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Stolen Dreams Ⅺ

von

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3. Kapitel

Constantin hatte aus irgendeinem Grund angenommen, dass Ilja ein hohes Tier in seiner Familie und deswegen sehr mächtig und stinkreich war, aber sein Auto war keine protzige Karre, die viele Männer in ihren wildesten Träumen fuhren, sondern ein gewöhnlicher Wagen, der mit seiner silbernen Farbe kaum auffiel. Innen roch es ein wenig nach weiblichem Parfüm; wahrscheinlich stammte es von der gleichen Frau, die auch ein langes Haar hier hinterlassen hatte. Es haftete an der rechten Seite des Beifahrersitzes, auf dem Constantin vorsichtig abgesetzt wurde.

Während Ilja ebenfalls in das Auto stieg, schnallte der Junge sich an und starrte stumm auf seine Hände, die er auf seinem Schoß abgelegt hatte. Sein ganzer Körper zitterte vor Kälte und Angst. In seinen Gedanken spielte er bereits das Szenario durch, dass Ilja ihn zu einem perversen Sack bringen, einen dicken Geldbündel erhalten, wegfahren und danach nie wieder auftauchen würde.

„Soll ich die Heizung anmachen?“

Obwohl Ilja in einem normalen Ton gesprochen hatte, zuckte Constantin zusammen, als wäre er angeschrien worden.
 

„M-mir egal“, wisperte er ängstlich und krallte nervös die Hände ineinander.

Ilja drehte die Heizung auf die zweithöchste Stufe und beschloss, den Kleinen in Ruhe zu lassen, bei dem seine Absichten, die eigentlich guter Natur waren, nur für unnötigen Stress sorgten.

Constantin versuchte mit aller Kraft sein Zittern zu unterdrücken und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Supermärkte, verschiedene Läden und Häuser rauschten an ihm vorbei. Eines der Gebäude war besonders groß und schien eine Universität zu sein, aber Constantin war viel zu sehr mit seiner Angst beschäftigt, um darüber nachzudenken. Er beobachtete stumm, wie Ilja durch ein Viertel fuhr, in dem anscheinend ärmliche Verhältnisse herrschten, und dachte darüber nach, wie weit es wohl noch zu seiner Villa war, als der Ältere plötzlich auf einen großen Parkplatz abbog und neben einem dunkelgrauen Auto parkte, das einen Besuch beim TÜV dringend nötig hatte. Sein Lack war mit zahlreichen Kratzern übersät und der linke Seitenspiegel fehlte.

„W-was machen wir hier?“
 

„Siehst du das Hochhaus dort?“, erwiderte Ilja und deutete auf einen großen Betonklotz auf der anderen Straßenseite. „Da wohne ich... noch. Das wird sich demnächst ändern.“

Er stieg aus, umrundete das Auto und öffnete die Tür des Beifahrers, woraufhin sofort die eisige Luft ins Innere des Fahrzeuges strömte. Constantin konnte ein Erschauern nicht unterdrücken.

Ilja zog seine beige Jacke aus und legte sie um den Jungen, ehe er ihn vorsichtig hochhob, das Auto abschloss und sich auf den Weg nach Hause machte. Der Kleine ergriff zögernd die Kapuze und zog sie sich so tief ins Gesicht, dass sie ihn vollständig verschluckte. Das verlieh ihm das Gefühl von Sicherheit; wenn er andere Menschen nicht sehen konnte, konnten sie ihn auch nicht sehen.

Mit einem abgemagerten und in Verbände gewickelten Jungen auf dem Arm, der so leicht war, dass er den Eindruck erweckte, eine lebensgroße Puppe zu sein, betrat Ilja das Hochhaus und stieg in den Fahrstuhl. Er verließ ihn auf der neunten Etage und steuerte auf sein Apartment zu, das hinter der zweiten Tür der rechten Seite lag. Seine Hand glitt in seine Hosentasche, um nach dem Schlüssel zu angeln, als plötzlich ein lauter Knall ertönte und die Wände wackelten. Ilja ließ vor Schreck den Schlüssel fallen.
 

