig mit ihm! Er verdient mehr als das!“> Er verstand die Welt nicht mehr. Sie hatten ihn übel zugerichtet, er hätte bestimmt keine zehn Minuten mit der Verletzung überlebt. Dass er ihm Gnade gab, gefiel ihnen wohl nicht.  Wie grausam waren die denn? Und ihn dann noch angehen. Er empfand das als die richtige Entscheidung. Noch immer. Hätte er ihn nur eher erschossen, bevor sie so ausgeartet waren, in ihrer Wut. Er würde diese Bilder ja nie mehr loswerden. Zum Glück hatten sie es nicht vor den Augen von Saki getan. Dann bekäme sie glatt noch ein Trauma davon.

 

„Ich kann Ihnen stundenlang ein Ohr abkauen, oder aber ich rede selbst mit meiner Patientin.“

„Es würde einem Wunder gleichkommen, wenn Sie überhaupt mit Ihnen redet. Und wenn, dann sollten Sie vorsichtig bei ihr sein. Sie ist echt emotional betroffen. Auch, wenn das nicht zu ihrer Definition passen mag.“

„Keine Sorge. Man erlebt viel in meinem Beruf – und ich will den Leuten – speziell Jugendlichen zu einem normalen Leben verhelfen. Aber ich werde nichts schönreden. Manche müssen auch endlich lernen, dass Furcht ein sehr gesundes Gefühl ist, das Menschen davon abhält, die falschen Entscheidungen zu treffen.“

„Na gut. Verplempern wir keine Zeit. Sie dürfen zu ihr. Und wenn sie nicht gleich anfängt zu schreien und sie wieder loswerden will, wird Sie Ihnen wohl vertrauen.“ Hoffentlich würde er diese Entscheidung nicht bereuen, aber er brauchte nun einmal einen mit Fachkompetenz.

 

Der Mann mittleren Alters wusste nicht, in welcher Art und Weise dieses Gespräch diesen Leuten Informationen geben sollte, aber der schlimmste Teil stand ihm noch bevor. Er fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn seine Patientin die falschen Antworten auf seine Fragen gab. Diese Menschen waren ziemlich skrupellos, von solchen musste man sie dringend fernhalten. Die zeigten ihr nur die falschen Möglichkeiten – so wie die Idioten, die den älteren Bruder einer seiner Patienten die falschen Dinge gelehrt hatten…

 

 

Unterdessen zerrte eine Hellbraunhaarige ihre gute Freundin Sharon hinter sich her und war völlig aus dem Häuschen. „Los beeil dich mal ein bisschen!“ ließ sie ihr zukommen. Sie war laut und war aufgeweckt, geradezu peinlich laut, fanden die Meisten.  Sie jedoch störte das nicht, ihre Begleitung schon eher. Der Junge drehte sich peinlich berührt von ihnen weg und schämte sich wohl bis auf die Knochen. Zum Glück war seine Mom nie so. „Man, ich bin so froh, dass du Ji-chan endlich mitgebracht hast!“

Seine Wangen hatten sich rot gefärbt. Es war ihm ungemein peinlich, als sie sich dann auch noch zu ihm herumdrehte. „Steh doch nicht so schüchtern in der Ecke herum! Die Familie meine Freundin hat auch einen Sohn in deinem Alter! Vielleicht könnt ihr euch ja anfreunden… Los komm endlich!“

Sharon schüttelte den Kopf. Das war also der Grund, warum Yukiko gewollt hatte, dass sie Keji mitbrachte. Weil sie gesagt hatte, es würde ihm guttun, mal einen guten Freund zu finden. Sie konnte ja schlecht sagen, dass sie damit meinte, einen Freund, der nicht zu ihrer Organisation gehörte. ‚Let’s hope, her sister is far far away. Otherwise she maybe gets jealous about us. And good thing Serena feels sick… She would ruin the fun maybe with her old bad stories.‘ Diese Frau war eine größere Dramaqueen als sie selbst. Klar, sie konnte ganz schön dramatisch sein, oder melancholisch, je nachdem, wie man es betrachtete, aber Serena… die konnte das um Meilen toppen. Sie wollte bedauert werden. Sie hatte schon bemerkt, dass Serena der Schwester von Yukikos Schauspielkollegin mächtig auf den Wecker ging, wenn sie so rumheulte, dass sie mit 17 vergewaltigt worden war. Na, wenigstens war sie nicht allein mit dem Kind, weil sie den erstbesten geheiratet hat. Kaum einer würde wagen das Serena ins Gesicht zu sagen. Diese Frau schon – die war manchmal einfach aus Prinzip böse. Obwohl es in dem Moment auch dazu diente, Serena klarzumachen, dass ihr ach so schreckliches Leben bei weitem nicht so schlimm gewesen war, wie das ihrer eigenen Schwester. Und sie hatte sie damals echt verteidigt. Es war die Entscheidung der Beiden, wie sie damit umgingen. Bestimmt würde sie nie vergessen, wie Serena eiskalt Kagura ins Gesicht sagte: ja, wenn ihr das Alleinerziehende-Mutter-Dasein zu anstrengend war, dann hätte sie das Kind eben abtreiben sollen. Daraufhin hatte sie eine Hand in ihrem Gesicht. Zum Glück hatte ihr Neffe Kenjiro das nicht mitbekommen. Er hätte sich bestimmt gefragt, ob sie es so bereute, ihn bekommen zu haben, um so etwas zu einer anderen Mutter zu sagen. Aber nein, Ken-chan musste ihr stets danken, dass sie dieses Opfer in Kauf genommen hatte, nur für ihn. Das wusste er wohl auch. Dennoch hinterließ es einen faden Beigeschmack bei allen. Denn die Diva konnte sehr eklig werden, wenn ihr gerade wieder einmal etwas nicht schmeckte.

Während sie so in Gedanken versunken war, kamen sie schon beim Anwesen der Familie an, die sie besuchen wollten. Obwohl Familie ja schon irgendwie merkwürdig war, wenn man bedachte, wie klein sie tatsächlich war. Nein, sie beneidete diese Frau kein bisschen. Das Haus war riesig und doch wohnten darin lediglich zwei Personen. Vielleicht hatte sie damals gedacht, für den nächsten Mann, der vielleicht in ihr Leben trat, den sie dann doch noch heiraten konnte, um mit ihm weitere Kinder zu bekommen. Der ihren Sohn lieben würde, wie ein eigenes Kind. Aber nein, es hatte nicht sollen sein und der Junge kam auch immer an erster Stelle. Die meisten Männer konnten damit leider wenig umgehen. Sie wollten an erster Stelle sein. Sogar ein Kerl wie Kenichi Iwamoto kam nicht damit klar, dass er nie die Nummer eins ihrer Cousine Yohko sein würde. Instinktiv wusste er die ganze Zeit, dass sie immer noch den Vater ihres ersten Kindes liebte und ihn immer vorziehen würde. Egal, wie sehr er sich auch bemühte, um das Wohl der Familie. Kein Wunder, dass er sich in seine Forschungen gestürzt hatte, um es mit der Frau auszuhalten, die ihren Geliebten ins Haus der Familie eingeladen hatte. Sie war erschüttert davon, dass sogar Sêiichî ihn kennenlernen durfte. Den Mann ihrer Träume. Da wurde ihr ja ganz anders. Der arme Junge. Sein älterer Bruder schien jedoch sehr glücklich, seinen Vater kennenzulernen. Wie wohl Hinaos Sohn reagieren würde, sollte sein Erzeuger mal wagen, die Türschwelle zu übertreten. Wahrscheinlich würde das nie passieren, aber seine Mutter glaubte, er würde glatt die Tür vor der Nase des Kerls wieder schließen, immerhin hatte er sich verfluchte 17 Jahre einen Scheiß um sie alle geschert. Sêiichîs Bruder war nicht so schlau zu wissen, dass ein Mann wie sein Vater nicht aus Liebe zu ihnen allen zur Tür reinfiel. Kein Wunder, dass Sêiichî Reißaus genommen hatte, als sich ihm die Möglichkeit geboten hatte. Bevor seine Eltern und der falsche Vater zurückkehren konnten. Was Sharon nur nicht wusste, war, dass Sêiichî gewagt hatte, mit fünf zu seinem älteren Bruder zu sagen, dass er Keichiro-kun nicht leiden konnte, er diesen unheimlich fand. Er wollte ihn ja nicht mal da haben. Und das ganz, ohne zu wissen, wie schlimm dieser Mann wirklich war. Aber man sagte nicht umsonst, dass Kinder sehr gut in der Lage waren, das Böse zu erkennen. Zur Strafe, dass er diese Ungeheuerlichkeit wagte, seinem Bruder an den Kopf zu werfen, in seiner Naivität, bekam er Brandblasen an den Händen, herrührend von der Gemeinheit des Älteren, der dachte, Schmerzen wären genau das, was er dafür verdiente. Da hatte er Sêiichî beide Handflächen auf die heißen Herzplatten gelegt. Den Nachbarn hatte Takeshi kalt erzählt, dass der Dummbatz eben neugierig war, wie alle 5-jährigen. Seine Patschehändchen hatten ganz alleine zum Herd gefunden. Er hatte es noch versucht zu verhindern. Die Leute von nebenan hatten sich dafür interessiert, wieso der kleine Junge wie am Spieß geschrien hatte.

 

Sie zuckte beinahe, so in Gedanken war sie, als sie Tür geöffnet wurde. „Hallo Yuki-chan! Ihr seid ganz schön früh.“

„Ach, wieso denn? Dann können wir wenigstens Vorbereitungen treffen!“

„Wofür denn?“ lachte die Schwarzhaarige und Sharon grinste nur ein wenig.

„Für Yukikos Pläne, meinen Sohn mit deinem bekannt zu machen.“

Hinter ihr steckte er den Kopf vorbei und betrachtete die 41-jährige neugierig. „Hallo. Freut mich Sie kennenzulernen.“

„Die Freude ist ganz meiner Seite. Yukiko hat viel von dir erzählt.“

Vermutlich nur die peinlichen Dinge. „Ich finde es schön, dass ihr hier seid. Nur rein in die gute Stube!“ forderte sie die kleine Gruppe auf.

„Was erzählt Yuki-san denn so von mir?“

„Oh, eine ganze Menge. Es kommt mir fast vor, als würde ich dich bereits kennen.“

„Hahaha“, begann Sharon zu lachen – fast etwas schadenfroh. „Das mag ich bezweifeln. Er ist ein Schlingel, der nicht jeden merken lässt, wie faustdick er’s hinter den Ohren hat.“

„Man… Verrat ihr doch nicht alles“, schmollte der 16-jährige, sie lächelte daraufhin jedoch heiter. Er wusste genau, wie es gemeint war.

 

Wenig später saßen sie zusammen am gedeckten Tisch und man schenkte ihnen Tee ein und es stand bereits ein Stück Kuchen vor jeder Nase.

„Nun erzähl mal, wie war der Flug? Bist du gut in Japan angekommen, ja?“

„Irgendwie ungewohnt. Und doch nicht, Shiturō-san.“ Der Junge sah leicht traurig drein.

„Das musst du mir etwas genauer erklären.“

„Ach. Die Menschen sind übertrieben freundlich, aber meinen es nicht so. Ganz genauso in Amerika. Trotzdem ist es irgendwie ungewohnt wieder in Japan zu sein. Ich war ja auch fast mein ganzes Leben in den Staaten.“

„Ach, daran gewöhnt man sich schnell. Aber scheint so, als müsstest du öfter nach Japan kommen, damit du das Leben hier nicht allzu schnell vermisst.“

„Scheint so“, antwortete er lächelnd. „Aber bisher hat Sharon mich nie mitgenommen, wissen Sie. Sie war viel öfter in Japan, als ich.“

„Du hättest nur fragen müssen, aber du warst ja mit anderem beschäftigt, nicht?“ Als ob sie nicht wüsste, dass er jetzt unbedingt nach Japan wollte, weil er gern Kenichi wiedersehen wollte.

„Was denn? Hätte ich mitten zur Schulzeit mit dir verreisen sollen? Das geht doch nicht“, seufzte er. Und leider verreiste Sharon nicht immer nur zur Schulferienzeit. Es hatte sich einfach nicht ergeben.

„Und nun? Bleibst du länger hier?“

„Klar, ich hab mich fürs Austauschprogramm angemeldet!“ meinte Keji voller Freude.

„Er will sich die Teitan-High-School ansehen.“

„Oh, dann kann er ja gleich mit Takahashi Freundschaft schließen.“

„Yuki“, echauffierte sich Sharon über die Direktheit. Das machte man einfach nicht.

„Oh – ich will euch ja nicht den Spaß verderben, aber mein Sohn ist sehr eigen. Er hat seinen festen Freundeskreis und der ist – wie soll ich sagen…“

„Keine Sorge, ich werde mich ihm nicht aufzwängen“, meinte Keji.

„Aber“, meinte Yukiko traurig. „Ein paar mehr Freunde würden deinem Sohn jetzt auch nicht schaden.“

„Er hat sich vor kurzem mit ein paar Leuten verkracht, der Zeitpunkt ist also nicht besonders gut gewählt.“

„Wieso denn verkracht“, wurde Sharon neugierig und sah Hinao fragend und neugierig an.

Die Mutter des 18-jährigen wirkte traurig und sagte zunächst nichts. „Sie haben ihn zum Trinken verleitet und wer weiß, zu was noch alles. Er hat gemerkt, dass die ihm nicht guttun und wollte sich von ihnen abkapseln. Seinen besten Freund hat er leider gleich mitgenommen… Der hatte sich nämlich mit diesen Jungs angefreundet, als wir noch in Kyoto wohnten. So gesehen, war mein Sohn fast schon ein Störenfried, der dann auch noch versucht hat, sie zum Besseren zu erziehen. Ich glaube, das kam nicht gut an.“

„Du glaubst?“ fragte Yukiko verstört und Hinao räusperte sich.

„Nein, ich weiß. Jungs in dem Alter lassen keine Kompromisse gelten. Heute Freund morgen Feind. Er hat mir erzählt, sie wollen ihn fertigmachen. Und ich dachte, dass hier in Tokyo alles besser wird.“

Yukiko sah sie mitfühlend an, sie kannte die Geschichte.  Nicht bloß ihre Freundin selbst hatte Teile davon erzählt, Ryochi auch. Laut ihm hatten sie ihn in der Schule ordentlich terrorisiert, weil er ein Bastard war. Das I-Tüpfelchen war wohl gewesen, als sie ihn Hurensohn nannten, da sollte Takahashi völlig ausgetickt sein. Es ging nicht direkt gegen ihn, sondern mehr gegen seine Mutter. Was waren das bloß für Kinder? Hatten die überhaupt keine Erziehung genossen? Das gleiche Gefühl gab ihr aber auch Kenji. Sie hatte nur einmal davon gehört, was er so trieb und wusste Bescheid. Gut, wenn Takahashi sich von denen fernhielt – und das waren nicht mal ihre Worte gewesen, sondern die ihrer Tochter. Sie schien wohl froh zu sein, dass er sich jetzt lieber mit Leuten wie Kōji beschäftigte, die ein bisschen was auf dem Kasten hatten.

Und da wussten sie alle noch nicht, was in Takahashis Schule vorgefallen war.

„Am besten du fällst nicht gleich mit der Tür ins Haus, Keji. Wenn du ihm sagst, du willst Freundschaft mit ihm schließen, sagt er dir trocken: Wieso? Du kennst mich doch gar nicht. Also sei lieber ein bisschen vorsichtig.“

„Um das mal klarzustellen, meine Liebe: Das ist Yukikos Plan, nicht meiner und nicht Kejis. Sie dachte eben, da die Zwei fast gleichalt sind und er an die Teitan gehen will, würde es sich anbieten. Und am Ende können die sich nicht leiden.“

„Na, dann freundet er sich eben mit Ryochi und Sêiichî an! Die nehmen ihn dann schon mit“, lachte Yukiko.

„Das ist ja noch schlimmer.“

„Wieso das denn?“ fragte Sharon verwundert.

„Ryochi und Sêiichî?“ war Keji jetzt auch neugierig.

„Ryochi ist Takahashis Cousin – die beiden hatten vor kurzem den Streit ihres Lebens – und Sêiichî gießt noch fein Öl ins Feuer, indem er zu seinem besten Freund hält, das ist los.“

„Das tut man eben so als bester Freund! Das spricht mehr für ihn als gegen ihn!“ warf Sharon ein und wirkte dabei etwas ungehalten – eher nicht ihre Art.

