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Warum Pechvögel fliegen können.

Die Schutzengel-Trilogie 1
von

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Hans-Jürgen

Ich lebe noch. Hurra. Nachdem Eiael wieder abgedampft ist, mit dem Versprechen, nächsten Dienstag zu Kaffee und Kuchen aufzukreuzen, kann ich mich seitdem wieder in Ruhe meiner neuen Lieblingsbeschäftigung widmen: Janiel böse anzustarren, wenn er im Unterricht neben mir sitzt. »Manu, jetzt hör doch mal auf!«, bricht er das selbstherbeigeführte Schweigen, drei Tage nach der Entführung, zwischen uns.

»Was passt dir nicht? Hätte ich dich lieber sterben lassen sollen?«

»Lieber das, als mir Tobi wegzunehmen!«, drücke ich meine Empörung aus. »Ich habe alles gehört, du hinterlistiges Huhn! Von wegen Engel!«

»Hmpf.«

»Was, Hmpf?! Mehr hast du dazu nicht zu sagen?! Ich bin echt schwer enttäuscht von dir! Das war der Gipfel! Du weißt genau, wie viel Tobi mir bedeutet!«, zische ich, denn ich muss aufpassen, dass keiner mitkriegt, dass und was wir reden.

»Ich habe das für dich getan, Manu. Und zwar nicht als Schutzengel. Sondern als Freund«, murmelt er zurück. Ich erstarre. Erröte. Was soll das bedeuten? Bevor ich in Panik ausbreche, fährt Janiel fort: »Weißt du, diese Madeleine … von der Eiael gesprochen hat … ich konnte ihr nicht helfen. Und sie war … dir sehr ähnlich. Ich möchte nicht, dass sich Dinge wiederholen.«

»War sie … etwa auch dein Schützling?«, frage ich vorsichtig. Die Antwort kommt prompt: »Nein.«

Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Muss ich auch nicht. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich froh, dass Nadine sich wie jeden Freitagmorgen neben mich setzt und mich anplärrt, warum ich denn so schlecht gelaunt sei, obwohl ich eher fassungslos bin. Schließlich wirft sie mir das auch vor, wenn ich gute Laune habe. »Also echt Manu, du bist wirklich ein schlechtes Vorbild für unsere Schule! Bei so viel Negativität kann man ja nicht mehr klar denken! Aber es war von dir ja auch nichts anderes zu erwarten, wie immer, ts ts ts … «

»Ja du hast Recht, Nadine.«

Abrupt hält sie inne und sieht mich verwundert an. »W-Was hast du gesagt?!«

Wow, ich bin echt nicht die einzige Stotterin!

»Dass du absolut Recht hast. Ich werde mich zusammenreißen.« Ich lächle sie an. »Danke für den Hinweis!«

Sie wendet sich von mir ab, das war wohl ein zu großer Schock für sie. Frau Wolke betritt den Raum, ein fremdes, hageres Mädchen im Schlepptau. Halt, Stopp, wieso ist da ein fremdes Mädchen? Ich verrenke mir glatt den Hals, als ich versuche, einen Blick auf sie zu erhaschen (sitze in der Nähe des Fensters in der letzten Reihe). Rabenschwarze Haare hat sie schon mal. Und wie es aussieht, die dicksten Brillengläser, die mir je untergekommen sind. Mitten auf der Nase prangt ein glühendroter Pickel, das ist sogar auf die Ferne erkennbar. Und diese Blässe. Es ist nicht so wie bei Schneewittchen. Nein, sie erweckt eher einen krankhaften Eindruck, als ob sie jeden Moment auf der Stelle zusammenbrechen könnte. Die Arme.

»Guten Morgen allerseits!«, wünscht uns Frau Wolke mit ihrem Oma-Lächeln (ich glaube, sie ist wirklich vor kurzem Oma geworden). »Das hier ist Valentine. Sie ist aus Norddeutschland hergezogen und wird ab heute ein Mitglied eurer Klasse sein. Bitte nehmt sie gut in eure Klassengemeinschaft auf!«

Dieser Name ist der unpassendste von allen. Verzeihung, sie sieht eher aus wie ein Hans-Jürgen. Verglichen mit den anderen Mädchen aus unserer Klasse – naja, bis auf mich. Valentine stiert auf den Boden, als wären wir alle Monster, die sie verschlingen würden, sobald sie den Blick hebt. Was sie nicht weiß – sie würden sie wirklich zerfetzen. Die Jungs fangen schon mal damit an, ziehen Fratzen.

»Setz dich doch bitte hierhin«, weist Frau Wolke der Neuen ihren Platz zu. Erste Reihe. Opfer-Reihe.

Valentine wird direkt neben den Klassenstreber Philipp gesetzt. Der sitzt aufgrund seines Streberdaseins aber freiwillig in der Opferreihe. Was Valentine noch erfahren wird: Streber-Philipp ist ein Arschloch. Oh, sie erfährt es jetzt schon. Er unterhält sich mit ihr. Ich verstehe nicht, was er sagt, aber er lacht und mir ist klar, dass er sie gefoppt hat. Frau Wolke denkt anscheinend, die Neue hätte Anschluss gefunden und widmet sich gut gelaunt dem Unterrichtsstoff für die Stunde. Ein Blick zur Seite verrät mir, dass Nadine längst dabei ist, zu überlegen, wie sie unsere Valentine am besten quälen kann. Sie lächelt zuckerbösesüß.
 

Es bimmelt. Die Schüler strömen aus dem Klassenzimmer. Nadine voran, wie immer die Erste! Wahrscheinlich geht sie sich jetzt erst noch bei Tobi ausheulen, weil ich sie so aus der Fassung gebracht habe, bevor sie Valentine mobben geht. Die Neue tut mir leid. Alle rauschen an ihr vorbei. Keiner will was mit ihr zu tun haben. Und das nennt man Klassengemeinschaft … Leider habe ich keine Zeit, mich um sie zu kümmern. Da ist noch ein Hühnchen, das ich rupfen muss.

»Jaaan!«, schreie ich ihm hinterher, weil er mit großen Schritten vor mir wegzulaufen scheint. Er will mich tatsächlich immer noch ignorieren! »ICH AKZEPTIERE DAS NICHT!«, müpfe ich mich weiter auf. »Rede endlich mit mir!«

Ich scheuche ihn auf einen der Feldwege hinter der Schule, wo uns keiner zuhören kann. »Du kannst mir nicht einfach so was erzählen, und mich dann ignorieren als wäre nichts gewesen!«, schimpfe ich, mit den Armen fuchtelnd.