Wie sich herausstellte, kam der unerwartete Laut von Iljas Nachbarin, eine alte, verrückte Frau, die rechts neben ihm wohnte, also hinter der ersten Tür auf der rechten Seite. Sie trug einen dunklen Morgenmantel, zwei alberne Häschenpantoffeln und eine Kette voller dicker Klunker um den Hals. Mehrere Lockenwickler hingen mehr schlecht als recht in ihren grauen Haaren und auf ihrem Gesicht lag eine Miene, die nur so vor Hass und Abscheu strotzte.

„Junger Mann, schön dich zu sehen“, zischte sie mit zusammengekniffenen Augen und ignorierte, dass ihre Tür, die sie gerade eben mit voller Wucht aufgerissen und gegen die Wand geknallt hatte, immer noch leicht zitterte. „Ich habe ein ernstes Wörtchen mit dir zu reden.“

„Ich weiß“, erwiderte Ilja, obwohl er keine Ahnung hatte, was er diesmal schon wieder falsch gemacht hatte. „Aber kann das bitte bis morgen warten? Ich--“

„Nein, kann es nicht! Wie oft muss ich dir noch sagen, dass Blechdosen nicht in den Biomüll gehören?“

„Und wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass diese Blechdosen nicht von mir kommen?“, imitierte er sie leicht gereizt. „Ich kaufe keine und selbst wenn--“
 

„Ihr Studenten seid doch alle gleich“, keifte die Frau und fuchtelte wütend mit ihrem faltigen Zeigefinger in der Luft herum. Sie redete darüber, wie sehr sie Studenten verabscheute, und benutzte Wörter, die man wahrscheinlich zum letzten Mal verwendet hatte, als Russland noch ein Zarentum gewesen war, aber Ilja hörte ihr gar nicht zu. Seine Aufmerksamkeit galt voll und ganz dem kleinen Häufchen Elend, das sich bei dem Knall fast zu Tode erschrocken hatte und nun wie Espenlaub zitterte. Ilja legte schützend eine Hand auf den knochigen Rücken und sah genervt zu seiner Nachbarin, die es irgendwie geschafft hatte, innerhalb einer halben Minute vollkommen vom Thema abzukommen.

„... und deswegen sollte man Postboten niemals Trinkgeld geben!“

Wortlos ließ sich Ilja auf die Knie nieder, um seinen Schlüssel aufzusammeln, ehe er die Tür aufschloss und fluchtartig in seiner Wohnung verschwand. Dass er einen immer noch zitternden Jungen mit sich herumtrug, schien die Nachbarin komischerweise nicht gestört zu haben.
 

„Du hattest soeben die Ehre, meine wundervolle Nachbarin kennenzulernen“, sagte er und setzte Constantin auf dem Sofa ab, auf dem einige Decken und Kissen lagen. „Sie beschwert sich über alles und jeden und es gibt nichts, das sie zufriedenstellen könnte. Am besten ignorierst du sie einfach.“

Humor schien bei Constantin nicht zu funktionieren. Der Kleine presste ängstlich die Beine zusammen und hielt sich krampfhaft die Kapuze über das Gesicht, als befürchtete er, dass Ilja sie ihm gewaltsam vom Kopf reißen wollen würde.

„Hey... sie ist weg.“

Er versuchte, Constantins Hände behutsam von dem Saum zu lösen, aber das führte nur dazu, dass der Junge ein klägliches Wimmern von sich gab.

„Diese Jacke trage ich bei jedem Wetter. Möchtest du vielleicht etwas haben, an dem nicht der halbe Winter hängt?“

„...“

„Warte kurz hier.“
 

Mit diesen Worten wandte er sich von dem Jungen ab und ging ins Schlafzimmer. Kaum war er hinter dem Türrahmen verschwunden, lugte Constantin unter der Kapuze hervor und sah sich um. Er hockte in einem kleinen Wohnzimmer, in dem ein Sofa, ein alter Sessel, aus dem hinten eine Feder herausragte, und einige Kartons standen. Letztere waren ordentlich an die Wand geräumt worden, damit sie in dem winzigen Raum nicht im Weg stan--

Ilja kehrte zurück. Constantin presste sich reflexartig die Kapuze auf das Gesicht und das so feste, dass er kaum atmen konnte. Die Kapuze roch nach Ilja und nach Regen.

