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Sünde

von

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Melanie

Nervös trat ich von einem Bein aufs andere und blickte zum vermutlich Hundersten Mal in dieser Minute auf die Uhr. Das Kino in meinem Rücken war mit grellbunten, düsteren, lustigen und nichtssagenden Filmplakaten geschmückt und die vielen kleinen Lämpchen, welche die Außenfassade schmückten, warfen hübsche Muster auf den nassen Asphalt zu meinen Füßen.

Eine steife Brise drückte sich um die Gebäudeecke, wirbelte die ersten Schneeflocken des Jahres herum wie Kleidungsstücke in der Waschmaschine und drang durch die Maschen meines dicken Wollmantels. Fröstelnd zog ich den braunen Stoff, der so dunkel war, dass man ihn fast für schwarz halten konnte, fester um mich und schaute schon wieder auf die Uhr.

Während ich die Pärchen und Freundesgruppen beobachtete, die lachend und schwatzend ins wonnigwarme Innere des Kinos strömten, versuchte ich mir einzureden, dass ich nicht total underdressed für ein Date war. Irritierenderweise hatte Finchen sich beständig geweigert, mir bei der Auswahl eines Outfits zu helfen. „Wenn du mich zwingst, steck’ ich dich in den hässlichsten Fummel, den ich finden kann.“, hatte sie mir mit einem feindseligen Blitzen in den Augen gedroht.

Also war ich auf mich allein gestellt gewesen und hatte mich nach einigem Hin und Her für meine leicht ausgewaschene Lieblingsjeans, einen enganliegenden, dunkelgrünen Strickpulli mit weitem Rollkragen und meine gut eingelaufenen, schwarzen Turnschuhe entschieden. Darin fühlte ich mich wenigstens wie ich selbst und wohl – meistens jedenfalls. Momentan fühlte ich mich eher als wäre ich in Lumpen auf eine Party eines Milliardärsclub gestolpert.

Gerade als ich überlegte, ob ich mich nicht vielleicht doch ein bisschen hätte herausputzen sollen, kam Johannes um die Ecke. Er hatte die Hände in den tiefen Taschen seiner schwarzen Lederjacke vergraben und das Gesicht fast vollständig hinter einem dicken, roten Schal versteckt. Kaum dass ich seiner ansichtig geworden war, machten mein Herz und mein Magen einen kleinen Hüpfer – das eine vor Vorfreude, der andere aus Nervosität.

Johannes zog seinen mit Schneeflocken übersäten Schal ein Stück nach unten, bevor er mich angrinste und ein wenig unsicher in den Arm nahm. Seine Nasenspitze war fast so rot wie der Stoff, der sie vorher bedeckt hatte. „Tut mir leid, dass du warten musstest. Ein paar Straßen weiter war ein Unfall und mein Bus steckte ewig fest.“ Er lächelte mich entschuldigend an, was einen warmen Schauer durch meinen Körper rieseln ließ. Dann nickte er mit dem Kopf in Richtung Eingang. „Also, wollen wir?“

Die Wärme im Inneren fühlte sich nach der Warterei vor der Tür an wie der Himmel. Ich zog mir meine grüne Wollmütze vom Kopf und schüttelte die Haare aus, während Johannes mich lächelnd beobachtete. Sofort merkte ich, wie mir das Blut in die Wangen schoss. Etwas verlegen wandte ich den Blick ab und stellte mich an der erstbesten Schlange an.

Während wir schweigend anstanden, musterte ich Johannes aus den Augenwinkeln. Da die Kassiererin offensichtlich zur Gattung der Schnecken gehörte, hatte ich dafür ausgiebig Zeit. Der Reißverschluss seiner festen, bei jeder Bewegung leicht knarrenden Lederjacke war geöffnet und darunter kam ein schwarzer Pullover zum Vorschein, auf dem das Logo irgendeiner Band aufgedruckt war, von der ich noch nie im Leben etwas gehört hatte. Seine dunkle Jeans hing ihm so tief auf den Hüften, dass man seine grauweißkarierten Boxershorts sehen konnte, und seine Doc. Martens wirkten als wären sie seit dem Auftauchen des ersten Dinosauriers nicht mehr geputzt worden.

Ich atmete erleichtert auf, dass Johannes sich offenbar genauso wenig zurechtgemacht hatte wie ich, und entschied, dass die leicht schlampig wirkende Kleidung an ihm irgendwie sogar einen gewissen Chic hatte. Der in letzter Zeit wieder modern gewordene, etwas abgerissen aussehende Punkstyle war wie für ihn gemacht. An ihm war es tatsächlich ein äußerlicher Ausdruck seiner inneren Attitüde. In gebügelter Stoffhose und blütenreinem Hemd hätte er vermutlich einfach lächerlich gewirkt.

