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Warum Pechvögel fliegen können.

Die Schutzengel-Trilogie 1
von

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Lauter Verrückte

Schon lange genug hatte Camael sich nicht mehr nach dem kleinen Menschen erkundigt, dem er aus Mitleid einen neuen Schutzengel gesandt hatte. Doch eines Tages, nach lang getaner Arbeit, empfing ihn wieder die Lust darauf. So suchte er im fünften Himmel, weit entfernt von seinem Arbeitsplatz, nach einem stillen Ort für seine Auszeit. Lange blieb er nicht alleine.

»Meister Camael. Haben Sie schon die Anwesenheit im fünften Himmel überprüft? Heute ist Mittwoch«, nervte ihn Eiael, der Engel des Okkulten.

Camael schlug die Hände vor die Stirn und rieb sie sich. Mit zusammengekniffenen Augen erklärte er dem jungen schwarzmagischen Engel: »Mein lieber Freund, siehst du nicht diesen zarten Menschen? Ich muss ihm ein wenig unter die Arme greifen, damit er in die Puschen kommt.«

Wie aus dem Nichts zauberte Eiael einen Stapel von Dokumenten hervor. Er wedelte damit vor Camaels Nase herum. »Aber Meister, DARUM müssen Sie sich doch nicht kümmern! Nicht in Ihrer Position! Sie müssen sich DARUM kümmern. Im Übrigen, ist etwas Schreckliches passiert – Diesen. Dienstag. Gab. Es. Kein. LIED!« Um seiner Entrüstung mehr Ausdruck zu verleihen, schürzte Eiael die Lippen.

»Oh, dafür ist doch dieser Janiel … Ah«, entfuhr Meister Camael. »Das geht auf meine Kappe, werter Eiael. Ich entsandte Janiel auf die Erde, um diesem Menschen zu helfen.«

»Sie haben … WAS?! Janiel, unser Strahlender, auf … ich wage es kaum auszusprechen … DER ERDE? Was hat einer der Mächte, nein, dazu auch noch, einer der Wochentagszuständigen, auf der Erde verloren? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Meister Camael! Das ist so – herabwürdigend! Wissen Sie, wie bestürzt wir alle im fünften Himmel sind, die letzten Dienstage keine neuen Lieder mehr gehört zu haben?«, führte Eiael sich auf.

Camael zeigte auf die Erde. »Schau nur hinunter, die Menschen machen auch keine schlechte Musik.«

Ein sehr krächzend hoher Laut des Ärgernisses flüchtete über Eiaels Lippen. »Es geht nicht um Menschenmusik, es geht um Johanns Lieder! Ich will Johanns Lieder hören!«

»Mein lieber Eiael, tu deine Arbeit und kümmere dich nicht darum. Wir sind hier keinesfalls unterbesetzt und können Janiels Abwesenheit für ein Menschenleben leicht verschmerzen. So schwer kann es auch nicht sein, Lieder zu komponieren. Ich mag die Menschenmusik. Du solltest sie dir einmal anhören, wirklich nicht schlecht.«

Abgewürgt, beleidigt und auf seine Art und Weise erniedrigt, stiefelte Eiael weiter, hinab.
 

In aller Frühe machte sich Janiel an jenem Morgen auf den Weg zur Schule. Als er das Mehrfamilienhaus mit dem Rosé-roten Dach verließ, schlief Manu sogar noch. Den ganzen gestrigen Abend hatte sie ihn angesehen. Mit einem überaus bösartigen Glitzern in den Augen. Die Menschen waren wirklich unberechenbare Geschöpfe Gottes. Sie hatte ihn gebeten, sich in der Öffentlichkeit von ihr soweit es nur ging zu distanzieren, um das Gerücht über ihr Paardasein ein für alle Mal zu beseitigen.

Dem hohen Engel war es relativ egal, was Manuelas Mitschüler über ihn dachten. Ihren Freund vorzugeben oder nicht, beides stellte kein Problem für ihn dar. Sehr wohl aber, dass er nun vor dem noch verschlossenen Schuleingang stand. Janiel hatte so herrgottsfrüh aufbrechen müssen, dass der Hausmeister die Pforten der Schule noch nicht geöffnet hatte. So kauerte der Engel in Menschengestalt nun vor der schulischen Eingangstür aus Metall. Allmählich ging die Sonne auf, tauchte den schwarzblauen Himmel in bräunliche Töne, in Rot, in Orange. Vögel zwitscherten ihren Morgengruß.

Womit hatte er das eigentlich verdient. Seinen zweiten Besuch auf der Erde hatte Janiel sich ganz anders vorgestellt. Gar nicht, um genau zu sein. Er hatte immer geglaubt, es würde so bleiben: Jeden Dienstag ein Lied im Himmel. Immerhin war es ihm jahrelang so ergangen.

Das Quietschen eines Hinterreifens unterbrach Janiels Gedanken. Ein Junge mit mattbraunem Haar in Kapuzenjacke schob sein Fahrrad zu dem hölzernen Unterstand in der Nähe des Eingangs. Janiel erkannte ihn sofort. Es war Tobi, Manuelas ach so großer Schwarm. Wegen dem Janiel vermutlich noch viel Arbeit erdulden würde. Eine unglückliche Liebe war wie Gift für eine reine Mädchenseele. Sie war der Inbegriff von menschlicher Dummheit.

Tobi schien allerdings kein Stück klüger zu sein. »Hey«, sprach er den Engel an. »Nadine hat mir gesimst, dass du und Manu nicht mehr zusammen seid.«

»Jap. Manu hat Schluss gemacht.«

»Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich euch nicht allein gelassen.«

»Wie nobel von dir.«

»Ok … « Er wandte sich ab, um das Schulgebäude zu betreten.

»Warte. Manu denkt, dass du sie jetzt nicht mehr leiden kannst. Würdest du mit ihr reden?«
 

»Hast du schon gehört?«

»Dieser Typ, der neu in die zehnte gewechselt ist … «

»Der soll wieder zu haben sein!«

Die Gerüchte-Küche am Morgen danach brodelt nur vor Spekulationen und Verheißungen. Noch bevor ich die Schuleingangstür erreiche, kann ich den Vermutungen meiner Mitschüler um mich herum lauschen. Weil sie das nicht gerade leise tun.