„Und wir Frauen sagen immer, wenn zwei sich streiten, sollte man sich raushalten. Aber irgendwie kann er das nicht. Fast so, als wollte er meinem Sohn absichtlich schaden.“

„Meinst du? Ryochi sagt, er sei ein guter Kerl.“

„Das würdest du vielleicht nicht mehr sagen, wenn du wüsstest, was er meinem Sohn in seinen jungen Jahren schon alles an den Kopf warf. Er ist nicht sensibel, aber er war verletzt davon.“

„Muss ja schlimm gewesen sein. Joanne hat auch nur gut von Sêiichî gesprochen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er jemandem absichtlich wehtut.“ Sie war sehr schockiert davon. Die Blonde würde ihn auch als einen guten Kerl bezeichnen.

„Tja, ich weiß nicht. Er schafft es wohl bravourös bei Takahashi ins Schwarze zu treffen. Keine Ahnung warum.“

“Was zur Hölle hat er gesagt?“

Kein Wunder, dass du keinen Vater hast! Du kleiner Psychopath. Es war irgendwie so etwas.“

„Jesus Christ…“

„Klingt mir mehr nach Abwehrhaltung. Dazu gibt es sicher eine Vorgeschichte.“

„Nein, Sêiichî ist wohl einfach gestört und denkt offenbar von jedem schlecht. Ich habe versucht das meinem Sohn klarzumachen. Keine Ahnung, ob es ankam. Die Zwei sollten sich voneinander fernhalten – die halten nichts vom jeweils Anderen.“

„Außer von Ryochi, von dem denkt er nicht schlecht“, warf Yukiko ein und hob dabei den Finger. „Und ich glaube, die haben vom Anderen jeweils ein sehr schlechtes Bild. Und noch mehr glaube ich, dass sie nie aufeinander zugegangen sind.“

„Das wird in diesem Leben sicher auch nicht mehr passieren, denn das wäre ein zu großes Wunder, Yuki-chan“, äußerte sich Hinao dazu. „Und leider hat Sêiichî auch Takahashis besten Freund verletzt und deswegen wird er zu ihm halten.“

„Mhmmmm“, seufzte Keji, wusste aber zu wenig, um wirklich mitreden zu können. Im Moment hatte er jedenfalls große Lust sie alle kennenzulernen und sich dann selbst ein Urteil zu bilden. „Und wenn man sich mit allen anfreunden will? Geht das etwa nicht?“

„ja, ich weiß, du würdest das natürlich wieder versuchen wollen“, lachte Sharon. „Aber vergiss nicht, man sollte nicht jeden zu seinen Freunden zählen und zur Familie auch nicht – ganz egal, ob sie blutsverwandt mit dir sind, oder nicht.“

„Ja, ich weiß“, lächelte er. „Aber du weißt, wie schwer mir das fällt.“

„Deswegen sage ich es dir nochmal.“

„Na, wenigstens in Physik wird Takahashi ihm nichts mehr beibringen können“, meinte Yukiko hinter vorgehaltener Hand sich diebisch freuend.

„Wieso beibringen? Ist er besonders gut darin?“ wollte Keji wissen.

„Ja und Chemie. Außerdem zeigt er großes Interesse an Soziologie. Fast unglaublich, dass er nicht mehr Freunde hat.“

„Tja. Japanische Eltern bringen ihren Kindern eben die falschen Dinge bei. Manchmal bin ich echt froh, eine Weile in die Staaten zu können. Da fühle ich mich frei“, meinte Yukiko leicht traurig.

„Ich würde Takahashi die Ohren langziehen, wenn er andere schikaniert, die es nicht so gut getroffen haben!“

„Dass du deinem Sohn die Ohren langziehst, kann ich mir nicht vorstellen, Hina-chan“, sagte Yukiko, ohne es böse zu meinen. „Wo er doch dein einziges Kind ist.“

„Mag sein, aber ich habe ihn nicht immer nur liebevoll erzogen, sondern ihn das ein oder andere Mal auch bestrafen müssen, wenn er etwas Dummes getan hat. Wir müssen unseren Kindern schließlich beibringen, was sich gehört und was nicht.“

„Kann ich mir trotzdem nicht vorstellen.“

„Warum, Yuki? Weil Ryochi gegen meinen Sohn schimpft? Der ist doch bloß eifersüchtig.“

„Warum ist der denn eifersüchtig?“ hinterfragte Keji den Grund und Hinao seufzte.

„Sie sind beide in Yukikos Tochter verliebt, aber einer hatte die Nase vorn.“

„So ist das manchmal im Leben. Es macht aber auch nichts besser, wenn dein Sohn sie wieder versucht für sich zu gewinnen. Das ist ganz schön egoistisch gegenüber Ryochi, findest du nicht?“

„Du hast wohl noch nie einen Mann vor der Nase einer anderen weggeschnappt, was?“ amüsierte sich Sharon über die Probleme der Kinder. Ihre eigenen Probleme waren schlimmer. Aber aus solchen kleinen Problemen konnten wahrlich große werden. „Passt nur auf, dass eure Kinder sich nicht eines Tages hassen. Es wäre ja nicht das erste Mal. Meine Cousine jedenfalls wünscht mir den Tod – oder noch besser, man sollte mir meine Fruchtbarkeit nehmen, weil so eine schreckliche Frau keine Kinder in die Welt setzen sollte!“

„So etwas würde Takahashi niemandem wünschen. Er ist ein guter Junge!“ sagte Hinao leicht missgestimmt, kurz darauf sah sie traurig aus. „Bitte entschuldigt mich.“

Verwirrt verstummten sie und Keji blickte zwischen beiden hin und her. „Was war das denn? Das hat sie doch überhaupt nicht damit sagen wollen.“

„Nimmt sie dir das immer noch krumm, dass der elende Mistkerl dir nachstellt?“

„Ach, dem macht es noch Spaß, wie sie mich angeht. Das gibt ihm ordentlich einen Kick. Und es ist quasi die Strafe dafür, dass ich ihn ignoriere.“

„Ryochi hat mir da ganz andere Dinge erzählt.“

„Oh, please not.“ Sie hatte einen Ruf zu verlieren. Kein Wunder also, dass sie das nicht hören wollte.

„Ihr entschuldigt mich auch, oder? Jemand sollte nach ihr sehen. Am besten ich mache das. Ich kenn sie am besten“, sagte Yukiko und erhob sich vom Tisch. „Stellt nichts an“, lachte sie, woraufhin ihre Freundin sie leicht echauffiert ansah und Keji anfing zu Lachen. „Also ich bestimmt nicht.“ Kurz darauf bekam er einen leichten Ellenbogenhieb in die Seite und sagte theatralisch „Auhaaa~!“

„Behave yourself!“

„I know exactly what you thought. You wanted to run after them and spy on them.” Den Schluss flüsterte er nur.

„No, that's what Vermouth would do, you naughty boy”, meinte sie ebenfalls zurückflüsternd.

„But didn't you like naughty boys?” ärgerte er sie und grinste frech.

„Moderately! And not when we’re guests of strangers.”

„Is she really a stranger?“

„Hinao? For me not really. But for you, kid.“

„I’m not a kid anymore“, schmollte er. Daraufhin lachte seine Pflegemutter.

„No, that's exactly what you are!”

 

 

 

 

Zum Unterricht kamen sie das erste Mal zu spät und wurden gefragt, was denn mit ihnen los war. Takahashi hatte sowieso schlechte Laune, war gereizt und neigte dazu, über jeden verbal herzufallen, da kam es ihm gelegen, dass der Busfahrer ihnen beiden Gewalt angetan hatte, wie er völlig übertrieben ausdrückte. Toshizo sah traurig aus, denn die Lehrerin schien es erst nicht fassen zu können, aber er bestätigte es, ohne die Schläge zu beschwichtigen. Das machte man eben nicht, also durfte dieses Arschloch ruhig zur Verantwortung gezogen werden. Takahashis Mutter würde das alles andere als witzig finden, wenn man sie darüber informierte, dass jetzt schon Busfahrer sich an ihrem Sohn vergriffen, nicht bloß die Mitschüler. Dann bekam endlich mal der Richtige ab.

Natürlich reichten zwei Aussagen nicht. Zu ihrem Glück waren aber auch andere Mitschüler mit ihm Bus gewesen.

Shina und Ryochi zum Beispiel. Denen man mehr glaubte, als Rüpeln wie Kenji und seiner Clique, die behaupteten, Takahashi sei voll ausgeflippt, deswegen war er aus dem Bus geflogen.

Ryochi sagte dazu nur, dass sie ja auch alles darangesetzt hatten, dass er böse wurde. Sie hätten Toshizo versucht zu terrorisieren – was war schließlich falsch daran, ihm zu helfen? Kenji musste dafür nachsitzen – eine ziemlich milde Strafe für das Schandmaul, was man ihm endlich aberziehen sollte. Er fragte sich aber auch, was zwischen den Jungs vorgefallen war und bat jemanden um Hilfe, der ihnen eher Antworten liefern würde, als die Anderen.

„Ich mein das ernst, es muss etwas gewesen sein. Schlimm genug, dass sie damit prahlen ihn abfüllen zu wollen. Das machen keine Freunde! Aber das kann es jawohl nicht gewesen sein.“

Die Parallelschülerin senkte den Kopf, so als wäre sie nicht willig zu antworten.

„Kenji würde mich verprügeln, wenn ich dir alles erzähle“, sagte sie, dabei biss sie sich verzweifelt auf die Lippe.

„Ich behalt’s für mich. Vertrau mir.“

Die 17-jährige Kyomi Niihama aus Shinas Volleyball-Team sah ihn immens traurig an.

„Takahashi war gut dabei, würd ich meinen… Auf einmal hat er angefangen komisches Zeug zu plappern. Das war echt gruselig, da bin ich gegangen. Keine Ahnung, was die danach noch mit dem angestellt haben. Es war mir einfach nicht geheuer. Fünf Jungs, Alkohol und komisches Gerede war mir zu viel des Guten, verstehst du? Foltermethoden aus dem Mittelalter, meinte dein Cousin, die ziehen bei jedem Weib. Die Deppen haben ihn noch gefeiert für den Scheiß. Kenji am meisten, der hat noch gesagt, er hat Riku auch vergewaltigt. Sie hätte geflennt wie ein Schlosshund, als er sie durchstoßen hat. Würdest du da etwa bleiben? Also ich will meine Unschuld noch ein bisschen behalten. Am besten man hält sich ganz von denen fern. Ich mag mich echt nicht mit Kenji unterhalten. Frag am besten Satomi, die hat deinem Cousin eine runtergehauen und ihm gesagt, er kann gern auch noch mehr abkriegen, wenn er so frech wird.“

„Foltermethoden aus dem Mittelalter… Hat der sie überhaupt noch alle? Vor einem Jahr fand er noch schlimm, wie Japan mit Vergewaltigung umgeht.“

„Hat eher geklungen, als wollte er es mal ausprobieren. Da dachte ich: Nichts wie weg.“

„Danke für deine Ehrlichkeit. Kenji ist wohl langweilig. Er sollte sich besser auf die Schule konzentrieren.“

Aus irgendeinem Grund glaubte er, dass da noch mehr kommen würde. Leute wie Kenji und seine Clique brauchten immer einen Sündenbock, den sie für ihr eigenes Leid verantwortlich machen konnten. Toshizo musste echt verzweifelt gewesen sein, sich mit denen einzulassen. Wahrscheinlich stimmte es auch. Und er selbst hatte sich zu Anfang noch an Wataru gestört, einfach nur aus Gründen der Eifersucht, dabei war der noch der netteste aus Toshizos Freundeskreis. Jedenfalls bis er sich an Riina versucht hatte zu vergreifen. Was wunderte er sich? Sollte dieser Kerl etwa dabei zusehen, wie ein Freund sich an seine Schwester ranmachte und ihr zudem auch noch wehtat? Das machte kein anständiger Bruder. Hätten die das mit Hitomi gemacht, wäre er auch auf den Typen los.

Zu ihrem Glück wollte Sêiichî nichts mit Kenji zu tun haben, weil er ihn ein bisschen an frühere Zeiten erinnerte – daran, wie sein Bruder damals gewesen war. Obwohl er ein elender Macho war und prädestiniert dafür gewesen wäre, mit den Angebern abzuhängen, immerhin kam er gut bei Mädchen an. Aber kaum auszudenken, was los gewesen wäre, hätte er auch mit diesen Typen rumgehangen und mitgekriegt, was für einen Dünnschiss Takahashi abgegeben hatte, nur weil die Typen ihn ein bisschen abfüllten. Den hätte wenig gejuckt, ob er angetrunken, ein bisschen beschwipst oder total hackedicht war. Man machte keine Scherze über so etwas, da sah er rot. Sie konnten sich echt nicht noch mehr Ärger erlauben. Am Ende war Tak dann wieder das Opfer und sie die Bösen, die ihm böses wollten. Das hätte ihm ja noch gefehlt. Dass er und Sêiichî nicht miteinander zurechtkamen, war ja schließlich auch nur Sêiichîs alleinige Schuld. Es war eben nicht förderlich, dem heulenden Jungen zu sagen, er sei eine Memme, die sich nicht beschweren durfte, immerhin hatten sie ihn ja gerettet. Er sollte Yuichi nicht so viel Probleme machen und einfach mal stark sein – das war leichtfertig gesagt, wenn man nicht wusste, was dieser Kerl Sêiichî nicht alles angetan hatte. Sein Vater hatte die Nachbarn befragt und erfahren, dass es öfter vorkam, dass Sêiichî spät abends schrie wie am Spieß. Auch sollte er wohl mitten in der Nacht mal ausgerissen sein. Das tat kein Kind einfach so. Takeshi, der arme Kerl war ja total überfordert davon, auf seinen kleinen Bruder aufzupassen. Das rechtfertigte jawohl nicht, dass er ihn terrorisierte und ihm körperlich wehtat. Wenn man überfordert war, holte man sich Hilfe. Das hatte er nicht getan, sondern Sêiichî das Maul gestopft, indem er ihm Angst machte, dass er ihm das nächste Mal vielleicht den Kopf zu lange unter Wasser hielt. Das ging ja schon als Morddrohung durch.

Und Takahashi, mit süßen 13 sagte einfach: <“Bestimmt hat er ihm auch so die Ohren vollgeheult wie uns.“> Konnte er denn nicht einmal ein bisschen sensibel sein? Er wollte die Sirene eben aus machen. Selbst seine liebevolle Mutter war von den Sprüchen damals geschockt. Zugegeben, mit 12 war Sêiichî wirklich besonders aufmerksamkeitsfordernd gewesen und da fing er schon mal an zu heulen – nicht bloß ein bisschen, sondern richtig. Aber das war doch kein Wunder bei diesem Bruder. Er hatte seinem besten Freund die Brandnarben an den Händen gezeigt, er wusste also, wie gemein und brutal er zu ihm war. So weit er sich erinnerte, hatte Yuichi sich sogar Takahashi zur Brust genommen, weil er so viel Quark geredet hatte. Bis zu dem Vorfall zwischen Saki und Sêiichî war er zumindest erträglich gewesen und hatte sogar Yuichi gesagt, als Takeshi und seine Freunde Sêiichî gemeinsam verprügelten – einfach, weil er das feige und schwach fand – nicht unbedingt um nett zu sein, aber wer wusste das schon? Nicht, dass er ihn am Ende doch noch bedauert hatte. Beneidet sicher nicht. Sêiichî wäre bestimmt noch geschockt davon, dass er seine Hilfe ihm verdankt hatte. Aber dann wurde er wieder sensibel und das musste nun echt nicht sein. Dann ging er zu Takahashi, um sich für den alten Kram zu entschuldigen und heulte ihn wieder voll – der war dann wieder genervt. Also hielt man einfach die Klappe und war froh, wenn sie sich nicht prügelten.

 

 

 

 

 

 

Später Nachmittag:

 

Die zwei Mädchen saßen zusammen auf einer Bank und unterhielten sich.

„Was meinst du damit, Rii-chan?“ wollte Hiroko von ihrer Mannschaftskollegin wissen und blinzelte dann auch noch verwirrt.

„Na komm, sag bloß, dass ist dir nicht aufgefallen? Shiturō hat sich ganz merkwürdig verhalten und Saki auch. Hast du dich eigentlich nie gefragt, ob alles wahr ist, was sie so redet?“

„Ich komme immer noch nicht ganz mit. Was hast du denn gegen Saki? Hat sie dir was getan?“ fragte Hiroko verwirrt.

„Mhm…“ Riina schloss kurz die Augen und sammelte sich. „Na, findest du das etwa nicht suspekt, als sie vor einem Monat zu uns kam, um uns brühwarm zu erzählen, dass sie erpresst wurde? Und dann klettet sie sich genau an die Zwei. Und plötzlich ist dieser Kerl erträglich. Entweder sie lügt, oder sie hat so viel Angst vor denen, dass sie lieber ihre Freundin sein will. Trotzdem merkwürdig.“

„Saki hatte es noch nie mit der Wahrheit, aber ich glaube die Geschichte, die sie uns erzählt hat. Und womöglich spielt sie das Spiel: Der Feind in meinem Bett. Wer weiß, wie gemein sie sich rächen will?“

„Was schnattert ihr hier denn schon wieder?“ wurden sie jäh unterbrochen und zuckten zusammen, allerdings Hiroko mehr als Riina, als der Mannschaftskapitän sie ansprach.

