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Hin und her gerissen

zwischen Liebe und Freundschaft
von
Koautoren:  Jevi  Meitantei

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14. Januar - Gewinner und Verlierer

 

Es gab nichts Unangenehmeres, als direkt zu Dienstbeginn ins Büro irgendeines Abteilungsleiters gebeten zu werden, schon gar nicht, wenn man um sieben schon zum Dienst eingeteilt war. Ihm war völlig unerklärlich, was Matsumoto von ihm wollte. Er war bei den Kollegen sehr angesehen, schließlich hielt die Polizei wie Pech und Schwefel zusammen. Sie würden nie einen Kollegen anschwärzen, dann war man untendurch. Umso schlimmer, wie schnell seine Abteilung reagiert hatte. Nicht mal eine Nacht hatte es gedauert. Als ob die nie schliefen.

Aber, da der Schwarzhaarige immer gute Arbeit ablieferte, glaubte er, dass es vermutlich um eine Beförderung ging, auf die er sich gewiss freute.

 

[Hachizo (24) Matsuyama; Kommissar im 1. Kriminaldezernat - Abteilung für Gewaltverbrechen]

 

Beim Eintreten wurde er nicht sofort begrüßt, sondern der Hauptkommissar hatte ihm dem Rücken zugedreht. Er tippte monoton, aber lautstark mit dem Zeigefinger auf den Tisch, als er die Tür hinter sich zugehen hörte und der junge Mann eintrat. „Mhmmmm“, brummte er tief und tippte weiter, als würde er über etwas nachdenken. Dann drehte er sich mit Schwung zu seinem Untergebenen um. „Matsuyama“, sprach er ihn an. „Es ist sieben Uhr und fünf Minuten. Was haben Sie an pünktlich zu Dienstbeginn nicht richtig verstanden? Ich erwarte eine Erklärung!“ Laut Dienstplan begann sein Dienst exakt um sieben Uhr. Unzuverlässige Mitarbeiter waren ihm ein Graus, obwohl es sich hierbei nicht um ein schlimmes Vergehen handelte, war er streng. Seine dunklen Augen, die ihn fixierten und förmlich durchbohrten, das tiefe Raunen der Stimme, die aber noch ruhig und gelassen wirkte, waren nur der Anfang einer Schelte.

„Entschuldigen Sie. Lassen Sie mich erklären. Das lag daran, dass-!“

„Seien Sie still!“ fuhr man ihn an, dann rammte die Faust des großen und furchteinflößenden Mannes den Tisch, der kurz bebte, dann sprang er auf, so dass sein Kopf den seines Mitarbeiters überragte. Dieser wich augenblicklich zurück, als befürchte er, dass sein Chef ihm über den Tisch an die Gurgel ging. Da der Hauptkommissar sich beim Aufstehen mit beiden Händen auf dem Tisch nach vorne lehnte, kam er ihm automatisch näher, so dass ihre Blicke sich noch intensiver begegneten.

„Es gehört schon eine gewisse Dreistigkeit dazu, zu einem wichtigen Termin zu spät zu kommen, nachdem man sich vorbeibenommen hat, so dass sogar Beschwerden bei uns eingetroffen sind. Die ganze Abteilung muss sich jetzt für Sie schämen, Matsuyama! Ist Ihnen das bewusst?!“ Seine tiefe Stimme donnerte ihm förmlich entgegen und der nächste Schlag auf den Tisch ließ auch nicht lange auf sich warten. „Was fällt Ihnen ein, die Ärzte im Krankenhaus zu schikanieren? Von misshandelten Opfern ganz zu schweigen! Wie kommen Sie dazu, ihr ohne jeglichen Beweis zu unterstellen, sie habe ihren Bruder getötet? Mir ist neu, dass Rufmord und Verleumdung zu unseren Tätigkeiten gehören! Ich erwarte Respekt von meinen Leuten! Gegenüber Opfern, Tätern und öffentlichen Angestellten sowieso! Mir ist vollkommen egal, ob Sie jemanden nicht leiden können. Maßen Sie sich noch einmal an, so mit einer Person zu reden, wie Sie es im Krankenhaus getan haben, verdonnere ich Sie dazu, sich vor versammelter Mannschaft mit geneigtem Haupt für die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen. Und Ihr Kopf grüßt dann den Boden! Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Oder die Polizei? Ein Ort der Schikane? Sagt Ihnen im Zweifel für den Angeklagten was? Keine unangebrachten Mutmaßungen mehr! Wenn ich Sie noch einmal dabei erwische, dass Sie so etwas tun, werden Ihre Kollegen Sie verabscheuen und Sie werden sich wünschen, ich hätte Sie stattdessen degradiert oder ganz rausgeschmissen! Sie fahren jetzt mit Yamada und Megure ins Krankenhaus und werden sich dort für Ihr Verhalten entschuldigen. Bei dem Mädchen, dann bei dem jungen Arzt, den Sie beleidigt haben! Seien Sie froh, wenn er Sie nicht wegen Beleidigung verklagt!“

„Mich entschuldigen? Der junge Wilde hat angefangen, als er die Mitarbeit verweigert hat!“ verteidigte sich der junge Mann, der sich keinerlei Schuld bewusst war. Sie waren Polizisten, man musste ihnen Folge leisten.

„Was Sie nicht sagen!“ meinte Matsumoto ungläubig. „Uns wurde gesagt, dass er Sie lediglich darauf hingewiesen hat, in welchem Zustand sie ist. Dass sie nicht vernehmungsfähig ist. Sie waren wohl noch nie an einem Fall beteiligt, in dem es um Gewalt im häuslichen Umfeld ging, was? So etwas erfordert ein bisschen Feingefühl! Wenn Ihnen das nicht liegt, ziehe ich Sie von diesem Fall ab!“

„Aber die anderen Kriminalisten sind viel zu weich!“

„Sind Sie das? So, wie ich das sehe, sind Sie eher nicht feinfühlig genug!“ Und das musste er sich hier von seinem Chef sagen lassen, der ihn anschrie und ihm fast ins Gesicht sprang.

„Man braucht bloß Menschenkenntnis, um zu sehen, dass ihr Arzt lügt!“

„Dünnes Eis, Matsuyama-san! Haltlose Unterstellungen! Eignen Sie sich endlich Respekt gegenüber Menschen an, sonst muss ich mich fragen, ob Sie besser dafür geeignet wären, den Bürostuhl zu wärmen! Weil ich Sie dann aus dem Außendienst nehme, der ihnen eindeutig über den Kopf wächst. Umgang mit Menschen liegt Ihnen wohl nicht so besonders, dann würden Sie nicht wagen, sich feige rauszureden, nachdem Sie einen Fehler gemacht haben. Feiglinge und Lügner kann ich nicht ausstehen!“

„Dann fangen Sie doch bei diesem Arzt an, der behauptet hat, sie sei nicht vernehmungsfähig. Er weiß mehr – das spüre ich.“

„Genug!“ Fester konnte Matsumoto nicht mehr auf den Schreibtisch hämmern, als er das sagte. „Noch mehr solchen Unfug und Sie lernen mich noch ganz anders kennen!“

„Aber er ist bekannt dafür, mit der Polizei nicht besonders höflich-“

„Soll ich Ihnen wieder einen Aufpasser mitschicken, der Sie beobachtet? Muss ich so weit gehen?“

„Nein, Matsumoto-san!“

„Es scheint mir aber notwendig, da ich einen ebenso sensiblen Riecher für Lügner habe!“

Er war schockiert. Seine Kollegen waren doch dabei gewesen. Die hatten doch gesehen, dass sie sich mit dem Arzt gestritten hatten. Und wie unhöflich er gewesen war. Respektlos würde er sogar behaupten. Aber Matsumoto schäumte fast über vor Wut und dann sah er wirklich verdammt gefährlich aus. Am Ende fing er sich noch eine. Ihm brach der Schweiß aus, denn ihm war wohl bewusst, dass er zumindest ganz schön provokativ gewesen war. Wenn irgendeiner etwas davon bestätigt hatte, konnte er sich den Mund fusselig reden. Es gab eben Idioten, die alles dafür taten, um aufzusteigen. Auch die elende Petze sein. Oder der Spitzel, der einen im Auge behielt.

„Ich werde Sie so schnell nicht mehr in einer leitenden Funktion bei einem Fall einsetzen. Sie bringen uns noch in Verruf. Melden Sie sich sofort bei Megure und dann fahren Sie mit ihm. Und wehe dem, dass mir zu Ohren kommt, Sie hätten nicht genau das getan, was ich von Ihnen verlangt habe. Sie haben das doch jetzt hoffentlich verstanden oder muss ich meine Anweisungen demnächst schon schriftlich einreichen?“

Hachizo schluckte und schüttelte hektisch den Kopf. Es war schlauer ihn nicht weiter zu verärgern. Auch, wenn er sich schon fragte, wer von diesen Stümpern Mitleid mit der Kleinen hatte. Sie hatte in Kyoto einen gewissen Ruf gehabt. Es gab für ihn nicht den geringsten Anlass, sie mit Samthandschuhen anzufassen. Das waren Frauen oder Gören, die eine gewisse Strenge verdient hatten. Allein, wie sie sich in der Schule aufführte. Wie sie in der Freizeit rumlief. Die verunglimpfte die guten Jungs mit ihren kurzen Röcken, absolut schamlos und das in ihrem Alter. Solche Gören hatten es höchstens verdient, dass man sie mal ordentlich züchtigte. Der Vater war nie da, also hatte ihr Bruder das mit Sicherheit übernommen. Der Mann im Haus.

 

Trotz des unruhigen Abends waren die Jungs pünktlich wie die Maurer zum Mathematikunterricht erschienen. Ryochi hatte es irgendwie schon immer mit Zahlen. Dass der sich nicht langweilte, war ein Wunder. Und er träumte mitten im Unterricht. Genervt stellte er seinen Bleistift auf dem Tisch auf und balancierte ihn hin und her. Sêiichî hasste die Schule, schon als Kind fand er Lernen doof. Nur leider konnte er sich das nicht erlauben, deswegen riss er sich immer zusammen, während den Musterschülern alles in den Schoß fiel. Das hatte er damals gedacht, wenn der Tokorozawa-Junge mit seinem Freund draußen rumgetollt war, statt gleich nach Hause zu gehen. Der war ihm ähnlich gewesen. Mittelmaß, wie die meisten Kinder. Ohne Lernen hagelte es schlechte Noten. Aber der Andere, der musste sich nicht anstrengen, er schlief im Unterricht, weil er nachts irgendwelche Sachen machte, nach denen er sich heute noch fragte, was sie beinhaltet hatten. Jami war ein Schwerenöter – vielleicht war er ja schon mit etwas mehr als 10 schlimm. Das war eher unwahrscheinlich, aber Jungs waren eben seltsam.

Ryochi warf seinem Freund einen Blick zu, weil er ihm sehr gedankenverloren vorkam.

„Vielleicht solltest du aufhören zu träumen, sonst kriegst du nichts vom Unterricht mit“, stichelte der Braunhaarige ihn und sein Tischnachbar verzog nur das Gesicht.

„Ich träum nicht.“

Den Rest des Unterrichts hatte Sêiichî sich doch tatsächlich bemüht dem Unterricht zu folgen. Im Rahmen des Möglichen.

„Heilige Scheiße, wer soll das denn begreifen?“

„Streng den Kopf an, du Weiberheld“, ärgerte ihn wenig später sogar Kōji von hinten.

„Du solltest mal ein Mathematikbuch in die Hand nehmen, anstelle des Kamasutra.“ Beim Vorbeigehen kam auch diese Spitze. Sie unterschied sich fast nicht von denen der anderen Jungs, die ihn ärgerten. Nur leider wussten Ryochi und Sêiichî, dass diese Person nicht bloß Spaß machte. „Hab gehört, du triffst dich mit so einem heißen Feger – obwohl du ‘ne Freundin hast. Kannst nie genug kriegen, wie? Na, fällst du halt durch und wirst Zuhälter, würde richtig zu dir passen!“

„Takahashi, halt die Fresse!“ wurde er angemault und bekam einen Schubs von hinten.

„Willst du dich prügeln? Ja, dann komm doch, gleich vor die Tür!“

„Mit Schwachmaten prügeln wir uns nicht!“ sagte Ryochi ruhig, daraufhin bekam er einen fiesen Blick.

„Egal, wie viel Mühe du dir gibst… Es gibt bloß einen, der Sêiichî vor mir beschützen kann.“

„Verstehe“, erwiderte Ryochi und besah den eingegipsten Arm. „Aber ich denke mit ‘nem gehandicapten Vollidioten kann ich‘s gerade so aufnehmen!“

Sie waren erhitzt, so dass man ihnen fast anmerkte, sie waren nicht aus Tokyo.