Ich lies meinen Blick wieder an ihm hoch wandern und blieb an seinen dicken, schweren Locken hängen. Durch die langsam schmelzenden Schneeflocken schillerten sie im Licht als hätte irgendwer sie mit Glitter bestreut.

Inzwischen waren wir endlich an der Kasse angekommen und ich schielte um Johannes herum auf die kleine, irgendwie kränklich wirkende Angestellte mit einem flächigen Gesicht voller alter Aknenarben. Ich war bei dem Tempo, das sie an den Tag legte, regelrecht überrascht, dass ich weder einen schleimigen Körper noch Fühler entdecken konnte.

„Das macht dann 10,50 €.“ Sogar ihre Stimme schleppte sich in so einem langsamen und gezogenen Tonfall dahin, dass man das Gefühl bekam, die Kassiererin müsse jeden Augenblick einschlafen. Kopfschüttelnd griff ich in meinen kleinen, sandsteinfarbenen Minirucksack. Doch bevor ich auch nur mein Portemonnaie hatte öffnen können, hatte Johannes bereits für uns beide gezahlt und strebte Richtung Treppe, die hinauf zu den Vorführungssälen führte. Offenbar war hier nicht nur die Kassiererin zu langsam...

Mit langen Schritten schloss ich wieder zu meinem Begleiter auf und hopste die Stufen nach oben. Noch war ich erstaunlich ruhig, doch allein bei dem Gedanken, bald im Dunkeln ganz nah neben Johannes zu sitzen, zog sich mein Magen zusammen und ein wohliger Schauer rieselte meinen Rücken entlang.

Am Treppenabsatz blieb ich stehen und schaute mich auf der Suche nach unserem Kinosaal fragend um. Dabei bemerkte ich, dass Johannes mich ansah, und wandte mich ihm fragend zu. Er kratzte sich ein wenig verlegen am Hinterkopf und machte ein unglückliches Gesicht.

„Was hast du?“ Meine Stimme klang von der plötzlichen Angst erfasst, er könnte sich die Sache mit unserer Verabredung anders überlegt haben und jetzt nach Hause wollen, ganz dünn. Johannes zuckte unsicher mit den Schultern. „Ich frage mich nur, wie ich dein Schweigen zu deuten habe. Bereust du’s, dass du mit mir hier bist oder bist du einfach genauso nervös wie ich?“

Ich sah ihn aus großen Augen an. „Wieso bist du denn nervös?“ Eine Familie mit drei kleinen Kindern drückte sich an uns vorbei und Johannes’ unglückliche Miene wurde noch ein bisschen intensiver, während er gedankenverloren mit dem Fuß scharrte. „Na ja, weil... weil du einfach so unglaublich hübsch bist und bestimmt total viele Verehrer hast und...“ Mit einer schnellen Handbewegung schnitt ich ihm das Wort ab. Wenn er mir noch mehr so unsinnige Komplimente gemacht hätte, wäre ich vermutlich an Ort und Stelle dahin geschmolzen. Meine Wangen brannten so schon als hielte ich mir ein Feuerzeug ganz dicht an die Haut.

Ich schüttelte bestimmt den Kopf. „Ich bereue gar nichts. Ich hab mich schon die ganze Woche auf heute Abend gefreut. Es ist nur... ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich hab Angst, irgendwas dummes zu sagen und dich dadurch zu vergraulen...“ Als sich daraufhin ein Grinsen in Johannes’ Gesicht stahl, war es als ginge die Sonne auf. Augenblicklich wurde mir ganz warm ums Herz – eine Wärme wie das Gefühl, sich an einem kalten Wintertag mit heißem Kakao und einem guten Buch in eine flauschigkuschelige Decke einzuwickeln. Dann hob er den Arm und deutete noch immer glückselig grinsend hinter mich. „Saal drei ist übrigens da hinten.“
 

Als ich meinen dicken, gefütterten Mantel auszog und auf den leeren Platz neben mir fallen ließ, bemerkte ich mit einem verschmitzen Grinsen, dass Johannes mich mit verklärtem Blick musterte. Um meine Verlegenheit zu überspielen, neckte ich ihn liebevoll: „Na, so interessant ist es bestimmt nicht, mir beim Jackeablegen zuzusehen.“ Zu meiner Überraschung schoss ihm das Blut in die Wangen und er starrte stumm auf den noch zugezogenen, roten Samtvorhang vor uns.