Ja, ich habe mit Janiel offiziell Schluss gemacht. Ihn gebeten, das Missverständnis (oder aber eben meine Lügen) aufzuklären, indem er von nun an meinen Exfreund spielt. Okay, das ist irgendwie eine Folge-Lüge. Losgeworden bin ich ihn bis jetzt zwar nicht, aber glücklicherweise fristet er bei mir zuhause ein tadelloses Katzendasein.

Kaum, dass ich unser Klassenzimmer betrete, horchen alle Mädchenohren auf. Zeit, ihnen mein vorbereitetes Trennungs-Blabla vorzusetzen. »Hey, Manu. Was ist denn los?«, bemerkt Karin, die Feinfühlige, als ich übertrieben schmollend den Weg zu meinem Sitzplatz bahne.

»Genau. Und wieso kommst du heute allein? Wo ist Jan?«, fragt Hanna.

Ich schniefe. Gründe zum Traurigsein habe ich ja genug. »Ich habe Schluss gemacht.«

Nadine dreht sich zu uns um. »Du hast was? Wohl eher er.«

»Mann Nadine! Jetzt hör doch endlich mal auf!«, faucht Karin sie an und nimmt mich in den Arm. »Warum hast du denn Schluss gemacht? Was ist passiert?«

Okay, jetzt kommt Teil zwei meiner Imaginären-Freund-Beziehung. Ich habe gestern noch den ganzen Abend lang daran gefeilt. »Also … ich … es war so, dass er hat … ich hab raus gefunden, dass er mich nicht wirklich liebt.«

»Oh wie schrecklich. Erzähl ruhig weiter, wir hören dir zu«, versichert mir Hanna.

Also fahre ich fort. »Ich weiß, so was macht man nicht, aber ich habe bemerkt, wie seltsam er sich gestern verhalten hat … normalerweise freut er sich immer, wenn er mich sieht, aber … im Laufe des Tages hat er sich immer mehr zurückgehalten … und dann, dann habe ich sein Tagebuch gelesen.« Eindrucksvolle Pause. »Er hat geschrieben, dass er sich nicht sicher ist, ob ich die Richtige für ihn bin, wenn ich so viele schlimme Dinge getan habe«, blubbere ich.

»Hä? Was denn für schlimme Dinge? Das Volleyballspiel hat er ja nicht miterlebt«, scherzt Sophie. Doch Nadine weiß, wovon ich spreche.

»Ach, du redest von der Sache gestern. Das war doch nicht ernst gemeint, nur ein Scherz«, sagt meine Erzfeindin.

Bei der hakt’s doch!

»Was hast du gestern zu Jan gesagt, Nadine? Spuck’s aus, du steckst dahinter!«, sagt Hanna und sieht Nadine scharf an.

»Sie kann nichts dafür! Ich muss ihr danken. Ohne sie hätte ich niemals bemerkt, wie wenig er zu mir steht!«, wende ich ein. Nadine macht ein grimmiges Gesicht. Ihr gefällt es gar nicht, dass ich mich über ihre Streiche freue. »Jedenfalls konnte ich danach nicht mehr mit ihm zusammen sein. Ich meine, wenn er mir nicht mehr vertraut, was ist das dann für eine Beziehung? Keine, das sage ich euch!«, beende ich filmreif die Imaginärer-Freund-Geschichte.

Die Mädchen staunen. »Wow, das ist echt selbstbewusst! Respekt!«, sagt Mona, die sich aus Neugier dazugestellt hat, obwohl sie noch nie ein Wort mit mir gewechselt hat. Genauso wie Elise, die zustimmend nickt. »Hast du echt gut entschieden, Manu!«

»Da ist doch was faul. Jan hat hundertpro Manu sitzen gelassen, nicht andersherum«, stichelt Nadine mal wieder. »Aber mir soll’s recht sein. Dann ist Jan eben wieder zu haben!«

Alle Mädchen im Raum sehen Nadine giftig-grün an. Die ach so beliebte Nadine hat es sich gerade mit allen Klassenkameradinnen verscherzt. Denn obwohl mir alle ihren Respekt zollen, sehe ich in ihren Augen, dass sie es – eigentlich – auf Jan abgesehen haben. Sogar Sophie, Mona und Elise, die vergeben sind. Viel Spaß Nadine.
 

Der Wettkampf ist eröffnet. Jan kann sich kaum retten vor Weibern. In der großen Pause kann ich schadenfroh beobachten, wie Lilly aus der Parallelklasse mit voller Wucht in Janiel reinrennt, damit er ihre Bücher aufhebt. Wie die Klassenschönheit Elise ihn von der Seite anquatscht, um mit ihren riesigen Fake-Wimpern-Augen zu klimpern. Und wie meine Lieblingsfreundin Nadine doch tatsächlich Jans Pausenbrot vom Kiosk bezahlt. Der Engel hat es echt gut auf Erden.

Für mich interessiert sich niemand mehr, und das ist auch gut so. Denn für Tobi interessiert sich jetzt ebenso keine mehr. Kleiner Haken: Tobi interessiert sich auch nicht mehr für mich. Denke ich, als er auf dem Pausenhof einfach an mir vorbeigeht, an den Möchtegern-Kunst-Steinen.

Bis zu dem Zeitpunkt, an dem er aus heiterem Himmel stehen bleibt und sich umdreht. Heute trägt er eine graue Kapuzenweste, darunter einen schwarzen Pullover. Seine typisch kartoffeldeutsche Haut kommt dadurch bleicher als sonst zur Geltung. Er sieht aber auch so niedergeschlagen aus.

»Manu, es tut mir leid.«

Ich traue meinen Ohren nicht. Hat mal jemand ein Wattestäbchen?

Mit leicht gesenktem Kopf nähert er sich mir, kniet nieder, ins noch taufeuchte Gras. »Ich habe in dem Moment automatisch gedacht, ihr hättet einen Streit unter Mädels, darum wollte ich nur, dass ihr euch versöhnt. Ich bin auf keiner Seite oder so etwas.«

»Nadine und ich haben uns nicht gestritten.« Nein, Nadine demütigt mich. Lästert über mich. Verarscht mich. Macht sich über mich lustig. Siegt über mich. Und das seit zwei Jahren. Aber das kann ich ihm so … einfach nicht sagen. Denn sie hat es in dieser Zeit irgendwie geschafft, sich mit Tobi genauso anzufreunden wie ich.

»Ich muss dir was sagen«, presse ich angespannt hervor. Meine Finger krallen sich in das Stück Stoff namens Krümelmonster-Hoodie.

Ich hasse Nadine.

Wir sind überhaupt keine Freundinnen.