„Gerade macht Saki gar nichts, außer das Bett im Krankenhaus hüten, klar!“

„Wieso Krankenhaus?!“ fragte Hiroko mit riesengroßen Augen. „Oh Gott, haben diese Typen ihr etwa etwas zuleide getan?“

„Sag mal, Hiro-kun… Kann es sein, dass mit dir was nicht stimmt? Andauernd erzählst du Riina irgendwas davon, wie schlimm sie sind. Bist du mit denen aneinander gerasselt?“

Shizuru betrat den Raum. „Oh, du Arme… Erst nehmen sie dir die Unschuld und dann lassen sie dich links liegen. Tja, so was passiert. Kenji hat mir alles erzählt.“

„Spinnst du?“ Während Hiroko aufsah, hatte Shizuru ein gemeines Lächeln im Gesicht.

„Nein, eher du. Kannst mit der Wahrheit nicht umgehen und musst andere schlechtmachen. Glaub ja nicht alles, was sie redet, Riina. Sie ist verhasst.“

„Ach? Das sagst ausgerechnet du? Und wieso ergreifst du hier jetzt Partei für Takahashi? Er ist doch jetzt dein Feind. Oder hast du deine Meinung schon wieder geändert?“

„Feind? Nein, so irre bin ich nicht. Und jetzt sag mir mal, Hiroko-chan, was war das mit Saki? Stimmt es wirklich, dass Takahashi sie bedroht hat, damit sie mit Toshizo schläft?“

„Ja, hat sie jedenfalls erzählt.“

„Man redet nicht über Leute, die gerade nicht da sind, Shizuru!“ fuhr Shina die Schwarzhaarige ein bisschen an.

„Ist mir egal, was du denkst. Es kann ja nicht jeder so ein verdammtes Engelchen sein. Und wisst ihr, Saki nimmt sich ganz schön wichtig. Die is‘ eingebildet für Zehn. So was knackt Tak am liebsten. Deswegen steht er auch so auf dich, Shina.“

„Das ist mir zu dumm!“

„Noch jemand, der die Wahrheit nicht verkraftet, hm?“

„Wir fahren gleich zum Spiel“, sagte die Anführerin mit dem Rücken zu ihnen, während sie bereits die Türklinke in der Hand hatte, sich aber nicht mehr zu ihnen umdrehte. „Konzentriert euch auf die Taktik fürs Spiel, statt über unsinniges Zeug nachzudenken und über andere zu lästern. Dann tut ihr wenigstens etwas Sinnvolles. Verstanden?“

„Oh, Captain hat gesprochen… Sonst noch was?“

„Nein, das war‘s erstmal.“ Kurz darauf knallte die Tür und Shizuru lachte. „Was hat die denn gebissen? Wo is‘ Akemi überhaupt? Darf sich wohl als Shinas Liebling alles rausnehmen, auch zu spät kommen.“

Hiroko seufzte. „Du bist ne echte Giftnatter, oder?“

„Findest du? Kehr mal vor der eigenen Tür. Du hast doch laut rumgeschrien, mein Ex und Toshizo sind schlimme Typen, um Riina zu warnen. Was glaubst du, warum Takahashi so sauer war? Kannst von Glück reden, gibt Schlimmeres als das, was er gemacht hat. Kenji war auf hundertachtzig, der hätte noch ganz anderes mit dir gemacht. Das nächste Mal halt einfach deinen vorlauten Schnabel. Dann passiert dir nichts.“

„Was hat Takahashi getan?“ fragte Riina jetzt Shizuru. „Mit Hiroko mein ich.“

„Nichts!“

„Genau das, was du glaubst, Riina. Deswegen ist es auch NICHTS.“

„Sei still, Shizuru…“

„Ich find‘s witzig. Vielleicht solltest du dich bei den zweien entschuldigen. Riina vor Toshizo zu warnen, war nicht gerade die nette Art. Und gleich im Anschluss kannst du Takahashi noch danke sagen, dass er dich mit den Typen nicht geteilt hat.“

„Komm, wir gehen. Die spinnt ja…“ Bevor Hiroko ihr noch anfing zu weinen, weil Shizu so ein Ekel war, nahm Riina sie an der Hand und zog sie raus.

„Tze“, meinte diese eingebildet. „Wahrheit tut immer weh.“

 

Kurz darauf stöhnte Riina und verließ mit ihrer Klassenkameradin die Umkleide. Sie gingen nach draußen, wo die Mannschaftsführerin mit Sêiichî und Ryochi wartete.

„Die is‘ echt das Allerletzte. Nicht mehr viel und ich geh der Göre an die Gurgel“, meinte Shina zu Sêiichî. „Wo sie hinkommt, verspritzt sie Gift! Das geht mir gehörig auf den Wecker.“

„Was hat sie gemacht?“

„Dummes Zeug geredet, wie üblich und dann wollte sie noch Hiroko einspannen, damit sie ihr irgendwas erzählt. Weil sie da so etwas gehört hat, weißt du. Als Hiro das nicht gemacht hat, ist sie fies geworden. Wir haben uns unterhalten, Hiroko hat einen Verdacht geäußert und ich musste Veto einlegen, aber dann kam Shizuru… Unglaublich. Mischt die sich einfach ins Gespräch ein, als sei sie der Nabel der Welt. Und hackt auch noch auf Jüngeren rum.“

„Wo bleibt Akemi, Shina? Wird langsam Zeit! Matsudaira hat sich auch noch nicht blicken lassen.“

„Mit Kōji beim Knutschen Zeit vergessen? Das vielleicht?“

„Hast du noch was anderes im Kopf, mhm?“ fragte Shina den Kopf schüttelnd.

„Sêiichî? Nicht wirklich. Knutschen und Sex everytime.“

„Danke, Ryo, hab dich auch lieb.“

„Gern geschehen.“

„Hey, wir sind startklar! Ist Akemi noch nicht da?“ wollte Riina wissen, daraufhin kamen Wataru und seine Freundin auf sie zu und Letztere zuckte die Schultern. „Shina weiß es auch nicht.“

„Wie, du weißt das nicht?“ war Riina schockiert.

„Naru ist aber auch noch nicht da. Ich glaube, ich gehe jetzt mal nach denen suchen.“

„Aber das kannst du doch jetzt nicht bringen! Du bist doch die Wichtigste hier“, meinte Riina. „Ich geh. Pass auf Hiroko solange auf!“ Diese wurde vor sich hergeschoben, direkt zu Shina. Das Mädchen hatte den Kopf tief gesenkt und wirkte ängstlich. Irgendetwas hatte sie doch.

„Okay, Rii-chan. Aber wenn du sie nicht findest, gleich wiederkommen, ja?“

„Jap. Bis gleich!“ Dann rannte sie los und Shina wendete sich mit einem Lächeln an Hiroko.

„Willst du reden? Dann gehen wir eine Runde…“

„Nein, wieso?“

„Ich glaube, du hast etwas auf dem Herzen.“

„Ach, schon gut.“ Der Kopf wurde zur Seite gedreht und Shina fühlte sich noch mehr beunruhigt.

„Ganz sicher?“ Sie nahm ihre Hand und zog sie ein bisschen abseits der anderen. „Ich beiß doch nicht.  Da war nur etwas, was ich dich gern fragen würde.“

„Na gut.“ Daraufhin gingen beide zu einer Wiese und setzten sich gegen einen Baum gelehnt ins Gras.

„Wovon hat Shizuru gesprochen? Was ist passiert? Mir kannst du es sagen. Ich rede auch mit sonst keinem darüber, versprochen.“

Das Mädchen zog die Beine an den Körper und bettete den Kopf darauf. „Wenigstens weiß ich jetzt, wieso ich‘s verdient hatte… Was ist er bloß für ein Arschloch?“ Ihr Kopf sank immer tiefer zwischen die Knie.

„Du hast Toshizo wirklich bei Riina schlecht gemacht?“

„Was denn? Ich musste sie doch vor denen warnen. Die machen immer alles zusammen und so wie Takahashi sich immer aufführt, muss man ja vom schlimmsten ausgehen, auch dass er seinem besten Freund hilft, sie zu vergewaltigen.“

„Du weißt aber schon, dass das harte Anschuldigungen sind, oder?“

„Na und? Besser sie ist vorgewarnt. Die haben echt bewiesen, dass sie so sind.“ Dennoch war ihr Gesicht traurig und Shina kam es vor, als wenn durchaus ein schlechtes Gewissen mitspielte.

„Das ist aber kein Grund eklig zu dir zu sein. Wie weit sind sie gegangen?“

„Ich will nicht drüber reden.“

„Wieso nicht?“ fragte Shina. „War es so schlimm?“

Hiroko schüttelte den Kopf – wissend, dass ihr noch schlimmere Dinge hätten passieren können. Dennoch war die Demütigung und die Schmach noch riesengroß. Kein Wunder also, dass ihr die Tränen kamen und sie den Kopf auf den Schoß drückte, um zu schluchzen.

Kurz darauf hörten sie, wie jemand zu ihnen gerannt kam und schwer atmend vor ihnen stehen blieb.

„Gott, noch rechtzeitig! Hier bin ich!“ sagte die Braunhaarige und ihre beste Freundin sah auf.

„Sehr schlechtes Timing, Mi-chan“, meinte Shina, legte die Hand um Hirokos Schulter und versuchte ihr Trost zu spenden.

Akemi setzte sich neben sie. „Was hat sie?“

„Shizuru war eklig zu ihr“, meinte sie – auch wenn es nicht alles war, was nicht stimmte.

„Ist wohl ziemlich frustriert, nachdem sie von heute auf morgen abgeschossen wurde. Nimm es dir nicht so zu Herzen, Hiroko-chan“, sagte Akemi aufmunternd und strich ihr über den Kopf, wie einer kleinen Schwester. Kein Wunder, schließlich hatte sie ja selbst eine.

„Ich hab was Blödes gemacht und deswegen zweifelt Riina an mir nun.“

„Wieso denn Riina?“ hinterfragte Akemi jetzt und Hiroko sah verheult auf.

„Ich hab Riina gesagt, dass Toshi genauso furchtbar ist wie Takahashi! Deswegen wollte sie nichts von ihm wissen. Dann hat sein Scheißfreund mir eine Lektion erteilt.“

„Was hat er gemacht?“

Sie zitterte und sah verzweifelt ins Gesicht der Dunkelbraunhaarigen. „Kenji und sein Anhang haben mich verschleppt… Dann hat Takahashi das Ruder übernommen.“

„Was zum…“

„Na, haltet ihr Maulaffenfeil?“

„Shizuru, das geht dich gar nichts an“, konterte Akemi angriffslustig und Shina stand auf.

„Mir reicht es! Ich werde Matsudaira darum bitten, dich heute nicht spielen zu lassen.“

„Was soll der Scheiß denn? Was hab ich verbrochen?“

„Ach, ich denke, das weißt du genau!“

„Du meinst wohl, weil du der Mannschaftskapitän bist, kannst du mich einfach aussortieren, wie? Ich glaub, dir geht’s zu gut.“

„Nein, dir geht’s zu gut, vor einem Spiel die Jüngsten zu ärgern. Ich finde eben, das muss jetzt Konsequenzen haben, zum Wohl des Teams.“

„Das ist was ganz Persönliches und hat mit dem Spiel überhaupt nichts zu tun, Shina-chan!“

„Nenn mich nicht Shina-chan!“ Sie fauchten einander an, als wenig später die Trainerin aufkreuzte und in die Hände klatschte.

„Wenn ihr mit genau diesem Nachdruck aufs Spielfeld geht, habt ihr praktisch schon gewonnen. Hebt euch das für’s Spiel auf.“

„Matsudaira-san… Shizuru-san hat Hiroko schikaniert. Ich finde eine Sanktion angebracht. Vor so einem wichtigen Spiel. Das macht man doch nicht!“

„Und wer soll stattdessen aufs Feld?“

„Miyako.“

„Wie bitte?“ war Shizuru schockiert. „Die Unerfahrenste? Bist du irre?“

„Ja, dann können Riina und sie wunderschön zusammenspielen.“ Rache war ja bekanntlich süß.

„Einverstanden. Aber nur die erste Hälfte und nur solange es nicht eng wird.“

„Gut.“

„Das können Sie doch nicht machen!“ Shizuru rannte der zum Bus gehenden Frau hinterher, war sehr aufgewühlt und verzweifelt, während Shina zufrieden lächelte. Das hatte sie davon.

Kurz vor dem Einstieg, grinste Matsudaira und flüsterte der 17-jährigen etwas zu: „Keine Bange. Miyako vergeigt es sowieso. Du bist schneller auf dem Platz, als du schauen kannst. Und ich mache das nur, damit sie mir vertraut.“

Shizuru beruhigte sich in Windeseile, warf Shina noch einen bitterbösen Blick zu, drehte dann den Kopf eingebildet zur Seite und sprang in den Bus, nur um sich jenseits von allen ganz nach hinten zu setzen. Die wichtigsten Leute würden zu ihr nach hinten kommen. So hatte sie wenigstens ihre Ruhe. Mussten die immer so zusammenhalten?

„So, dann wollen wir mal, was Hiro-chan?“

Diese nickte und lächelte dankbar, immerhin hatte sie Trost gehabt und wischte sich jetzt auch ganz tapfer die Tränen weg.

 

Im Bus hatten sich die Jüngsten zu den Älteren herumgedreht, auch wenn es hieß, dass sie besonders ungezogen mit den Knien zur Lehne saßen.

„Also, kannst du mir das erklären, Shina-san? Ich versteh nicht so ganz, wieso wir am Anfang vorne stehen sollen. Was genau denkt sich Sêiichî dabei?“

„Warum fragst du das deinen Freund denn nicht selbst, mhm?“ konterte die Hellbraunhaarige der Schwester von Wataru, woraufhin Akemi ihr in die Seite stupste. „Na hör mal. Sie will doch nicht als Dummchen vor ihm dastehen. Erklär du’s ihr, Yûmikô-san.“

„Hey, wir spielen gegen mein altes Team, die kennen wohl jeden Trick, den ich aufwenden könnte und sie haben große, angriffsstarke Spielerinnen, die gleich zu Anfang das Netz einnehmen.  Sie rechnen also fest damit, dass wir auch gleich die Stärksten nach vorne bringen. Das Problem daran ist, dass ihr unerfahren seid und sie euch leicht überrennen können, deswegen dreht Sêiichî eben den Spieß um. Er überlässt uns die harten Brocken und ihr macht den Angriff.“

„Riina ist groß, die kriegt das sicher hin, aber wir? Also ich weiß nicht, ob ich das so gut finden will“, seufzte Miyako.

„Ach was, man muss sich nur trauen.“

„Ja, aber der Angriff wird zu schwach, ihr Nasen. Shina muss mir ja aus persönlichen Gründen dumm kommen – ich könnte sie bestimmt sehr gut unterstützen, immerhin habe ich viel mehr Erfahrung – und guck dir doch Miya an, die macht sich vor Angst wohl ins Höschen“, meinte Shizuru.

„Man bist du eingebildet… Dann sind sie eben unerfahren, aber du wirst sehen, dass du auch bloß Mittelklasse bist.“

„Was hast du da gesagt, Akemi? Ich bin was?“

„Hätte jetzt nicht sein müssen“, flüsterte Yûmikô, aber offenbar kam das Team mit der kleinen arroganten Prinzessin nicht mehr zurecht, daher kam es vermehrt zu Streit.

„Riina und ihr Anhang sollen also erfahrene Abwehrmechanismen überwinden. Na, ich sag mal viel Spaß. Wir werden mindestens drei Punkte einbüßen, bis sie endlich hinten sind, wo sie hingehören“, regte sich Shizuru tierisch auf und fragte sich, warum Sêiichî eigentlich der Lakai für ihre Trainerin sein wollte und ihr diesen Quatsch nicht ausredete, den Shina in ihrem Dickschädel hatte.

„Sêiichî will auch nur sein Püppchen zum Star machen – als wüsste ich das nicht.“

„Klar, Starposition ist ja auch deine, wie?“ fragte Akemi angriffslustig. „Meinst du im Ernst, dass Takahashi dich wieder anguckt, wenn du Shina aus dem Team mobbst und dann ihre Position spielst? Der kommt ja postwendend zu keinem unserer Spiele mehr – was juckt den Volleyball? Der geht lieber mit Ryo und Toshi Basketball spielen.“

„Das hat überhaupt nichts mit ihm zu tun“, entgegnete Shizuru giftig und Akemi grinste überlegen. „Ja, klar, natürlich. Hast ja auch voll gar nicht überreagiert, als Saki in unsere Klasse kam und plötzlich Prinzessin spielen wollte. Ist ja dein Job.“

Von hinten prustete nun Naru los. „Weil Takahashi ja auf Prinzessinnen mit Rüschen und so was steht, gell? Ihr seid ja so drollig.“

„Was hast du denn zu melden? Willst ja freiwillig deine Position einem Newbie überlassen!“

„Wie sollen sie sonst was lernen, wenn wir sie nie lassen?“ erwiderte Naru nüchtern, ohne auch nur ansatzweise auf den Angriff einzugehen.