» … «, zieht Janiel mal wieder seine Schweigenummer ab.

»Hör auf damit.« Unruhig trete ich von einem Fuß auf den anderen. »Ich weiß nicht, was dir widerfahren ist … aber münze das nicht auf mich um. Ich bin nicht wie diese Madeleine.«

»Ha. Du kanntest sie überhaupt nicht.«

»Darum geht es nicht. Ich bin Manu.«

Wie in Zeitlupe hebt er den Blick, seine klaren, hellen Augen verschlingen mich fast. Sie erzählen von so viel. Die Engelsaugen.

»Ich verzeihe dir. Aber renk das mit Tobi wieder ein. Wenn ich kein Volleyballtraining mehr bekomme, lose ich nächsten Donnerstag total ab. Musst du das nicht verhindern, als mein Schutzengel?«, sage ich und lächle ihn an. Eine sanfte Brise weht uns um die Nase, sie streicht die Felder um uns herum glatt, berstet sie wieder auf und hinterlässt den Duft von Frische und Natur. Ein Wunder geschieht: Er lächelt zurück. Wer einen Engel lächeln sieht, vergisst das nie. Es ist echt. Echter als an dem Tag, an dem wir uns begegnet sind. Das weiß ich erst jetzt.

»Das hättest du wohl gerne.«

Ich spüre, wie mir ein imaginärer Amboss auf den Kopf fällt. Janiel amüsiert sich ganz offensichtlich über mein überraschtes Gesicht, da ich definitiv eine andere Antwort erwartet habe.

»Es war ganz schön schwach von Tobi, den Kontakt zu dir einfach abzubrechen, nur weil ich das verlangt habe, findest du nicht?«

Ich bin dran mit Schweigen.

»Willst du wirklich was von so einem?«, will Janiel vermeintlich wissen. Ich schweige weiter.
 

Man glaubt es kaum, aber von nun an bin ich abgeschoben. Weder Tobi noch Janiel suchen meine Nähe, und ich muss zugeben, dass ich beide vermisse. Wenigstens Hanna, Karin und Sophie geben sich seit neuestem öfter in den Pausen mit mir ab. Ich bin wohl endgültig erlöst von der Opferrolle in der Klasse. Bekomme gar keine dummen Bemerkungen über mein Aussehen mehr, obwohl ich Janiels Styling Tipps nicht mal mehr befolge. Das einzig Traurige daran ist, dass das womöglich nur so passiert, weil ich genauer gesagt abgelöst worden bin.

»Die ist echt komisch, die Neue«, beginnt Sophie die Lästerrunde. »Habt ihr gesehen, was die für Haare hat? Die waren total fettig!«

Da fällt mir ein, ich muss heute unbedingt duschen.

»Ich hab vorhin auch schon gehört, wie die Jungs neben mir über ihre Oberweite gewitzelt haben, Schweizer Flachland und so«, gibt Hanna ihren Senf dazu. »Recht haben sie leider.«

Und mir einen Push-Up-BH kaufen.

»Ihre Haut hat auch so eklig geglänzt, und die ganzen Pickel erst … wie eine Pizza«, stellt sogar die sonst so liebe Karin ihren Vergleich auf.

Und ich sollte mehr Geld für Clerasil-Produkte ausgeben.

Wie komme ich eigentlich auf die Idee, dass ich was bei den drei Mädchen zu suchen habe?! Hanna ist die Coole. Karin ist die Süße. Sophie ist die Stylishe. Die sind einfach nicht wie ich. Ich will gehen, da hält mich Hanna auf: »Wo willst du hin, Manu?«

»Ein einsames Dasein fristen gehen«, schießt es spontan aus mir heraus. Ups, habe ich das laut gesagt?!

»Aber wieso denn?«, will Karins süße Stimme wissen, die wirklich erschrocken ist. »Haben wir etwas Falsches gesagt?«

»Wir wollten nicht allzu gemein über die Neue herziehen, falls dich das stört. Wir erörtern einfach nur gern, was so passiert«, klärt Hanna mich auf. »Ist nicht wirklich böse gemeint.«

Sophie sagt nichts dazu. Beobachtet nur mit den anderen, wie ich reagiere.

»D-das ist es nicht! Ich denke nur … « Soll ich das wirklich sagen? Ich glaube, ich war schon lange, lange nicht mehr so ehrlich. » … dass ich keinen Tick besser bin als Valentine. Ich habe auch Pickel, keine Titten und … gut, fettige Haare habe ich nicht, aber ich bin nicht im Entferntesten so hübsch wie eine von euch. Ich bin sehr froh, dass ihr mir geholfen habt, als Nadine versucht hat, mich fertig zu machen … aber … ich bin einfach nicht … äh … gut genug.«

Sechs große, feuchte Mädchenaugen glubschen mich wehmütig an.

»Ochherjee, Manu!« Karin fängt glatt an zu heulen. »Wir würden dich doch nicht einfach abschieben wegen so was!«

»Genau! Wir Mädels müssen zusammenhalten! Schluss mit den Erörterungen!«, stimmt auch Hanna mit ein. »Wir mögen dich, Manu, mach dir keine Sorgen deswegen!«

»Und so hübsch sind wir auch nicht«, sagt Sophie was zu dem Thema. »Aber immer noch schöner als Nadines schwarze Seele.«

Ich muss kichern, frage mich aber gleichzeitig, seit wann Sophie so Anti-Nadine ist. Und frage sie direkt.

»Nun ja, Nadine hat mir meinen Freund ausgespannt.«

»Sie hat WAS?« Gleichzeitig erinnere ich mich an den Knutschfleck.

»Traurig, aber wahr. Und ich dachte erst, wir wären Freundinnen.« So war das also. Gut, dass ich noch nie einen nicht-erfundenen festen Freund hatte, sonst hätte mir so was Dummes auch passieren können. Wir sitzen noch im Klassenzimmer, weil unser entzückender, verpeilter Referendar Dr. Sommer zum x-ten Mal vergessen hat, die Tür abzuschließen, als es klopft und ein Junge mit mattbraunem Haar seinen Kopf durch den Spalt hinein steckt.