Schon lange nicht mehr.

»Ich weiß schon. Ich will nur, dass du weißt, dass ich es wirklich nicht böse gemeint habe gestern und es mir leid tut«, unterbricht er mich. »Übrigens weise Entscheidung, Jan abzuschießen. So ein Schönling passte eh nicht zu dir.«

Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll. Bin sprachlos. »Äh … danke, Tobi.«

Normalerweise wäre ich wohl sauer. Aber alles was ich höre ist: Weil du viel besser zu mir passt. Tobi fängt an, nervös an seinem Pulli-Bändel herum zu zupfen. »Heißt das, es ist alles wieder gut mit uns?«

»Äh … klar.«

»Wirklich?«

»Ja. Klar.«

»Ich kaufe dir das irgendwie nicht ab«, spekuliert der Junge, der vor mir kniet als würde er gleich eine Ringschachtel hervorholen. Was ich im Übrigen sehr begrüßen würde. Er weiß natürlich nicht, dass ich nur so knapp antworte, weil er mir schlicht den Atem und das Gehirn raubt.

»Kann ich es vielleicht irgendwie wieder gut machen? Ich fühle mich echt schuldig, weil du so geweint hast und ich dich dann einfach mit deinem Ex alleine gelassen habe … Das hätte ich nicht tun sollen … da wusste ich aber auch noch nicht, dass es so – endet.«

Ich sehe zu Boden. Tobi trägt Sneakers. Werden die nicht nass? »Hätte ich auch nicht gedacht.«

»Also? Was kann ich für dich tun?«, wiederholt er.

Am liebsten hätte ich jetzt gesagt, dass du mich liebst. Dass du mich küsst. Mich umarmst. Mir vertraust. Keinem Märchen über mich glaubst. Dass du erkennst, was für ein Miststück Nadine in Wirklichkeit ist. Aber ich sage: »Dass du mir nicht böse bist, wenn ich das nächste Volleyballmatch vergeige.«
 

Und so habe ich mir ein Spezial-Volleyballtraining bei Tobi in der Turnhalle für den Nachmittag geholt. Beziehungsweise, ein Date? Ich glaube, ich höre lieber mal auf, mir Dinge einzubilden. Jedenfalls habe ich nach langer Zeit mal wieder einen Grund, um richtig heftig glücklich zu sein und das ist was zählt. Also stapfe ich voller Vorfreude von der Umkleide in die Halle und erblicke Tobi, der mich noch nicht bemerkt, weil er gerade einen Volleyball aufpumpt. Eigentlich dürfen wir gar nicht rein, aber Tobi meinte, er hätte Connections. Von daher sind wir hier, in der Schulturnhalle, gelandet. Tobi sieht mich, winkt. Ich winke zurück. Er nähert sich. Steht vor mir. Grinsend und mit dem prallen Ball unter dem Arm. Scheiße, sieht er gut aus!

»Hey«, sagen wir gleichzeitig, er umarmt mich. Wir sind uns so nah, dass ich seinen Herzschlag spüren kann. Ist schon ein tolles Ding, dass wir überhaupt leben. Das denke ich an guten Tagen wie heute.

»Ok dann wollen wir mal mit der ersten Lektion anfangen, oder?«

Ich nicke. Die Halle hat etwas Trostloses an sich, wenn sich nicht mindestens dreißig Schüler um Bälle ranken oder Dehnübungen machen. Gemeinsam bauen wir das Netz auf, Tobi trägt die Eisenstangen an Ort und Stelle ohne meine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er ist ein totaler Gentleman. Als wir (äh oder eher … er) fertig sind (oder eher ist) mit Aufbauen, meint Tobi, wir sollen zuerst einmal den Aufschlag üben. Demnach platziere ich mich in der hintersten Ecke des durch die gelben Bodenlinien markierten Volleyballfeldes. Von dort aus erscheint es mir plötzlich unmöglich, den Ball bis auf die andere Seite zu befördern. Es ist ein Wunder, wenn ich es überhaupt bis zum Netz schaffe. Und dann noch die Sache mit dem Aus … Oioioi. Aber Tobi sieht die ganze Sache entspannt und will jetzt sehen, wie ich meinen Aufschlag für gewöhnlich mache. Okay, kann er haben.

Erster Versuch: Die Hand, die den Ball ins Nirwana befördern soll, rudert eindeutig am Ball vorbei.

Zweiter Versuch: Die Hand trifft! Der Ball wirbelt durch die Luft (ist das jetzt gut oder schlecht?), schlägt mit einem harten Knall auf Tobis Kopf auf.

»Verdammt! Tobi, alles okay mit dir?«, rufe ich, während ich schon zu ihm eile.

Er reibt sich die Birne und grinst mich an. »Damit hätte ich wohl rechnen müssen … Ich glaube, wir haben da viel Arbeit vor uns.«

Wieso grinst er denn immer noch? Der Junge hat wohl zu viel auf den Kopf gekriegt! »Soll ich einen Arzt rufen?«

Verwirrt starrt er mich an. »Also wirklich, du glaubst doch nicht, dass so ein Ball so viel Schaden anrichten kann!«

»Ach so, dann war das schon vorher!« Wir lachen.

»Ja, da könntest du Recht haben. Wolltest die Schuld gerade bloß auf dich nehmen, was?«

»Natürlich, ich wollte dein Image schützen!«

»Na dann muss ich mich wohl herzlichst bei dir bedanken!« Er verbeugt sich vor mir. »Was kann ich im Gegenzug für die Dame tun?«

Ok, das ist krass. Ich hau ihm (unabsichtlich) auf den Kopf und er bedankt sich, und will sich revanchieren. Wie geil ist das denn?! Zugegeben, in letzter Zeit habe ich zwar immer noch Pech, aber das Glück flattert in gewissen Momenten immer wieder mal vorbei. Janiel hin oder Schutzengel her.

»Würde der Herr der Dame die Kunst des Nicht-Versagens im Volleyball denn schulen?«

»Ganz gewiss, meine Dame, so werde ich Euch diesen Wunsch erfüllen.«

Als Nächstes zeigt er mir seinen Aufschlag, der wohl begründet, was ich so alles falsch gemacht habe. Die nächsten zehn Versuche will es bei mir trotzdem nicht klappen, da legt er die Hand auf meine Schulter. »Ok, pass auf, du musst dich erst einmal entspannen. Der Ball frisst dich nicht und deine Mitspieler auch nicht, du hast Zeit und musst den Ball nicht hektisch loswerden. Du streckst den linken Arm aus, in dessen Hand sich jetzt der Ball befindet … «, erklärt er mir und nimmt meinen Arm, der so wie gesagt, positioniert wird. »Übe die Bewegung erst ein paar Mal, bevor du sie ausführst. Du kannst den Aufschlag entweder mit der offenen Hand am Handgelenk oder der Faust machen, je nachdem, wie es für dich besser ist.«

Ich konzentriere mich und atme tief durch.