Schließlich erhob sich Sêiichî vom Platz und ging nach hinten, um nach dem Rechten zu sehen.

„Worüber regt ihr euch so auf?“ fragte er, direkt an Shizuru gewendet.

„Ich find’s voll unfair. Ich bin eine gute Spielerin. Und mich sollen Leute ersetzen, die nichts draufhaben.“

„Nichts? Also jetzt schnappst du wohl über, wie?“ ärgerte sich Shina.

„Halt du doch die Klappe, du bist natürlich auf Riinas Seite!“

„Was soll das heißen?“

„Na, ist die Schwester von Wataru, deinem besten Freund! Was denn sonst?“

„Du suchst es dir auch aus, wie du gerade willst, oder? Wenn das so ist, was hat das denn dann mit Miyako und Hiroko zu tun? Die spielen immerhin mit Riina in der gleichen Reihe. Sind die vielleicht auch die Schwestern von Shinas engen Freunden?“

„Das tut sie doch bloß, um mich fertig zu machen!“

Es war so weit, die Dramaqueen drückte auf die Tränendrüse und wischte sich die Tränen, die sie fließen ließ, aus dem Gesicht.

„Ihr seid alle so fies zu mir, weil ich gut ankomme.“

Sêiichî verdrehte die Augen und sagte dann: „Also, um ehrlich zu sein, solltest du dir überlegen, ob Volleyball echt das Richtige für dich ist, wenn dich das alles schon so trifft. Im Volleyball wird man eben ausgetauscht, und zwar ganz schnell. Mach doch lieber Einzelsport, wenn dir das mehr liegt.“

„So was muss ich mir nicht von einem Stümper sagen lassen!“ meinte sie, stand auf und rannte direkt nach vorne zur Lehrerin, um die auch noch anzuschnauzen, weil sie Sêiichî viel zu viel traute. Was wusste so ein Macho schon von einem Mädchensport?

„Matsudaira-san! Ich finde, Sie hören viel zu sehr auf Iwamoto-kun! Warum glauben Sie, er sei geeignet, Entscheidungen zu treffen? Wir sind gleich alt! Ich lass mir vor gleichaltrigen doch nichts vorschreiben!“

„Shizuru-chan, das habe ich dir doch schon erklärt“, seufzte die Trainerin leicht entnervt. „Bitte setz dich wieder hin.“

„Du hast wohl noch nie Volleyball angeschaut. Du praktizierst es zwar, aber ansonsten weißt du nicht das Geringste“, mischte sich Ryochi ein. „Ich möchte wetten, Sêiichî hat mehr Spiele gesehen und praktiziert als du. Außerdem war er Mannschaftskapitän unseres Teams. Bist du jetzt schockiert?“

„Pack jetzt nicht wieder diese alte Story aus, die hängt mir zum Hals raus!“ sagte Sêiichî.

„Ist mir völlig egal, wie viele Spiele er gespielt hat. Was zählt ist, wie viele sie unter seiner Führung auch gewonnen haben!“ Dann streckte die Schwarzhaarige ihm frech die Zunge raus.

„Genügend“, meinte Ryochi. „So viele, dass auch das Jungs-Team von Nagoya ihn wollte.“

„Ryo, lass gut sein. Sie will mich nicht mögen, lass sie eben.“

„Schluss jetzt! Ihr alle! Meine Entscheidung steht fest. Er legt die Taktik mit Shina aus, basta!“

„Aber, das ist reine Schikane! Hat er Sie etwa um den Finger gewickelt?“

„Ja, genau, ich bin so schlimm, dass ich mit der Lehrerin anbändle.“

Man hörte das leicht Verletzte aus Sêiichîs Stimme, dabei hatte er so etwas überhaupt nicht nötig, zu tun. Egal, ob er sich für ältere Frauen interessierte, man musste ihm hier nicht gleich so etwas unterstellen.

„Geben Sie es zu, sie finden ihn besonders schnuckelig!“

„Shizuru, du gehst zu weit, du redest mit unserer Trainerin! Nimm dich gefälligst mal etwas zusammen“, rief Naru ihr durch den gesamten Bus zu und stand dann auf, um sie am Handgelenk zu nehmen und sie nach hinten zu zerren. „Setz dich hin und halt endlich mal deine dumme Klappe!“

„Also Naru!“, tat Miyako schockiert, aber Riina zuckte nur mit den Schultern. Ihre beste Freundin war nicht auf den Mund gefallen, noch nie.

„Nichts, also Naru! Mach der armen Shina nicht immer das Leben schwer, nur weil dein Ex in sie verknallt ist!“

„Ey, spinnst du? Du tust mir weh!“

Shizuru wurde ziemlich grob und schroff auf den Sitz befördert und böse angesehen.

„Ich kann noch ganz andere Seiten aufziehen! Ich kenne deinen Vater! Was wird der sagen, wenn er erfährt, wie ungezogen sich seine Tochter hier aufführt?!“

„Was? So was würdest du mir echt antun? Was bist du denn für ein Biest?“

„Oh man, ich sehe hier nur ein Biest und das heißt Shizuru“, äußerte sich Ryochi dazu, er konnte sie wirklich kein Stück leiden. Was hatte Takahashi auch noch laut rumgeschrien, Shina sei hübscher und vor allem viel intelligenter als sie. Seitdem hatte Shizuru ein ausgewachsenes Egoproblem.

„Willst du jetzt auch auf mir rumhacken?“

„Na, vielleicht lernst du dann, was du mit anderen immer so machst“, sagte Ryochi ein bisschen mitleidslos. „Ich kann Mobbing nicht ausstehen. Und ich werde nicht den Mund halten, schon gar nicht vor dir.“

„Eigene Medizin schmeckt eben nicht“, sagte Akemi und lächelte in die Runde. „Aber gerecht ist es trotzdem. Sei einfach friedlich, dann kann dich auch endlich mal einer wirklich leiden und sieht dich nicht nur als Mittel zum Zweck.“

„Was sagst du da?“ Vielleicht war Akemi zu weit gegangen, indem sie diese Ungeheuerlichkeit aussprach. Shizuru war hübsch und ihre Familie hatte jede Menge Geld, die meisten Mädchen waren gern mit ihr befreundet, und zwar nur deswegen und nicht wegen ihres Charakters. Auch die Jungs mochten sie nicht, weil sie so nett und liebenswert war, sondern sie war gut zum Angeben.

Mit den aufgekratzten Gemütern würden sie ganz bestimmt ganz toll spielen, dachte sich Naru. Ja, sie war mega verärgert deswegen. Wenn es nach ihr ginge, sollte man jeden rausschmeißen, der keinen Mannschaftsgeist hatte, sondern nur auf den eigenen Erfolg aus war. Was juckte Shizuru überhaupt das Team? Die Hälfte würde sie am liebsten loswerden, selbst wenn sie dann nur noch halb so stark wären.  War es nicht eigentlich nicht ganz schön anstrengend immer so bösartig zu sein?

 

Die Halle war gut gefüllt, da hatten die Jungs kaum die Chance noch einen Sitzplatz zu bekommen, also standen sie anderen Leuten im Blickfeld. Da kam es wie es kommen musste, ein Mann im mittleren Alter rief den Beiden zu, sie mögen doch ein bisschen zur Seite gehen…

Takahashi drehte sich herum. „Entschuldigung“, meinte er beim Herumdrehen. „Es ist sehr voll.“

„Sieh mal einer an. Das ist ja eine Überraschung.“

„Was?“ wollte er von dem schwarzhaarigen Mann wissen. Auch seine Frau neben ihm blickte ihn fragend an. „Kennst du sie etwa?“

„Oh ja. Das sind zwei der Jungs, mit denen Shizuka sich rumgetrieben hat.“ Der Mann lachte amüsiert.

„Hab ich gar nicht“, gab Toshizo schmollend von sich. Wenn jemand sich mit dem Mädel rumgetrieben hatte, dann war das Sêiichî.

„Ich kenn dich sehr gut.“ Unter seinem Pony lugten schelmisch aufblitzende Augen empor ins Gesicht des Dunkelbraunhaarigen.

„Bedauerlich“, seufzte Takahashi ironisch und wollte sich schon herumdrehen, als der Gute seine Frau mit dem Schoß etwas zur Seite schob und neben sich auf den Platz klopfte. „Setz dich doch zu uns, Junge.“

„Cool!“ Toshizo war ziemlich schnell darin, sich einfach hinzusetzen, was Takahashi nur einen leichten Schweißtropfen die Wange runterrinnen ließ.

„Das sind Otakés Eltern. Sag bloß du erinnerst dich nicht?“

„Ich glaub, ich will mich nicht erinnern.“ Takahashi drehte sich herum und schaute zum Volleyballfeld.

„Was hat er denn?“ wollte die Frau wissen und der 46-jährige lachte leicht amüsiert über das Benehmen. „So ist das eben, er ist auf Yûmikôs Niveau“, flüsterte er. „Bestimmt fühlt er sich jetzt wieder belästigt…“

Erschrocken drehte sich der Junge wieder herum, um den Mann widerspenstig anzublicken. „Tue ich gar nicht, ich möchte nur das Spiel sehen, Sensei.“

„Oh, der Herr möchte sich jetzt doch erinnern, wer ich bin.“ Er blickte zur Seite, wo eine weitere männliche Person auf sie zusteuerte und ihnen wank. Als er Takahashi sah, bemerkte man leichte Anspannung.

„Würde es dir was ausmachen zu stehen, Yus(u)?“ fragte der Mann.

„Warum?“

„Schau mal, das sind Tak und Tosh, wie Leena sie nannte!“ verkündete er.

„Ja, ich weiß“, seufzte Yûsuke, nickte einmal höflich, stellte sich neben Takahashi und wies ihm an, sich zu seinem Vater zu setzen. „Nur zu, Vater will es so.“ Was sein Vater wollte, war Gesetz, wie in den meisten Familien, dabei war er noch recht locker für das, was er beruflich machte. „Aber Toshi hat sich doch schon vorgedrängelt“, lachte der Braunhaarige, weiterhin versuchend sich zu drücken.

„Oh, tut mir leid.“

Toshizo stand auf und schnellte nach vorne zu Yûsuke. „Jetzt setz dich schon hin. Mach schon!“

Der 18-jährige gab sich geschlagen und setzte sich neben den Mann. Dieser legte kameradschaftlich den Arm um ihn. „Was macht die Schule? Ich habe gehört, du gehst jetzt auf eine Eliteschule.“

„Ja, Toshi auch.“

„Oh. Wirklich?“ Der Schwarzhaarige sah auf, Toshizo hörte ihn zwar, ignorierte es aber. ‚Ja, ich weiß, ich bin nicht so schlau. Reib’s mir doch noch mehr unter die Nase, alter Mann!‘

„Ja, er war da sogar vor mir“, verriet Takahashi. „Sein Vater hat ihn da angemeldet.“

„Beziehungen also. Kommt er dort denn überhaupt zurecht?“

„Er hat mich.“

‚Danke, Tak. Ohne dich wär ich ja auch aufgeschmissen. Mit Idioten wie Kenji um mich rum lande ich auf der Straße, weil Vater mich rauswerfen würde, wenn ich zu lange mit denen rumhänge.‘

„Das Leid der Normalen“, flüsterte Yûsuke.  „Ist es nicht so?“

„Schon.“

„Hast du etwas gesagt, Sohn?“ fragte der Mann und der Angesprochene schüttelte den Kopf.

„Also, erzähl, Takahashi. Wird die Schule ihrem Ruf gerecht?“

„Kann man so sagen. Es gibt fortgeschrittenen Kurse ohne Ende. Man entscheidet sich praktisch schon vor dem Abschluss, wie es später weitergehen soll.“

„Das heißt, du weißt schon, was du machen wirst?“

„Vielleicht.“ Das ging den Mann doch gar nichts an, aber er schien sich wirklich sehr für ihn zu interessieren.

„Die Empfehlung für die Keio hast du doch schon.“

„Das ist doch die totale Angeber-Uni“, sagte er frech, aber der Mann lachte nur. „Und du willst ja kein Angeber sein.“

„Ne, dann würde er Sêiichî heißen“, mischte sich Toshizo ein.

„Na sein Glück, dass er das nicht tut“, zischte auch Yûsuke.

„Was sind das denn für Töne, Yus?“

„Ach, du weißt doch, dass er dem Jungen krummnimmt, dass er seine Freundin betrogen hat.“

Takahashi könnte es richtigstellen, aber er hielt die Klappe, das würde nicht gut ausgehen. Er war leider zu schlau, um sich auch noch einen Dozenten zum Feind zu machen. Für den Mann stand schon fest, dass er studieren würde. Alles andere hätte ihn bestimmt schockiert.

„Aber du fühlst dich jetzt gut aufgehoben auf dieser Schule, oder? Bestimmt hast du jetzt mehr Freunde. Auf die Teitan gehen nur überdurchschnittliche Schüler.“ Ja, bis auf Toshizo und Sêiichî. Bestimmt lag es ihm auf der Zunge. Sie hatten aber trotzdem den Aufnahmetest bestanden, also konnten sie kaum so dumm sein, wie man von ihnen dachte.

„Was meinten Sie, als Sie sagten, Yumi und Tak sind auf demselben Niveau?“ fragte Toshizo, der wohl ganz schön gute Ohren hatte, um sein Flüstern mitzubekommen.

„Das musst du mir auch erklären, Liebling.“ Schließlich gab es fast niemanden, der an ihr Kind heranreichte, sie war nicht umsonst auf das Nagoya Mädcheninternat gegangen und hatte sich nebenbei in einem Elite-Volleyballclub beliebt gemacht.

„Na, er hatte im Intelligenztest die volle Punktzahl und das in relativ kurzer Zeit. Genauso wie unsere Tochter. Ich habe seiner Mutter damals dazu geraten, ihren intelligenten Sohn zu beschäftigen, damit er nicht auf dumme Gedanken kommt, weil er sich so fürchterlich langweilt.“

„Soll das heißen, die Sasaki sei für Dumme?“ fragte Takahashi angriffslustig, immerhin waren auch die Akajas auf diese Schule gegangen und von denen war keiner dumm.

„Nein, aber die Teitan ist definitiv die bessere Wahl. Das sind die meisten Privatschulen in Tokyo. Auf dem Land glauben Sie immer noch, dass Prügel Kinder zum Lernen animiert. Diese veralteten Erziehungsmethoden sind mir zuwider.“

„Ach, auf der Teitan gibt es auch einen Satz heiße Ohren, wenn wir uns nicht diszipliniert benehmen“, sagte Takahashi.

„Mach keinen Ärger! Beschäftige dich besser mit sinnvollen Dingen.“

„Ich prügle mich nur, wenn die Leute mich angreifen!“ behauptete der Braunhaarige und wurde direkt stolz angelächelt. „Da kann deine Mutter ja endlich aufatmen.“

„Ich war nie schuld, wenn es gekracht hat!“

„Das weiß ich doch.“

Die 45-jährige bemerkte sehr schnell, dass der Junge schnell in Fahrt zu bringen war, eine nicht gern gesehene Eigenschaft, die man ihrem Mann allerdings auch abgewöhnen musste. Er war in jungen Jahren auch viel zu aufbrausend gewesen.

„Hallo!“ rief ein rothaariges Mädchen wild winkend und rannte auf sie zu. Ganz zum Leidwesen aller Menschen, die sich sofort gestört fühlten.

„Das nächste wilde Kind“, lachte ihre Mutter.

„Was macht ihr denn hier?“ wollte sie von Takahashi wissen. „Sitzt du etwa auf meinem Platz?“

„Kann sein, aber auf meinen Schoß ist auch noch Platz.“

„Schämen solltest du dich!“ meinte Leena und wedelte mit dem Finger.

„Was? Saki-chan würde das Angebot annehmen… Also jedenfalls die Saki, die wir so kennengelernt haben.“

Der Dozent bemerkte den leichten Schweißausbruch, als hätte der Junge gerade total frech gelogen, allerdings passte das nicht zu seinem Wesen. Er konnte lügen, ohne rot zu werden.

„Ach Saki, der Störenfried“, meinte der Schwarzhaarige. „Kein Beispiel dran nehmen, Leena-chan.“

„Aber sie ist begabt!“ sagte Leena, was klar ein Widerspruch zu der Aussage war.