»Manu, bist du da?« Es ist Tobi. Es ist TOBI!

Die Mädels wundern sich nicht sonderlich, es ist glaube ich bekannt, dass Tobi und ich (nur) Freunde sind. Ich gehe zu ihm.

»Was gibt’s?« Versuche, locker zu wirken. Denke aber: Er redet wieder mit mir! Er redet wieder mit mir!

»Lass uns woanders hingehen«, bestimmt er, nimmt auf einmal meine Hand und schleift mich nach draußen. Es kann sein, dass Vorbeilaufende uns verwundert nachsehen. Dass jetzt komische Gerüchte entstehen. Doch das alles ist mir egal. Tobi hält meine Hand. Bei den Steinen erst lässt er sie los, lässt sich auf eines dieser Kunstwerke nieder. Ich mache es ihm nach.

»Ich muss mich richtig fett bei dir entschuldigen Manu. Ich bin ein kompletter Idiot«, offenbart er mir. »Hat Jan es dir erzählt?«

Tobis Augen durchdringen mich. Er versteht.

»Nachdem wir beschlossen hatten, dich zu ignorieren, habe ich noch eine ganze Weile darüber nachgedacht … und mir ist klar geworden, dass ich das nicht will. Deshalb möchte ich ehrlich zu dir sein, Manu. Wir kennen uns schon so lange.«

Er hat Recht. Wir kennen uns schon lange.

Vier Jahre lang.
 

Es ist Silvester und es regnet. Noch zwölf Stunden bis Mitternacht, bis das neue Jahr ins Leben gerufen wird. Und was tue ich, Manuela Liedtke, elf Jahre alt?

Sitze in Therapie. Es ist Silvester und es regnet. Ich schaue aus dem Fenster. Die Strahlen rinnen herunter, der Himmel weint. Ich weine mit. Innerlich. Die nette Assistenzdame ruft mich. Begleitet mich ins Zimmer vom Doktor. Der Doktorin. Sie kommt gleich. Blabla. Immer dasselbe. Gleich fragt sie mich ganz viele Sachen. Sachen, über die ich überhaupt nicht reden will. Der Himmel weint, ich weine mit.

Ich werde wieder heil gemacht. Die Doktorin verspricht das. Meiner Mutter. Nach jeder Sitzung. In Wirklichkeit machen wir keine Fortschritte. Die Liege ist weißkalt, steril. Es stinkt nach Desinfektionsmittel. Ich hasse Arztbesuche. Vor allem sinnlose. Da kommt sie. Wie es uns denn heute geht.

Gute Frage. Nächste Frage.

Möchte ich denn nicht reden?

Gute Frage. Nächste Frage.

Sie wird nie wütend, hält ihre Gefühle unter Kontrolle, wie ihren Dutt, den sie streng nach hinten gebunden hat. Die Doktorin ist eine liebe Frau.

Mir ist das egal. Weil mir alles egal ist. Vor gut drei Monaten habe ich angefangen, Gott zu hassen. Wenn ich mich rächen könnte, wäre mir eine Sache weniger egal. Aber ich kann nicht. Ich bin ein Kind.

Nach der erfolglosen Sprechstunde sitze ich nochmal im Wartezimmer. Meine Mama arbeitet bis fünfzehn Uhr. Niemand kann mich abholen. Der Regen hört nicht auf. Er trommelt und trommelt und trommelt. Er feiert Silvester im Voraus.

Da kommt jemand. Ein Junge mit Zahnspange. Er sieht genauso begeistert aus, wie ich. Der Nächste, Blabla. Ich sitze und warte.

Und warte. Und warte. Ich könnte lesen. Aber alles ist mir egal. Also lese ich nicht. Esse ich nicht. Schlafe ich nicht.

Ununterbrochen verfolge ich, wie sich draußen im Hof in den Senken Pfützen bilden. Wie Kreise auftauchen und verschwinden.

Tropf, tropf. Ich weine.

Der Junge kommt wieder. Er bleibt. Setzt sich.

Wartet.

Zwanzig Minuten.

Die Uhr sagt es mir, die neben der Fensterwand hängt.

Der Junge geht.

Zwanzig Minuten.

Der Junge kommt wieder.

Es ist Silvester und es regnet.

Er reicht mir ein Taschentuch.
 

»Du hast nicht mit ihm geredet, oder doch?«, frage ich Janiel beiläufig, während ich gleichzeitig den Tee aufsetze, den Nusskuchen anschneide und mit dem Fuß versuche, die Tür hinter mir zu schließen. Natürlich klirrt es binnen Augenblicken, das Messer ist mir aus der Hand gerutscht.

»Multi-Tasking sollte verboten werden!«, schimpft der blonde Engel und hebt das Messer auf. Wir sind allein zuhause, Mama ist heute länger bei der Arbeit als sonst. Was für ein Zufall (es ist kein Zufall, Mama ist fast immer bis 18 Uhr außer Haus). Manchmal kommt sie sogar erst um acht, weil sie Kaffeekränzchen mit den alten Menschen hält. Ich glaube, das tut ihr gut. In unserer Wohnung, da bin immer nur ich.

»Und um die Frage zu beantworten: Nein, habe ich nicht. Ich traue ihm trotzdem nicht über den Weg.«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Ach ja?«

»Ja.« Da klingelt es. »Ich gehe schon«, ruft er und hastet zur Haustür. Kommt wieder mit Schneewittchen im Schlepptau.

»Hallo Eiael!«, begrüße ich ihn. Ich freue mich wirklich, den Psycho zu sehen. Vielleicht habe ich ja Glück und er nimmt Janiel doch noch mit in den Himmel. Mein Engelchen scheint allerdings meine Gedanken lesen zu können und wirft mir einen finsteren Blick zu. Oder aber, Janiel schaut mich böse an, weil ich gedankenverloren den Tee verschüttet habe.

»Manu, du darfst später auf keinen Fall in der Gastronomie arbeiten«, seufzt mein Schutzengel, sich einen Lappen schnappend, um das Missgeschick zu beseitigen.

»Aber Johann, lass dem Fräulein ihren freien Willen! Was bist du nur für ein Geschöpf Gottes!«, macht sich Eiael über ihn lustig.