„Warum müsst ihr immer für Ärger sorgen? Lasst doch einfach mal die Leute in Ruhe!“ sagte Kōji. Warum hatte diese Pissplage eigentlich immer irgendwelche Freunde? Als sie in Kyoto gewohnt hatten, war er meistens unbeliebt, da er die Schwestern der meisten Typen angebaggert hatte.

„Halt du dich da raus, du Zwerg!“ Mit einem Schubs wurde Kōji zur Seite befördert und Toshizo baute sich vor Sêiichî und Ryochi auf. „Ihr würdet jemanden verprügeln, der einen gebrochenen Arm hat? Mehr bringt ihr nicht fertig?“

„Dann soll er aufhören so eine große Lippe zu riskieren!“ Die Jungs zuckten zusammen, denn ein Mädchen hatte sich nun auch in die Runde gemischt. „Ich hab den Lehrer geholt. Also macht zur Abwechslung mal was Sinnvolles!“

Takahashi wendete sich sofort von den Anderen ab und ging auf das Mädchen zu, da sie einen rebellischen Blick aufgesetzt hatte, er ihr den aber nicht abkaufte, schon allein deswegen kam er zu ihr.

„Kein Ding, Baby!“ sagte er, versuchte ihr noch ein Stück näher zu kommen, aber dann…

„Nenn mich noch mal Baby und du brauchst noch ganz woanders einen Gips!“

Es war dem Jungen vollkommen egal, ob er Ärger dafür bekam, denn der Lehrer stand direkt daneben, als er nicht gerade sanft die Schulter von Takahashi ergriff und ihn von dem Mädchen entfernte.

„Ey, was soll das? Haben Sie das gesehen?“

„Fass sie nicht an oder ich brech dir den anderen Arm auch noch, kapiert? Komm ihr nie wieder zu nahe!“

„So, jetzt beruhigen wir uns!“ Der Lehrer stellte sich zwischen die zwei Jungs und hielt sie davon ab,  sich direkt im Klassenzimmer zu prügeln.

„Ach, der is‘ bloß ein bisschen eifersüchtig. Weil er Schiss hat, dass seine Freundin was mit mir anfängt!“ Das hämische Grinsen ließ Ryochi knurren, der sie bloß beschützen wollte.

„Pass auf, was du redest. Du bist bei ihr zu Hause eingebrochen, falls du’s vergessen hast…“

Der Lehrer blickte zwischen beiden Jungs hin und her, um sie im Auge zu behalten. Vor allem, als Takahashi jetzt einfach anfing zu lachen. „Das hat sie sich eingebildet. Die Tür war offen, also ist von Einbruch nicht zu sprechen.“ Er pausierte kurz, grinste dann aber noch überlegener. „Ich wollte nur eine Klassenkameradin besuchen, was kann ich denn dafür, wenn sie stolpert und in den Spiegel fällt? Unfälle passieren, Akaja!“

„Du solltest ganz schnell verschwinden, sonst unterhalte ich mich vielleicht mal mit deiner lieben Mutter.“

„Als ob sie dir ein Wort glaubt, Iwamoto! Du bist doch die schlimmste Plage hier.“

„Schluss jetzt!“ fuhr Herr Natsukawa dazwischen, benutzte sogar den Arm als eine Art Schranke zwischen den Zweien. „Ich werde nicht dulden, dass hier irgendwer beleidigt wird. Entschuldige dich sofort, Takahashi-kun.“

„Sorry, kommt nich‘ mehr vor“, sagte er knapp, dann nahm er Toshizos Arm und zog ihn ein Stück von Sêiichî weg, da er ihm schon den feindseligsten Blick aller Zeiten zugeworfen hatte. „Wenn ich rauskrieg, dass du Riina bescheißt, kannste was erleben, also nimm dich in Acht!“

Sêiichî ballte die Hände zu Fäusten und sah ihnen nur wütend hinterher.

„Ignorier den Idioten“, sagte Ryochi, ehe er sich zu seiner Freundin umdrehte. „Alles okay?“ Er war da nicht so sicher, schließlich war Shina nach Takahashis Angriff mehr als verstört gewesen, aber es war ja fast kein Wunder, dass sie wieder lächelte.

„Natürlich. Aber mit einer Sache hat er Recht“, sagte sie und sah dann Sêiichî von der Seite ein. „Du solltest Watarus Schwester nicht betrügen, denn dann kriegst du auch mit ihm Stress.“

„Ja“, kam ganz kleinlaut von dem Schwarzhaarigen, dann verließ er schnell das Klassenzimmer.

Akemi kam ihm entgegen. „Haben die schon wieder Streit angefangen?“ wollte sie sofort wissen, weil Sêiichî etwas betrübt wirkte. Noch dazu war er in Gedanken, so dass er hochschreckte, da sie ihn ansprach.

„Hallo, Akemi. Ach, die sind mir doch so was von egal.“ Seine ganze Familie würde darüber lachen, denn mehr gelogen konnte etwas gar nicht sein. Dass Takahashi und Toshizo es immer auf ihn abgesehen hatten, war ihm nämlich nicht so egal, wie er vorgab.

„Was ist es denn dann? Du siehst irgendwie bedrückt aus.“

„Komm mit, ich will das nicht im Flur besprechen“, meinte er geflüstert, dann nahm er sie einfach an der Hand und zog sie mit sich. Kōji kam gerade aus dem Klassenzimmer und sah es noch.

„Nicht zu fassen“, kam verärgert von ihm, was Ryochi und Shina geradeso mitbekamen, als sie ebenfalls aus dem Klassenzimmer liefen.

„Was denn?“ fragte Shina den anderen Jungen.

„Ich kann schon verstehen, dass der Typ Takahashi und Toshizo auf die Nerven geht. Guckt ihn euch doch an… Man muss sich als Freund ja davor fürchten, dass er einfach so mit der Freundin in die Hecken geht.“

„Hast du einen Knall? Willst du dich mit denen verbrüdern?!“ ranzte Ryochi ihn an, dabei war er selbst nicht wenig eifersüchtig. Allerdings würde sein Freund nie Shina anbaggern. Nicht wissender Weise.

„Maul mich nicht so an!“ verteidigte sich Kōji. „Ich sag bloß die Wahrheit. Hör auf ihn zu verteidigen, nur weil ihr euch schon solange kennt!“

„Lass ihn“, sagte Shina, die vorsichtig eine Hand auf Kōjis Schulter gelegt hatte und ihn besänftigend ansah. Da könnte auch Ryochi aus der Haut fahren, weil er ihn immer anging, aber kaum, dass Shina etwas sagte, wurde es befolgt.

„Weil ihr ja spinnen wollt, geh ich jetzt – und zwar Sêiichî hinterher. Nicht, dass Akemi in den Hecken landet!“ sagte Ryochi sarkastisch. Er war sichtlich angepisst, das konnte man deutlich hören. „Solltest dich schämen, das deiner Freundin zuzutrauen, ehrlich.“

„Tze“, zischte Kōji, dazu würde er nichts sagen. „Er ist ein schlimmer Typ, der vor keiner Halt macht…“

Jetzt blieb Ryochi stehen, drehte sich herum und kam zurück. „Willst du damit sagen, dass Sêiichî jemanden zwingen würde? Er ist kein Stück wie Takahashi. Der würde so was machen, Sêiichî verabscheut so was.“

„Oh, echt? Man kann auch aggressiv aufdringlich sein. Und das ist er.“

„Wollt ihr schon wieder streiten? Könnt ihr euch nicht mal vertragen? Meine Güte. Wir sind doch nicht im Kindergarten.“ Mit den Worten ließ Shina beide stehen. Sie wusste, dass Wataru seinem besten Freund gesagt hatte, wie wenig er Ryochi mochte, aber der hatte sich jetzt eingekriegt. Kōji leider nicht. Der mochte Ryochi nicht wirklich und suchte in den Krümeln. Dabei war er zwar harmlos im Verhältnis zu dem Verhalten von Takahashi und Toshizo, aber es nervte sie trotzdem tierisch.

„Na toll“, ärgerte sich Ryochi. „Wag ja nie wieder anzudeuten, dass Sêiichî so was machen würde, dann schlag ich dir ein blaues Auge.“

„Ey, hast du sie noch alle?“

Ryochi verstand da keinen Spaß. Wegen solcher Dinge fuhr Sêiichî total aus der Haut. Der würde jeden Vergewaltiger abknallen, wenn er gerade eine Waffe hätte – und die wollten ihm so was zutrauen? Nur, weil er ein reges Interesse an vielen Mädchen hatte. Das machte aus ihm noch lange keinen schlechten Kerl.

 

 

Eine kleine Frühstückspause, die sie gemeinsam verbrachten, artete in ihren Augen ziemlich aus. Sie beobachtete den Schwarzhaarigen, wie er eine Tasse Kaffee nach der anderen leerte. Das war doch nicht gesund.

„Sieht aus, als hättest du eine deiner wilden Nächte gehabt“, sagte sie interessiert und auch einigermaßen amüsiert. Daraufhin verschluckte sich der 21-jährige und begann zu husten.

„Och, so wild, dass es dir peinlich ist?“ Das fand sie sogar irgendwie erfrischend. Er sah zwar aus, als könne er kein Wässerchen trüben, aber sie wusste Vieles, vor allem von den Frauengeschichten, die er am Laufen hatte. Er ließ nichts anbrennen. „Hast du es Osiris so schlimm besorgt, dass du dich jetzt mit Kaffee aufputschen musst?“ Als sie das fragte, wischte er sich ein wenig angewidert über die Lippen.

„Oh man, und so was am frühen Morgen. Ich war froh, als ich sie wieder losgeworden war.“ Diese widerliche Tussi, auf deren Spielchen er nur eingestiegen war, um den Spieß umzudrehen und sie zu dominieren.

„Wirklich? Ich habe gehört, dass es mit ihrem Freund nicht so gut läuft. Sie ist bloß mit ihm ins Bett gestiegen, weil er sie verlassen wollte. Da wollte sie auf die Schnelle ein Kind zeugen, um ihn zu halten.“

Bei den meisten Männern würde das wunderbar funktionieren, weil Kinder eben die Welt erhellten und sie sich alle nach ihnen sehnten. Er fragte sich, ob das bei ihm wohl auch so einfach wäre. Innerlich musste er lachen. Schon beim Gedanken daran. Tatsächlich müsste er dazu schon so verrückt sein, nicht zu verhüten. So dumm war er schon lang nicht mehr. Und Vanessa würde garantiert nicht so weit gehen. Sie wäre im Augenblick die Einzige, die ihn dazu hinreißen könnte.

„Armer Kerl“, äußerte er sich dazu. Der Mann, der von dieser Frau gefangen wurde, war nicht zu beneiden. „Vielleicht sollte man den mal vor ihr retten.“ Er grinste fies, doch das legte sich schnell wieder. „Wie alt ist das Kind, weißt du das?“ Bei der Frage war das Lächeln sanfter geworden.

„Soweit ich weiß ist es ein Mädchen, um die vier.“

„Mhmmmm“, machte er, seufzte dann aber. „Man zerstört keine Familien.“

Mit Derartigem war man bei ihr an falscher Stelle, aber mittlerweile beschwieg sie solches. Sie wusste, was er dachte – zumindest glaubte sie das – und er wusste, wie sie die Sache betrachtete.

Merlot hatte ihre eigene Familie komplett zerstört – er machte sich auch über unglückliche Ehen her, aber sobald Kinder im Spiel waren – kleine Kinder – hatte er Hemmungen. So weit könnte er nicht gehen. Die letzte Ehe, die er erfolgreich kaputtgemacht hatte, bestand viel zu lange und die Frau hatte sich viel zu viel gefallen lassen – für die Kinder. Als die erwachsen waren, bestand kein Grund mehr für Schonung, schon gar nicht, wenn der Kerl mit einer 40 Jahre Jüngeren ins Ehebett sprang, ohne Hemmungen. Er hatte – in unschuldigem Ton – der Hausherrin erzählt, dass er sie gehört habe. Sie hätten gelacht und komische Geräusche gemacht. Als wüsste er nicht, was genau sie getan hatten. Wenn die wüsste – es handelte sich schließlich um ihre Mutter. Ihr Vater hatte die eine Tochter mitgenommen, da das Verhältnis von beiden sowieso zerrüttet war. Sie stand ihrem Vater näher. So viel wusste er von dieser Frau – aber nicht nur deswegen.