„In Kunst und Musik, der Rest leidet, weil die Dame keine Lust dazu hat. Damit schadet sie sich. Man muss in allem versuchen sein Bestes zu geben.“

„Ja, Papa. Und es wäre sehr ungezogen, wenn ich auf deinem Schoß  sitze.“

„Also wirklich“, sagte Toshizo, dabei war er auch nicht ohne, was das anging.

„Wie war das?“

„Weil ich ein Gentleman bin“, sagte der Braunhaarige, stand auf und deutete ihr den Platz. „Eine Dame sollte nicht stehen.“

„Oh, eine Dame.“  Leena fühlte sich geehrt, sie war eben jung und naiv.

„Schaut mal. Das ist ja eine ganze Horde Paparazzi!“ deutete Leena an, als sie die Kameramänner in den Ecken entdeckte und auch einige Reporter, die sie schon von früher kannte.

„Tja, kaum ist nen Star auf unserer Schule, rennen die uns die Bude ein. Ist ja auch gar nicht der Fall, dass Shina und Naru auch gut sind, oder Akemi, die sie immer unterstützt!“

„Oh, wer von den Mädchen ist dein Schätzchen?“ fragte der 46-jährige lachend.

„Also Takeru!“ amüsierte sich auch seine Frau, die eher als strenge Lehrerin bekannt war, aber sie waren gerade keine Lehrer, sondern zum Spaß hier.

„Mein Schätzchen? Habe ich nicht vorzuweisen.“

„Was? Dann sind die Mädchen wohl blind“, sagte die Lehrerin bedauernd.

„Tja, so ist das Leben.“ Er wirkte nicht im direkten Sinne traurig, kein Wunder, er beherrschte es perfekt, es zu verbergen wie alle Japaner.

„Ja, die Mädels sind total doof. Tak ist der Beste.“

„Man, Toshi hat sich ja auch nicht verändert“, sagte der Dozent zu seiner Frau und lächelte. „Haben schon damals zusammengehangen, obwohl ich sie trennen wollte.“

‚Kein Wunder, dass er so getan hat, als würde er sie nicht kennen‘, dachte Toshizo, der sich auch ungern von seinem besten Freund trennen lassen würde.

„Hey, er ist praktisch meine bessere Hälfte, von dem trennt mich keiner! Ich glaube, ich würde mich für ihn entscheiden, wenn meine Freundin ein Problem mit ihm hätte. Da würde ich ja eher sie abschießen.“

„Bei Shina würdest du das nicht können“, ärgerte ihn Toshizo, aber sein bester Freund sah ihn nur ernst an: „Die würde nicht verlangen, dass ich mich von dir trenne, Witzbold.“

„Das klang mächtig schwul. Bei den langen Haaren würde ich mich vorsichtiger ausdrücken“, äußerte sich Yûsuke leicht spitzbübisch dazu.

„Von einem wie dir erwarte ich, dass du dich zurückhältst. Wer weiß, welche Geheimnisse ich sonst so ausplaudern könnte, was Yus?!“

Takahashi war zu neugierig, daher wusste er viele Dinge, mit denen er anderen schaden könnte.

„Für einen 18-jährigen bist du ganz schön frech!“

„Ach? Wolltest du nicht sagen, für einen 18-jährigen Psycho, mhm, mhm?“ Er provozierte ihn klar und sein Vater fand das mehr als bedrohlich.

„Es reicht, Yûsuke!“

„Was willst du, Vater? Er ist der Junge, der einen seiner Mitschüler fast totgeschlagen hätte!“

„Hättest du an meiner Stelle auch und das ganz ohne psycho zu sein.“ Es war eine glatte Frechheit, dass Yûsuke das anführte, immerhin wäre es ihm doch recht gewesen, wenn er den kleinen Spinner aus ihrer aller Leben entfernte.

Das Abscheuliche an Japan war, dass man mit eigenem Willen sehr schnell unter der Masse auffiel und nicht gern gesehen war, wie der Professor der Keio-Daigaku einem wieder einem verdeutlichte. Es lag klar auf der Hand, wieso Saki kein Umgang für sie war. Oder sein sollte. Sie hatte ihren eigenen Kopf und stellte die Regeln der anderen in Frage. Sie hatte ihren eigenen Kopf. Wenn sie ein Thema nicht interessierte, dann war sie nicht motiviert. Es gab Dinge, die wollte sie auch gar nicht lernen. Regeln der Gesellschaft waren dafür da, um gebrochen zu werden. Bestimmt hatte Toshis Vater eine ähnliche Meinung über sie, immerhin hielt er sich strikt an Gesetze. Die engstirnige, folgsame Gesellschaft beneidete die Sturköpfe am Ende noch dafür, weil sie selbst sich gar nicht trauten, sie selbst zu sein. Ihm gefiel es, wenn jemand sich durchsetzte und seinen eigenen Weg ging. Toshizo war weit davon entfernt, das zu tun, was er wollte. Er würde so ein schmieriger Geschäftsmann werden. Wenn nicht Marketing, dann eben Betriebswirtschaft und das ganz ohne Interesse daran. Vielleicht besaß er Hoffnung, dass die Zeit blieb, um etwas Eigenes zu schaffen. Dass sein Vater lange genug lebte, dass er sich etwas aufbauen konnte, ehe er die Firma und all das Geld erbte. Die Hoffnung starb ja zuletzt. Aber ihm schien, Toshizo hatte nicht wirklich Träume. Wie einsam. Sein Vater hatte ihm eben versäumt beizubringen, wie man sich zu einem eigenständigen Menschen entwickelte, weil er das ja gar nicht wollte, er wollte einen artigen, folgsamen Sohn, wie die meisten Japaner. Wie grotesk, dass ausgerechnet er es war, der angeblich nichts mehr liebte, als andere herumzukommandieren. Willenlose, abgestumpfte Handlanger, wie alle Psychopathen sie sich heranzogen. Jetzt war er der Einzige, den interessierte, dass Toshizo das tat, was er wollte, nicht das, was andere wollten. Er würde ganz bestimmt nicht alles dafür tun, um der kaputten Gesellschaft zu gefallen, die fand er viel zu dämlich.

Nichtsdestotrotz war er ihm lieb und teuer. Und er würde ihm beistehen, auch darin eigene Entscheidungen zu treffen. Bestimmt würde man ihm nachsagen, er steuere seinen Willen, denn er war ja ein Kind mit manipulativem Verhalten, wie sie behaupteten, weil es so gut zu seinem erhöhten „Score“ passte. Dass ihm Toshi auch nur wichtig war, bezweifelten sie. Ihm war nichts wirklich wichtig, was mit anderen zu tun hatte, nur sein eigenes Wohl. Menschen waren ja nur zum Benutzen da. Sogar seine Mama wurde nur von ihm manipuliert, sagten sie, sie solle den liebevollen Kinderaugen nicht alles glauben. Weil sie ihn beschützen wollte, vor den bösen Menschen, die ihn verurteilten, weil er ‚anders‘ war. Er hatte sie nicht lieb, wie er behauptete, auch das nannten sie reine Manipulation. Er musste wohl wissen, ob er sie liebhatte oder nicht. Sie wussten es ja besser, was in ihm vor sich ging. Auch einen besten Freund traute man ihm nicht zu. Ob er für sie sterben würde, beantwortet er mit zwölf einfach ohne mit der Wimper zu zucken, und leider mit den falschen Worten. <“Ich würde es verhindern und dabei sicher nicht draufgehen. Selbst, wenn ich morden müsste. Ich würde es tun, um ihn zu beschützen.“> War das wirklich so schlecht? Ganz klar ja, denn Mord war ein Verbrechen und er fürchtete sich nicht es zu begehen. Das, was zwischen den Zeilen stand, ging neben dieser Info unter, dabei war es wichtig. Er würde jemanden ermorden, der seinen Leuten böses wollte, für jemanden, den er gernhatte, würde er so weit gehen. Wie gern? Seine Mutter war seine Mutter, ihr hatte er alles zu verdanken. Toshi gehörte zu ihm, er war ihm wichtig. War das schon egoistisch? Die Experten sagten ja, weil sie keine Kompromisse eingehen wollten.

 

Yûsuke vertrat sich die Beine nach Takahashis Drohung, er könnte seinen Eltern Dinge über ihn erzählen. Er fand es ja irgendwie witzig, dass er einen 25-jährigen einschüchtern konnte.  Bestimmt hatte sein Vater ihn aufgeklärt, wie es um den 17-jährigen stand. Er spürte klare Antipathie bei ihm, aber auch bei sich selbst. Takahashi mochte keine Junkies, das war ein Zeichen von Schwäche. Yûsuke konnte es nicht verbergen, dass er hochgradig abhängig war.

 

Shina war besonders. Nicht so wie er, sondern besser. Sie hatte keine Angst, sich wehzutun. Verblüfft beobachtete er, dass Riina und sie heute Positionen getauscht hatten. Hinten, so sprach die Erfahrung, war die gefährlichste Position. Man musste nur einem Ball falsch parieren und schon tat man sich ziemlich weh. Trotz dieser Gefahr waren die Mädchen sehr furchtlos. Allenfalls wirkte Hiroko etwas nervös, dabei konnte vorne wenig passieren.

Immerhin warfen sie sich Bällen entgegen, denen man besser ausweichen sollte. „Hey, Tosh, scheint so, als wollte Riina heute den Star spielen.“

„Unmöglich, mit Yumi im Team“, lachte der Dozent. „Was macht sie überhaupt da hinten?“

„Ihr Leben riskieren, was sonst?“ witzelte Takahashi frech. „Also zumindest die Handgelenke…“ Dabei grinste er den Mann neben sich so dermaßen an, dass dieser dachte, Tak stand darauf, wenn Mädchen sich wehtaten. Ehrfürchtig rutschte er auf der Bank herum.

Die Mannschaftskapitäne kämpften am Netz um das Aufschlagsrecht. Shina gewann dieses Spiel, wie in den meisten Fällen.

„Tak, kennst du dich aus?“ fragte Leena.

„Ein bisschen, wieso?“

„Yumi sieht echt gefährlich aus…. Also gerade… Meinst du, es ist beabsichtigt, den Gegner gleich am Anfang zu verunsichern?“

„Es ist klug, sie ist gut im Aufschlag“, meinte ihre Mutter daraufhin stolz, da lachte Takahashi.

„Würde passen, wenn diese guten Aufschläge bei ihrem alten Team nicht bereits bekannt wären…“

„Es wäre noch schlauer, komplett anders zu spielen“, äußerte sich Leena weiter dazu, stand auf, drückte Takahashi auf die Bank nieder, ehe er sich versah, warf sie sich dann übermütig auf Taks Schoß, der sich das einfach von dem Mädchen gefallen ließ, obwohl er sich schon fragte, warum sie ihren Vater jetzt verärgern wollte.

„Nimm dir keine Schwachheiten raus, weil du mich dann kennenlernst.“

„Will eh nicht zur Keio.“ Was sollte der alte Mann schon tun? Und was traute er ihm bitte zu? Welche perversen Spielchen pflügten ihm durch den Kopf? Das überstieg dessen Horizont doch bestimmt um Längen.  Einem mit seinem Score musste man ja alles zutrauen. Auf jeden Fall sehr viel mehr als Zungenküsse und die wollte er ihm sicher schon verbieten.

Manchmal hatte er gemeine Gedanken und aus reiner Fiesheit würde er schon an Leena rumfingern, aber das überließ er Toshi.

Man verdächtigte ihn wegen seiner dunklen Persönlichkeit und Toshi durfte Leena abfüllen und sie vernaschen, den verdächtigte Daddy gar nicht erst.

„Paps, sei nicht immer so peinlich. Ich will eben sitzen. Dann nehm ich auch Tak.“ Sie lächelte. „Und er will auch sitzen, nicht?“

„Nicht schlau ausgedrückt. *Nimm mich besser nicht*. Nicht, dass du dann verdorben wirst.“

Leenas Adoptivmutter warf ihrem Mann besorgte Blicke zu, während Takahashi teils recht diabolisch grinste.

Leena war übermütig, wenn Toshi dabei war, deswegen flüsterte sie Tak etwas Schmutziges ins Ohr. Wären sie alleine, hätte sie sicher Angst.

„Mein strenger Dad würde sicher einen roten Kopf kriegen, bevor er etwas tun könnte, wenn du deine Hand in mein Höschen schieben würdest.“

„Provozier mich nicht, oder ich tu‘s.“

Leena kicherte, immerhin war das selbst für Tak ganz schön überheblich.  Das würde er kaum tun, wenn ihr Vater neben ihnen saß.

„Lachst du mich gerade aus?“ fragte er sie und sie linste nur verstohlen zu ihm.

„Ein bisschen. Du tust mir jetzt eh nichts.“

„Und später versteckst du dich dann hinter Toshi. Ja ja.“ Warum wollte sie eigentlich unbedingt auf seinem Schoß sitzen? Toshis Schoß hätte er noch verstanden. Sie standen sich immerhin irgendwie nahe, waren enge Freunde gewesen.

 

Das Spiel wurde endlich angepfiffen. Das Geräusch vom Aufschlag ertönte und das gegnerische Team ließ ihn durch, in der schier unendlich sicheren Gewissheit, er würde im Aus landen. Zu ihrem Leid tat er das nicht, da er stark verlangsamte und dann haarscharf auf der hinteren Linie landete.

„Das war Glück, don’t mind!“ rief die Verteidigerin in der Mitte und riss beide Arme hoch. Der Schiedsrichter pfiff und der nächste Aufschlag kam rasch angeflogen, diesmal weiter vorne, so dass der Kapitän ihn direkt zurückschmetterte, um Shinas Team in die erste brenzlige Situation zu bringen.  Diese jedoch parierte, der Ball flog hoch und Miyako verpasste die Chance, ihn zu stellen, so dass Riina geistesgegenwärtig zum Angriff überging und der Ball vor der Nummer Drei zu Boden ging und im Gegnerfeld landete.

Der Ball flog zurück ins eigene Feld, direkt in Yūmikōs Hände. Diese ging hinter die Linie und gab ihnen einen Sprungaufschlag, der im nächsten Punkt für das eigene Team endete.

Das Ganze schaffte sie ganze fünf Mal, ein schöner Vorsprung. Dann wurde der Kampfgeist des Gegners geweckt und sich gleich klar darauf fokussiert Shina und Naru auszuspielen, dabei unterschätzten sie Akemi völlig. Diese rannte ein wenig in die Mitte und setzte zu einem direkten Schmetterball an und schlug ihn knapp über Riinas Kopf und da er praktisch im Aus landen würde, nahm sie ihn direkt und schlug ihn nach unten, wo er unerreichbar blieb, so schnell berührte er das vordere Feld.

Fing ja besser an, als sie gedacht hatten. Shizuru warf der Trainerin einen traurigen Blick zu.

„Die gewöhnen sich schneller an die neue Taktik, als du schauen kannst, Herzchen. Hochmut kommt ja vor dem Fall.“

„Wollen Sie die Spielfeldseite wechseln?“ fragte Sêiichî sie daraufhin. Das fand er nicht lustig.

„Gerade du solltest wissen, dass eine Niederlage genau das Richtige ist, wenn alle sich zu siegessicher fühlen. Anscheinend glaubt Shina wirklich, dass…“ Erschrocken fuhr sie zusammen. „Was war das denn? Wo hat sie ihre Augen?“

Das war der Moment, wo das wahre Desaster begann.

 

Auch Takahashi war völlig davon entsetzt, wie ihr ein lascher Ball wie dieser einfach entgehen konnte. Er könnte schwören, dass sie nicht ganz bei der Sache war, so schlecht hatte er sie ja noch nie spielen sehen. Hoffentlich blieb es bei dem Patzer.

 

In der Tat, sie war in Gedanken ganz woanders und hätte sich besser vom Spielfeld verabschieden sollen. Aber sie war hartnäckig. Sie fühlte sich nicht wohl, weil sie die halbe Nacht wachgelegen hatte und war kaum in der Lage, mit dem Tempo mitzuhalten. Jedenfalls gerade nicht. Sie machten Druck und wollten den natürlich aufrechterhalten. Und wo war sie? Auf dem Spielfeld vielleicht körperlich anwesend, aber geistig war sie irgendwo im Krankenhaus und machte sich Gedanken um andere Menschen, weil das einfach ihre Art war.

Kein Wunder also, dass sie die Gedanken beinahe erschlugen und sie mehr Bauchlandungen hinlegte, als ihnen allen lieb war.

„Ist alles in Ordnung?“ fragte Akemi, zog sie vom Spielfeld hoch und sah ihr ernst ins Gesicht. Ihre beste Freundin aber schüttelte nur den Kopf und entschied zu lächeln. „Mischen wir sie richtig auf. Wir sind vorne. Die machen keinen Punkt mehr.“

Akemi wirkte nicht davon überzeugt, sie kannte sie zu lang, um die tiefe Schuld nicht zu bemerken, die sie in sich trug, aber mit keinem teilte.