»Was bist du nur für ein Geschöpf Gottes, dass du dir erlaubst, deine Macht zu missbrauchen, um Teenager zum Backen zu zwingen?«, kontert Janiel, das Gesicht noch dem Bodenschmutz zugewandt.

»Missbrauch? Ich?«

»Ja, genau du!«

»Pfft! Komm Möchtegern-Madeleine, wir verputzen den Kuchen.« Eiael setzt sich an unseren Küchentisch, den ich zur Feierlichkeit mit einer karierten Tischdecke gedeckt habe.

»Würde es dir etwas ausmachen, mich Manu zu nennen? Und warum nennst du Janiel immer Johann?«, frage ich ihn.

»Ich kann nichts versprechen, mein Gehirn merkt sich Spitznamen einfach besser. Und Johann nenne ich ihn … Na, weil er Johann ist.«

Interessante Antwort. Johann kümmert das nicht, er trägt die Teekanne und drei Tassen auf einem Tablett zu uns herüber. »Ich hoffe, du erstickst an den Nüssen.«

»Er ist so reizend, findest du nicht?«, bemerkt Eiael mir gegenüber.

Ich lache. »Ich bin mal gespannt, ob der schmeckt. Janiel hat so viel reingepfuscht.«

»Dann ist er sicherlich herrlich! Johann, warum spielst du uns nicht etwas auf der Geige vor?«

Janiel ist nicht begeistert von der Idee.

Mir fällt ein: »Wir haben doch gar keine Geige?«

Eiael winkt ab: »Och, das macht nichts. Ich habe eine dabei … « Wie aus dem Nichts zaubert er das Instrument hervor. Es ist schwarz wie Ebenholz und schimmert edel durch den Lack. So stelle ich mir eine Teufelsgeige vor.

»Wow! Was für ein Engel bist du denn?!«, entfährt es mir.

»Ich bin ein okkulter Engel. Ein Hüter der Magie … Aber Psst!«

»Um genauer zu sein, ein schwarzmagischer Engel, der vermutlich bald im Gefängnis landet, wenn er nicht lernt sich gegenüber höheren Engeln zu zügeln, nicht wahr, mein Freund«, bedroht Janiel ihn.

Desinteressiert legt Eiael die schwarze Geige beiseite, zuckert seinen Tee und nimmt einen Schluck. »Vorzüglich.« Erst nach dem Absetzen der Teetasse schaut er Janiel ins Gesicht. »Hast du was gesagt, Angeloi?«

»Wie du siehst, nimmt er nichts ernst«, sagt Janiel zu mir.

Merke ich. »Wie … ist es eigentlich im Himmel?«, versuche ich mein Glück.

Janiel schweigt wie üblich, aber Eiael plappert drauf los. Jackpot.

»Oh, es ist wunderbar! Aber nicht in jedem Himmel. Der Schönste soll der siebte sein, aber ich bin leider nicht befugt, dort einzutreten. Den vierten kann ich wärmstens empfehlen, im ersten und zweiten ist es eher langweilig. Und im fünften kannst du Johann singen und spielen hören, wenn er denn eines Dienstags anwesend ist. Er ist so was wie ein Promi!«

Janiel stöhnt.

»Ein … Promi?!«

»Er singt den schönsten Lobpreis von allen!«

»Janiel … kann singen?!«

»Komm Johann, zeige unserer Möchtegern-Madeleine, was du auf dem Kasten hast!« Eiael hebt ihm die Geige vor die Nase. Widerwillig starrt Janiel das Instrument an, krallt es sich dennoch. Und steht auf. Er bringt sich in Position, lehnt das Kinn an. Spielt drauf los.

Was ich höre, ist die melodischste Geigenmusik, die ich je erlebt habe. Zugegeben, ich habe noch nie einen Geigenspieler live erlebt, demnach verfüge ich über keinen Vergleich. Trotzdem rührt mich das Stück. Das Tempo steigert sich, es tönt dramatischer, heller, dunkler, schriller. Er könnte ewig so weitermachen. Genauso, wie Janiel angefangen hat, hört er auf. Einfach so. Wir klatschen.

»Das war aber ohne Gesang, mein lieber Johann«, bemerkt Eiael spitz, woraufhin Janiel nur harsch grummelt.

»Das war fantastisch!«, rufe ich aus. »Wirklich! Wow! Wo hast du das gelernt? Etwa im Himmel?«

»Nein, Johann war schon als Mensch ein begabter Musiker, nicht wahr?«

Moment. Janiel war einmal ein Mensch?

Bevor ich nachhaken kann, nimmt Janiel die Gabel in die Hand, und stopft Eiael damit ein großes Stück Kuchen in den Mund. »Iss brav auf, mein Freund. Manu hat sich doch so viel Mühe gegeben.«

Das war es dann wohl mit himmlischen Infos. Kaum, dass der Kuchen aufgegessen ist, fliegt Eiael in hohem Bogen raus. Weil Janiel mir nicht noch mehr Geheimnisse verraten will. Gut, dann interessiert es mich eben nicht weiter. Okay, tut es doch. Aber da kann man nichts machen. Ich habe sowieso mit Eiael abgemacht, dass er bald mal wieder zum Tee kommt. Nächstes Mal gibt’s Schokokuchen.
 

Es ist Donnerstag. Volleyball-Tag. Ich bete nie, aber diese Situation erfordert außergewöhnliche Maßnahmen. BITTE, lieber Gott, mach, dass ich mich nicht schon wieder blamiere! Es muss bestimmt total bescheuert aussehen, wie ich vor der Bank in der Umkleidekabine halbnackt knie und den Herrn um Erbarmen anflehe, aber was muss, das muss. Was anderes als beten bleibt mir sowieso nicht übrig.

»Hey Manu, setz heute mal nicht alles in den Sand, ok? Und komm um Himmels Willen auf keinsten in meine Mannschaft!«, schleudert Nadine die Worte durch die Kabine. Zustimmendes Gemurmel.