„Hier.“

Etwas Weiches berührte Constantins Handrücken. Während er mit der rechten Hand immer noch sein Gesicht verdeckte, griff er mit der linken vorsichtig nach dem Gegenstand, der ein weißer, nach Waschmittel riechender Pullover war.

„Ich hoffe, dir macht es nichts aus, auf dem Sofa zu schlafen. Ich lebe eigentlich alleine und bin auf einen Gast nicht vorbereitet.“

Constantin erwiderte nichts, sondern ließ zögernd die beige Kapuze los und klammerte sich stattdessen an den Pullover.
 

„Ich nehme dir die Jacke jetzt weg, okay?“

Erneut gab er keine Antwort. Ilja zog die Jacke vorsichtig von dem zierlichen Körper und hing sie an den Kleiderhaken neben der Eingangstür.

„Ich werde jetzt ins Bett gehen. Mach es dir ruhig gemütlich. Das Badezimmer ist dort, falls du es brauchst. Gute Nacht.“

Er verließ den Raum, machte das Licht aus und ließ die Tür zum Schlafzimmer einen dünnen Spalt breit offen, damit ein schmaler Lichtstrahl ins Wohnzimmer schien. Constantin sah ihm beklommen hinterher und wartete einige Minuten, ehe er sich langsam ein wenig entspannte und den Pullover nicht mehr in sein Gesicht, sondern gegen seine Brust presste.

Erst als Ilja im Schlafzimmer zur Ruhe gekommen war und das letzte Licht ausgeschaltet hatte, fühlte Constantin sich sicher. Er zog den Pullover an, hüllte sich in zwei Decken, nutzte eine dritte, um sie wie ein Zelt über die Rückenlehne des Sofas und ein paar Kissen zu spannen und baute sich eine kleine Höhle, um wenigstens so tun zu können, als wäre er vor Ilja in Sicherheit. Bis jetzt schien der Ältere nett zu sein, aber Constantin konnte dem Frieden nicht trauen.
 

Der nächste Morgen begann damit, dass in einem der benachbarten Apartments ein Streit zwischen einer Frau und einem Mann ausbrach, die vermutlich ein Ehepaar waren. Wütende Schreie halten durch die ganze Etage und rissen jeden, er nicht auf beiden Ohren taub war, aus dem Schlaf, inklusive Constantin, der es überhaupt nicht mochte, Erwachsene schreien zu hören. Aggressiv klingende Stimmen waren für ihn wie ein Warnschuss oder ein Versprechen, dass er die nächsten Stunden in unbeschreiblichen Schmerzen verbringen würde.

Der Kleine krabbelte unter sein Zelt, presste sich beide Hände auf die Ohren und hoffte, dass die beiden Streithähne sich woanders die Lungen wund schreien würden, aber es schien mit jeder Minute schlimmer zu werden. Ängstlich zitternd griff er nach einem Kissen und drückte es gegen seine Brust, während ihm stumme Tränen aus den giftgrünen Augen flossen. Er konnte es sehen – gleich würde die Tür auffliegen und die Kröte den Raum betreten. In ihrer Hand hielt sie eine schwer aussehende Metallstande, die sie bedrohlich durch die Luft schwang, ehe sie sie mit beiden Händen umfasste, weit ausholte, sie auf den Jungen niedersausen ließ und--
 

„Constantin?“

Eine blasse Hand schob die Decke zur Seite, aus welcher der Kleine sich ein Zelt gebaut hatte, und gab den Blick auf ein kleines Häufchen Elend frei, das sich wie ein Embryo zusammenkrümmte und mit tränennassen Augen auf einen unsichtbaren Punkt an der Wand hinter Ilja starrte. Der Ältere drehte sich um und hielt nach etwas Ungewöhnlichem Ausschau, aber das einzige Nennenswerte war das immer noch andauernde Geschrei seiner Nachbarn.