Sie war gefährlich. Vor allem für ihren einen Sohn. Sie schlief mit einem brutalen Monster, ihrer ersten Liebe, von der sie sich nicht lösen konnte und war dann noch beleidigt, dass ihr jüngerer Sohn sich eine andere Familie gesucht hatte. Dieses neu gefundene Glück hatte sie versucht zu zerstören, indem sie das Einverständnis zur Adoption verweigert hatte. Das gab ihr den Sohn auch nicht wieder, denn er wollte lieber bei den Leuten bleiben, die sich um ihn gekümmert hatten. Wie gut er das verstehen konnte. Nach dem Verlust seiner Eltern hatte er sich auch an die verschiedensten Leute geklammert. An einen alten Mann allen voran. Weil er der Einzige gewesen war, der darüber bestimmte, was mit ihm passieren würde. Irgendwie hatte er ihn sogar gerettet – vor dem Abschaum. Und den Anderen, die in ihm nur einen Spielball gesehen hatten. Ein wehrloser Junge von 12, mit dem sie machen konnten, was sie wollten – diese Kinder hassenden Menschen.

„Also, wenn dir nicht Osiris die schlaflose Nacht bereitet hat, was dann?“

Wie sie nicht mal fragte, wer. Glaubte sie nicht, dass es eine Person gewesen war?

„Ich war nachdenklich. Nachdem ich wegen der Schandtat gegenüber Osiris Schelte bekommen hatte. Denn sie konnte es natürlich nicht lassen, direkt damit hausieren zu gehen. Ich dachte, dass sie den Mund hält, weil es ihr viel zu peinlich wäre.“

„Was hast du mit ihr gemacht?“

Sein Gesicht sah aus, als wäre der Kaffee noch viel bitterer, als hätte er auf etwas sehr Ekliges gebissen. „Das erspare ich dir besser.“ Es diente als Ausrede, er wollte sein Sexleben nicht mit dieser Frau besprechen. Schlimm genug, dass er wusste, wie schlimm sie war. Er wollte ihr nicht noch Stoff liefern.

„So schlimm?“

„Na schlimm genug, dass sie den Neuen aufwiegeln konnte.“

„Den Neuen? Welchen Neuen?“

„Ein Typ mit Namen Cognac, mit dem ich mich befassen soll.“

Merlot hatte bereits von dieser Person gehört und sie hatte irgendwie das Gefühl, sie sollte ihn kennen. Seltsam. „Hat der einen richtigen Namen, Kenichi?“ Sie nannte ihn immer beim Vornamen, wenn sie etwas unbedingt wissen wollte und gab sich noch mehr Mühe, nett und freundlich zu klingen.

„Lustigerweise Kenji Enomoto. Kaum zu glauben – ganz davon zu schweigen, dass er diesem Enomoto kein Stück ähnelt, teilt er nicht mal dessen Vorlieben.“

„Huh?“ Verwirrt sah sie ihn an, aber auch sie kannte einen alten Freund, der sich Enomoto nannte. „Du meinst…“ Sie biss die Lippen zusammen, weil sie irgendwie ahnte, es ging wieder gegen ihren Liebsten. Enomoto und Keichiro Takagi waren Schulbekannte. Alte Freunde.

„Bis auf die Aggressionen haben die nichts gemeinsam“, antwortete er nüchtern. „Bestimmt würde er sich mit Carpano gut verstehen“, lachte er. Der Typ hatte auch seine Aggressions-Momente. Allerdings kamen die meistens daher, dass er nicht verknusen konnte, wenn Männer gewalttätig gegenüber Frauen waren. Er selbst mochte keine Gewalt, überhaupt nicht, aber wenn solche Typen sich wie die Tyrannen aufführten, musste man ihnen einfach wehtun.

„Was hast du nur immer mit diesem Carpano?“ fragte Merlot verärgert, man konnte unschwer erkennen, dass sie ihn nicht besonders mochte. Denn ihn konnte sie nicht dazu überreden, Chardonnay in Ruhe zu lassen. Er machte ihn rasend. Kein Wunder, er war der Sohn von Akaja. Der tickte ähnlich. Sie bildete sich immer noch ein, dass Kenichi ihr tatsächlich aus der Hand fraß, dabei fraß sie ihm aus der Hand, ohne es zu merken.

„Ich mag harte Kerle, die mit Frauen sanft verfahren und ihren Scheißtypen eins auf die Zwölf geben?“ Er machte nicht einmal ein Geheimnis daraus, dass ihn solche Kerle einfach amüsierten.

„Ich finde süße, unscheinbare Typen, die sich was trauen, viel spannender.“ Noch mehr dieser Worte und sie fiel in den Honig, den sie ihm ums Maul schmierte.

„Würdest du das immer noch, wenn du wüsstest, wen ich als nächstes ärgern soll?“ Es war nicht gesund, eine Frau, wie Merlot zu trollen, aber er hatte trotzdem gerne ein bisschen Spaß mit der Frau. Gerade, weil sie weich bei ihm wurde. Er wusste sogar ganz genau, wieso. Ihr jüngster Sohn hätte Arzt beziehungsweise Wissenschaftler werden sollen, so wie seine Eltern. Dazu hatte er keinen Bock. Er hingegen hatte Bock darauf, deswegen war er für sie irgendwie speziell. Es konnte dem Jungen nichts Besseres passieren, als dass die Akajas dieser Frau den Jungen wegnahmen. Sie war nie besonders lieb und nett gewesen. Sein Bruder hatte ihm immer alles erzählt, was er so mitbekommen hatte. Dessen enger Kontakt zum jüngsten Sohn der Akajas war da sehr hilfreich. „Worauf willst du hinaus?“ fragte die Rotbraunhaarige argwöhnisch. Wenn er so redete, dann war es jemand, der ihr nicht so gut gefallen würde.

„Ein Knasti kommt raus.“ Kenichi lachte jetzt. „Bestimmt haben die paar Jährchen ihm schon sehr zugesetzt und er denkt jetzt, er kommt ins Schlaraffenland. Der weiß noch nicht, dass Täter wie er, nicht bloß im Knast geächtet sind. Ich werde ihm die Regeln erklären.“ Mit Freuden, so wie er grinste. Er hatte das Kinn auf den gefalteten Händen abgelegt und lächelte sie fast schon charmant an.

„Doch nicht etwa…?“ Wohl ahnte sie etwas. Natürlich, schließlich wusste sie, wie lange in etwa der Kerl einsitzen musste. Hatte er ihr etwa nicht mitgeteilt, dass er bald wieder ein freier Mann war?

„Soll das heißen, mein Sohn tritt uns bei?“

So viel zu dem engen Verhältnis von ihr und Chardonnay. Offenbar hatte er ihr nicht mal gesagt, dass ihr Sohn bei ihnen mitmachen wollte, so wie es seinem Vater am besten gefiel.

„Sieht ganz so aus, dann ist ja die ganze Familie wieder zusammen.“ Es war pures Kalkül, dass er das so sagte. Denn es war unwahr, eine Unwahrheit, die sie aber nicht korrigieren würde, davon war er überzeugt. Es war fast gruselig, dass sie doch für einen Moment traurig aussah, aber wie er gedacht hatte, ließ sie es so stehen und bestand nicht darauf, dass sie noch einen Sohn hatte. Sie hatte Sêiichî nicht bloß allein zurückgelassen, sie hatte ihn einfach gestrichen. Was war sie bloß für eine schreckliche Mutter? Kein Wunder, dass er nicht mehr zu ihr zurückwollte.

Wenn er sich nicht geschworen hätte, sich von seinem Bruder fernzuhalten, hätte er sicher mehr gewusst, als dass Sêiichî noch am Leben war. Auch, dass er wieder da war, wo er hingehörte. Dann hätte er allerdings auch gewusst, dass er ihnen näher war, als er gedacht hätte. Es hatte alles so sein Gutes.

 

 

Kurz vor Mittag kreuzte Chris bei Masuyama auf und nein, sie wollte nicht mit Serena plaudern. Sie wollte mit jemandem sprechen, der etwas ehrlicher sein würde und nicht die Tatsachen verdrehte, außerdem war sie neugierig.

Masuyama selbst war auf der Arbeit, genauso wie der Love interest der Kleinen. Weil sie unangemeldet kam, erwischte sie sie leider nur in der Küche. Das würde ihrer divenhaften Schwester nie in den Sinn kommen. Die Küche gehörte dem Personal, sie gab höchstens Anweisungen, was es zu essen gab – selbst zubereiten, dafür war sie viel zu beschäftigt als Prominente. Gerade war sie auch außer Haus, allerdings weniger, um zu schuften, so wie ihr Angetrauter. Nein, sie ließ sich erst die Haare machen, dann ging sie zur Maniküre. Perfekte Fingernägel waren ein Muss. Fast hätte sie lachen müssen, als sie Vanessas Finger im Teig rumkneten sah. Sie hätte nicht wenig Lust, mitzumachen. Serena wäre schockiert. Aber sie hatte ein bisschen den Schein zu wahren; sie war selbst eine Diva.

„Dafür habt ihr extra Personal“, kommentierte sie, sah aber auch, dass es der jungen Frau die größte Freude bereitete. „Würdest du mir verraten, was genau das wird, Sweety?“ Dass sie Nachtisch machte, war ihr klar, aber welchen genau?

„Das wird ein Apfelkuchen aus Mürbeteig. Nichts furchtbar Kompliziertes.“

„Lass mich raten, den machst du für ihn.“ In ihrer Stimme klang etwas Neckendes heraus, aber nicht böswillig, sondern irgendwie ein bisschen verspielt. „Fang bloß nicht an zu leugnen, du bist überführt. Man sieht es dir an, mit so viel Freude backt man höchstens für die Kinder. Aber irgendwie glaube ich das nicht. Kenjiro mag Süßigkeiten nicht so besonders und der Kleine ist gegen die meisten Obstsorten allergisch.“

Chris war eine wahre Meisterin darin, Leute zu überführen. „Vielleicht hättest du nicht Schauspielerin, sondern Psychologin werden sollen“, sagte sie lachend, allerdings eher, um mit dem Scherz ihre Verlegenheit zu verbergen.

„Die meisten Männer lassen sich von gutem Essen verführen. Deine Chancen stehen also erstaunlich gut. Liebe geht über den Magen, wie man sagt. Da mir das nicht besonders liegt, muss ich es eben auf anderem Wege probieren, wenn ich meinen Traummann finden will.“

„Oh, besser nicht, dann muss Serena auch noch ertragen, dass du glücklicher bist, als sie.“

Auf diesem Wege erfuhr man die spannendsten Dinge. Bei einem lockeren Plausch, dabei hatte sie vor, andere Dinge in Erfahrung zu bringen.

„Offenbar gibt sie sich nicht einmal dir gegenüber Mühe, ihre Verbitterung zu verbergen.“

„Sie ist total eifersüchtig. Nur frage ich mich, worauf genau, wenn sie ihn ja überhaupt nicht leiden kann. Sie verstrickt sich immer in ihren Ausreden, weil sie manchmal nicht nachdenkt. Am einen Tag ist er ein Scheißkerl, der einen zur Schlachtbank bringt, weil er einen fressen will. Und am nächsten wird er in Schutz genommen.“ Vanessa hatte den Finger ans Kinn gelegt und dachte darüber nach.

„Wie es gerade passt. Du darfst nicht vergessen, dass wir uns inmitten von schlechten Menschen befinden, da ist die Gabe zu Lügen unbedingt erforderlich. Sie ist es gewohnt.“ Nun winkte sie ab und überlegte, wie sie die Chance ergreifen konnte, den gestrigen Abend noch einmal zu hinterfragen.

„Plavac hat mir Einiges von gestern Abend erzählt. Das hat wieder einmal gar nicht zu dem gepasst, was Serena so von sich gegeben hat. Ich weiß bloß, dass Cognac bei euch aufgekreuzt ist und hemmungslos über Jami hergefallen sein soll. Der Grund soll mächtig bescheuert gewesen sein.“

Die 20-jährige hielt in ihrer Bewegung inne, ihre Gesichtszüge wechselten von fröhlich zu leicht traurig. „Ich weiß nicht, was in diesen Kerl gefahren ist, jedenfalls war es ganz und gar merkwürdig.“ Sie hatte versucht, ihn über Osiris zu befragen, aber er wollte nicht über sie reden. Es musste also wirklich etwas vorgefallen sein, was er totschwieg.

„Warum merkwürdig?“ hakte Chris nach und beobachtete dabei die junge Frau sehr genau. Man konnte ihr ansehen, dass sie erschüttert gewesen war.

„Du würdest das auch merkwürdig finden, wenn man deinen Retter beschuldigt, er hätte einer Frau etwas zuleide getan. Aber noch grotesker ist, wie er sich nicht mal verteidigt hat. Jedenfalls nicht so richtig. Dass er sie nicht vergewaltigt hat, ist klar. Ich weiß nicht mal, ob er so etwas könnte.“

Diese Frage war im Grunde leicht zu beantworten. Ein Mensch konnte grundsätzlich alles, wenn er sich dazu genötigt fühlte, es ging mehr darum, selbst zu entscheiden, ob man etwas überhaupt wollte. Leider entschieden die Menschen in der Organisation so etwas meist nicht selbst, sondern der Boss tat das für sie.