5:3 sagte die Anzeigetafel. Daraus wurde schnell 7:3, da sie schließlich Experten im Angriff waren. Drei erfahrene Mädchen, die ohne Zweifel für ein starkes Angriffsteam standen. Naru machte hinten dicht. Immer, wenn ein Ball vom Gegner geschmettert wurde, waren Akemi und Shina da, um zumindest den Versuch eines Blocks zu unternehmen. In den meisten Fällen, gelang es ihnen, damit einen Punkt zu holen. Doch die ebenfalls talentierten Mädchen begriffen schnell, dass dieses Spiel nur dann funktionierte, solange die Positionen nicht gewechselt wurden. Ein einziger Punkt reichte aus, um die Rotation in Gang zu setzen und Naru aus ihrer Abwehrposition zu locken, um Riina und Hiroko aufs Korn zu nehmen. Die Blocks wollten gar nicht mehr klappen, da sie jetzt zu dritt angriffen und die drei Mädchen unmöglich enger zusammenrücken konnten, um jeden Ball abzuwehren.

Es wurde Zeit für eine Auszeit, aber die Trainerin reagierte nicht einmal. Sie ließ das Spiel laufen und einen Punkt nach dem Anderen verloren gehen, bis die drei Ältesten wieder hinten waren. 7:8 war jetzt der Stand und dann verpasste Shina noch einen gut platzierten Sprungaufschlag des Kapitäns, indem sie zwar ins linke Feld hechtete, ihn aber nur mit dem Zeigefinger erwischte und er ins Aus ging.

„Los jetzt, Auszeit!“ Sêiichî war aufgestanden. Die Trainerin hatte die Augen geschlossen und die Arme verschränkt. „Hallo? Ich rede mit Ihnen! Wir sind im Rückstand!“

„Setz dich, Sêiichî. Es ist der erste Satz!“

Mit zu Fäusten geballten Händen stand er da, konnte nicht glauben, dass das ihr Ernst war. Er rief aufs Feld: „Hast du dir wehgetan?“

„Nein, geht schon.“

Akemi und Yūmikō taten sich kurz zusammen, während die Schiedsrichter sich nicht einig wurden, ob der Ball das Netz berührt hatte oder nicht – definitiv nicht, aber es gab ihnen Zeit.

„Den hätte sie kriegen müssen…“

„Ja, ich weiß.“ Akemi sah Yūmikō bedauernd an. „Lass uns gemeinsam einen Angriff starten…“ Dann huschten sie auseinander und ein Aufschlag kam, der sich gewaschen hatte. Sie übertrat ihren zuständigen Bereich und tauchte vor Shina auf, um den Ball abzufangen. Er flog direkt vor Yumis Nase und sie stellte ihn nicht mal, sondern donnerte ihn in die rechte hintere Hälfte. Er sprang wieder sehr zielgerecht ins Eck auf die Linke, doch diesmal ließ man ihn nicht durch, sondern versuchte ihn zu erwischen. Er driftete ab und wurde von einer weiteren Spielerin direkt über das Netz befördert, wo schon die nächste sofort da war, um ihn ins Gegnerfeld zu schmettern. Naru hechtete vor und überschlug sich einmal, wobei sie sehr unglücklich auf dem Rücken landete.

Sie begab sich sofort auf die Knie und überwachte das Feld. Riina spielte Yūmikō einen guten Ball zu und es kam zum nächsten Angriff, der abgeblockt wurde und bei ihnen im Feld landete.

„Darf doch nicht wahr sein!“ ärgerte sich Yūmikō.

„Sorry“, kam von Naru, die wild winkend zum Spielfeldrand rannte. „Shina muss augenblicklich vom Spielfeld runter.“

„Was redest du da für einen Schwachsinn?“ fuhr die Trainerin sie an.

„Sehe ich auch so.“

„Ich bin der Trainer und du der Assistent, Sêiichî! Setz dich wieder hin.“

„Aber…“

„Los, ran da! Es geht weiter.“

Naru drehte sich herum, sah missgestimmt zu Akemi, dann zu Yūmikō.

Yūmikō und Shina waren jetzt vorne, Akemi als Hauptangreiferin links zu finden. Beim nächsten Aufschlag fackelte die Nummer zwei gar nicht erst und schlug ihn direkt zurück.

„So!“ sagte sie und rieb sich die Hände. „Jetzt machen wir die Angeber fertig!“

„Richtig so!“ stachelte Yūmikō sie noch an.

Riina musste aufschlagen und das hatten sie so lange geübt, bis es ihr in Fleisch und Blut übergegangen war. Kein Wunder, dass sie es schaffte, einen Punkt zu erzielen. Ihr Gegner kannte sie fast gar nicht, da gelang es besonders gut. Doch beim zweiten Versuch wusste Nagoya bereits, wie sie damit umzugehen hatten und bauten einen erfolgreichen Angriff auf.

Noch, während die drei Mädchen sich für den Angriff bereit machten, sagte Yūmikō nur „Mitte!“ und sie sprangen direkt vor deren Nase hoch, um mit sechs Händen die komplette Sicht zu versperren. Natürlich prallte der Ball ab und weil Akemi die Hände so formte, dass sie leicht nach unten zeigten, schlug er recht schnell zwischen das Angriffsteam, was komplett in der Mitte war, auf. Sie waren nicht in der Lage noch während dem Aufkommen zu reagieren.

„Dummheit wird eben bestraft“, sagte Yūmikō und nicht nur Shina war total geschockt von dem frechen Mundwerk, auch Akemi.

„Jetzt dreht sie durch, oder?“

„Los, jetzt will ich euch gewinnen sehen!“

„Spinnt die? Was soll das?“ regte sich Akemi auf, bekam aber keine Reaktion, sondern eine sehr konzentrierte Kämpferin, die nur den Sieg im Kopf hatte.

„Tjaja, das kommt davon, wenn man sich Sternchen ins Team holt und ihnen zu viel freie Bahn lässt“, sagte die Trainerin.

„Ohne Worte.“ Sêiichî konnte die Trainerin gerade kein Stück leiden.

„Die drehen den Spieß doch jetzt nicht um… Niemals… Das kann sie nicht wieder rausreißen. Shina ist überhaupt nicht bei der Sache… Was denkt die sich?“ lachte Shizuru und fing schon mal an sich warm zu machen.

Matsudaira beobachtete sie. Wenn die Kleine dachte, dass sie in dem Satz noch mitspielen durfte, war sie aber schiefgewickelt. Egal, wie demonstrativ sie sich aufwärmte. Ja, sie war gehässig und sie wollte diesen dummen Gören zeigen, dass man in einem wichtigen Spiel nicht auf Risiko spielte.

Riinas Aufschlag wurde direkt gekontert und der Ball landete vor der kleinen Angeberin, wo sie ihn mit einiges an Wucht ins Gesicht bekam und es nur ihrer Geistesgegenwärtigkeit verdankte, dass sie den Kopf leicht seitlich drehte und so nur ihr Wangenknochen abbekam und nicht die Nase.

Trotzdem fiel sie vor Schreck um und hielt sich die Wange.

„Das hast du davon!“ fauchte der Kapitän des Gegner-Teams. „Ihr Stümper erlebt jetzt euer blaues Wunder.“

„Bist du in Ordnung?“ fragte Akemi, obwohl es schon etwas verdient war.

„Ja, klar, ich bin hart im Nehmen.“

Sie schlugen auf und Riina nahm ihn volley, Shina verlängerte ihn, traf ihn jedoch nicht richtig, so dass er locker ins Aus flog.

„Was tust du da?“ Sie hätten nie für möglich gehalten, dass die Mädchen sich so in die Wolle kriegen würden. „Hast du eine Spitze?!“ Yūmikō stieß sie und sie flog fast in Akemis Arme.

„Wer hat hier eine Spritze?“

Naru flitzte nach vorne und stellte sich zwischen sie alle.

„Das war doch nicht ihre Schuld! Riina hat ihn viel zu weit links geschlagen. Aber das ist jetzt auch egal… Hier wird nicht gestritten. Also sowas!“

Was für eine schlechte Verliererin.

 

„Ich glaub’s ja nicht. Hast du das gesehen, Toshi?“

„Gut spielt sie nicht. Aber sie hätte sie nicht schubsen müssen…“

„Das erinnert mich an was. Besser, wenn sie sie gleich vom Platz nehmen, sonst verlieren sie nicht bloß einen Satz“, sagte Takahashi. Sie war einfach nicht gut heute, man sollte ihr die Blamage ersparen, außerdem wollte sie eh nicht im Mittelpunkt stehen. Demnächst überließ sie dann der kleinen Zicke ihr Mannschaftstrikot und machte nur noch Karate.

 

„Wenn wir den Satz noch gewinnen, braucht sie eine Pause“, sagte Sêiichî zu Matsudaira. „Und Yūmikō sollte auch runter, allein für den Schubs. Das geht doch nicht.“

„Warum? Weil du weißt, wie es sich anfühlt, grottig zu spielen, weil’s einem nicht gut geht? Und dann alle einen hassen. Da muss sie durch.“

Sêiichî drehte sich herum. „Ich bin gleich wieder da.“

Er lief durch den Hinterausgang, auf die andere Seite der Halle und wank dort Ryochi.

„Was zum Geier ist da unten los? Sie spielt genauso schlecht wie du vor zwei Jahren.“ Der Detektiv war eindeutig ziemlich besorgt um seine Freundin.

„Ja, deswegen solltest du ihr nachher ganz machohaft verbieten weiterzuspielen. Matsudaira will sie echt so weitermachen lassen. Die will, dass wir sang und klanglos untergehen. Entweder wurde sie geschmiert oder sie ist einfach sadistisch und will, dass alle streiten.“

„Glaubst du echt, dass Shina auf mich hören wird, wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hat?“

„Ich hoffe es. Das geht nicht gut. Was auch immer sie hat. Sie sollte sich darum kümmern. Und das Spiel spielen eben andere… Sie ist doch ein kluges Mädchen, also mach ihr das klar. Erzähl ihr eben, wie ich’s vor zwei Jahren vergeigt habe. Sag ihr auch ruhig, dass ich am Ende heulend zusammengebrochen bin mit meiner mittelschweren Verletzung und meiner noch verheerenderen Depression.“

„Warum nehmt ihr keine Auszeit?“

„Weil Matsudaira einen Sprung in der Schüssel hat – die will einfach nicht auf mich hören.“

„Na großartig. Blamage wird herbeigeführt vom Experten.“

„Ich muss wieder.“

„Du, ich komm mit, dann kann ich sie gleich abpassen, wenn sie vom Platz gehen.“

Beide blickten beim Hinausgehen auf die Anzeigetafel. „Hey, ich hab mich quasi zwei Minuten nicht aufs Spiel konzentriert…“ Es stand sage und schreibe 10:14. Ihm lief ein Schweißtropfen über die Wange. „Den können wir abhaken.“

 

„DAS KÖNNT IHR DOCH NICHT MACHEN!“ tönte es auf einmal von weiter hinten. Ein übermütiges Mädchen saß auf den Schultern eines Jungen und wedelte wie wild mit einer Fahne über ihren Köpfen. „Go, go, go! Teitan go, go, go!“

Ryochi fing an zu lachen, da Takahashi leicht zerknautscht aussah, als Leena auf seinen Schultern rumhopste und wie wild durch die Halle schrie, dass sie alle Leute übertönte. Sie schrie wie am Spieß und kniff dabei die Augen zu, nur um noch lauter zu brüllen.

„Nicht schlecht, echt!“ lachte Sêiichî. „Davon sollte man ein Foto machen – allein um ihn zu trollen.“

„Schämen solltest du dich.“

„Ach, warum? Wie hat sie den dazu verdonnern können?“ Er lachte noch immer. „Aber ist typisch für die Kansai-Mädchen. Hab ich voll vermisst.“

„Shina! Shina! Shina! Akemi! Akemi! Akemi!“ feuerte Leena die zwei Spielerinnen an und überging absichtlich die doofe Yūmikō, die in Nagoya ein Star gewesen war.

 

„Hey, die feuert uns ja ganz schön an. Lass uns das machen!“ sagte Akemi und klatschte mit ihrer besten Freundin ab. „Spiel du mir den Ball zu, ist schon okay, wenn dir die Hand wehtut.“

„Was?“

„Ja, klar, meinst du, ich bin blind?“ Sie grinste.

„Gut“, nickte die Hellbraunhaarige.

 

„Gut so, Taka?“ fragte Leena ihn, während sie sich zu ihm runterhängte.

„Ja und jetzt nicht runterfallen“, amüsierte sich Toshizo.

„Hab gesagt, du sollst Shina anfeuern…  Weil sie irgendein Problem hat. Aber du feuerst Akemi gleich mit an.“

„Und Riina?“ fragte Toshizo, da drehte Leena den Kopf zickig weg.

„Vergiss es!“

Es war ein Kampf und Akemi hatte jede Menge zu tun. Nicht bloß, dass sie als Verteidigerin fungieren musste, indem sie mit Yūmikō zusammen blockte, um Shina klar zu entlasten, sie sollte auch noch angreifen. Aber der unorthodoxe Stil der Nummer Zwei, der ganz von der Norm abwich, verwirrte die andere Mannschaft so sehr, dass sie Punkte holen konnten. Die Angriffschefin spielte plötzlich Stellerin und umgekehrt. Jedes Mal, wenn Akemi hochsprang, waren sie gar nicht darauf gefasst. Sie rechneten eher damit, dass ihr ehemaliger Star den Angriff übernahm, doch dem war nicht so. Dann wendete sich das Blatt in 15:14 und Naru machte den Aufschlag.

Sie zögerte absichtlich ein wenig und warf den Ball nur ganz knapp über ihren Kopf, um ihn dann schnell und kraftvoll zu schlagen. Er rotierte unregelmäßig und als man ihn annehmen wollte, sprang er nach hinten und ins Aus.

Schockiert blickte die Spielerin dem Ball nach. „Man, wir waren so nah dran.“

Die Teitan-Oberschule bekam mächtig Applaus und die Mädchen tanzten praktisch auf dem Feld.

 

„Lächerlich, es ist der erste Satz“, freute sich Matsudaira gar nicht mit den jungen Spielerinnen, ganz anders als die Halle, die tobte. Da sie sich in Tokyo befanden, war sie natürlich voller Teitan-Schüler.

 

Matsudaira klatschte in die Hände, als die Mädchen zum Trinken und Schweiß abwischen kamen. Shina ließ sich auf die Bank fallen und nahm einen kräftigen Schluck.

„Kann ich mit dir reden?“ fragte Yūmikō.

„Warum?“

Die Kurzhaarige setzte sich neben sie. „Tut mir leid, dass ich dich gestoßen hab. Den Ball hättest du aber spielend leicht ins Feld bringen müssen. Solche Fehler dürfen nicht passieren.“

Naru warf einen Ball hart vor Yūmikōs Füße und starrte sie finster an.

„Sie ist die Mannschaftsführerin. Mach sie nicht so dumm von der Seite an.“

„Schon gut, Naru, sie hat Recht.“

„Was ist bloß los mit dir? So kenne ich dich ja gar nicht!“

Ryochi setzte sich neben seine Freundin. „Du solltest dir eine Pause gönnen.“ Er legte den Arm um ihre Schulter und zog sie leicht zu sich.

„Ja, ich weiß. Bring mich raus…“

„Wo willst du denn hin?“ fragte die Trainerin.

„Mir ist schlecht, Matsudaira-san. Ich habe Kopfschmerzen, meine Beine zittern. Und der Finger tut mir weh vom letzten Block. Entschuldigen Sie. Man hätte mich auswechseln sollen. Jetzt habe ich dem Team nur unnötig Stress gemacht.“ Sie hatte traurig den Kopf gesenkt, jeder sah doch, dass ihr etwas fehlte und sie verdeutlichte es ja auch noch, indem sie sich erklärte.

„Du hast doch sicher nichts dagegen, dass dann Shizu-chan spielt, nicht?“

„Tun Sie, was sie wollen. Sie spielt bestimmt besser als ich gerade.“

Shizuru starrte sie verwirrt an, als sie dann mit Ryochi in die Trainingsräume verschwand.

„Die hat aber schnell einen Abgang hingelegt.“

„Sei doch froh, jetzt kannst du dich aufspielen, Prinzessin.“ Naru konnte es sich nicht wirklich verkneifen.

„Pff, dann nehmt doch Miyako! Ist sicher glücklich, wenn sie ran darf… Aber heult nicht, wenn ihr dann verliert“, spielte die Schwarzhaarige Dramaqueen, daraufhin kam Yūmikō auf sie zu und knallte ihr eine.