„Du magst es nicht, wenn Leute schreien, hm?“

Er ging in die Hocke, umfasste vorsichtig Constantins linke Hand und rieb noch vorsichtiger mit dem Daumen über den Handrücken, auf dem man jede Sehne und jede Ader deutlich sehen konnte.

„Ich kenne die beiden Spinner. Sie sind vollkommen harmlos, auch wenn sie sich ständig streiten.“
 

Von Constantin kam keine Reaktion. Sein zierliches Händchen fühlte sich kalt und knochig an.

„Ich rede mal mit ihnen, okay?“

Gerade als Ilja sich erheben und dem Jungen seine Hand entziehen wollte, griff dieser plötzlich zu und schlang seine dürren Fingerchen um den Zeige- und Mittelfinger des Hellblonden, der innehielt und nicht so recht wusste, was er nun tun sollte. Einerseits wollte er hierbleiben und gemeinsam mit Constantin darauf warten, dass die zwei Schreihälse endlich zur Ruhe kamen, aber andererseits hätte er auch gerne bei ihrer Wohnung vorbeigeschaut und ihnen die Meinung gegeigt. Klar, sie konnten nicht wissen, dass sich hier ein traumatisierter Junge aufhielt, aber es gab auch so keinen Grund, alle Bewohner am Schlafen zu hindern.

„Sie scheinen sich beruhigt zu haben“, sagte Ilja, als das Ehepaar endlich aufhörte. „Ich gehe jetzt kurz raus und komme in einer halben Stunde wieder, okay? Selbst wenn die beiden wieder anfangen – sie haben keinen Schlüssel zu dieser Wohnung und wollen auch nichts von dir. Versuch, sie zu ignorieren.“
 

Er stand auf, nahm sich seine Jacke und verließ nach einem besorgten Blick Richtung Constantin, der sich immer noch nicht vom Fleck gerührt hatte, die Wohnung. Das Schloss rastete hinter ihm ein, woraufhin Stille herrschte. Das Einzige, was noch zu hören war, war Constantins wild schlagendes Herz.

Der Kleine richtete sich schüchtern auf und krabbelte ins Badezimmer, wo er sich das Gesicht wusch und sein erdbeerblondes Haar mit den Fingern zu durchkämmen versuchte. Er würde gerne duschen oder baden gehen, aber es wäre ungünstig, wenn seine Wunden und Verbände mit Wasser in Berührung kämen. Und Constantin würde lieber sterben, als Ilja um Hilfe zu bitten.

Missmutig starrte er sein Spiegelbild an. Früher war er ein attraktiver Junge mit blasser Haut und leicht gewellten Haaren gewesen, wegen deren hübscher Farbe ihn viele Schüler beneidet hatten, aber jetzt stand an seiner Stelle nur noch diese verstümmelte und entstellte Leiche mit ihrer gräulichen, von unzähligen Narben übersäte Haut und diesem Vogelnest, das einen dreckigen Rotton angenommen hatte. Constantin sah einfach nur furchtbar aus und so fühlte er sich auch.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Arya-Gendry
2018-06-17T19:46:03+00:00 17.06.2018 21:46
Ich hoffe in der kurzen Zeit wo IIja weg ist. Nichts passieren wird oder der kleine auf dumme Gedanken kommt.
LG.
Von:  Laila82
2018-06-17T10:01:40+00:00 17.06.2018 12:01
Consti keine Angst, Äußerlichkeiten ändern sich schnell. Mit dem Essensplan, einer guten Dusche und ein bisschen Pflege wird das schon. Selbst die äußerlichen Narben werden mit der Zeit verblassen. Mir machen vielmehr deine inneren Schäden Angst.
Von:  Onlyknow3
2018-06-16T17:43:03+00:00 16.06.2018 19:43
Wäre schön wenn er Ilja zu vertrauen lernt. Denn dieser will nichts schlimmes von ihm, will ihn Beschützen und behüten.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3


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