„Sogar Serena hat sich für ihn eingesetzt, nachdem dieser Kerl vor lauter Zorn auf ihn geschossen hat.“

Man hörte, wie Chris tief Luft holte. „Serena hat richtig damit geprahlt, dass sie das Schlimmste verhindert hätte. Und ich weiß, dass diese Ehre ihr nicht gehört. Plavac hat gesagt, dass du dich geradezu todesmutig verhalten hättest. Er war – glaube ich – sogar ein bisschen beeindruckt davon.“ Wo sie doch eher ein Lamm war, was von anderen beschützt werden musste.

„Todesmutig? Oh, ich weiß nicht. Es ging alles so schnell und ich hatte mehr Angst um sein Leben als um meines“, sagte die Rotblonde mit einem leichten Lächeln.

„Ich bin froh, dass du ihm geholfen hast. Cognac ist etwas ungestüm, er kann manchmal einfach nicht rational denken, dann macht er schwerwiegende Fehler. Ihn umzubringen wäre jedenfalls einer gewesen.“ Es gab andere, schlimmere Leute, die es mehr verdient hatten. Nicht die Kinder. Es war verrückt. Auch jetzt – nach knapp neun Jahren sah sie immer noch das Kind in ihm. Er hatte sich rein optisch auch kaum verändert, nicht so wie Yuichi, der wurde immer männlicher. Man könnte fast behaupten, er sähe älter aus. Und das nur, weil er ein paar markante Gesichtszüge geerbt hatte. Er war erst 19, sah aber trotzdem schon aus, als wäre er mindestens 23. Aber auch er war eins der Kinder, das wollte sie nicht vergessen. Denn die waren schützenswert.

„Du weißt mehr von ihm, mehr als du bisher verraten hast“, schlussfolgerte Vanessa mit einem Seitenblick, während sie den Teig jetzt auf dem Blech auszurollen begann. Das ging locker von der Hand, also ganz automatisch, während sie sie mit dem Blick fixierte. „Wie ist ein Mensch wie er eigentlich in diese Organisation geraten?“ wollte sie wissen.

Auf der einen Seite hatte sie dem Kerl verboten, Sêiichî seine Geschichte zu verraten, bei ihr hatte sie das nicht getan. Trotzdem erzählte ihr keiner davon, nicht einmal er.

„Hast du ihn gefragt?“

„Nein, jedenfalls nicht direkt. Ich hab nur versucht ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Über sich redet er nie, immer bloß über andere“, seufzte sie. „Nur über diese Osiris, der er etwas getan haben soll, will er nicht reden. Ich wollte wissen, was das für eine Frau ist.“

„Eine schlimme Frau, ich würde auch nicht über sie reden wollen. Außerdem zeigt das nur sein Desinteresse an ihr. Über dich redet er andauernd. Ich glaube, wenn er so weitermacht, denkt bald die ganze Organisation, dass zwischen euch was läuft.“

Nun lachte sie beschämt. „So ein haarsträubender Unsinn, alles rein platonisch.“

„So?“ Die Schauspielerin bemerkte die aufkeimende Nervosität, als sie darauf zu sprechen kam. An ihr war sie ja gewohnt, dass sie eher schüchtern war, aber an ihm nicht. „Er hat nichts versucht?“

„Was soll er denn versucht haben?“ Obwohl sie die ganze Zeit lächelte und dabei stur auf das Blech starrte, wirkte sie unsicher. Hatte sie überhaupt bemerkt, wie sehr sie strahlte, wann immer die Sprache von ihm war oder er gerade in der Nähe? Und sie wollte ja auch nur zum Spaß einen Kuchen für ihn backen.

„Also soweit ich weiß, ist er ja gestern weich in deinen Schoß gefallen und es machte den Anschein, dass er da gerne ein bisschen länger bleiben will.“ Der schelmische Unterton sollte sie wohl ärgern.

„Wer hat das gesagt? Serena?“

„Nein. Der Mann, der unseren wildgewordenen Neuzugang davon abgehalten hat, deinem Freund noch mehr zuzufügen, als eine aufgeplatzte Lippe.“

Der war doch viel zu weit weg gewesen. Wie konnte er das denn bitte bemerken?

„Ich weiß nicht, mit so etwas habe ich doch überhaupt keine Erfahrung. Sonst würde ich ihm sicher sagen, wie gern ich ihn mag.“ Ihre Wangen fingen Feuer, jedenfalls waren sie stark errötet.

„Das Leben ist kurz, also solltest du nicht zögern, nur weil du gerade noch unsicher bist.“

„Und wenn ich ihm meine Gefühle gestehe, was dann? Was, wenn Serena Recht hat und er dann total über mich herfällt?“ Die junge Frau griff sich beide Wangen, sie glühten, dabei wirkte sie total neben der Spur.

„Sag ihm, dass du noch nie mit einem Mann zusammen warst, er wird das sicher verstehen und dementsprechend reagieren. Man muss nur den Mund aufkriegen, sonst laufen einem die besten Chancen weg, vergiss das nicht!“ redete sie ihr ins Gewissen. Da kam nur dieses schüchterne Lächeln.

„Wir haben gestern über Gott und die Welt geredet. Es wirkte eher, als sei er um eine gute Freundschaft bemüht.“

Es gab Männer, die gerne die Freundschaftsmasche abzogen, um der Frau nahe zu kommen. Nichts unbedingt Schlechtes, da man so einander kennenlernte, aber sich dahinter zu verstecken, aus Angst, es könnte nicht funktionieren, war auch albern.

„Du bist für ihn wahrscheinlich wie so ein scheues Reh, was er nicht erschrecken will, sonst würde er dir den Hof machen, dass dir Hören und Sehen vergeht.“

„Das klingt ganz schön altmodisch, findest du nicht?“

„Passt aber hervorragend zu einer Frau, wie dir“, antwortete Chris keck und legte sogar einen leicht schwärmerischen Ton in die Stimme. Serena hätte wohl Brechreiz bekommen. „Weißt du, ich finde schön zu wissen, dass diese Welt nicht nur verkommen ist. Heutzutage lacht man Mädchen aus, die sich ihre Reinheit bewahren und als Jungfrau heiraten wollen. In seiner Welt ist das fast nicht mehr zu finden. Ich weiß ja nicht, ob er dir von seiner Arbeit erzählt hat, aber die meisten Frauen stürzen sich ins Abenteuer, sogar junge Mädchen tun das. Es ist schön, dass du dich nicht an den Erstbesten verschenken willst, aber du musst nicht so übertreiben. Oder willst du mit dem Küssen auch bis zur Hochzeitsnacht warten?“ Sie lachte hinter vorgehaltener Hand, vor allem, weil sie total verlegen war und sie dann sogar mit einem Seitenhieb bedachte. „Flirte doch ein bisschen mit ihm, dann siehst du, wie er reagiert. Denn wenn du weiter schüchtern bleibst, wird er dich nicht erschrecken wollen. Also trau dich endlich.“ Chris dachte kurz nach, dann grinste sie schelmisch und beugte sich zu Vanessas Ohr vor. „Am besten machst du Folgendes…“ Was sie ihr ins Ohr flüsterte, war ungewiss, aber die Augen der jungen Frau weiteten sich und sie schlug sich sogar die Hände vors Gesicht. „Oh Gott, das kann ich aber nicht machen, wenn Serena mir zusieht!“

Chris kicherte. „Oh, warum nicht? Sie wäre bestimmt schockiert davon.“ Allein den Aufreger war es eigentlich wert. Sie würde bestimmt ganz schön dumm aus der Wäsche gucken.

„Aber du kannst dich auch einfach mit ihm in den Garten verziehen. Du bist doch romantisch. Ich weiß, du bist romantisch!“

„Hast du schon einmal in einem Liebesfilm mitgespielt?“

Die Schauspielerin begann zu lachen. „Nicht bloß in einem. In den meisten ging es heiß her, da müsstest du dir Luft zu wedeln.“

„So schlimm?“

„Wir können uns gerne einen ansehen, vielleicht kommst du dann in Stimmung.“ Der Schalk lag ihr im Nacken und ihre Augen blitzten auch schon so gefährlich auf. Nicht, dass sie sie verderben wollte, aber man musste ja nicht komplett enthaltsam leben.

 

 

Zur gleichen Zeit, zurück im Polizeipräsidium…

„Das sind die Fotos vom Tatort. Ich hoffe, sie haben noch nicht gefrühstückt.“

 

[Tamiko (26) Kagawa; Neue Polizeipsychologin im 1. Kriminaldezernat - Abteilung für Gewaltverbrechen]

 

Während sie am Tisch saßen, legte man ihr die Beweismittel des Tatortes vor. Sie bereitete die Bilder und Tüten vor sich aus und begutachtete alles.

„Hier der Bericht des zuständigen Gerichtsmediziners.“ Auch dieser wurde ihr vorgelegt. „Die Spurensicherung hat die Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen hinter sich“, murmelte sie vor sich hin.

„Oh, sagen Sie das nicht, lesen Sie es. Lassen Sie sich Zeit. Schauen Sie alles genau an.“

„Zeugen beobachteten, wie drei Männer sich Zugang zum Haus verschafft haben. Die Spuren ergeben, dass einer Schuhgröße Vierzig hat. Und die anderen beiden… ja die… die müssen auf Wolken gelaufen sein.“ Der Mann machte sich über die mangelnden Beweise lustig.

Ihre Augenbrauen kräuselten sich.

„Nein, das müssen Berufskriminelle gewesen sein. Vielleicht die Yakuza, wer weiß? Sie waren jedenfalls gut in der Lage, keine Finger- und Fußabdrücke zu hinterlassen. Dieser eine trug zumindest Handschuhe, seine Fingerabdrücke haben wir also nicht. Sieht ganz so aus, als müssten wir abwarten, was die Spurensicherung noch alles gefunden hat. Wenn sie sich nicht komplett eingetütet haben – was ich bezweifle – wird man zumindest Haare finden.“

„Und wenn nicht, bleibt es hierbei.“

„Und die Tatwaffen?“

„Die haben sie mitgenommen.“

Mit einem Mal wurde die junge Frau bleich. „Jetzt verstehe ich, wieso Sie gesagt haben, hoffentlich hatte ich kein Frühstück. Das ist ja ekelerregend.“

„Allerdings. Und das ist nicht das Einzige an Abscheulichkeit, was diese Tat angeht. Sie haben ihm nicht bloß die Hoden aufgeschnitten… Der Gerichtsmediziner spricht von einer brutalen Vergewaltigung. Einer ihrer Kollegen vermutet sogar, dass der Mörder das Spiel vorzeitig beendet hat.“

„Widerwärtig.“

„Und zudem hatte das Opfer vorher ebenfalls Geschlechtsverkehr.“

„Mit seiner Schwester“, schlussfolgerte sie.

„Ja, sie ist entkommen und wurde als Notfall eingeliefert. Das lässt zumindest die Vermutung offen, dass die Drei sie befreit haben. Sie muss Tage lang von ihrem Bruder grün und blau geschlagen worden sein, außerdem gefesselt und vergewaltigt. Im Krankenhaus geben sie über ihren Zustand kaum Informationen heraus. Wir müssen Genaueres in Erfahrung bringen. Leider sind die Ärzte im Krankenhaus nicht gut auf uns zu sprechen, tja. Deswegen werden Sie die Männer ins Krankenhaus begleiten und sie unterstützen.“

„Einer der leitenden Kriminalisten soll mein Cousin sein…“

Der junge Mann seufzte tief und kehlig, als sie ihm ihr Wissen mitteilte. „Allerdings. Er ist am meisten mit ihrem behandelnden Arzt aneinandergeraten. Reden Sie ihm ins Gewissen. So kommen wir in dem Fall kaum weiter.“

„Warum aneinandergeraten? War das Krankenhaus so wenig kooperativ?“ fragte die Hellbraunhaarige verwundert.

„Schlimmer noch als das. Man schirmt sie ab, als wollten wir ihr etwas Böses. Sie müssen ihren Arzt davon überzeugen, dass wir nur auf der Suche nach Gerechtigkeit sind.“

„Was wir nicht sind, da wir die Schwester des Opfers eigentlich verdächtigen, die Typen angeheuert zu haben.“ Sie legte sich die Hände ins Gesicht und fuhr sich über selbiges.

Die Sache war schlimm, es nahm sie persönlich mit, aber deswegen durfte man noch lange nicht all diese schrecklichen Dinge tun, von denen sie zutiefst erschüttert war. Solche Foltermethoden waren ihr zuwider.