„Das höre ich mir nicht mehr länger an! Am besten gehst du mit der Einstellung nach Hause und lässt dich nie wieder blicken!“

„Spinnst du?“

„Ich will das Spiel gewinnen!“

„Klar, bist ja eine Gewinnerin, schon begriffen.“

„Trainerin“, seufzte Sêiichî. Sie mit dem Blick bittend, das schäbige Getue nicht weiter zu unterstützen.

„Ich muss mich von der blöden Kuh doch nicht schlagen lassen.“ Sie stand auf und verließ die Halle.

„Das hast du ja toll hinbekommen. Bist du jetzt stolz auf dich?“

Yūmikō sah zu Sêiichî, wollte davon aber nichts hören. Ihre Eltern und Geschwister waren hier und würden sofort sagen, dass sie mit Volleyball aufhören sollte, um sich auf die Schule zu konzentrieren, obwohl sie keinerlei Probleme hatte. Sie wollten ihre Tochter nicht verlieren sehen.

„Was? Wieso bist du so gereizt? Nun guck doch nicht so!“

„Meine Eltern werden mir das Spielen verbieten, Sêiichî, deswegen müssen wir unbedingt gewinnen.“

Jetzt sah sie traurig aus und Matsudaira lachte. „Das ist ja kaum zu fassen. Was für Eltern sind das denn?“

Das Mädchen schämte sich sofort und sah runter. Ja, ihre Eltern wollten keine Schande, deswegen hatten sie ihren Bruder wegen seines Drogenkonsums mit 18 schon aus der Wohnung geworfen und er musste hart schuften, um zu überleben. Dann war seine Freundin noch schwanger geworden, aber keinen interessierte es, obwohl sie klug und schön war. Bestimmt würden sie Wataru auch nicht mögen, er war nicht aus gutem Hause, würden sie sagen, dabei war das doch völlig egal, solange der Junge nett zu ihr war, oder?

 

„Würdest du mir jetzt bitte sagen, was los ist?“ fragte Ryochi seine Freundin, vor ihr knieend. Er sah sie besorgt an und sie starrte einfach nur runter und nicht in sein Gesicht. Er nahm ihre Hand in seine und sah sie sich an. „Du hast keinen Kratzer. Und so ein Ball bringt dich doch nicht außer Gefecht. Da ist doch noch etwas anderes?“

„Ich habe nicht geschlafen, Ryo.“ Sie sackte nach vorne und hielt sich an seinen Schultern fest.

„Ach du Schande. Dann hättest du ja am besten gar nicht anfangen sollen, zu Spielen.“

„Ich wollte der doofen Shizuru eins auswischen, weil sie Zwietracht säht. Ich kann das nicht ausstehen. Immer hackt sie auf allen rum – so wie Aiko.“

„Was ist denn mit dieser Aiko schon wieder?“

„Nichts. Aber Shizuru benimmt sich genauso. Alle macht sie verantwortlich, statt mal den Fehler bei sich zu suchen.“

„Sie gehört irgendwie nie dazu, das ist ihr Problem, weißt du doch.“

„Wie auch, wenn sie sich so benimmt?“ Kein Wort über Yūmikō, die auch ganz schön übergeschnappt war.

„Aber, hey, ich hätte Yūmikō nie zugetraut, dass sie so fahrig werden kann. Hoffentlich kriegt Wataru jetzt nicht Angst vor ihr“, lachte er. Das musste man bestimmt nicht, aber der Junge war eben eher zurückhaltend.

Shina hatte nicht alles gesagt, was sie gerade im Kopf hatte. Zum Beispiel, warum sie nicht geschlafen hatte, ließ sie komplett unter den Tisch fallen. Aber bohren brachte auch nichts, das wusste Ryochi sehr genau.

„Du denkst aber nicht daran, zurückzutreten, oder?“

„Ich bin schon Kapitän des Karateteams, es wird mir echt ein bisschen viel. Und Schulsprecherin. Das ist eine Menge Verantwortung. Sie wollen neue Clubs gründen und ich soll die ganze Schule befragen, was sie gern so hätten. Da habe ich ja genug zu tun. Und Prüfungen stehen auch bald an. Ist das nicht etwas wichtiger, als in allen Clubs im Mittelpunkt zu stehen? Ich mag’s sowieso nicht.“

„Aber sie mögen dich. Du wurdest einstimmig in beiden Clubs gewählt. Warum glaubst du, tun sie das? Weil auf dich Verlass ist. So schlecht warst du jetzt auch nicht. Trotz Kopfschmerzen und schlafloser Nacht, mhm?“

„Du bist immer so lieb zu mir, Ryochi, ich danke dir.“ Sie lächelte ihn an.

„Man muss lieb zu dir sein. Finde ich.“ Nun lächelte er auch.

Auch Shizuru war mal erträglich gewesen. Damals, als sie Mannschaftsführerin geworden war. Dann hatte sie Takahashi betrogen und in seinem Zorn hatte er eben einfach gesagt, dass er Shina mochte. Jetzt bekam sie ab. Wieder einmal, weil jemand sie mochte. Das war doch nun wirklich, wie bei Aiko. Am besten war doch, wenn sie sich unsichtbar machte. Zum Glück war Saki nicht so eine Zicke, wie Shizuru, obwohl sie sicher auch schon mitbekommen hatte – von anderen – dass Takahashi mal in sie verliebt gewesen war. Sie konnte seine Gefühle doch eh nicht erwidern. Und sie wusste nicht einmal, warum. An ihr war doch nun echt nichts Besonderes.

 

In der kleinen Pause war Yūmikō kurz mit ihrem Freund in ein Gespräch vertieft. Auf die Entfernung bemerkte ihr Vater lediglich, dass sie keinerlei Berührungsängste hatten und beobachtete es stumm, während neben ihnen die Kinder ebenfalls ganz schönen Schabernack trieben. Aber das war nicht so wichtig, wie ihre leibliche Tochter. Das bisschen warnen, war nichts im Gegensatz zu dem, was der Mann gesagt hätte, wäre es Yūmikō gewesen, die auf den Schultern von einem Kerl saß.

„Sag mal, Takahashi-kun, wer ist der Junge bei meiner Tochter?“ fragte er den Braunhaarigen und der drehte den Kopf zu ihm.

„Das ist ihr Freund, wieso?“

Noch blieb er locker, obwohl man durchaus so etwas wie Missfallen in seinem Gesicht entdecken konnte – ganz minimal wohlbemerkt. Ihm fiel es jedenfalls auf.

„Ach, das ist Wataru – mein Cousin.“

„Dein Cousin? Etwa Wataru Takagi?“ mischte sich jetzt auch die Ehefrau ins Gespräch ein – jedoch mehr besorgt, als wütend darüber.

„Mhm“, nickte Leena, daraufhin sprang Takeru Otaké direkt auf und machte sich auf den Weg.

„Oh, oh.“ Takahashi sah zu der 45-jährigen Lehrerin, die leicht bedrückt runtersah und sich wohl zwar wirklich Sorgen machte, aber nichts tat, um den Mann aufzuhalten.

„Ich wusste nicht, dass das so ein großes Problem ist – sie ist doch nun wirklich alt genug.“

Da Leena ebenfalls anwesend war, konnte sie nicht viel dazu sagen, jedoch wich sie dem Blick des Braunhaarigen aus. ‚Mit dem Alter hat das eher weniger zu tun…‘

„Willst du auch ne Limo, Tak? Ich will mir eine holen…“

„War das ein Angebot mir eine mitzubringen?“ fragte er, daraufhin klatschte Toshizo in die Hände.

„Mir kannst du auch eine mitbringen, ich zahl auch!“

„Das ist sehr nett von dir, Toshizo“, meinte die Frau, ehe sie zu Leena sah, auffordernd.

Diese nickte und bedankte sich höflich bei Toshizo. „Danke vielmals.“

Ihr wurde ein Schein in die Hand gedrückt und sie rannte los.

Takahashis Blick verfolgte den Familienvater, der strammen Schrittes durch die Halle flitzte und dann schließlich mit bösen Blicken etwas zu seiner Tochter sagte, bevor sich diese und Wataru trennten. Am Spielfeldrand wurde mit dem Finger auf den Jungen gezeigt und er sah schon ein bisschen eingeschüchtert aus.

„Hat er ihn etwa angefahren? Man, wie peinlich“, sagte Takahashi dazu, hoffend, dass die Lehrerin dazu etwas sagen würde.

„Er hat seine Gründe.“

„Es liegt doch nicht etwa am Namen? Wataru kann doch nun wirklich nichts für seine Familie.“

„Das geht dich doch überhaupt nichts an.“

„Zufällig gehe ich mit ihm in eine Klasse und ich finde es nicht richtig, ihn zu bestrafen. Genauso wenig wie vor Leena die Lippen zusammenzukneifen. Sie weiß wohl nicht mal, wie schlimm ihr Onkel ist?“

„Nicht bloß der Onkel“, sagte sie daraufhin und ihre Blicke begegneten sich. Ihrer war voller Traurigkeit und Schmerz.

„Ich habe sowieso nie verstanden, warum man Leena adoptiert hat.  Soll das heißen, sein Bruder ist genauso schlimm?“

Es wurde geschwiegen. Zu gern wollte er Antworten aus ihr herauskitzeln, einfach weil es ihn interessierte. ‚Hat mein Onkel nicht mal gesagt, dass Takagis Bruder selbst derjenige gewesen sein soll, der gegen ihn vor Gericht aussagte?‘ Als sie klein gewesen waren, hatten die Eltern immer sehr stark darauf geachtet, dass sie nichts von all dem mitbekamen. Das erwies sich als sehr schwer, als Takagi bei den Iwamotos auftauchte und die heimliche Affäre der Mutter aufgedeckt wurde. Da Ryochi Sêiichî dort besucht hatte, hatte er genug mitbekommen, um es zuhause zu erzählen. Bei ihm hieß die Informationsquelle eher Leena. Die war ein Plappermaul. Sie fand damals ihre Mutter total doof, weil sie ihren Vater nie kennengelernt hatte. Er wurde totgeschwiegen. Das hatte er nicht begriffen, immerhin war der wahre Scharlatan wohl eher ihr Onkel. Er war der, der seine kleine Tochter an gegrabscht hatte, wie sie nun wussten.

„Hat er Leena was getan?“ fragte Toshizo frei heraus. „Ist sie deswegen von euch adoptiert worden?“

„Nein.“

„Ach, der Name reicht, oder wie?“ echauffierte sich Takahashi daraufhin und schüttelte den Kopf.

„So, da bin ich wieder!“ Leena war total abgehetzt und schnaufte, da sie so sehr gerannt war – dumm, dass sie jetzt erst recht nicht mehr reden würde. Er fand es nicht fair, dass alles, was dieser Mistkerl tat, auf die gesamte Familie zurückfiel. Dafür konnten sie schließlich nichts. Wegen so etwas durfte Leena ihren Vater nicht kennenlernen? Er hatte mitbekommen, dass sie das gern würde.

Wenig später kam auch der Familienvater wieder. Seine Laune hatte sich gravierend geändert. Die Gesichtszüge zeigten Wut und Abscheu.

„Ist alles okay, Schatz?“

„Es wird Zeit, dass wir ihr auf die Finger hauen. Sie ist frech geworden, als ich gesagt habe, dass ich das nicht erlauben kann.“

„Da sind Sie direkt zu Wataru gegangen, um ihn sich zur Brust zu nehmen. Und Sie denken, dass das etwas bringt?“ Kinder machten grundsätzlich, was sie wollten. Je mehr man es ihnen verbot, umso mehr wollten sie es, oder nicht?

„Sei nicht immer so vorlaut!“

„Weil ich noch nicht volljährig bin, darf ich nicht mitreden? Richtig ist das auch nicht.“

„Sie soll sich aufs Lernen konzentrieren. Deine Mutter würde bestimmt auch nicht gut finden, wenn du ein bettelarmes Mädchen nach Hause bringst, was dir auf der Tasche liegen wird.“

„Lass gut sein, Tak“, versuchte Toshizo ihm zu raten. Es machte ihn aber voll wütend, sich das sagen lassen zu müssen.

„Meiner Mutter ist völlig egal, wer sie ist, solange wir uns lieben. Mehr sage ich dazu nicht!“

„Oh man“, seufzte Toshizo, weil er einfach nicht die Klappe halten konnte, sondern einen Spruch dazu parat hatte.

„Auch dann nicht, wenn die Ehe ein Jahr hält, gerade so lange, dass sie einen Teil deiner Rente kassieren kann? Das bezweifle ich“, konterte Takeru.

„Ich vertret mir die Beine.“ Toshizo blickte ihm nach, als er aufgestanden war, um davon zu laufen.

„Dem hast du es ja gegeben“, lachte Takerus Sohn.

„Du hältst besser die Klappe, immerhin sitzt du im Glashaus…“

Man merkte, wie wenig es Yūsuke gefiel, dass man ihm so etwas reindrückte, Toshizo beobachtete ihn. Er hatte ebenfalls ganz schöne Wut im Bauch. „Wieso Glashaus?“

„Ihr seid alle ziemlich neugierig. Das solltet ihr euch schnell abgewöhnen, so etwas wird euch nur Ärger machen“, riet Takeru dem 18-jährigen und der senkte den Kopf.

 

„Wo ist Yūmikō?“ fragte Akemi in die Runde, da sie plötzlich verschwunden war, da rannte sie zu ihrem Freund, um ihn ebenfalls zu fragen. „Hast du Yūmikō gesehen? Die ist doch nicht etwa schnell mit deinem besten Freund abgehauen?“

„Huch – du hast Recht!“ meinte Kōji sich nach links und rechts umsehend, da Wataru bis vor kurzem noch ganz in seiner Nähe gewesen war. „Er ist auch nicht mehr da. Ich such ihn, ok?“ Kōji war davon überzeugt, dass er beide zusammen finden würde.

Naru war zu den Umkleidekabinen verschwunden, weil sie etwas beobachtet hatte, was ihr gar nicht gefiel. Als sie die Tür öffnete, fand sie an Stelle von Yūmikō und Wataru Ryochi und Shina vor.

„Habt ihr Yumi gesehen? Ich war mir total sicher, dass sie hier ist.“

„Wieso fragst du das?“ wollte Ryochi wissen und Naru sah ihn sehr ernst und besorgt an.

„Sie ist weggerannt, als würde sie der Leibhaftige verfolgen… Kurz darauf wurde Wataru angeschnauzt. Das Spiel geht gleich weiter und sie ist nicht da… Ich weiß nicht, was vorgefallen ist, aber ich dachte, dass ich ihr wohl besser nachgehe. Sie sah aus, als wäre sie den Tränen nahe.“

„Wir suchen sie“, meinte Shina, war schneller aufgesprungen, als der Blitz und ihr Freund schloss sich ihrem Suchtrupp sofort an. Plötzlich war von Kopfschmerzen, Schlafmangel und Erschöpfung keine Rede mehr. Als hätte es all das nicht gegeben.

 

Obwohl sie alle Gänge absuchten, fanden sie das Mädchen nicht sofort, erst die Suche in den Toiletten war erfolgreich. Sie hatte sich dort eingeschlossen.

„Yūmikō? Bist du da drin?“ fragte der Mannschaftskapitän, als Antwort bekamen sie nur Schluchzen, aber kein Wort. „Was ist denn hier los?“

„Nichts, ich… ich hab nur Schiss, dass wir verlieren, das ist alles…“

Sie klang verheult und ihre Stimme zitterte.

„Aber das macht doch nichts. Selbst wenn, es liegt ja nicht in deiner Verantwortung. Komm da jetzt raus. Naru sucht dich überall. Akemi auch.“

Kurz darauf wurde die Tür geöffnet und das Mädchen sah sie traurig an. „Für euch ist das vielleicht egal, aber für mich nicht… Ich verliere schon immer gegen meine Eltern, wenn wir diskutieren. Diesen Kampf will ich nicht auch verlieren.“ In ihren Augen standen die Tränen.

„Was hat das eine mit dem Anderen zu tun? Irgendwas ist da draußen doch geschehen!“

„Meine Eltern sind nur hier, um wieder über meinen Kopf hinweg etwas zu bestimmen. Das setzt mir eben zu.“

In den meisten Familien lief das so. Bestimmt würden einige ihrer Mitschüler nur mit den Schultern zucken, weil sie sich immer fügten. Sicherlich würden sie auch behaupten, dass es Schlimmeres gab.

„Du kannst deinem Freund übrigens sagen, er soll Takahashi von mir bestellen, dass es besser ist, wenn er das nächste Mal seine Klappe hält!“

„Was hat der denn schon wieder gesagt?“ fragte Shina seufzend.

„Er hat meinem Vater brühwarm erzählt, dass Wataru mein Freund ist. Jetzt kriege ich Ärger.“

„Was für ein Schwachsinn“, sagte die Schülerin und schüttelte darüber den Kopf.