Jetzt. Unsere Augen verfolgen den Ball. Er schlägt in der Mitte des Feldes auf. Es hat geklappt! Jubelnd falle ich ihm in die Arme und freue mich einfach nur.

Es hat geklappt, es hat geklappt, es hat geklappt! Ich bin doch nicht so eine Niete!

Tobi streicht mir übers Haar. Das hat er noch nie gemacht. »Das wird noch was. Wir üben jetzt die ganze Zeit, und irgendwann bist du mal ein Profi und die Teams werden sich um dich reißen, ja?«

Ich könnte ihn küssen! Tue ich aber nicht.
 

Abends komme ich total ausgepowert nach Hause, aber das war es wert. Mit Tobi zusammen zu sein macht mich einfach nur glücklich, das ist Fakt. Mama zieht sich gerade die Nachrichten rein, deshalb versuche ich mich heimlich aus dem Staub zu machen, bevor sie mich sieht. Aber es ist bereits zu spät. »Komm Manu, setz dich zu mir, du glaubst nicht, was heute schon wieder alles passiert ist!«

Sorry, aber wenn ich ehrlich bin, interessiert es mich nicht sonderlich, wo schon wieder Öl ins Meer gelaufen ist, wo gerade wieder ein Krieg ausgebrochen ist, oder wo schon wieder ein Mädchen vergewaltigt worden ist. Klar ist das alles furchtbar, aber ich bezweifle irgendetwas an der Situation ändern zu können, also warum sollte ich mir jetzt darüber den Kopf zerbrechen? Aber ich schwöre, wenn ich mal Bundeskanzlerin werde, dann werde ich natürlich alles daran setzen, diese Dinge zu ändern. Doch bevor das passiert, ist es wahrscheinlicher, dass meine Katze zum Mond fliegt. Wobei das gar nicht so unwahrscheinlich ist, wenn ich an Janiel denke.

»Mama ich kann nicht, ich möchte lieber erst duschen«, rufe ich im Vorbeigehen.

»Ist in Ordnung Schatz! Aber pass bitte auf dich auf, ja?«

Ok, daraus schließe ich, dass mal wieder jemand abgestochen worden ist. Ich begebe mich nach oben.

Da huscht die Katze ins Zimmer. »Na, wie fühlt es sich an, Casanova zu sein?«, ziehe ich Janiel auf, der diesen Konversationsstart als Einladung nimmt, um sich in einen Menschen zurückzuverwandeln.

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Ach ja?«

»Ja.« Er zieht mein Mathebuch aus dem Rucksack heraus, der am Bettpfosten lehnt, und erlaubt sich die Frechheit, sich zu setzen. »Hast du schon Hausaufgaben gemacht?«

Ich hebe das Handtuch hoch, das ich soeben aus dem Schrank geholt habe: »Sehe ich etwa so aus?«

Seufzend schlägt er das Buch auf. »Manu, Manu … Das ist wichtig.«

»Dann lern mal schön fleißig, dann kannst du mir ja einsagen.«

»Das ist nicht witzig. Wenn du später mal aufgrund deiner miserablen Noten Putzfrau wirst, steigt dein Sterberisiko und somit mein Arbeitsaufwand.«

»Inwiefern ist der Beruf Putzfrau denn lebensbedrohlich?«

»Naja, ich traue dir zu, dass du deine Wasserflasche mit Putzmittel verwechselst.«

»Bitte werde schnell wieder eine Katze«, verkünde ich, ins Bad schreitend.

Ich liebe unsere Dusche. Es dauert nicht mal einen Wimpernschlag, bis das heiße, laufende Wasser einen wohlig-warmen Dampf innerhalb der Kabine erzeugt. Die dünnen Wasserstrahlen aus der Düse prasseln nieder, perlen an meiner Haut ab und wischen den Schweiß weg, den ich vom Volleyballtraining mit nach Hause genommen habe. Ob Tobi wohl … auch gerade duscht? Ich stelle das Wasser ab, drücke mit aller Gewalt das letzte Tröpfchen Duschgel aus der Tube. Ob er gerade an mich denkt? Denkt er überhaupt an mich? Nach dem Shampoonieren und Auswaschen rubbele ich mich mit meinem peinlich pinken Hello-Kitty-Handtuch ab, das meine Mutter mir gekauft hat »weil es so schön zu den restlichen Sachen passt.« Eigentlich mag ich kein Hello Kitty. Aber hey, es ist rosa.

Selbst wenn Tobi über mich nicht so denkt, wie ich über ihn, dann rieche ich wenigstens gut. Mein Schutzengel denkt anscheinend über mich, dass ich dümmer als Brot bin. Mein Zimmer ist zu einer Nachhilfe-Station umfunktioniert worden. Überall hängen Vokabeln auf rosa Post-Its (okay, wenigstens das), statt meinem My-Chemical-Romance-Bandposter prangt nun eine Weltkarte mit Geschichtsdaten an der Wand, und mitten drin im Chaos sitzt Janiel auf meinem Bett, um sich herum Lernhilfen ausgebreitet. Es sieht hier schlimmer aus als beim Sommerschlussverkauf.

»Was soll das?!«

»Wir lernen jetzt für deine Zukunft.«

»Verwandle dich sofort wieder in eine Katze! Und wo ist mein Poster?!«

Er deutet in die Ecke, setzt ein miesepetriges Gesicht auf und erklärt sachte: »Ich meine es ernst. Deine Noten sind so schlecht, dass dein Vorrücken in die nächste Stufe gefährdet ist. Wenn du jetzt nichts unternimmst, sieht deine Zukunft bescheiden aus. Du kannst entweder meine Hilfe in Anspruch nehmen – oder sitzen bleiben.«

Harte Worte. Aber die richtigen. Genervt hocke ich mich dazu. »Also gut, lass uns lernen.«
 

Am nächsten Morgen werde ich von Sonnenstrahlen geweckt, da ich am Vortag vergessen habe, die Jalousien runterzukurbeln. Am liebsten möchte ich gar nicht aufstehen, es ist so schön warm … Moment, was macht der blonde Haarschopf da?! O je, ich muss gestern beim Lernen mit Janiel eingeschlafen sein! Zum Glück schlummert er noch … Vorsichtig versuche ich, mich aus seiner Umklammerung zu befreien, da geht plötzlich die Tür auf. Entgeistert sieht Mama mich an. Mist!