 

Als die Hellbraunhaarige nun das Büro verließ, begegneten ihr gleich auf dem Weg zu Matsuyamas Büro eine Frau und ein Mann um die Vierzig.

„Oh Gott ja, haben Sie vielen Dank. Wir wollen nicht, dass diese unverschämte Göre, ungeschoren davonkommt.“ Die rotbraunhaarige Dame biss auf ein Taschentuch und drückte ordentlich auf die Tränendrüse. Tamiko beobachtete sie einen Moment.

„Das ist alles sehr tragisch, Okita-san. Wir werden unser Bestes tun, um die Täter ausfindig zu machen.“ Ein emotionsloser Satz, der nur gesagt wurde, weil es sich als Polizist so gehörte.

„Vielen Dank.“

Sie sprach sie nicht an, schaute ihnen nur hinterher. Den Kollegen griff sie, als sie außer Reichweite waren, am Arm. „Waren das die Angehörigen des Vergewaltigers?“ fragte sie direkt.

„Allerdings. Und sie haben nicht einmal den Hauch von Mitgefühl für seine Halbschwester.“

„Ich soll meinem Cousin auf die Finger schauen. Waren Sie auch mit im Krankenhaus?“

„Ja, leider. Das war alles andere als toll. Wir sollen mit Megure nochmal dahin und uns entschuldigen. Aber was sollen Sie dort machen?“

„Dem Arzt verdeutlichen, dass wir keine bösen Absichten haben, damit er endlich willig ist, zu helfen.“

Der 27-jährige begann sofort schallend zu lachen. „Oh, viel Spaß dabei. Am besten gleich die Bluse weit offen, dann vergisst er vielleicht, dass er nicht mit Polizisten reden will. Scheinbar kann er keine BULLEN leiden. Ist direkt ausfallend geworden.“

„Dafür hat er sicher Gründe. Keine Sorge, ich fühle ihm mal ein bisschen auf den Zahn.“

 

 

 

Toshizo grinste raffiniert, da man seinen besten Freund so schnell nicht beeindrucken konnte. Aber er wusste schließlich etwas, was er nicht wusste.

„Wie hast du das rausgefunden? Hat dir mein Cousin etwa dabei geholfen?“

„Quatsch mit Soße, Tak!“ antwortete der Angesprochene, während sie an der Rezeption standen und auf die Antwort der Zuständigen warteten. „Mein Vater hat Verbindungen. Er hat herumgefragt und schon wusste ich, dass sie hier ist.“

„Hatte sie einen Unfall?“

„So genau weiß ich es nicht. Ich weiß nur, bei Okitas ist was vorgefallen. Ist jetzt nicht so, dass ich darüber so verblüfft bin. Ihr Bruder ist ein Teufel“, meinte der Schwarzhaarige, wenig später betätigte die Dame hinter dem Glas die Sprechanlage. „Achter Stock. Zimmer 803. Das ist auf dem rechten Gang.“

„Danke sehr.“ Dann gingen sie zu den Aufzügen. Dort war eine Beschreibung der Stockwerke zu finden. Takahashi huschte schnell über die Beschreibungen und blieb dann bei der Acht hängen.

„Das ist ja die innere Medizin. Ich glaub, ich bin besorgt.“

„Du glaubst?“

Toshizo schüttelte den Kopf. Seit sein Vater gesagt hatte, dass bei Okita ein Mord geschehen sein sollte, hatte er sich gefragt, ob Saki noch lebte. Er war erleichtert zu erfahren, dass sie hier war. Dann war es eben die innere Medizin. Leichenhalle hätte er schlimmer gefunden.

 

Der Aufzug öffnete sich nach einem ~bing~ und sie sahen sich um. Es war sehr ruhig auf den Gängen und einige Schwestern waren hinter der Rezeption zu finden. Sie wirkten beschäftigt, da sie den Kopf zum Tisch gesenkt hatten, also glaubten sie, sich vorbei schleichen zu können. Doch kaum, dass sie vorbei wollten, hob eine den Kopf. „Wo wollt ihr denn hin, Jungs? Das ist die Innere. Hier spaziert man nicht einfach rum!“

Takahashi zuckte nicht mal, als man ihn so anranzte, er drehte sich herum und lief zur ihr. „Wir haben uns an der Information nach einer Schülerin erkundigt. Es klang nicht, als sei es ein Problem sie zu besuchen.“

Warum zum Teufel sah die Schwester ihn gleich so feindselig an? Er hatte jawohl nichts verbrochen.

Sie stand auf, kam zur Tür heraus und verschränkte die Armen vor ihnen. „Seid ihr Verwandte?“

„Ja, klar!“ schoss es aus dem Braunhaarigen. „Ich bin ihr Cousin Shinji. Wie geht’s ihr? Ist sie schwer verletzt worden?“

‚Dein Ernst?‘ Toshizo hielt die Klappe, er war kein Lügner, sein bester Freund hingegen schien sich zu denken: Ach, nur Verwandte dürfen zu ihr, kein Problem.

„Das müsst ihr mit den Ärzten besprechen“, meinte sie. „Das kann einen Moment dauern. Ich informiere sie darüber. Einen Moment.“ Sie verschwand zurück an ihren Platz und telefonierte einen Moment.

„Ihr könnt euch gegenüber hinsetzen. Sie kommen gleich und holen euch ab.“

„Okay“, meinte der Braunhaarige, nahm Toshizo und zog ihn zu den Sitzen.

„Unglaublich, dass du ihr so ins Gesicht lügst.“

„Die würden uns kein Wort sagen und uns wieder wegschicken, weil wir keine Verwandten sind. Jetzt müssen wir nur hoffen, dass wir nicht erkannt werden.“

„Na großartig. Hoffentlich dauert’s nicht so lang.“

 

Wenig später öffnete sich der Aufzug erneut und ein Mann im weißen Kittel stieg aus. Er sah sich zu den Sitzen um und lief dann schnellen Schrittes auf sie zu.

„Sie möchten zu Niiza-san, richtig?“

„Ja, wollen wir. Wie geht’s ihr denn?“ wollte der Braunhaarige sofort wissen und der teils ergraute Arzt nickte zwar, hielt sich dann aber die Stirn. „Das kann ich nicht so ohne weiteres erlauben. Sie braucht absolute Ruhe und…“ Er seufzte. „Wer von euch beiden ist ihr Cousin?“

„Das bin ich.“

„Gut. Folge mir.“

Toshizo war doch ein bisschen beleidigt, weil sie ihn einfach sitzen ließen, aber er wusste, dass ihm nachher sowieso alles erzählt werden würde.

 

Sie gingen gerade vorbei an den Aufzügen, als einer sich erneut öffnete.

„Bis später“, sagten sich die Zwei, nickten und gingen dann in verschiedene Richtungen. Takahashi konnte aus den Augenwinkeln zumindest einen von ihnen erkennen.

‚Ach du Scheiße, hab ich Glück gehabt… Nicht in ihre Richtung sehen!‘ Diese Ärztin, die würde seine Lüge entlarven, spätestens wenn sie ihn einfach beim Namen ansprach. Sein Schritt beschleunigte sich, er wollte nur so schnell wie möglich aus ihrer Sichtweite verschwinden. Er hatte sowieso herzlich wenig Lust, sich mit dieser Frau zu unterhalten. Die war in seinen Augen daran schuld, dass Sêiichî nicht alle Tassen beisammenhatte.

Kayama-san, wie das Schild an seinem Kittel sagte, wirkte sehr ernst. Was würde der ihm wohl für schlimmes Zeug erzählen? Sie war seit etwas mehr als zwei Wochen wie vom Erdboden verschluckt und keiner sagte ihnen etwas. Ja, er war ziemlich sauer darüber, wenn man etwas vor ihm zu vertuschen versuchte, ihn das aber interessierte.

 

Da die Unterlagen fest unter Verschluss waren und die Frau sie im Büro liegen gelassen hatte, klopfte sie und wurde dann sogar reingelassen. Gerade, als der Gute in der Akte blätterte und dem jungen Mann keinen Unsinn erzählen wollte.

„Kann ich die Akte von dem Mädchen haben, bitte?“

Das Mädchen, hat einen Namen!“ meinte der Arzt und sie nickte. „Entschuldigen Sie, der Stress.“

„Ich brauche sie gerade selbst“, antwortete er. „Ihr Cousin ist da.“

Die 43-jährige zog die Augenbrauen zusammen, legte sich die Hand ans Kinn und kam dann zu ihrem Chef. „Ach ja? Welcher von denen?“ fragte sie ketzerisch.

„Shinji Yasuaki.“

Yohko beugte sich vor und sah dem Jungen direkt ins Gesicht. „Äußerst interessant. Als ich ihn anrief, meinte er noch, er sei schwer beschäftigt.“ Ein gemeines Lachen war zu hören und dann sahen ihre grünen Augen ihn verheißungsvoll an. „So, so. Wissen Sie was, Sie sind ein vielbeschäftigter Arzt, ich übernehm das.“

‚Ich bin gearscht, oder will die etwa tatsächlich die Regeln brechen? Warum frag ich mich. Sie ist ein Unmensch…‘ Der 18-jährige sah sie mit einem strahlenden Lächeln an und ließ sich nichts anmerken.

„Wie Sie meinen, da nehmen Sie mir eine ganze Menge ab.“

Der Arzt erhob sich, ging zur Tür, warf dem jungen Mann noch ein Nicken zu und ging dann. Als die Tür geschlossen wurde, legte Yohko die Hände auf den Tisch und durchbohrte ihn regelrecht.

„Sehr schlau, mein Junge. Sêiichî hat sich dämlicher angestellt, als er Saki besuchen wollte und ist rausgeflogen. Würde ihn sicher sehr ärgern zu wissen, dass du es zumindest zu ihren Ärzten geschafft hast, mein Hübscher.“

„Ach, lassen Sie doch das Gerede und kommen Sie zum Punkt!“ verlangte er von ihr. „Ich will wissen, wie es unserer Klassenkameradin geht. Warum darf das keiner wissen?“

„Die Polizei ermittelt in einem Fall und die Öffentlichkeit soll komplett aus der Sache rausgehalten werden“, antwortete sie, setzte sich dann mit einer Po-Seite vor ihm auf den Tisch und blickte auf ihn herunter.

Er rückte den Stuhl ein kleines bisschen nach hinten und beobachtete sie genau.

„Glauben Sie, ich erzähl das überall rum? Also: Was ist mit ihr? Kann ich sie besuchen? Ja, oder nein?“

„Also ich hätte nicht viel dagegen einzuwenden. Ich glaube, ihr Gynäkologe sieht das anders. Fragen wir ihn doch. Beziehungsweise, du kannst ihn ja anflehen. Er hat sie bisher vor allen beschützt. Sogar vor den Polizisten.“

„Warum das denn? Hat sie was angestellt?“ Saki war alles andere als ein liebes und gehorsames Mädchen. Die hatte schon einige Dinge getrieben, es würde ihn also nicht wundern, wenn jetzt etwas passiert war. Wenn ein Gynäkologe beteiligt war, dann war sie vermutlich wegen ihres Auftretens überfallen worden. Sie forderte es ja regelrecht heraus, oder nicht? Weil sie gern bewundert wurde.

„Glaubst du wirklich, dass ich dir darauf Antworten gebe? Oder kann? Ich habe sie nur operiert.“

Yohko griff zum Telefonhörer und redete schließlich in diesen. „Hallo, ja ich bin’s. Tun Sie mir den Gefallen und piepen Sie Ashida-san an. Er soll in Kayamas Büro kommen. Aber nur, wenn er gerade nicht schwer beschäftigt ist.“ Sie grinste. „Ach, er macht Pause. Gut, dann geht das schon in Ordnung. Jemand will Informationen über eine seiner Patientinnen. Danke.“

„Ashida-san? Der ist ihr Gynäkologe?“ Takahashi seufzte. So viel dazu: Hoffentlich wurden sie nicht erkannt.

„Er macht sein praktisches Jahr.“

„Großartig“, meinte der Junge dazu nur. Jetzt pfuschte noch einer an ihr rum, der noch üben musste.

„Was soll dieser missbilligende Ton? Er ist ziemlich gut in seinem Job. Besser als die Meisten, die das schon seit Jahren machen.“ Sie klopfte ihm mehrmals auf die Schulter. „Also, mein Junge. Er kommt gleich. Ich rate dir, ihm ordentlich in den Arsch zu kriechen und ihm zu sagen, wie überaus wichtig sie dir ist… Dann drückt er sicher ein Auge zu.“

Man konnte kaum erleichterter sein, als sie endlich das Büro hinter sich ließ. Vor einigen Jahren hatte dieses Frauenzimmer noch allen Bekannten von Sêiichî mit Freude den Kopf gestreichelt. Und er war nicht ihr Junge – was bildete die sich ein?