Zerknirscht setzte ich mich neben ihn und fummelte schuldbewusst an dem Nagellack meines rechten Daumens. Die ganze Zeit über saß Johannes mit verschränkten Armen neben mir und schien irgendein unsichtbares Muster auf dem Vorhang entdecken zu wollen. Als ein kleines Stück Lack absplitterte und wie eine schwarze Schneeflocke durch die Luft segelte, seufzte ich tief auf.

Das hatte ich ja wirklich super hin bekommen. Johannes war offenbar wütend auf mich und wünschte sich zurück nach Hause und jetzt hatte ich auch noch meinen mühsam aufgetragenen Nagellack ruiniert.

Johannes warf mir einen besorgt wirkenden Seitenblick zu und zog die Unterlippe zwischen die Zähne, während ich das Gefühl hatte, gleich losheulen zu müssen. Plötzlich griff Johannes über die Armlehne und drückte sacht meinen Unterarm. Mein Herz begann augenblicklich mit doppelter Geschwindigkeit zu schlagen. Wollte er sich nun von mir verabschieden?

Doch als ich ein wenig ängstlich den Blick hob, lächelte er mich so warm an, dass sich meine Bedenken in Luft auflösten. Warum hatte ich solche Furcht, dass er frühzeitig gehen würde? Er schien mich doch wirklich zu mögen. Vielleicht war es einfach so, dass man plötzlich irrationale Ängste bekam, wenn man verliebt war? Lächelnd verschränkte ich meine Finger mit Johannes’. Allein der Gedanke daran, dass ich mich in diesen liebevollen, sensiblen Jungen verliebt hatte, ließ wohlige Wärme durch meinen Körper rieseln.

„Tut mir leid, dass ich vorhin versucht habe, dich zu foppen.“, gab ich zerknirscht zu. Johannes strich mir zärtlich über den Handrücken, was kleine, elektrische Impulse über meine Haut zucken ließ. „Ist schon okay. Es lag gar nicht an dir, dass ich so merkwürdig war.“ Langsam füllte sich der Kinosaal, doch da es unter der Woche war, würden vermutlich einige Plätze frei bleiben.

„An was lag’s dann?“ Ich wandte den Kopf, sodass meine Haare knisternd über den samtigen Sitzbezug strichen, und betrachtete Johannes von der Seite. Seine Augen leuchteten und strahlten, als ob sie von innen beleuchtet würden, und waren von einem merkwürdigen, intensiven Grünbraun. Anders als bei anderen Menschen konnte man bei ihm nicht sagen, welche der beiden Farben überwog. Je nach Lichteinfall erschienen sie mal mehr grün, mal mehr braun. Doch egal wie – sie waren immer wunderschön, offen, ehrlich und faszinierend. Ich hätte den ganzen Abend das Farbenspiel in seinen Augen betrachten können und mir wäre nicht langweilig geworden.

Doch in diesem Moment wurde das Licht gelöscht und der Vorhang zur Seite gezogen. Nach einigem Schweigen holte Johannes tief Luft, was mich überrascht blinzeln ließ. Ich hatte gar nicht mehr damit gerechnet, dass er noch antworten würde. „Ich war einfach von mir selbst genervt. Ich befürchte ein wenig, dass ich dir mit meiner Begeisterung für dich auf den Keks gehen könnte.“

Augenblicklich schoss mir das Blut in die Wangen und ließ sie in einem kräftigen Rot leuchten. Plötzlich war ich froh über die schummerige Dunkelheit im Saal, der nur noch durch die flimmernden Bilder auf der Leinwand beleuchtet wurde. „Beruhigt es dich, wenn ich dir sage, dass du da keine Gefahr läufst?“ Im weißbunten Licht der Kinowerbung leuchteten seine Zähne unnatürlich bläulich, als er breit grinste. „Ja, ich denke schon.“ Wieder strich er mir über den Handrücken und ich lehnte mich lächelnd mit dem Kopf gegen seine Schulter.

Im ersten Moment hielt Johannes überrascht die Luft an, doch dann entspannte er sich merklich. Das Lächeln, das erneut sein Gesicht erhellte, spürte ich mehr, als dass ich es sah. Es war als erwärmte sich die Luft um uns herum ein wenig, so als hätte jemand eine flauschige Decke um uns gelegt. Dann wandte Johannes auf einmal seinen Kopf und küsste mich sanft auf den Scheitel, bevor er seine Wange gegen die Stelle lehnte.

Auf der Leinwand flimmerten die ersten Bilder des Hauptfilms und ich kuschelte mich noch näher an meinen Begleiter, der einen Arm um meine Schultern legte. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich in so einer Situation so unbefangen fühlen würde, doch mit Johannes zusammen zu sein, war genauso leicht wie atmen. Es fühlte sich an wie nach einer langen Reise wieder nach Hause zu kommen: warm, kuschelig und einfach richtig.



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