»Ich kann das alles erklären!«, versuche ich das Schlimmste zu verhindern. Mama hält sich die Hand vor den Mund. »Meine Tochter … ihr, ihr habt doch Kondome benutzt, oder?!«

Oh mein Gott! So was musste ja kommen! »Mama, ich habe nicht mit ihm geschlafen!«, werfe ich ein.

»Manuela, du weißt, wie schnell das gehen kann, und in neun Monaten bin ich dann Großmutter! Denk an deine Karriere, Kind!«

Jetzt wacht auch noch Janiel auf. Buhuu … ich könnte heulen. »Hä? Oh, guten Morgen! Sie müssen Manus Mutter sein!«, begrüßt er meine Mama.

Na super! Der tut auch noch so, als wäre das was ganz Normales! Zum Glück murmelt sie nur noch was von auch »Guten Morgen« und verschwindet dann.

»Spinnst du eigentlich?! Meine Mama denkt jetzt, ich wäre keine Jungfrau mehr!«, motze ich ihn lautstark an.

»Was ist so schlimm daran? Du bist doch sowieso keine von den Gläubigen mit der Kein-Sex-vor-der-Ehe-Mentalität? – Aua! Was soll das?!« Er reibt sich die Stelle, auf die ich draufgekloppt habe.

»Willst du noch eine Kopfnuss?«, entgegne ich harsch.

Er schweigt. Endlich. Ruhe. Wir machen uns für die Schule fertig, unten in der Küche versucht Janiel auf meine Mutter einzureden, was mir so peinlich ist, dass ich mich von beiden weit, weit entfernt halte und heimlich das Haus verlasse. Erst an der Bushaltestelle holt Janiel mich wieder ein.

»Mach dir keine Sorgen, ich habe ihr Gedächtnis gelöscht.«

»Du hast WAS?!«

» … «, schweigt er mal wieder und guckt mich an wie ein Ufo.

»Aber … wie … «

Janiel zieht seinen ockerbraunen Mantel gerade. »Vertrau mir einfach.«

Haha. Der ist gut.

Kaum, dass wir in der Schule ankommen, nehme ich das allseits bekannte Raunen wahr, das mir sagen soll: Alle-verstehen-es-falsch-dass-wir-zusammen-aufkreuzen.

»Janiel, ich hau ab. Wir treffen uns im Klassenzimmer!«, zische ich leise. Und verschwinde. Leider hat irgendjemand namens Lilly noch rechtzeitig in meiner Klasse verbreiten können, dass sie Janiel und mich zusammen im Bus gesehen hat.

»Bist du wieder mit Jan zusammen, Manu?!«, überfallen mich Hanna und Sophie. Mager lächelnd hebe ich die Hände hoch: »Oh Gott, nein!«

Sie wischen sich den Schweiß von der Stirn ab. »Gut, wir wollen nicht, dass du nochmal auf so einen reinfällst!«

Ja, sicher.

Der Unterricht ist mal wieder stinklangweilig, aber was erwarte ich eigentlich noch. Der einzige Trost ist, dass man sich während Mathe die Zeit vertreiben kann, indem man unseren unglaublich gut aussehenden Dr. Sommer anstarrt, aber das war es auch schon. Und für mich ist das eh keine Option. »Manu, wie lautet die allgemeine Exponentialgleichung nochmal?«, unterbricht Dr. Sommer meine Gedanken. Wie unhöflich! Der grinst sich auch noch einen ab, wie ein Honigkuchenpferd! Chantal und Lilly würden in Ohnmacht fallen.

»Ähm … Ypsilon ist gleich ... A mal B hoch X?«, stammele ich langsam hervor.

»Das ist korrekt!« Dr. Sommer wendet sich wieder der gesamten Klasse zu. Die Lernerei scheint irgendwie etwas gebracht zu haben.

»Da ist doch was faul, Manu, du kleine Schummlerin«, flüstert es von der dunklen Seite. Nadine. Soll ich etwas erwidern? Nein, das ist es nicht wert. Ich genieße das Gefühl intellektueller Überlegenheit. Solange, bis Janiel mich am Ellenbogen antippt und triumphierend lächelt.
 

Ich stehe ganz hinten in der Pausenschlange, als ich Tobi kurz vor der Kasse ausmache. Sofort geselle ich mich dazu. »Danke fürs Platz frei halten, Kumpel!«, begrüße ich ihn mit verschmitztem Lächeln.

»Aber immer gerne doch!«, kommt es grinsend zurück. Irgendwie läuft mein Alltag gerade Amok, da bin ich echt froh, dass ich mich auf einen verlassen kann!

»Wollen wir heute Nachmittag mit dem Training weitermachen?«, fragt Tobi beiläufig.

»Klaro! Ich will das nächste Mal nicht noch einmal für unsere Niederlage verantwortlich sein! Und wenn ich die ganze Nacht üben muss«, sage ich entschlossen. Jawohl, Nadine werde ich es zeigen!

Tobi strahlt mich an. »Also gut, dann sehen wir uns später in der Halle.«

»Okay.« Ich bin total happy. Nie wieder werden sie mir die Schuld in die Schuhe schieben können. Und alles Dank Tobi. Ich könnte in die Luft springen, einen Freudentanz ausführen oder anfangen zu singen (aber lieber nicht).

Als ich auf meinem Käsebrot herumkauend durch die Schule schlurfe, bemerke ich plötzlich einen dunklen Fleck, der sich hinter den äußeren Fensterreihen im Gang bewegt. Ich kann nichts Genaues erkennen, vielleicht habe ich auch nur mal wieder zu viel Fantasie. Ich schaue weg, schaue ein zweites Mal hin. Nichts. An der Treppe entdecke ich Janiel, wie er sich mit Karin unterhält. Sie scheinen sich gut zu amüsieren, Karin lacht. Weil wir ja Schluss gemacht haben, kann ich mich ja nicht mehr mit ihm abgeben. Zum Glück.