 

Es passte dem Schwarzhaarigen nicht in den Kram, dass schon wieder ein so vorwitziger Kerl da war, um etwas herauszubekommen. Er glaubte, dass Cognac irgendwen hierhergeschickt hatte, nur weil er es nicht zu dem Mädchen geschafft hatte. Was interessierte er sich so für sie? Gerade tat ihr kein Kerl gut. Warum konnten sie sie nicht in Ruhe lassen?

Schon auf dem Weg zum Büro war er ganz schön aufgewühlt und rannte fast über den Flur. Und die Tür, die würde regelrecht aufgerissen, so dass Takahashi sich alarmiert herumdrehte.

‚Den hab ich anders in Erinnerung.‘

„Wie hast du es bis zum Büro geschafft? Wir schicken jeden weg, den das Ganze nichts angeht.“

„Seien Sie doch nicht so unfreundlich. Ich hab nichts verbrochen.“ Leicht trotzig klang er und sein Blick verfolgte den Kerl, von der Tür, bis zum Tisch.

„Yohko Iwamoto hat mir auf dem Weg gesteckt, dass du den Chefarzt angelogen hast. Shinji Yasuaki? Soll das ein Scherz sein? Der interessiert sich nicht dafür, wie es ihr geht!“

Das war sehr bedauerlich, aber es wunderte ihn auch nicht besonders. Der war ja schließlich fast so etwas wie der beste Freund eines Vergewaltigers. Bestimmt gab er ihr auch die Schuld daran, wenn ihr irgendetwas zugestoßen war.

„Mein Freund und ich machen uns Sorgen. Deswegen wollten wir rausfinden, was mit ihr los ist. Was daran ist so falsch, hm?“ fragte der Junge, er fand das eigentlich sogar sehr nett von ihnen, sich um sie Gedanken zu machen, nachdem sie sich nicht gerade nett benommen hatten – vor allem er nicht.

Toshi hatte gesagt, dass er hoffte, sie tat sich nichts an, weil er so ein Schwein war. Ja, so etwas hatte er ihm noch nie gesagt und es saß besonders. Er hatte sie absolut scheiße behandelt und leider hielt Toshi sie ja für sensibel. Er war da nie sicher, ob das zutraf, aber das hieß noch lange nicht, dass man es ausprobieren musste, wie viel sie aushielt.

„Also, um ehrlich zu sein… Ich weiß nicht, ob ihr das Recht ist.“

„Will sie keinen sehen?“ fragte er.

Man musste sie zu jedem Menschenkontakt zwingen. Aber ein paar Freunde wäre genau das, was sie gerade gut gebrauchen konnte. Er überlegte, ob er nicht vielleicht eine Ausnahme machen sollte und sie zumindest fragen, ob sie ihn sehen wollte. Er fand diese strengen Regeln gerade nicht gut. Wenn jemand zu ihr wollte, weil er sie mochte, dann sprach nichts dagegen. In seinen Augen jedenfalls nicht. Er wog ab. Gefahr und Nutzen. Die Organisation war in diese Sache involviert und vielleicht war die Isolation gerade besser für alle Beteiligten. Noch dazu kannte er den Kerl. Nein, das gefiel ihm nicht. Am Ende ging ihm dieser Akaja wieder auf die Nerven, nur weil er seinen Cousin zu einem Mädchen ließ, die zufällig die Schwester von einem Organisationsmitglied war. Immer diese schweren Entscheidungen.

„Nun, ich kann sie ja fragen, ob sie dich sehen will.“ Er war so ein emotionaler Idiot. Natürlich wollte er einfach nur, dass es ihr besser ging und wenn sie den Typen mochte, vielleicht war es ja etwas Gutes, wenn er sie besuchte. Nun wirkte der 21-jährige viel netter, als er ihn hilfsbereit ansah und daraufhin den Raum verließ.

„Dacht schon, den haben sie grundlegend verdorben“, seufzte er zu sich selbst, immerhin wusste er, dass sie ihn entführt hatten. Bestimmt wusste auch Yuichi viel mehr als die Meisten. Dass er nicht einmal fragte, wie es seinem Bruder ging, immerhin gingen sie auf die gleiche Schule und er hätte ihm das sagen können. Aber darum ging es ja gerade auch nicht.

 

Das leise Klopfen ließ das blonde Mädchen die Augen öffnen und „herein“ sagen. Ganz langsam wurde die Tür geöffnet und ihr Arzt trat herein.

„Ich habe gute Neuigkeiten“, meinte er mit einem zaghaften Lächeln. „Einer deiner Klassenkameraden würde dich gern besuchen. Willst du ihn sehen?“

Sie drehte den Kopf zu Ashida-san und runzelte die Stirn. „Wer von meinen Klassenkameraden ist es?“

„Takahashi. Das sagt dir doch sicher was. Oder? Er wirkte ganz schön beso-“

„Oh Gott! Nein, ich will nicht!“

Kenichi war schockiert davon, wie sie sich beide Hände auf die Schläfen legte und total panisch reagierte. „Jeder, aber nicht er! Das kann ich nicht auch noch ertragen!“

„Warum?“ Zwar musste der junge Arzt tief Luft holen, aber er blieb ruhig und setzte sich zu ihr ans Bett auf einen Stuhl. „Hey, beruhig dich. Ich lass niemanden zu dir, wenn du nicht willst. Aber was wäre so schlimm daran?“ fragte er und sie drehte den Kopf zu ihm. Ihr Blick traf sie ungeheuer hart und dann antwortete sie nicht einmal. Was war denn bitte zwischen ihnen vorgefallen, dass sie so in Panik verfiel? War das ihr Freund? Und sie müsste ihm erzählen, was passiert war? Wollte das aber nicht?

„Ich kann einfach nicht. Wenn ich in seine Augen sehe, fange ich an zu heulen. Er soll mich nicht so sehen“, schniefte sie. Das Mädchen war labil. Also wusste er jetzt wenigstens, dass es da jemanden gab.

„Bist du ganz sicher, dass du das nicht willst? Vielleicht würde es dir guttun, wenn du ihm sagst, was ihn erwartet.“

„Und dann? Soll ich mich an ihm ausheulen?“ Sie kniff die Augen zu und die Tränen rollten ungehindert über ihr Gesicht.

„Warum nicht?“

„Warum soll ich andere in die Sache mit hineinziehen? Ich muss allein darüber hinwegkommen! Gehen Sie jetzt bitte und schicken Sie ihn nach Hause. Ich tret ihm unter die Augen, wenn’s mir besser geht.“

Ihre Hand schob seinen Arm weg. Gar keiner sollte ihr gerade zu nahekommen. Noch nicht mal so ein netter Mann wie ihr Arzt.

„Na gut“, seufzte er einsichtig, war aber auch ganz schön traurig darüber, dass sie absolut keinen an sich heranließ. Und die Psychologin war auch alles andere als geeignet. Er hoffte, dass seine Kollegin ihm was Besseres herschickte. Jemand, der nicht vorhatte, sie zu destabilisieren. Sie war nicht mal stabil.

 

Als Kenichi das Zimmer verließ und die Tür hinter sich bereits geschlossen hatte, seufzte er tief. „Manchmal hasse ich es wirklich. Immer denken sie, sie müssen alles allein aushalten.“ Er fuhr mit beiden Händen über sein Gesicht. Manchmal wollte er alles gleichzeitig lernen. Dabei war er mit seiner Ausbildung nicht mal fertig und interessierte sich schon für das Nächste. Aber er war leider auf die Hilfe eines Therapeuten angewiesen, weil das nicht sein Fachgebiet war. Mehr als nett und einfühlsam zu sein, lag weit außerhalb seines Territoriums. Aber das machte diesen Beruf auch so nervenaufreizend. Aber er hatte sich entschieden. Genau diesen Beruf wollte er ausüben, also musste er lernen, es nicht zu nah an sich heranzulassen. Keine Frau würde eine Vergewaltigung einfach so überstehen. Ohne Trauma. Ohne Selbstzweifel. Aber er wünschte, dass dem so wäre. Dass ein Gewaltereignis nicht so viel emotionale Pein mit sich bringen würde. Das war mit ein Grund, dass er so etwas niemals tun könnte.

 

 

„Hau’n wir ab“, hörte der Schwarzhaarige, nachdem sein bester Freund mit einem Gesicht wie drei Tage Regenwetter wieder zu ihm zurückkam und er sich fragte, was in der guten halben Stunde wohl alles zu ihm gesagt worden war. Sein Blick ruhte einen Moment länger auf ihm.

„Und wie geht`s ihr? Haben die etwas gesagt?“

„Also ich weiß auf jeden Fall, dass sie mich nicht sehen will. Kannst ja auch mal dein Glück versuchen… Vielleicht kann sie dich ja besser leiden…“

Und dann lief er einfach raus, zu den Aufzügen und ließ ihn so dastehen. „Ey, spinnst du?“ meinte er und rannte ihm hinterher. Gerade fühlte er sich eher danach, ihm hinterher zu gehen, als irgendetwas anderes zu versuchen. Gerade so konnte er den Fuß zwischen die sich schließende Aufzugstür stellen und verhindern, dass Takahashi ohne ihn abhauen konnte. „Was hat dich denn geritten?“

„Nichts.“

Gute Laune hatte er jedenfalls keine. „Die kriegt sich bestimmt wieder ein“, versicherte Toshizo ihm, einfach, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass sie so nachtragend war.

„Tze.“ Der hatte wie immer keinen blassen Dunst. „Ashida arbeitet hier doch allen Ernstes als Arzt. Er war sogar so nett, sie zu fragen, ob sie mich sehen will. Und dann kam er wieder und hat gesagt, sie will nicht. Ich soll sie in Ruhe lassen.“

„Okay, das ist hart.“ Toshizo stellte sich dicht neben ihn. „Aber du bist selbst schuld. Warum hast du sie auch wegen mir so behandelt? Das war total unnötig.“

„Ich hab mich bei ihr entschuldigt. Also hör auf mir weiter damit auf den Sack zu gehen!“

Soweit sie sich erinnern konnten, hatten sie noch nie einen richtigen Streit. Das lag vorwiegend aber auch daran, dass er ein sanftmütiger Kerl war, der seinem Freund so manches durchgehen ließ. Aber der hatte bisher auch nie die Notwendigkeit gesehen, ihn anzufauchen.

„Und ob ich dir auf den Sack gehen werde, mein Lieber!“ meinte er hart, keiner von ihnen hatte Erfahrung damit. Toshi war immer lieb und er hatte bisher immer die Klappe gehalten, wenn der Gute sich mal nicht so sensibel benahm, weil er eben nicht sensibel war und er von seinen Problemen wusste. Toshizo wusste wie kein zweiter, wie schwer es seinem besten Freund fiel, einfach nur ein guter Mensch zu sein.

Es war auch gar nicht so gemeint. Manchmal war es sogar gut, wenn man ihm auf den Sack ging, wie er so schön sagte. Seine Exfreundin versuchte ihm alleine die Schuld daran zu geben, dass sie sich getrennt hatten. Sie war perfekt und er ein Idiot. Die erzählte den Leuten alles Mögliche an Unsinn über ihn, nur um möglichst seinen Ruf zu ruinieren. In der Schule glaubte schon keiner mehr, dass er auch nett sein konnte. Er war froh, dass trotz seiner Untaten Saki nicht alles glaubte, was man so von ihm behauptete, gerade weil sie mit ihnen rumgehangen hatte und sich bloß auf ihr eigenes Urteil verließ.

„Ich war nett zu ihr – ich hab mich entschuldigt, ok? Was soll ich noch machen? Außerdem dachte ich, nachdem wir fast drei Stunden bei ihr zuhause rumhingen, dass wieder alles gut ist. Sorry, wenn ich deswegen jetzt angefressen bin.“

„Dann hat sie vielleicht ein anderes Problem und es liegt überhaupt nicht an dir.“

Ausnahmsweise nicht. Oder wie? Sogar Toshizo glaubte zu allererst, es hatte mit seinem Verhalten zu tun.

„Haben die denn sonst nichts gesagt?“

„Ich bin da drinnen erstmal Frau Doktor Frankenstein ausgeliefert gewesen. Die hat wie immer lieb und freundlich getan. Sêiichîs Verlust macht ihr wohl immer noch schwer zu schaffen“, lachte er, schluckte den Rest aber. Weil sie ihn nicht mehr antatschen konnte. Er konnte es leugnen, so viel er wollte, er wusste es trotzdem.