»Auf keinsten« werde ich darauf reagieren. In der Turnhalle entdecke ich Janiel bei einem Grüppchen von Idioten aus meiner Klasse rumstehen. Er wirft mir einen Ist-Alles-Okay-Blick zu und die anderen lachen ihn aus, weil sie nicht verstehen können, dass wir einmal imaginär »zusammen« waren. Nadine, die neben mir steht, lächelt verzückt und winkt Janiel zu. Sie denkt, der Blick hätte ihr gegolten. Soll sie sich doch nur darin verrennen. Sie beugt sich vor, stellt ihren Vorbau mithilfe ihres viel zu tief ausgeschnittenen Sport-Tops zur Schau. Da taucht Tobi auf der Bildfläche auf, und boxt Janiel freundschaftlich in den Arm. Habe ich was verpasst? Naja egal, denn jetzt werden die Mannschaften ausgewählt. Ich bin nicht in Tobis Team. Dafür aber Nadine, und ich kann es absolut nicht verstehen, als sie plötzlich anfängt, Tobi anzumachen, mit ihren Klimper-Wimpern, wo sie sich doch gerade noch offensichtlich an Janiel rangeschleimt hat. Hust-hust. Janiel bleibt eiskalt, er ist in meiner Mannschaft gelandet. Nadine schielt zu ihm. Aha, jetzt kapier ich’s, sie will ihn eifersüchtig machen, weil …

Janiel kommt zu mir rüber und flüstert mir ins Ohr: »Pass gut auf, wir werden gewinnen!«

Bei dem Klang seiner Stimme läuft mir ein Schauer über den Rücken. Es lag so unglaublich viel Überzeugung in seinem Satz. Ich merke, dass Nadine ihn nicht nur eifersüchtig machen will. Ich merke, dass sie selbst eifersüchtig ist. Auf MICH!

Ach du liebes bisschen … dass jemand einmal auf MICH, Betonung liegt auf MICH, eifersüchtig sein könnte! Das ist unglaublich unglaubenswürdig! Aber dennoch wahr. Auf einmal fühle ich mich verdammt selbstbewusst.

Komm nur her, du Volleyball, dich werde ich mit voller Wucht ins Nirwana befördern oder besser gesagt, in Nadines Fresse. Jawohl, dir zeig ich’s, du Schlampe! Ich weiß, ich weiß, nicht sehr nett, aber es sagt auch keiner, dass ich das bin.

Allerdings wird mir doch ein wenig mulmig zumute, als ich den Aufschlag machen soll. Obwohl wir Gegner sind, nickt mir Tobi ermutigend zu. Wir haben gestern extra nochmal trainiert. Und vorgestern. Und vorvorgestern. Zwischen uns ist alles wieder so, wie es vor Janiels dämlicher Ignorier-Idee war. Tobi sei Dank.

Ich werde das schaffen! – Denke ich und hole weit aus. In hohem Bogen fliegt der Volleyball auf die andere Seite, und weil keiner glauben kann, dass ich etwas auf die Reihe gebracht habe, rührt sich auch keiner, sodass der Ball mitten zwischen den Spielern auf dem Boden aufprallt.

Juhuu! Ich hab’s getan, ich hab’s getan!

Meine Teamkameraden jubeln mir zu, sowohl Tobi als auch Janiel deuten mit dem Daumen nach oben. Tobi hätte das wohl lieber nicht tun sollen, weil Nadine daraufhin übelst sauer wird. Sie sieht so aus, als würde sie ihm gleich eine kleben.

»Punkt für Mannschaft 2, 1:0!«, ruft unsere Sportlehrerin Frau Göttinger. Ich muss nicht einmal zu Nadine hinsehen, um zu wissen, dass sie gerade zähneknirschend rot anläuft.

»Super Manu! Du hast dich ja echt bemüht!«, sagt Karin, die in meiner Mannschaft ist. Nach dem ganzen Abgelästere werde ich seitens meiner Kameraden fast schon mit Lob überschüttet, denn auch die anderen geben ihre Kommentare ab.

»Toll gemacht!«

»Manu rules!«

»Tolle Leistung, mach weiter so.«

»Abwarten Leute, sie muss nochmal einen Aufschlag machen, also beeil dich mal, Manu!« Nadine, wer sonst.

Ich sehe Tobi an. In seinem Gesicht kann ich lesen, dass ich mich ganz und gar nicht beeilen muss. Ich hole aus, zum zweiten Aufschlag. Diesmal rührt sich die gegnerische Mannschaft und das Spiel kommt in Fahrt. Bis zum Ende der Stunde gibt es einen bitteren Kampf, der zuletzt mit einem Unentschieden endet. In der Umkleide klopfen mir Teamkameraden und Gegner anerkennend auf die Schulter, ich fühle mich so gut wie noch nie.
 

Im Chemieunterricht hantieren wir ausnahmsweise mit Wasserstoffperoxid. Das ist das Zeug, das Haare blond färbt. Findet Valentine heraus, als Philipp und Daniel, die Idioten, das Reagenzglas nicht richtig festhalten beim Schütteln. Und woraufhin eine nicht allzu kleine Menge davon Valentines dunklem Haarschopf begegnet. Nachdem die ausgebrochene Panik unter den Schülern (ein paar Tropfen haben Umstehende getroffen) durch Sicherheitsanweisungen unseres Chemielehrers gezähmt wurde, verbleibt Valentine als einzige Leidtragende den Rest der Stunde auf dem Mädchenklo. Ich hatte diesmal Glück, beziehungsweise Janiel. Er war so vorausschauend, sich von den Idioten fernzuhalten.

»Haha, hast du das Gesicht von dem Zombie gesehen?«, kichert Philipp leise, aber nicht leise genug.

Ich schiebe meinen Hocker zurück, ziehe den Chemiekittel und die Schutzbrille aus. Gehe Valentine nach. Was die Jungs da abziehen, ist unmöglich. Nicht nur Philipp und Kevin. Auch die anderen. Daniel hat ihr neulich ein Stück verschimmeltes Brot in die Tasche geschmuggelt. Der darauffolgende Schrei war der schrillste, der mir je zu Ohren gekommen ist. Oder Lukas. Der hat doch tatsächlich ihre Sporttasche versteckt, sodass sie beim Volleyball, anstatt mitzumachen, die ganze Doppelstunde danach gesucht hat. Allein. Weil sonst keiner mit ihr redet.