Karin bemerkt mich. Sie winkt. »Hey Manu! Ich habe gehört, ihr habt beschlossen, trotzdem Freunde zu sein?«

Das klang eher wie eine Feststellung als eine Frage. Hab ich da auch noch ein Wörtchen mitzureden?!

»Ich finde das total cool von euch! Es gibt nicht viele Paare, die das nach einer Trennung schaffen. Ich freue mich für euch, dass ihr euch vertragen habt!«, schwärmt mir Karin vor, während Janiel daneben steht. So ist sie nun mal: hoffnungslos romantisch und verträumt.

»Jaah, ich freu mich auch, dass alles im Ruder ist. Jetzt muss ich aber mit dem Depp vom Dienst ein kleines Gespräch führen!«, breche ich zähneknirschend hervor und sehe Janiel gaanz gaaanz zornig an. Karin schenkt uns ihr optimistisches Smiley-Face. Immer noch. »Ich gehe dann mal!«, ruft sie uns fröhlich zu, schon längst im Begriff, sich vom Acker zu machen.

»Was ist denn los, du musst nicht immer gleich beleidigend werden«, meckert der Engel herum.

»Was fällt dir eigentlich ein, herumzuerzählen, wir wären jetzt beste Freunde!«, pflaume ich ihn an.

»Sind wir das nicht?«

» … «, äffe ich ihn nach.

»Ok, ich spreche so was das nächstes Mal mit dir ab. Zufrieden?«

»Na geht doch. Wieso bin ich eigentlich die Einzige mit solchen Problemen?!«, murmele ich mehr zu mir selbst, als zu Janiel. Der weiß natürlich trotzdem eine Antwort.

»Bist du nicht. Jeder Mensch hat Probleme.«

Ich räuspere mich: »Ach ja? Bringt jeder Mensch seinen Schutzengel mit zur Schule?«

Mürrisch antwortet Janiel: »Was denkst du denn.«

»Keine Ahnung, du erzählst ja nie was.«

Es ist still. Typisch Janiel. Er wird mir auch nichts weiter darüber erzählen. Dabei würde es mich schon interessieren. Wo sind all die Schutzengel der anderen? Sind noch weitere Schüler in Wirklichkeit Engel?

»Eins kann ich dir verraten«, bricht er hervor. »Der Himmel sorgt dafür, dass hier unten alles glatt läuft. Wenn etwas aus dem Ruder gerät, kommen wir auf die Erde, um es zu richten.«

»Gottes beschissener Plan wieder.« Ich beiße mir auf die Lippen. »Da kann ich gern drauf verzichten.« Ich sehe raus aus dem Fenster. Suche nach diesem Fleck, aber finde ihn nicht mehr. Der Schönling mit den goldblonden Haaren tut es mir nach, seine Augen wandern in die Ferne.

»Ich finde es auch nicht in Ordnung wie es ist. Was dich übrigens aufheitern könnte: Nadine hat mich um ein Date gebeten.«

»W-was?!«, jubele ich bereits im Fragen.

»Ich habe natürlich höflich abgelehnt. Du weißt schon, weil wir ja noch Freunde sind.«
 

Happy wie noch mal was gehe ich aufs Klo. Diesen Korb hat sich Nadine gewaltig verdient! Manchmal feiere ich Janiel einfach nur. Unsere Schule ist nicht unbedingt die sauberste, aber wenigstens macht die Toiletten-Frau einen guten Job. Im Mädchenklo. Bei den Jungs habe ich noch nie reingeschaut. Es riecht angenehm, nach einem dieser Lufterfrischersprays. Zitrone. Und Klopapier ist auch immer anwesend. Draußen auf dem Flur steuere ich unser Klassenzimmer an. Davor steht komischerweise Tobi. Mit Janiel. Hö?

»Sorry, aber das geht zu weit.«

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht.«

»Das geht mich sehr wohl etwas an. So was macht man einfach nicht«, vertritt Tobi seinen Standpunkt.

»Da hat jemand die Weisheit mit Löffeln gefressen. Mit sechzehn.«

»Ein Jahr älter zu sein macht anscheinend nicht gerade klüger. Ich sage es dir als guter Freund von Manu: Halte dich von ihr fern«, sagt Tobi. Unfassbar. Das sagt wirklich Tobi. Zu Janiel. Über-überrascht lausche ich den beiden hinter der Ecke vor dem Klassenzimmer. Werde knallrot. Das kann nur eines bedeuten: Tobi ist eifersüchtig auf Janiel!

»Ausgerechnet du … « Janiel verweilt seelenruhig.

»Glaub mir einfach. Freunde zu bleiben, wenn davor romantische Gefühle im Spiel waren, funktioniert nicht. Es tut nur einer Person weh. Ich kann nicht zulassen, dass du das Manu antust«, redet Tobi weiter auf meinen Schutzengel ein, untermalt was er sagt, in dem er mit den Händen fuchtelt. Tobi meint es wirklich ernst. An seiner Stirn hat sich zwischen seinen Augenbrauen diese kleine Falte gebildet, die Sorgenfalte. Er sorgt sich um mich. Janiel lässt sich davon nicht beeindrucken.

»Gut, ich mache dir einen Vorschlag. Unter einer Bedingung rede ich kein Wort mehr mit ihr.«

»Was willst du?«

»Du tust das Gleiche.«

Wie kann er es wagen?! Am liebsten würde ich hervorspringen aus meinem Unterschlupf, ihm an die Gurgel gehen. Mich hindert die Neugier. Was Tobi sagen wird.

»Gut. Wenn eure sogenannte Freundschaft dann ein Ende hat, bin ich bereit dazu«, gibt Tobi mich auf, einfach so. Die beiden Jungen besiegeln ihren Deal mit einem Handschlag. »Abgemacht. Keiner von uns beiden hat länger was mit Manu zu tun.«

Dann verschwindet Janiel im Klassenraum, Tobi im nächsten Gang. Ich habe Janiel definitiv zu früh gefeiert.
 

Kaum, dass ich im Unterricht sitze, erreicht mich eine SMS von Tobi. Er kann heute nicht kommen zum Volleyball. Ich bin so sauer. Haue mit einer Faust auf den Tisch, Nadine schreckt auf. Plärrt mich an. Interessiert mich nicht. Das Einzige was ich tun will, ist meinem selbsternannten Schutzengel den Hals umdrehen. Der tut so, als wäre ich Luft, während unser Deutschlehrer den Rest der Klasse zu Tode redet. Von wegen »beschützen«! Janiel hat irgendeinen Komplex, den er an mir auslässt. Dieser Scheißkerl. Ein richtiger Sadist. Zwingt mich zum Putzen, zum Lernen und zum Alte-Jungfer-Dasein. Ich kann nicht glauben, dass noch wer in diesem Raum oder gar dieser Welt so eine Nervensäge ertragen muss. Aber vielleicht bin ich einfach gesagt immer noch derselbe Pechvogel. Den schlimmsten Schutzengel aller Zeiten: Den kriege natürlich ich.