„Frau Doktor Frankenstein? Meinst du, Sêiichîs Forschungsfanatische Mutter?“

„Ja, genau die.“

 

 

Megure erwischte die zwei Jungs vor dem Krankenhaus – sehr verdächtig. Sie hatten die Ansage, jeden aus der Klasse des Mädchens weit vom Krankenhaus fernzuhalten. Sie waren zu jung für derartige Fälle. Sie wurden zurechtgestutzt und das schon mit der Fresse, die sein bester Freund vorher schon gezogen hatte. Der wurde sogar ein kleines bisschen patzig und machte sich einfach so vom Acker.

Toshizo seufzte nur und senkte reumütig den Kopf. „Er kommt nicht gut damit klar, dass sie ihn nicht sehen wollte.“

Megure sah ihn mitfühlend an und klopfte ihm auf den Rücken. „Dann solltest du dich vielleicht um ihn kümmern, wenn es ihm deswegen nicht gut geht.“

Er war nachsichtig mit den Jungs, die sich zweifellos einfach nur Gedanken um eine Mitschülerin machten.

 

Tamiko Kagawa war weniger nachsichtig mit ihnen. Sie merkte sofort, wer von ihnen das schwächere Schaf war. Dem einen ging es zwar nicht sonderlich gut, aber der war robuster. Dem passte auch nicht, dass sie getrennt befragt wurden. Er wusste von Anfang an, dass das niemals gut ging…

Da war es fast kein Wunder, dass er vor der Büro-Tür auf und ab ging und sich Sorgen machte. Er mochte diese Polizeipsychologin nicht. Mit Grund, wie er in nicht allzu langer Zeit erfahren sollte.

Toshizo fühlte sich zwar nicht so ganz wohl, immerhin waren Psychologen ihm nicht geheuer. So jemand hatte Takahashis Mutter eingeredet, dass ihr Sohn ein Problemfall war, den man besser schnell wieder los wurde. Sie sollte loslassen, bevor es zu spät war. Also saß er relativ unentspannt der Hellbraunhaarigen gegenüber. Diese lächelte und wirkte umgänglich. Man musste keine Angst vor ihr haben. Doch in dem Moment hatte er das noch.

„Du musst keine Angst haben. Wir versuchen das Mädchen zu beschützen, deswegen darf niemand von euch zu ihr.“

Das war für ihn leicht zu verstehen, simpel und effektive Manipulation einer Beamtin.

„Hör mal. Ich möchte, dass du mir alle Fragen zu 100% ehrlich beantwortest, dann passiert euch nichts. Ehrenwort.“

Am liebsten wollte er lieber schweigen, als jemals irgendetwas zu beantworten.

„Es ist kein Verbrechen, eine Freundin zu besuchen.“

„Eure Freundin ist sie also? Wie eng steht ihr euch wirklich?“

Die Frage war merkwürdig und er verstand den Zweck nicht. Takahashi hätte es bestimmt gewusst, aber den hatten sie fies von ihm getrennt. „Wie meinen Sie das?“

„Hat einer von euch schon mal mit ihr geschlafen?“

Herrgott, wie peinlich? Er wurde glatt rot, als sie ihn so direkt danach fragte. „Also, ist es solch eine Freundschaft? Oder ist es rein platonisch?“

„Ja.. is platonisch… ja … ja“, stammelte er, da lächelte sie noch ein bisschen mehr und gab sich absichtlich mütterlich, indem sie sich neben ihn setzte, seine Schulter streichelte und versuchte so freundlich und liebenswert wie möglich zu wirken. „So wie du stammelst, kaufe ich dir das nicht ab. Du weißt, dass man nicht lügen darf, das kommt einen Teuer zu stehen.“

„Aber wir sind wirklich nur Freunde.“ So wie seine Stimme zitterte, konnte sie klar erkennen, dass das nicht die ganze Wahrheit sein konnte. „Also hattest du noch nie etwas mit diesem Mädchen? Du musst dich nicht dafür schämen, wenn du von ihr verführt wurdest. Das ist doch nichts Schlimmes, über das man nicht reden darf.“

Es wurde ihm immer unangenehmer, er biss sich auf die Lippen und kniff dann sogar die Augen zu. „Ja, na gut. An meinem Geburtstag… Nur dieses eine Mal.“

„Doch nicht etwa gemeinsam?“

Ihm war angst und bange, schließlich war der Sex nicht ganz so einvernehmlich gewesen, wie er zuvor geglaubt hatte. „Kriegen wir dann Ärger?“

„Aber nein. Ihr habt sie nicht gezwungen, oder?“

Toshizo schluckte, instinktiv, schließlich kannte er die Wahrheit. Etwas, was er lieber nicht gewusst hätte, dann hätte er besser lügen können. Hastig schüttelte er den Kopf.

„Interessant. Also ist eure Beziehung zu ihr mehr als freundschaftlich. Sie ist wohl sehr nett zu euch, was?“ Ihre Hand strich ihm sachte über den Kopf. „Also, sie kümmert sich richtig gut um euch, mhm?“

„Sie ist eine gute Freundin, ja sie ist lieb zu uns.“ Es war ein dicker Kloß in seinem Hals.

„Und ihr mögt sie wohl sehr, mhm?“

„Wir waren Spielkameraden in Kyoto.“

„Habt ihr dort mitbekommen, wie sie mit anderen Jungs so umgegangen ist?“

„Ja, klar, sie war immer sehr gern mit Jungs befreundet. Wieso?“

Sie hatte einen bestimmten Plan und der ging von vorne bis hinten auf. „Also sie war sehr leichtfertig im Umgang mit Jungs?“

„Schon.“

„Danke, Toshizo-kun, du hast mir sehr geholfen.“

Daraufhin entließ sie ihn und rief Takahashi zu sich. „Und?“ flüsterte er, wurde dann aber am Arm gepackt und zu ihr reingeschoben, damit sie sich nicht absprechen konnten. Kurz darauf fiel die Tür zu.

 

„Um das mal klarzustellen, wir haben absolut nichts verbrochen, um wie Verbrecher reingezerrt zu werden!“

„Warum gleich so zornig?“ Ja, sie merkte es schon im ersten Moment. Mit dem konnte sie nicht dieses Spiel spielen und das nervte sie jetzt schon. Den packte sie besser hart an.

„Für einen, der mit seinem besten Freund eine – so genannte platonische Freundin – flachgelegt hat, wirkst du ganz schön selbstbewusst!“

„Wie kommen Sie darauf?“ Verdammt, woher wusste die bitte davon? Er war bestürzt. Hatte Saki denen etwa davon erzählt? So schlimm war es nun auch wieder nicht gewesen, oder?

„Oh, dein Freund war sehr gesprächig.“

Takahashi sah die unangenehme Person forschend an. „Behauptet Saki, wir haben sie vergewaltigt? Das ist gelogen!“

„Nein, tut sie nicht“, antwortete Tamiko. „Hast du Schiss, dass sie das behaupten könnte, weil ihr sonst der Ruf meilenweit vorauseilt?“

Seine Augen wurden zu Schlitzen. „Wieso?!“ Seine Frage wirkte patzig. Er konnte sie nicht leiden, traute ihr keinen Millimeter und war gereizt, weil sie so komisches Zeug redete.

„Weil Mädchen wie sie immer lieb und nett tun, die Typen aber verschlingen. Sie ist so eine, oder?“

Alle Situationen, an die er sich direkt erinnerte, huschten ihm durch die Sinne. Ja, Saki trieb es wild. Sie mochte verschiedene Typen und ließ nichts anbrennen. Das Schlimmste, er war gekränkt davon, dass sie ihn nicht mal sehen wollte.

„Vielleicht.“ Man, war er ein Kotzbrocken, er leugnete es nicht mal.

„Sie hat mit dir Spielchen gespielt, huh?“

Diese Frau ging ihm auf den Wecker, so was von.

„So ein Quatsch. Ich hab sie verletzt… Das ist.“

„Womit denn?“

„Mit der glorreichen Idee, sie soll es meinem Freund besorgen.“

„Danke für das Gespräch. Du kannst gehen.“ Die Hellbraunhaarige machte sich Notizen und wirkte darauf konzentriert, dabei wurde er überhaupt nicht mehr beachtet.

„Das war’s? Keine Schelte, weil wir geschnüffelt haben?“

„Nein.“

Merkwürdige Frau. Er verließ den Raum und knallte die Tür.

„Ey, was ist das denn für eine? Die hat Saki gerade versucht als ein Flittchen hinzustellen. Hast du der etwa gesagt, was wir an deinem Geburtstag getrieben haben?“

„Ja, sie sagte, dass uns nichts passiert, wenn wir nur die Wahrheit sagen. Dass du sie erpresst hast, hab ich nicht gesagt.“

„Hättest du vielleicht tun sollen, Idiot!“

„Warum bist du denn jetzt sauer auf mich?“ Man sah ihn aus traurigen Augen an und er konnte ihm einfach nicht böse sein, aber er war ein Schussel.

„Ich glaub, dass Saki was passiert ist und die Polizei aus uns bloß rausquetschen wollte, wie wild sie es treibt, um sie unglaubwürdig zu machen. Jedenfalls wirkte die Psychologin so!“

„Die war doch total nett.“

„Nett? Du bist echt naiv.“ Die war nicht nett, jedenfalls nicht bei ihm. „Komm, erzähl mir draußen, was genau du ihr erzählt hast. Und dann sagst du besser zu keinem mehr irgendwas. Komm.“ Er zog ihn raus, kurz danach öffnete sich die Tür und Tamiko Kagawa trat auf den Gang hinaus. Sie begab sich zum Büro von Yamada und Tanaka. „Das Gespräch mit den zwei Jungs war aufschlussreicher als ich dachte. Das Luder hat es mit beiden getrieben, auch noch zur gleichen Zeit. Wollen Sie sie immer noch als Opfer betrachten?“

Yamada war schockiert. „Ich… Ich ziehe Akaja-san hinzu.“ Das war eine Wendung, die ihm sicher nicht gefallen würde, weil er das Mädchen versuchte zu beschützen. Und was war die Intension dieser Psychologin? Ihre Glaubhaftigkeit anzuzweifeln? Warum? Um ihr Gewissen zu erleichtern, wenn sie herausfand, dass sie es getan hatte?

 

Kaum, dass der Polizeipräsident zur Tür reingekommen war, saß er sich die Schläfen haltend da. Kein Wunder bei dem, was die Frau ihnen mitzuteilen hatte und bei dem, was andere hier Anwesenden sagten. Es dauerte einen Moment, bis er etwas dazu sagen konnte. Er hörte sich alles an, analysierte und musste doch tatsächlich einen Moment lang zugeben, dass die Informationen durchaus wichtig waren. Deswegen gefielen sie ihm aber noch lange nicht. Er verwies alle Männer des Raumes und nur er und die Psychologin blieben übrig.

Sie war ohne Zweifel manipulativ, aber das war teils sogar der Job von Polizisten, um ihre Antworten zu bekommen. Hätte er zu diesem Zeitpunkt gewusst, was ihre Mittel gewesen waren und dass es ihr dabei weniger um die Wahrheit ging, wäre er wohl sehr wütend auf sie gewesen. Jetzt musste er den Schaden begrenzen, für diejenigen, die überlebt hatten. Es sollte ihn wohl kümmern, dass ein Mensch ermordet worden war, aber manchmal führte kein Weg daran vorbei.

„Warum glauben Sie, dass es Recht ist, eine 18-jährige wegen ihres Rufs zu verurteilen? Dann hat sie eben mit zwei Jungs, die sie eine lange Zeit kennt, ihren Spaß gehabt. Das rechtfertigt nicht, was unser Opfer mit ihr getan hat. Und wenn es zu seinem Tod führte, dann war das Notwehr oder Nothilfe, je nachdem, wer es getan hat. Und es macht sie nicht automatisch zu unserem Täter“, sagte er sachlich, klang dabei nur halb so emotional, wie er gekonnt hätte, um der Frau nicht seine Sympathien zu offenbaren, die verschlang sie offenbar wie ein Gierschlund und nutzte sie auf jegliche Weise, die ihr gerade richtig erschien.

„Na hören Sie mal. Finden Sie es etwa richtig, einen Vergewaltiger zu verstümmeln und zu erschießen?“ fragte Yamada den Polizeipräsidenten entrüstet; das hätte er echt nicht für möglich gehalten. Und er wollte die arme Frau nicht so hängen lassen, die schließlich auch nicht wollte, dass Vergewaltiger frei herumliefen. Nicht?

„Nein, der Schuss war noch das Humanste. Aber die Unschuld vom Lande war seine Schwester auch nicht. Ich kann natürlich nur mutmaßen…“ Sie nahm wohl fälschlicherweise an, die Frage sei an sie gerichtet, dabei war sie das nicht. Offenbar war sie in Erklärungsnot geraten, da sie sich nicht unbedingt so richtig verhalten hatte.