Mona und Elise, unsere zwei Prinzessinnen, sind viel zu sehr mit sich selbst und ihrem persönlichen Kleinkrieg um die Gunst der Trottel unserer Klasse beschäftigt, als dass sie Valentine tatsächlich wahrnehmen würden. Hanna, Sophie und Karin sind noch unschlüssig, was sie unternehmen sollen, ohne selbst ins Zielfeuer zu geraten. Von Nadine fange ich lieber nicht an. Die hat Lukas geholfen, die Sporttasche zu verstecken. Es liegt an mir. Ich bin die Einzige, die Valentine versteht. Denke ich. Sie wäscht sich gerade die Haare aus. »Verschwinde!«, krächzt sie im Sopran. »Lass mich in Ruhe!«

Okay, das ist nicht besonders freundlich. Egal. Wäre ich an ihrer Stelle bestimmt auch nicht. »Hey Valentine … lass dich nicht von denen fertig machen. Hier!«, sage ich, ziehe ein Tuch aus einem weißen Kästchen und reiche es ihr. Sie nimmt es, trocknet sich die Spitzen ab. Die Brille liegt auf dem Seifenspender. Ohne ist sie ganz süß. Ja, ihre Haut ist nicht die beste. Na und?

Valentine schüttelt sich, jault auf und heult weiter. »Immer passiert mir das!«

»Na na.« Ich klopfe ihr auf die Schulter. »Nur weil es so ist oder war, muss es nicht so bleiben.« Das hat mir wohl Janiel beigebracht. Valentine erinnert mich gerade an mich selbst vor einem Monat.

Ein Hoffnungsschimmer leuchtet in ihren Augen auf. Und verschwindet. »Bei anderen vielleicht.«

Darauf weiß ich nichts zu antworten. Ich warte, stehe daneben, als sie ihre Haare abtrocknet und feststellt, dass sie einen riesigen gelben Fleck auf dem Schopf trägt. Mit Wasserstoffperoxid ist nicht zu spaßen.

Extrem verzweifelt krallt sie sich am Waschbecken fest.

»Valentine … warte hier, ich komme gleich wieder!« Ich habe eine Idee. Renne los. Durch die Schulflure, auf der Suche nach …

… einer Mütze. Damit kreuze ich fast zehn Minuten später im Mädchenklo auf, Valentine hat sich kaum bewegt. Gekrümmt steht sie da, wagt es nicht, noch einmal in den Spiegel zu sehen. Von hinten ziehe ich ihr die Hipster-Mütze über. »Wo … hast du die her?«, fragt sie erstaunt und guckt auf.

»Habe ich einem Fünftklässler geklaut«, erwidere ich. »Derjenige weiß allerdings noch nichts davon, lass dich heute also nicht erwischen!« In der Tat legen Schüler ihre Sachen oft vor das Klassenzimmer oder buchsieren ihr Zeug in der Aula, unbeaufsichtigt. Diebstähle kommen normalerweise selten vor. Den Schülern wird vertraut.

»D-danke … « Sie lächelt mich mild an.
 

In der nächsten Stunde berate ich mich mit meinem persönlichen Schutzengel über die Situation. Es ist nicht schwer, unbeobachtet zu reden, weil wieder mal alle Mädchenaugen an Dr. Sommers heißem, erwachsenen Body kleben. Er trägt heute ein T-Shirt ohne Hemd. Skandalös.

»Hat Valentine keinen Schutzengel?«, nerve ich Janiel zum dritten Mal in Folge. Die Schweigenummer kann er knicken. Diesmal gebe ich nicht nach! »Oder warum hat sie so viel Pech? Kann man da nichts machen? Mhm?«

» … «, Janiel schreibt mit, was an der Tafel steht. Ich boxe ihm in die Seite, er schreckt kurz auf, unterdrückt ein Stöhnen. Das war wohl etwas fest.

»Hör mal«, entgegnet er wütend. »Das geht mich überhaupt nichts an. Ich bin schon froh über jeden Tag, den DU nicht ins Gras beißt. Weißt du noch, als du beim Kuchenbacken vergessen hast, den Backofen auszuschalten? Oder du fast in die Steckdose gelangt hättest, mit einer GABEL? Oder als deine Haare fast Feuer gefangen haben, weil du meintest, du müsstest zur Abwechslung mal Kerzen anzünden?!«

In der Tat macht Janiel seinen Job in letzter Zeit nicht schlecht. »Ich bin vermutlich nicht das beste Beispiel, aber durch Nachdenken lässt sich so was doch auch beheben, oder?«, stelle ich meine Hypothese auf.

»Da hast du deine Antwort.« Er glotzt wieder an die Tafel. »Komm jetzt aber bitte nicht auf die Idee, dich da einzumischen.«
 

Komme ich nicht. Nicht alleine. In der Pause hole ich mir Verstärkung von Hanna, Sophie und Karin.

»Was könnte man da machen?« Wir sitzen auf einer Bank unter den Ahornbäumen. Zur Abwechslung scheint die Herbstsonne, lässt die goldroten Blätterhaufen um uns herum aufleuchten.

»Auf die anderen können wir nicht groß Einfluss nehmen. Philipp, Nadine, Lukas und Co. sind einfach scheiße … da kann man gar nichts machen«, mutmaßt Hanna. Sophie erkennt das Problem: »Und was, wenn wir dafür sorgen, dass sie wenigstens keinen Grund mehr haben, sie zu mobben?«

»Wie stellst du dir das vor?«, fragt Hanna.

Lässig zwirbelt Karin eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger. »Sophie hat gar nicht so Unrecht. Wenn Valentine zum Beispiel so aussehen würde wie Elise oder Nadine, dann könnten sie nicht mehr rumbrüllen, dass sie sie hässlich finden.«

Plötzlich schnippt Hanna mit den Fingern: »Das ist es! Wir stylen Valentine um!«

»Die Streiche hören damit aber nicht unbedingt auf … Ich glaube, die brauchen einfach jemanden zum fertig machen«, werfe ich ein.

Wir seufzen.

»Schade, dass sie das nicht mit Nadine machen.« Ups, das habe ich laut gesagt.

Die anderen sind Feuer und Flamme. »Das wäre mega-witzig! Dann würde es mal jemanden treffen, der es verdient hat!«, erfreut sich Sophie an der bloßen Vorstellung.

»Aber irgendwie wäre das auch falsch, oder?«, findet Karin.

»Schon.« Zustimmendes Gemurmel. »Bleiben wir doch bei dem Styling-Plan!«
 

Gesagt, getan. Natürlich haben die drei Mädels mich vorgeschickt, um Valentine zu überreden. Deshalb warte ich nach dem Unterricht vor dem Nebeneingang. Dazu bereit, sie abzufangen. Janiel wartet mit mir.