Es klingelt. Letzte Stunde vorbei. Du willst nicht mehr mit mir reden, Janiel? Dann mach dich darauf gefasst, dass du mir nicht mehr ins Haus kommst! Hastig stopfe ich meine Schlamperrolle, das Deutschbuch »Worte verändern« (genialer Titel, was) und meinen Collegeblock in meinen schwarzen Billigrucksack, der mindestens eine halbe Weltreise hinter sich haben muss, damit er produziert werden konnte, und stürme aus dem Klassenzimmer. Raus. Ich bekomme den frühen Nachhause-Bus, hänge Janiel ab, der bestimmt dumm aus der Wäsche guckt. Ich werde nie wieder einem dahergelaufenen Katzen-Engel vertrauen. Oh nein.

Die Wut lässt nicht ab von mir, ich habe das Gefühl, mit jedem Schritt noch zorniger zu werden. Das Wetter macht es nicht besser. Ein Gewitter braut sich zusammen, die Wolken verdichten sich, werfen Schatten auf die Nachbarschaft. Kurz vor unserem Haus trete ich schließlich volle Pulle gegen die Latten des Nachbarzaunes. Der leicht nachgibt. Oh, oh! Ein Jaulen schreckt mich auf. Seit wann haben die denn einen Hund?! Schnell will ich weg, da legt mir jemand von hinten eine Hand auf die Schulter.

»Du bist also das Miststück«, zischt eine herrische und gleichzeitig herrliche Stimme in mein Ohr. »Die Möchtegern-Madeleine. Siehst ihr leider wirklich ähnlich. Aber Madeleine war hübscher.«

Wie kann jemand so helle, klare Klänge von sich geben und dabei solche Worte gebrauchen? Nicht einmal umdrehen kann ich mich, denn er zerrt an mir, wirbelt mich dahin wo er will. Es ist wie ein Tanzschritt, abgesehen davon, dass ich mich nicht freiwillig füge. Der Fremde hat mein Handgelenk fest im Griff. Jetzt bin ich im Stande ihn zu betrachten. Er ist jung, groß und schlank. Er trägt einen schwarzen Trenchcoat aus Filz, sein Gesicht wäre makellos, wenn er mich nicht mit so einer angeekelten Fratze anstarren würde.

»Was soll der Mist?«, pflaume ich ihn an. »Wieso hältst du mich fest? Lass mich sofort los!«

Der Junge, ich schätze ihn wirklich nicht großartig älter als mich, vielleicht zwei, drei Jahre, blafft daraufhin: »Nein, das werde ich nicht. Mache dich auf etwas gefasst, du Miststück.«

Noch während er spricht, läuft mir ein kribbelnder Schauer bis in die Knochen. Es hört sich so bestimmend an. Gleich darauf will er mich weg schleifen, was ich ihm natürlich nicht einfach so durchgehen lasse. Ich reiße an seinem Arm, zappele wie ein Fisch im Netz. Doch wie der Fisch bin ich bereits gefangen. Der Fremde zieht mich näher an sich heran.

»Keine Sorge, Menschenmädchen, ich tue dir nichts … vorerst«, flüstert er in mein Ohr.

»Was … ?!«, entfährt mir, was so ziemlich das Dümmste ist, was man in so einer Situation sagen kann. Er dreht mein Handgelenk so, dass ich vor Schmerz aufquieke, zu Boden sinke und mich nicht mehr wehren kann. Wovon redet der Irre eigentlich?

Aus seiner Manteltasche holt er ein Messer hervor. Okay, er will mich also umbringen.

»Warte, nein, tu das nicht! Wir können doch auch in Ruhe reden! Du wirst das noch bereuen, die stecken dich lebenslang ins Gefängnis, und du bist doch noch so jung – «, rede ich panisch auf ihn ein.

»Zügle dein Züngelchen, du bist gleich an einem besseren Ort«, unterbricht er mich.

»Da will ich aber nicht hin!«, pampe ich zurück.

Ich will noch nicht sterben. Ich will nicht meine Mutter verlassen. Und Janiel. Nicht einmal Nadine. Und vor allem nicht Tobi. Das ist mein letzter Gedanke, bevor der fremde Schönling dafür sorgt, dass ich mein Bewusstsein verliere.
 

Einmal, vor langer Zeit, war ich mit meinem Vater auf einem Spielplatz. Ich saß auf der Schaukel und er hat mich angeschubst. So hoch bin ich noch nie geflogen. Er sagte, so hoch können nur Engel fliegen. Engel. Er wusste nicht, was er sagte. Ich sei sein Engel. Dann ließ ich los, ich wollte zur Sonne fliegen, in den Himmel, denn ich war ein Engel. Erschrocken eilte mein Vater zu mir, ich war auf dem rauen Asphalt aufgeschlagen, alles an mir schmerzte und mein Innerstes schrie. Ich weiß nicht, wie viele Knochen gebrochen waren. Ich weiß nur, dass ich noch ganz klein war.

Tropf. Tropf. Das Plätschern von Regen weckt mich. Meine Socken sind nass. Alles ist klebrig, eklig, mir hängen nasse Haare ins Gesicht. Ich schüttele meinen Kopf, will die Haare aus meiner Sichtzone beseitigen. Da grabscht eine fremde Hand danach. Gut, so fremd dann doch wieder nicht. Es ist dieses Schneewittchen, der Typ mit dem Messer. Aber ohne Messer. Für den Augenblick.

»Na, endlich aufgewacht, Dornröschen?«, macht er mich dumm an. Als er den Mund aufmacht, hört es sich an wie das Klirren eines Windspiels, melodisch und zart, obwohl sein Tonfall sehr verbittert klingt.