„Nein! Es war ihnen von Anfang an nicht recht, dass ich zur Teitan gehe… Jetzt erstrecht nicht! Die lassen mich jetzt nicht mehr aus den Augen. Meine Eltern kennen jeden an unserer Schule, das könnt ihr glauben. Jetzt kann ich mich an der Schule nicht mehr mit Wataru zusammen sehen lassen, ohne dass sie es auch wissen.“

„Was hast du denn für Eltern?“

„Mein Vater ist Professor an der Keio und meine Mutter Grundschullehrerin…“

„Gut. Wir finden eine Lösung… Aber jetzt warten Naru und Akemi auf dich. Sie brauchen dich…“

„Du hast Recht. Ich hab mich gehen lassen.“

„Das meinte ich nicht, Yumi. Sie machen sich Sorgen… Naru war sehr aufgewühlt. Sie ist nicht so knallhart, wie du glaubst.“ Shina grinste schief. Das war kaum eine von ihren Freundinnen.

„Dann wollen wir das Kind mal schaukeln, was?“

„Jetzt erstrecht, genau!“

Das war ja nicht zu glauben. Ihre Eltern hatten Verbindungen zu ihrer Schule. Würden ihre Eltern sie so kontrollieren, würde sie das wohl sehr traurig machen, weil das heißen würde, dass sie ihr nicht vertrauten.

 

Kōji fand Wataru draußen, vor der Sporthalle auf einer Bank sitzend. Während des Spiels war draußen nicht besonders viel los, daher glaubte der Junge wohl, dass er da seine Ruhe haben würde. Dass sein bester Freund ihn finden würde, damit hatte er nicht gerechnet, da traf es ihn etwas unerwartet.

„Na?“ fragte der Lockenkopf, seufzte dann, als der Braunhaarige sich schnell übers Gesicht wischte.

„Warum bist du abgehauen? Ist was passiert?“ wollte er wissen. Es war nicht das erste Mal, dass er seinen Kummer verbarg, er hatte viel zu ertragen, was er anderen nie sagen würde. Sogar Shina hatte erst mit 14 herausbekommen, dass ihr gemeinsamer bester Freund Probleme mit seinen Eltern hatte.

Er schniefte einmal. „Yūmikōs Vater hat mir vorhin gesagt, was er davon hält, wenn ich seine Tochter von wichtigem ablenke.“

„Ja, aber davon geht doch die Welt nicht unter.“

Kōji hatte gut reden, sein Vater war weggelaufen, als es ihm zu anstrengend mit der Familie wurde – nur das, man hatte ihn nicht rauswerfen müssen, weil er sich an der Familie vergriff.

„Doch!“ entgegnete der Junge, dann sah er traurig ins Gesicht seines besten Freundes. „Wenn nahezu jeder dich auf deinen Vater herabstuft und nichts von dir hält, nur weil er ein herzloser Kerl ist. Egal, wen es auch betrifft, von seinem Ruf haben wir alle etwas. Leenas Vater kann davon wohl ein Lied singen. Er wurde verlassen, verachtet, verurteilt.“ Dass sie auch seine unschuldigen Kinder in diese Sache hineinziehen würden, hätte keiner je geglaubt.

„Du meinst Yūmikōs Eltern stören sich eher daran, wessen Sohn du bist, nicht daran, dass du dich mit ihr abgibst. Aber deswegen musst du ja nicht gleich davonrennen.“

„Er hat mir gedroht.“

„Was?! Er hat dich bedroht? Das geht doch nicht. Melden wir das.“ Kōji konnte ein verdammter Rabauke sein, der mit wachsender Begeisterung andere anschwärzte. Er konnte Ryochi nicht leiden, deswegen hätte er alles getan, um endlich etwas Fieses über ihn sagen zu können. Wenn jemand seinen besten Freunden wehtun wollte, bekamen sie es mit ihm zu tun. Aus Prinzip.

„Und dann? Heißt es Wataru ist eine Petze. Nein, danke. Und besser macht es auch nichts. Was, wenn sie jetzt wirklich nichts mehr mit mir zu tun haben will, weil sie Angst vor ihren Eltern hat?“

„Dann solltest du dich fragen, ob sie dich verdient?“ Kōji sah ihn besänftigend an.

„Am liebsten würde ich manchmal meinen Namen ändern, nur damit man mich nicht mehr mit diesem Kerl in Verbindung bringen kann.“

„Tja, mein Vater war stets stolz darauf, sich sein bester Freund zu nennen. Der tickt eben auch nicht ganz…“ Wenn sie etwas gemeinsam hatten, dann dass ihre Väter keine besonders Guten waren. Trotzdem hätte Wataru nie so von seinem Vater geredet, wie Kōji es könnte. Er nahm sich all das viel zu sehr zu Herzen. Kōji handhabte das anders. Ihm war völlig egal, ob sie von seinem Vater schlecht redeten. Man hatte ihn sowieso schon fast vergessen. Das Einzige, was ihm nicht gut reingegangen wäre, war, wenn sie seiner Mutter die Schuld daran geben würden. Natürlich redeten sie, meistens nicht besonders gut, aber natürlich nur hinter dem Rücken aller, nie in sein Gesicht.

„Lass uns jetzt wieder reingehen. Shina spielt nicht weiter, es hängt also alles von deiner Freundin und Akemi ab. Wenn das mal gut geht.“

„Du hast Recht. Sie brauchen unsere moralische Unterstützung. Das kann Mikos Vater mir ja nicht verbieten.“

„Der kann dir rein gar nichts verbieten.“

„Ihr schon…“

Kōji seufzte tief. „Ich hoffe, dass sie kein Mädchen ist, was sich ihren Eltern willenlos fügt. Das wäre ja total armselig.“

„Warum musst du immer so hart über alle urteilen?“ fragte Wataru traurig. Es kam ihm manchmal vor, als dürfte man sich nicht den kleinsten Fehler erlauben, dabei war Kōji selbst nicht gerade perfekt.

 

 

Von der Tribüne aus beobachtete ein Mann mit einem Fernglas das Geschehen. Zwischen dem Publikum mochte er nicht auffallen, aber es gab aufmerksame Menschen – vor allem schlaue Kinder – die ihn dennoch entdeckten. Das Fernglas verdeckte gut den gierigen Glanz, den er gerade in den Augen hatte, als er die Mädchengruppe beobachtete. Er leckte sich über die Lippen. Das konnte auch das riesige Fernglas nicht verschleiern.

Die Augen des Braunhaarigen wurden riesig, als er dies beobachtete und binnen weniger Sekunden hatte er die schlimmsten Bilder vor Augen, die man sich vorstellen konnte. Obwohl man ihm äußerlich nichts anmerken konnte, in seinem Inneren toste der Sturm. In kürzester Zeit wurde er kurzatmiger und seine Brust schmerzte. Sein Blick suchte sofort nach der Zielperson. Als er diese entdeckt hatte, entschloss er sofort zu ihnen zu gehen und sie auf den Spanner aufmerksam zu machen… Rein aus einer Panikreaktion heraus, er könnte sie auf dem Nachhauseweg überfallen.

Toshizo bemerkte nur, wie sein bester Freund wortlos losflitzte, als sei der Leibhaftige hinter ihm her, dachte sich aber weit weniger dabei…

„Was da wohl wieder los ist? Gewonnen haben sie noch nicht. Also zum Gratulieren ist es noch zu früh.“

 

Außer Atem stand er schließlich vor drei Mädchen, die ihn verblüfft und dann kritisch ansahen. „Was ist?“ fragte die Hellbraunhaarige regelrecht kalt und schob Riina hinter sich, als wolle sie sie vor ihm beschützen. Die blöde Kuh hatte absolut keine Ahnung, aber er war dennoch gewillt sie aufzuklären, egal was sie von ihm hielt.

„Keine Ahnung, was du denkst, aber ihr seid beobachtet worden… Von der Tribüne aus.“

„Ja und?“ fragte Naru, kurz darauf gesellte sich Sêiichî zu ihnen.

„Beobachtet?“ Beide sahen kurz darauf zu der Zuschauermasse. Ihre Blicke suchten die hinteren Reihen ab. „So wie du das sagst, klingt das ja zum Fürchten. Ich glaub, der will euch nur ein bisschen erschrecken.“

Takahashis Augen verwandelten sich in Halbmonde. Am liebsten hätte er diesem verfluchten Hurensohn ins Gesicht getreten. Schläge halfen bei dem schon lange nicht mehr. „Du hast wohl ne Spritze?!“ Es dauerte keine zwei Sekunden da griff der 18-jährige sich den Gleichaltrigen am Kragen und zog ihn an sich ran. Durch den plötzlichen Ruck fiel er ihm fast mitten ins Gesicht.

„Lass mich sofort los!“ gab Sêiichî erzürnt von sich und schließlich wurden sie durch eine weitere Person gestoppt. Da war Takahashis Gesicht wütend fauchend direkt vor Sêiichîs gewesen. So zornig wie er war, spuckte er regelrecht die Worte. „Du elender Nichtschecker. Als würde ich Witze machen, um 15-jährige zu erschrecken!“

„Müsst ihr immer so zoffen?!“ fragte Ryochi – dabei klang er nicht, als wolle er einem von ihnen die alleinige Schuld geben. Sie alle wussten, dass sie immer aufeinander losgingen. Mal der eine, dann der Andere.

„Du hast doch Riina und Shina zu Tode erschreckt und hattest Spaß dran!“

„DU…“

„Aufhören!“ Ryochi schubste Takahashi ein Stück nach hinten. „Ich warn dich! Das landet bei meinem Vater, wenn du dich so benimmst.“

„Aber…“

Naru und Riina beobachteten alle und fanden den Streit merkwürdig, wären aber nie darauf gekommen, weshalb es ihren Mitschüler so wütend gemacht hatte, dass man ihm nicht zuhören wollte…

Bis zu diesem Moment, als Ryochi den Blick durch die Menge schweifen ließ und den Mann mit Grinsen ebenfalls bemerkte. Seine Augen wurden riesig und er musste ihn nur beim davongehen sehen, um zu wissen, dass er es war. In sein Gesicht trat der Schweiß, dann überließ er Takahashi und Sêiichî ihrem selbstauferlegten Schicksal, sich immerzu prügeln zu wollen und stürmte los.

„Was ist denn jetzt los?“ Sie waren von Ryochis panischem Gesicht so betroffen – alle beide –  dass sie vergaßen, weshalb sie überhaupt stritten und ihm besorgt nachsahen.

„Ich wette er hat ihn jetzt auch gesehen…“

Sie alle konnten sich ja nicht vorstellen, was er in dem Moment fühlte. Schon an Weihnachten hatte er sein Unwesen getrieben. Das tat er immer. Weil er das Fest nicht abkonnte. Kein Wunder, er war ja  theoretisch gar nicht dazu fähig irgendwelche zärtlichen Gefühle wie Liebe für jemanden zu empfinden. Deswegen war das Fest der Liebe ihm ja auch ein Graus. Und ausgerechnet an dem Tag war er auch noch geboren worden. Was musste er sein Leben hassen…

Aber die Tatsache an sich, dass er ein Menschenfeind war, war es gar nicht, was ihn so panisch losrennen ließ. Es waren die Bilder von vor über zwei Jahren, als sie nichtsahnend diesem Kerl in die Arme gelaufen waren. Dumm von ihm, oder? Man sollte vor ihm flüchten und ihm nicht hinterherrennen. In seinem Sinn war nur: Ihn aufhalten. Egal, wie. Schließlich hatte er das Handy am Ohr. „Vater, schick eine Einheit her! Takagi ist hier… Und er hat unsere Volleyballmannschaft beobachtet. Man muss ihn stoppen, bevor er das wahr machen kann, was er gerade ins Auge gefasst hat!“

Hinter ihm war eine Person, die ihn an der Schulter griff und ihn aufhielt, über die dicht befahrene Straße zu rennen, wo der Verkehr es alleine schon gefährlich machte, einfach so rüberzurennen. Was würden bloß seine Eltern sagen, die ihn sonst nur als ruhigen Kerl kannten, der immer vernünftig war.

„Spinnst du? Da sind so viele Autos!“

„Lass, mich… Lass mich los, Takahashi. Ich will ihn kriegen…”

„Du willst ihn kriegen? Wohl eher sterben… Bist ja schon so irre wie Sêiichî!“ meinte er und zog ihn kräftig an den Schultern zurück auf den Asphalt.

Ryochi versuchte den Kerl nicht aus den Augen zu lassen. „Wie können den doch nicht einfach so ungeschoren davonkommen lassen! Da, los hinterher!“

Ryochi schien ihm gerade nicht zurechnungsfähig. Und das nur, weil das alte Arschloch vor seinen Augen drauf losgeballert hatte und er seitdem die Bilder nicht mehr loswurde. Ja, Bilder, die mit diesem Kerl zu tun hatten, hielten ein Leben lang. Schon in Kyoto hatte er überall Spuren in den verschiedensten Menschen hinterlassen. Am besten man fürchtete sich.

„Ich hab Yuichi getroffen!“

Mit einem Mal stellte Ryochi all seine Handlungen ein und erstarrte zur Salzsäure. „Was?“

Takahashi wusste, dass der Name ihn zumindest so beeindrucken würde. Bei dem, was er zu sagen hatte, würde er einen Teufel tun und diesem Mistkerl nachrennen.

„Er tut alles dafür, damit dir nichts passiert!“ schnauzte er seinen Cousin an und der ging fast ein bisschen ängstlich rückwärts. „Raffst du das überhaupt?“ Er war stinkesauer. „Sei gefälligst nicht so blöd! Reicht doch, wenn Sêiichî immer so blöd ist, sich mit jedem anlegen zu wollen.“

Ryochi senkte den Kopf, wie ein Junge, der ausgeschimpft wurde. „Wenn du dem Alten nachrennst, muss Yuichi sich wieder einmischen, weil dieser Kerl sich vor keiner Schandtat scheut. Er würde dir einfach in den Kopf schießen, so kalt ist er!“ Das war die Wahrheit. Dieser Kerl würde jeden töten, der ihm in die Quere kam. Am besten man ließ ihn nicht wissen, dass man gegen ihn war.

„Sêiichî ist doch schon fast gestorben. Reicht das nicht?“

„Ich weiß“, sagte Ryochi leise. „Dafür soll dieser Kerl ins Gefängnis. Und für die anderen Dinge, die er anderen immerzu antut. Verstehst du das nicht, dass man den nicht einfach entkommen lassen kann?“

„Wer ist da am Handy?“

„Mein Vater…“

Takahashi ging zu Ryochi und nahm ihm das Handy weg. „Hey, Onkel. Ich pass auf, dass Ryo keine Dummheiten macht. Wenn’s sein muss, schlage ich ihn k.o.“ Er grinste fies. „Takagi ist Richtung Roppongi Hills unterwegs. In einem Taxi. Kennzeichen ist Tokyo – 6947. Wir gehen zurück zur Sporthalle und verhalten uns ruhig.“

Seine Hand ergriff Ryochis Arm und er hielt diesen so fest umklammert, dass es schon wehtat. „Ihr kriegt dieses Schwein… Mata.“

Dann wurde aufgelegt und er fühlte sich einigermaßen heldenhaft, dass er das Kennzeichen übergeben konnte, ohne dass irgendwer sich in Gefahr bringen musste.

„Du konntest dir das Kennzeichen merken, obwohl du mit uns gestritten hast, das ist faszinierend“, meinte Ryochi durchaus anerkennend. „Hoffentlich war’s auch das Richtige.“ Er war viel zu aufgewühlt gewesen, um darauf noch achten zu können. Spätestens als die Rede von Yuichi war, funktionierte sein Kopf nicht mehr so gut.

„Diesmal kriegen sie ihn“, meinte Takahashi zuversichtlich. ‚Dann kann er Toshizo nicht mehr irgendwelchen Quark einreden…‘

„Was hat Yuichi dir gesagt?“ fragte Ryochi ruhig, aber mit ziemlich wackelnder Stimme.

„Echt jetzt? Was wohl?“ Takahashi hustete in die Hand, um Yuichi nachzumachen… Dann begann er zu schreien: „Hast du noch alle Tassen beisammen, du Vollidiot?! Halt dich gefälligst von diesem Kerl fern! Mir reicht’s mit euch! Immer hat man Ärger! Und jetzt gehst du nach Hause, sonst mach ich dir Beine!“ Takahashis Gesicht veränderte sich kurz darauf zu einem leichten Lächeln. „So etwas in die Richtung.“ Er war wirklich ungehalten gewesen. Die Prügel, die er bekommen hatte, ließ er jedoch unerwähnt. Wenn man Yuichi sauer machte, bekam man eben ab. Er war selbst schuld, wenn er sich ganz entgegen der Vorstellung vom heldenhaften Yuichi anbot, ihm helfen zu wollen. Das ist nichts für Kinder. Das mit dem Kind würde er ihm noch büßen. So erwachsen war er jawohl selber nicht…



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