»Du weißt schon, dass die Gerüchte wieder anfangen, wenn du mit mir abhängst? Willst du dich nicht lieber verwandeln?«, erwähne ich.

»Da der Deal mit Tobi geplatzt ist, wüsste ich nicht, warum ich dich meiden sollte.«

»Wie wäre es mit: Um meinetwillen?!«

»Gut, dann folge ich euch nicht als Mensch. Versuch heute mal, nicht so viel Dummes wie sonst anzustellen. Ciao!«, gibt Janiel nach, pirscht los und winkt zum Abschied. Komisch, er sagt gar nichts zu der Tatsache, dass ich mich in Sachen Valentine einmische. Mhm. Vielleicht bin ich gar nicht auf dem Holzweg.

Da ist sie. »Valentine!«

»Mh?« Verwundert starrt sie mich an, sie hat wohl nicht damit gerechnet, noch jemanden an der Schule zu treffen. Die Mütze, die ich geklaut habe, hat sie nach Unterrichtsschluss heimlich zurückgelegt und danach solange gewartet, bis sie aus der Schule rausgehen konnte, ohne jemanden aus unserer Jahrgangsstufe anzutreffen. Pech gehabt, ich bin noch da.

»Ich wollte dich fragen, ob ich dich vielleicht ein bisschen an der Schule herumführen soll.«

Stirnrunzelnd zeigt sie auf ihre Frisur. Okay, heute ist ein schlechter Zeitpunkt. Sie will schon weiterlaufen, da packe ich sie am Arm: »Warte! Eigentlich wollte ich dich noch etwas anderes fragen. Hast du heute Nachmittag schon was vor?«

»Nein. Warum?«

»Ähm … also … «, stammele ich sinnlos herum. Spuck’s aus, Manu! Valentine wird immer misstrauischer. »Also … also … Hanna, Sophie, Karin und ich wollen dich umstylen, damit die anderen sich nicht mehr über dich lustig machen können!«, sprudelt es schließlich in einem Zug aus mir heraus.

Hyper-verblüfft rückt Valentine ihre Brille zurecht. »Entschuldige, ich glaube, ich habe mich gerade verhört. Was hast du gesagt?«

Muss ich das wirklich wiederholen. Ich atme tief ein und aus. »Ob du heute mit shoppen gehen magst.« Den ganzen Satz packe ich nicht nochmal.

»Ist das eine Falle?«, will sie wissen. Das arme Ding.

»N-nein! Ich würde so was niemals machen!« Außer bei Nadine vielleicht, aber da würde ich mich vermutlich zu dumm für anstellen.

»Dann liegt das wohl wirklich an mir. Haha«, dreht Valentine leicht durch, lacht unheimlich.

»Unsinn, du kannst doch nichts dafür, dass die anderen einen miesen Charakter haben!«, widerspreche ich leicht aufgebracht. »Aber die anderen kann man schlecht ändern.«

»Ich würde gern mitkommen. Aber ich kann es mir vermutlich nicht leisten, weißt du.« Deprimiert sieht sie mich an. Ich überlege.

»Und wenn … du einfach mal mitkommst? Die drei Mädels sind wirklich nett. Immerhin haben sie mich auch akzeptiert … und denen wird bestimmt was einfallen. Was sagst du?« Ich strecke ihr die Hand aus. Und sie willigt ein.
 

Hinter jeder verdammten Ecke in der Innenstadt blitzt das weiße Fell einer gewissen Katze hervor. Mannomann, kann Janiel uns nicht unauffälliger folgen?! Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Mädels ihn bemerken. Oder auch nicht. Die drei sind ehrgeizig dabei, Valentine aufzupeppen. Ich habe nicht sonderlich viel Ahnung von solchen Dingen, darum überlasse ich den Hauptteil ihnen. Weil Valentine so gut wie keine Kohle besitzt, hat Karin vorgeschlagen, einen Mädchen-Tausch-Flohmarkt zu veranstalten. Sprich, jeder von uns tauscht ein oder mehr Kleidungsstücke mit Valentine. Sophie, unsere Styling-Expertin, schwört darauf, dass die Kombination es ausmacht, nicht die Teile an sich. Bevor wir allerdings anfangen, alle Häuser abzuklappern, einigen wir uns darauf, Valentine auf jeden Fall zum Friseur zu schicken. Koste es, was es wolle. Wir beschließen, das nötige Geld dafür zusammenzulegen, das Valentine fehlt.

Erste Station. Valentine kriegt einen kurzen Bob verpasst. Die restlichen schwarzen Haare werden blondiert. Dann getönt. Kastanienbraun.

Zweite Station. Hanna betrügt den Optiker von nebenan um kostenlose Probe-Monatslinsen. Valentine braucht eine halbe Stunde, um die Kontaktlinsen das erste Mal einzusetzen.

Dritte Station. Karin und Sophie schleppen Valentine in die Drogerie und zwingen sie, eine ganz bestimmte Gesichtslotion und einen Concealer zu kaufen (für insgesamt sechs Euro!).

Selbst ohne Klamottentausch ist aus Valentine eine vollkommen andere Person geworden. Äußerlich zumindest. Hans-Jürgen? Wer soll das sein! Sie lacht, redet, witzelt mit den anderen Mädchen – so, wie es sich für Teenies in unserem Alter gehört. An ihr ist nichts Abstoßendes. War es, denke ich, nie.

Den Tausch-Flohmarkt vertagen wir auf wann anders, es dämmert bereits. Die Dunkelheit taucht die Fußgängerzone allmählich in die Nacht hinein. Wir gehen vorbei an dem Café, in das ich Janiel bei unserer ersten Begegnung eingeladen habe. Weil ich in einer anderen Richtung wohne, pilgere ich alleine zum Busbahnhof. Sobald ich außer Sichtweite bin, kreuzt Janiel bei mir auf.

»Na, hast du was über Stil gelernt, bei den Mädchen?«

»Ich hab gelernt, wie man Optiker bestiehlt.«

»Das ist auch was.«

»Wolltest du mich ursprünglich nicht davon abhalten, Valentine zu helfen?«, will ich wissen.