»Was soll der Mist, Schneewittchen?!«, keife ich zurück, stelle im selben Moment fest, dass meine Arme hinter meinem Rücken verschränkt, und meine Hände mit einer rauen Kordel gefesselt sind. Wir sind in einer Art Schuppen, die Tür steht weit offen. Draußen prasselt der Regen in Strömen nieder, es donnert und blitzt. Das Grollen der Götter nimmt Laute an, die ich aus Horrorfilmen kenne. Ich war noch nie bei Gewitter draußen. Schneewittchen weicht kurz zurück, fasst sich dann wieder. »Vielleicht bist du Madeleine doch ein bisschen ähnlich.«

»Ist mir egal, wer soll das überhaupt sein! Und wieso bin ich gefesselt?!«, pflaume ich den vampirhaften Jungen an. Halt. Der wird doch nicht ein Vampir sein … ? Wenn es Engel gibt …

»Damit du nicht wegläufst.« Er grinst bestialisch. Hat er spitze Eckzähne? Es ist so düster, ich kann es nicht erkennen.

»Du bist meine Geisel.«

»Bitte, was?!«

»Geisel.«

»Ich habe schon verstanden!«

»Ach, warum fragst du dann?«

Schneewittchen geht damit offiziell in die Geschichte der nervigsten Vampire ein. Nummer zwei, gleich hinter Edward Cullen. Der Versuch, mich aus der Kordel zu lösen, indem ich hindurchschlüpfe, endet damit, dass ich mir die Haut am Handrücken aufreiße. Es brennt.

»Das mit dem Fliehen kannst du übrigens vergessen. Ich habe einen Bannkreis um den Schuppen hier gezogen. Ist doch ganz nett hier, oder?«, behauptet Schneewittchen, schnappt sich den Schaukelstuhl, der hier rumsteht, und setzt sich wie ein König nieder. Oder wie eine Oma. Eigentlich beides gleichzeitig. Der ist vollkommen irre. Wo ist Janiel, wenn man ihn einmal braucht? Sollte er mich nicht lieber vor solchen Kreaturen beschützen, anstatt vor Tobi?! Wie auf Kommando durchschreitet besagter Schutzengel die Schwelle des Schuppens.

»Janiel!«, rufe ich hoffnungsvoll aus. »Da bist du ja!«

Dieser hat ganz, ganz schlechte Laune. Kraftvoll packt er Schneewittchen am Kragen seines Filzmantels, erhebt ihn aus dem Schaukelstuhl, der nun einsam mit einem sachten Quietschen hin und her wippt. »Was hast du hier zu suchen, Eiael?«

Schneewittchen fletscht die Zähne: »Dasselbe könnte ich dich fragen, Johann.« Binnen Sekunden befreit sich dieser Eiael aus Janiels Griff, taucht wie aus dem Nichts direkt hinter mir auf. Drückt mir urplötzlich sein Messer an die Kehle.

»Was sucht ein Strahlender, einer der Komponisten, auf der Erde? Kannst du mir das verraten?«, richtet er sich an Janiel. Dieser reagiert erstaunlich gelassen.

»Du weißt genau warum. Warst du bei Camael?«

»Was denkst du?«

»Hör auf mit den Kinderspielchen, Eiael. Wir sind nicht mehr zwölf.«

»Ich werde nicht ruhen, bevor du mir dein neuestes Lied im fünften Himmel vorgespielt hast, darauf kannst du wetten.«

Wow. Der hat ja gewaltig einen an der Waffel.

»Wenn du nicht freiwillig zurück in den Himmel kehrst, werde ich sie eben umbringen«, droht Eiael, verpasst mir eine Schramme zur Verdeutlichung.

Eine große Waffel!

»Ah!«, stoße ich aus, ein schmaler Streifen Blut rinnt an meinem Hals herunter. Es tut weh.

»Also, Johann?«

Janiel zögert. Er beißt sich auf die Oberlippe, sieht recht verzweifelt aus. Gar nicht gut.

»Du verlangst von mir, dass ich einen Menschen umbringe, so oder so.«

»Blitzmerker.« Eine Ewigkeit lang sehen sich die zwei in die Augen. Schließlich melde ich mich als Opfer auch mal zu Wort, um mich aus der Sache herauszureden: »Hey Schneewittchen, nimm Janiel ruhig mit in den Himmel, aber halt mich da raus!«

»Äh … eh?«, geben beide von sich, starren mich entgeistert an.

»Da hörst du es, Johann. Lass die Möchtegern-Madeleine hier versauern und komm mit mir!«, freut sich Schneewittchen, hält sich die Hand vor den Mund und flüstert mir zu: »Du wirst mir immer sympathischer!«

»Keine Sorge, ich wollte den sowieso loswerden!«, pflichte ich ihm bei. Fassungslos glotzt Janiel uns an. »Das ist jetzt nicht euer Ernst.«

Aber Schneewittchen und ich sind uns einig. »Wenn du ihn mitnimmst, zahle ich dir sogar was dafür! Ich habe zwar kein Geld, aber ich könnte Kuchen backen«, schlage ich vor. »Mögen Vampire Kuchen?«

»Ich bin ein Engel und ich mag Kuchen. Die Sache steht! Danke für das Vampirkompliment! Meistens werde ich nur für einen Kranken oder Zombie gehalten. Da ist Vampir sehr schmeichelhaft!«, bedankt sich Schneewittchen, hebt das Messer ab von meinem Hals.

»Hallo … ?«, startet Janiel einen schlechten Versuch, auf sich aufmerksam zu machen.

»Hast du eine Vorliebe? Nusskuchen? Schokolade? Obstkuchen?«

»Nuss klingt gut!«, erwidert Eiael.

»Schluss mit dem Unsinn!«, brüllt mein Schutzengel, der nun so sauer wie eine Essiggurke ist.

»Johann alter Freund, wenn du ein Stück vom Kuchen abhaben willst, kannst du auch netter fragen. Mit bitte und danke, du weißt schon, Manieren«, bringt Eiael ihn nur noch mehr auf die Palme. Doch bevor Janiel explodiert (ich sehe schon seinen Kopf qualmen), fügt Eiael hinzu: »Ich habe meine Meinung geändert. Bleibe ein Leben lang auf der Erde, und ich esse nächsten Dienstag mit Möchtegern-Madeleine Nusskuchen. In Ordnung, Johann?«

Ratsch! Schneewittchen schneidet die Kordel durch, die meine Hände gebändigt hat. Ich bin frei. Er erkundigt sich: »Passt Dienstag auch für dich?« Ich nicke. Immer noch total verdattert, fährt sich Janiel durch die Haare. »Zu Lebzeiten hätte ich dir das nicht … Ach was, doch, das hätte ich dir zugetraut.«



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