„Ich will aber von Mutmaßungen nichts mehr hören!“ fuhr Takeshi Akaja dazwischen.

„Aber wir müssen alle Möglichkeiten ausschließen. Also führt kein Weg daran vorbei!“

Die Frau Mitte 20 war jedenfalls sehr wortgewandt und klug genug, um Rechtfertigungen für ihre Methoden zu finden. Dann warf sie ihm noch diesen ernsten Blick zu, der aufrichtig erschien. „Nur, weil jemand Leid erfahren hat, ist ihm noch lange nicht erlaubt, selbst zu richten. Das wissen Sie genau.“

Und am Ende hatte sie damit noch Recht. „Ja, aber der einfachste Weg ist auch nicht immer der Beste. Oder der Richtige. Betrachten wir es von der Logik-Seite. Sie war zu dem Zeitpunkt traumatisiert. Sie wäre nicht in der Lage gewesen, so eine Tat zu begehen, Kagawa-san. Das müssen Sie doch bedacht haben. Eine traumatisierte Vergewaltigte ihres Zustandes bringt es einfach nicht fertig, einen PERFEKTEN MORD zu begehen. Weder könnte sie ihren Bruder verstümmeln, ohne ihre DNA zu hinterlassen, noch könnte sie ihn töten, ohne Spuren. Wollen Sie das etwa auch anzweifeln?“ Mittlerweile hörte man, dass es ihn ärgerte, wenn man etwas für entschieden hielt und nicht alle Fakten beachtete, nur weil man sie nicht sehen wollte.

„Oh, dann passen Sie mal auf. Mit 13 – ich wiederhole – mit 13 hat sie sich in psychiatrischer Behandlung befunden, weil sie die Scheibe ihres Zimmers zerbrochen hat, um abzuhauen. Ihr Vater musste sie in eine Klinik bringen lassen, wo sie das Verhalten des Kindes untersuchten. Sie litt unter Aggressionsproblemen. Die anschließende Diagnose: Dissoziale Persönlichkeitsstörung. Sie lebt jenseits der Regelnormen. An ihrer Schule sagten sie, sie hätte immer nur Schwierigkeiten gemacht. Neigung zu Vandalismus, leichtfertige Freundschaften mit Jungs. Kein anderes Mädchen wollte lange mit ihr zu tun haben. Meine Kollegen sagen, die Mutter des Opfers sei in Tränen ausgebrochen, weil das Kind ihren einzigen Sohn verführt hat. Sie ist schwanger geworden und er hat Panik bekommen. Er soll ihr sogar völlig verzweifelt berichtet haben, dass er Mist gemacht hat.“

Sie redete sich ordentlich den Mund fusselig, nur um ihn zu überzeugen, dass das Mädchen gefährlich war und sie damit rechnen mussten, dass sie es gewesen war.

„Tja, das mag sein. Er hat die Kontrolle verloren. Mehr beweist das nicht. Weder beweist es, dass sie sich gerächt hat, noch dass sie zur Tatortzeit überhaupt noch dort war. Das einzige, was wir wirklich wissen, ist, was er getan hat, nicht was sie getan hat. Man darf ihren physischen Zustand nicht außer Acht lassen. Sie wurde schwer blutend in die Notaufnahme aufgenommen. Sie ist fast gestorben. Zwischen Tatzeit und Aufnahme in der Klinik verging sehr wenig Zeit. Sie war UNTER KEINEN UMSTÄNDEN DAZU IN DER LAGE IHM DAS ANZUTUN! Haben Sie das nun begriffen?“

Man war der hartnäckig. Sie wirkte widerspenstig, sagte jedoch keinen Ton mehr, immerhin war er sogar lauter geworden. „Ich wünsche also, dass Sie aufhören, danach zu beurteilen, dass sie gern mit Jungs zusammen war.“

Danach ging er. Verärgert über sie. Das durfte einfach nicht wahr sein. Und er hatte geglaubt, eine Frau, die selbst schon einmal angefallen worden war, würde mehr Mitgefühl für solch ein Opfer zeigen. Er war sogar ein bisschen davon schockiert. Die hatte wohl ihr Herz in ihrem Studium vergessen mit in ihre Tasche zu packen, als sie das Diplom eingesackt hatte.

Er wollte gerade in sein eigenes Büro zurück, als er gegen die Wand gelehnt, einen Jungen bemerkte.

„Hallo, Onkel. Hast du Zeit? Ich muss etwas richtigstellen.“

„Ich hab immer Zeit für dich.“ Er nahm ihn mit ins Büro, wies ihm den Platz gegenüber seinem Schreibtisch an und dann redeten sie. Der Junge sah ein bisschen angefressen aus, das hatte nie etwas Gutes zu bedeuten.

„Wo drückt dich der Schuh, Takahashi?“

„Deine Mitarbeiterin hat Toshi voll reingelegt. Um ihm Sachen in den Mund zu legen!“

„Oh, erzähl mir Genaueres.“ Wenn das stimmte, würde er dieser Frau den Arsch aufreißen.

„Sie wollte wissen, wie nahe wir Saki stehen… Und dann hat sie aus ihm rausgepresst, dass wir einen Dreier hatten. Soweit stimmt’s ja noch, aber wie es wirklich war, hat sie gar nicht interessiert. Hauptsache es fällt auf unsere Freundin zurück. Dabei bin ich der Schlimme in der Sache.“

Akaja lehnte sich den Kopf auf die Hand. „Oh je. Was hast du gemacht?“ Jedenfalls wurde ihnen nie langweilig. Takahashi sorgte immer ein bisschen für Action – er war bemüht sich artig zu benehmen, aber manchmal passierten trotzdem Dinge, die nicht ganz so brav waren. So wie das hier mal wieder. Aber er war ein Junge, mit äußerster Neugier an allem, was es zu entdecken galt. Er war sehr aufgeweckt, wissbegierig und wild. Außerdem fürchtete er sich nicht davor, neue Welten zu erkunden, von denen andere sich lieber fernhielten.

„Saki und Toshi waren in Kyoto zwar zusammen, aber er war ihr einfach zu brav, weißt du? Deswegen dachte ich, wenn ich sie ihm zum Geburtstag einlade und etwas laufen soll, muss ich vorher dafür sorgen, dass sie mitspielt. Und ich hab sie nicht darum gebeten, dass sie mit uns beiden rummacht und so.“

Dieser Junge. Nicht einmal davor, seine Fehler zuzugeben, hatte er wirklich Angst. „Ich habe sie eingeschüchtert und dazu gezwungen, mitzumachen. Ich war richtig böse zu ihr, damit sie Angst hat und mitspielt.“

„Verstehe. Du hast ihr keine Wahl gelassen.“

„Deine psychologische Mitarbeiterin tut nun aber so, als wäre es Sakis Fehlverhalten, dass sie mit zwei Jungs in einer Nacht zusammen war.“

„Gut, dass ihr Zwei euch alles erzählt. Sonst wäre sie mit der Nummer noch so davongekommen.“ Seine Worte waren eindeutig. Sie würde jetzt eben nicht damit durchkommen.

„Aber eine Frage, Onkel. Warum versucht man überhaupt sie in so ein schlechtes Licht zu rücken? Geht’s wieder los?“

Takeshi sah ihn traurig an und seufzte tief. Ja, genau. Es ging wieder los. Wieder einmal versuchten Polizisten den weiblichen Wesen die Schuld für ihre Erlebnisse in die Schuhe zu schieben. Er hatte allen Kindern klargemacht, dass bei Vergewaltigung nur einer Schuld hatte. Derjenige, der vergewaltigte. Ob es nun eine Tat durch einen Mann oder eine Frau war. Der Täter war der Schuldige, sonst keiner.

„Außerdem – wir wurden wie Verbrecher behandelt, nur weil wir zu ihr ins Krankenhaus wollten! Das ist nicht gerecht!“

„Es würde euch nicht guttun, wenn ihr sie jetzt so seht. Glaub mir, es ist besser so, wenn ihr wartet, bis sie wieder zur Schule kommt.“

Was auch immer passiert war, es klang beängstigend. „Aber… Sie ist unsere Freundin. Ist es so schlimm gewesen?“

„Ich kann nur sagen, ein Trauma ist nicht auszuschließen, deswegen muss man sorgfältig vorgehen. Nicht stürmisch, so wie ihr das würdet.“

Deswegen also. Ja, sie waren stürmisch und dachten manchmal nicht nach. Er allen voran, oder?

„Aber sie ist außer Gefahr, oder? Ich meine, sie kann nicht sterben?“

„Sterben tun wir alle irgendwann. Aber sofern sie nicht suizidgefährdet ist, wird sie so schnell schon nicht sterben. Da kannst du unbesorgt sein. Die im Krankenhaus tun ihr Bestes, damit es ihr besser geht. Außerdem ist sie gar nicht der Typ, der sein Leben wegwirft.“

„Okay. Hoffentlich erholt sie sich davon.“ Für ihn stand eigentlich schon fest, was passiert war. Es ging fast nicht offensichtlicher. Es kotzte ihn an, untätig zuzusehen und sie nicht einmal besuchen zu dürfen, aber er sah ein, dass sie jetzt vielleicht gerade nicht dazu in der Lage war, noch zwei Jungs zu ertragen. Vermutlich hatte sie von allen Männern gerade die Schnauze voll.

Toshi sah zu ihm hoch, als er zu ihm kam, sich neben ihn in den Wartebereich setzte und den Kopf dabei gegen die Wand lehnte. „Mein Onkel glaubt mir. Wenigstens etwas. Er wird jetzt schon dafür sorgen, dass man schön brav bei den Fakten bleibt.“

„Hast du erfahren können, was mit ihr los ist?“

„Nichts Konkretes. Die halten alles geheim.“

„Aber du hast erfahren wie es ihr geht?“

„Nein.“ Besser er sagte gar nichts dazu, immerhin wusste er ja wirklich nicht, wie es um sie stand.

„Und wir dürfen da nicht mehr hin?“

„Du hast die Kriminalisten doch gehört: ‚Haltet euch vom Krankenhaus fern. Das geht euch nichts an‘!“ Das hätten sie ihnen auch netter sagen können, dass sie ihre Nase nicht in die Angelegenheit stecken sollten.

„Vielleicht weiß Ryochi etwas?“

„Dem sagen sie hundert pro dasselbe. Es muss etwas sein, wofür wir einfach zu jung und unerfahren sind.“ Und was war das wohl? Arme Saki. Er hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet ihr so etwas passierte. Aber es konnte nun wirklich jede treffen. Es war völlig belanglos, ob jemand vorlaut, schüchtern, durchsetzungsfähig oder eher labil war. Es reichte schon, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Und schon passierte einem etwas.

 

Der Grund, warum Takeshi all diesen Jungs nichts sagte, war, dass selbst ihm das Ganze Kopfzerbrechen bereitete und keiner von ihnen das einfach so wegstecken würde. Nicht mal die, die bis heute glaubten, sie würden alles aushalten. Als er in seinem Büro saß und auf das Ultraschallbild aus der gynäkologischen Praxis schaute, war ihm fast sogar schlecht. Er rieb sich das Gesicht. Ihr Bruder hatte – seiner eigenen kruden Ansicht nach - sicher einen nachvollziehbaren Grund dafür gehabt. Nur welcher das war, konnten sie nicht sagen, solange Saki nicht willig war, es ihnen mitzuteilen. Matsuyama hatte sich ja auch total vorbeibenommen, also hatte sie jetzt sicher kein Vertrauen zu irgendeinem Polizisten. Megure war auf jeden Fall einer der Kommissare, die genügend Einfühlungsvermögen besaßen – manchmal sogar zu viel davon – um es vielleicht doch noch zu schaffen, auf ihre Fragen Antworten zu bekommen. Ohne, dass man sie beschuldigte. Ein Teil von ihm wünschte den Tätern sogar, sie mögen damit davonkommen, immerhin hatten die sie gerettet. Wer wusste schon, wie weit dieser Kerl gegangen wäre, wenn man ihn nicht gestoppt hätte? Er hatte genug Schaden angerichtet und Akaja traute ihm zu, dass er noch größeren angerichtet hätte. Dann wäre jetzt nicht er tot, sondern ein 18-jähriges Mädchen. Wer so wenig Selbstkontrolle hatte, dass er seiner Schwester so etwas antat, der würde auch vorsätzlich töten, um jemanden zum Schweigen zu bringen. Typen wie er wollten mit den perversen Taten schließlich davonkommen. Und das führte dazu, dass sie es mit allen Mitteln versuchten. Sie konnten nicht riskieren, dass das Opfer reden konnte.

 

 



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