»Ich wollte dich davon abhalten, mich da mitreinzuziehen! Ich bin DEIN Schutzengel, der im Rahmen der Akasha-Chronik DEINES Lebens handelt. Ich bin nicht dazu befugt, woanders reinzupfuschen.«

»Eine Akasha-was … ?« Noch während ich frage, erkenne ich aus den Augenwinkeln heraus eine bekannte Gestalt. Eins siebzig groß. Mattbraunes Haar. Grauer Kapuzenhoodie.

»Das kann nicht … « Abseits der dritten Bushaltestelle beugt sich Tobi über ein Mädchen, das an dem blauen Gehäuse lehnt.
 

Tränen bahnen sich ihren Weg über meine Wangen. Bevor ich mich von dem Schauspiel loslösen kann, dreht er sich zu mir um. Bemerkt mich. »Warte!«, schreit Janiel, weil ich mit einem Satz ans andere Ende des Busbahnhofs fliehe. Ich renne und renne und renne. Spüre, wie viel zwischen uns ist. Dass es kein »uns« gibt. Scheiße! Alles scheiße! Ich steige in den nächstbesten Bus ein, habe keinen Plan, wo der hinfährt. Bloß weg hier. Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Jetzt weiß er es. Vorausgesetzt, er kann eins und eins zusammen zählen. Er ist zwar gut in Mathe, aber ob das hilft? Aber von nun an wird mir das egal sein. Ich hab es sowieso schon immer gewusst. Schon die ganze Zeit.

Ich bin nicht gut genug, das ist nun mal so.

Manche Leute starren mich ganz seltsam an, weil ich Tränen in den Augen habe. Aber keiner spricht mich darauf an. Mir doch egal. Sollen sie doch gucken, bis sie schwarz werden. Ich werde hier jedenfalls seelenruhig sitzen bleiben, bis ich rausgeworfen werde. Trotzig wie ein kleines Kind, habe ich die Arme fest vor mir verschränkt, meine kleine Tasche fest umklammert.

Tobi kann bleiben, wo der Pfeffer wächst! Er hat mich angelogen. Von wegen keine Freundin. Warum nur? Ich kann nicht glauben, dass er ein Typ von der Sorte ist, die mit den Gefühlen anderer spielt. Ich kann es einfach nicht. Deshalb blende ich ihn lieber aus. In meinen Gedanken sehe ich Janiel vor mir, wie er mich fragt, ob ich so einen wie Tobi wirklich will. Er hat Recht gehabt, Janiel hat mich wirklich nur vor Tobi beschützen wollen! Wie dämlich ich bin, ist ja logisch, immerhin ist er mein Schutzengel, wieso sollte er lügen. Janiel kann es nun mal nicht verhindern. Ich bin ein Pechvogel, immer noch. Seit diesem Tag.
 

Der Herbst ist da.

Oktobertypisch.

Der Wagen, den mein Vater fährt, ist ein VW.

Er hat vier Räder.

Ich habe Papa gezwungen, mich zu fahren.

Ich will unbedingt in den Zirkus.

Natürlich will ich in den Zirkus.

Ich bin elf Jahre alt.

Papa macht das Fernlicht an, sonst ist keiner unterwegs.

Es ist keiner unterwegs.

Keiner unterwegs.

Einer.

Es hupt, es quietscht, es ist ein Durcheinander.

Aus Schleudern, Angst und Blut.

Da ist viel Rot.
 

Zurück in der Gegenwart unterdrücke ich den Impuls zu schreien.

Wegen mir … wegen mir …

… ist er …

Es ist meine Schuld. Weil ich es war, die unbedingt …

Ich kann nicht einmal zu Ende denken. Ich kann nicht einmal weinen. Ich kann immer weinen, aus ganz harmlosen Gründen. Aber, wenn ich daran denke, dann kann ich nicht weinen. Werde immer trauriger, aber kann nicht weinen.

Ich hasse mich, ich hasse mich! Ich bin so ein Miststück, dass ich nicht einmal trauern kann!

»Entschuldigung, kann ich Ihnen vielleicht helfen?«, fragt eine Stimme. Ich sehe auf. Ein Mann steht vor mir, er reicht mir ein Taschentuch, obwohl ich doch gar nicht weine … Da taste ich an meine Wange und stelle fest, dass sie nass ist. Ich kann ja doch …

Verblüfft starre ich den Mann an, erkenne, dass er gar kein Mann ist, sondern ein sehr alter Mann. Also ein Opi. Dabei sieht er auf den ersten Blick viel jünger aus. Aber wahrscheinlich sehe ich nur nicht mehr richtig durch die Tränen, von dem ganzen Geheule. Der Opi sieht aus wie ein richtig lieber, netter Opi, der seinen Enkelkindern vor dem Schlafengehen noch etwas vorliest, ihnen an Weihnachten eine Original-Lokomotive schenkt und für seine ebenso knuddelige Ehefrau an ihrem Hochzeitstag immer noch ein edles Schmuckstück parat hat.

Er hat warme, hellbraune Augen, sanft und kaffeefarben. Sie strahlen richtig, lenken mich ab von seinen unzähligen Falten. Seine weißen Haare stehen zerzaust in alle Richtungen ab. Aber nicht so struppig wie bei Tobi, sondern eher … Tobi … Und schon wieder flenne ich.

»Hey, was ist denn los, Kleines«, versucht der Opi, mich zu beruhigen. Seine Stimme klingt ganz sanft, und gar nicht gefährlich, obwohl ich diese Worte den meisten Vergewaltigern in den Mund legen würde.

»Ich … ich bin schrecklich!«, würge ich hervor. Ich frage mich, was der liebe Opi hier noch macht, immerhin bin ich ein Miststück. Auf die Idee, dass er gerade deshalb da ist, komme ich gerade noch nicht.

»Scht. Nein, das bist du nicht, du bist doch ein liebes Mädl, du kannst doch gar nicht schrecklich sein.«

Doch, kann ich.

»Komm, nimm das Taschentuch.« Er klingt so gelassen und tröstend. So freundlich. Immer noch hält er mir das Taschentuch hin. Dankend nehme ich es an. Putze mir die Nase. Bestimmt sehe ich schrecklich aus, ich meine, hallo, ich habe gerade Rotz und Wasser geheult.

»Wie heißt du denn, liebes Mädl? Ich heiße Hans-Jürgen.« So sieht also ein waschechter Hans-Jürgen aus. Glück gehabt, Valentine.



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