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Sünde

von

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Veronica

Die etwas zu sehr gestärkte Bettwäsche raschelte in der Stille der Nacht unnatürlich laut, als ich mich zum wiederholten Male umdrehte. Genervt schlug ich die Augen auf und blinzelte in die Dunkelheit. Obwohl ich die Vorhänge nicht zugezogen hatte, fiel kaum Licht durch das hohe Fenster. Anscheinend stand der Mond ungünstig oder war hinter einer der dicken Wolken versteckt.

Wieder wälzte ich mich auf die andere Seite und starrte an die kalt wirkende, weiß gestrichene Zimmerwand. Obwohl ich mich schon eine halbe Ewigkeit bemühte, konnte ich einfach nicht einschlafen. Meine Gedanken wirbelten wie trockenes Herbstlaub durch meinen Geist und hielten mich wach.

Warum nur hatte Greg mich küssen müssen? Und warum konnte ich diesen durch eine emotionale Ausnahmesituation bedingten Ausrutscher einfach nicht vergessen? Ich wusste doch, dass dieser Kuss nichts zu bedeuten gehabt hatte – alles andere wäre entgegen der Weltordnung gewesen. Jungs wie Greg interessierten sich nicht für Mädchen wie mich. Sie hatten unzählige Freundinnen gleichzeitig und nahmen sich stets, was sie gerade wollten und brauchten. Warum zur Hölle benahm sich Greg einfach nicht wie es für einen Jungen mit seinem Aussehen und seiner Ausstrahlung normal gewesen wäre?

Als ich am Vormittag kurz bei ihm gewesen war, um ihm ein Buch zurück zu bringen, das ich mir von ihm geliehen hatte, hatte er ehrlich zerknirscht und bedrückt gewirkt. Ich hatte es darauf geschoben, dass er noch immer an dem, was seine Schwester ihm geschrieben hatte, zu nagen hatte, doch teilweise hatte er mich mit so einem traurigen Blick angesehen, dass ich beinah das Gefühl bekommen hätte, dass er unter unserem belasteten Verhältnis litt. Denn obwohl ich beteuert hatte, dass ich Verständnis für ihn hatte und er sich meinetwegen keine Sorgen machen musste, stand der Kuss wie etwas Unaussprechliches zwischen uns. Wie eine dicke Regenwolke kreiste er über uns und drückte die Stimmung.

Seufzend setzte ich mich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Ich musste dringend mit ihm reden, jetzt sofort. Vermutlich würde ich erst dann einschlafen können, wenn wir dieses Hemmnis aus der Welt geschafft hatten. Außerdem war bald Weihnachten und Greg würde seinen achtzehnten Geburtstag feiern. Ich wollte mir nicht einmal vorstellen, dass wir uns bis dahin vielleicht noch immer nicht ausgesprochen hatten.

Die Luft im Flur war klamm und eisig, doch das nahm ich nur am Rande wahr, während ich die düsteren, nur spärlich beleuchteten Korridore entlang huschte. Gregs Zimmer befand sich im gegenüberliegenden Ostflügel, genau wie fast alle Stuben der Jungen. Bevor ich durch die große Treppenhalle eilte, schaute ich mich verstohlen nach allen Seiten um. Es war zwar nicht ausdrücklich verboten, doch auch nicht besonders gern gesehen, wenn Schüler und Schülerinnen des Internats über Nacht zusammen waren.

Als ich den Gang betrat, an dem Gregs Zimmer lag, hörte ich plötzlich, wie eine Tür geschlossen wurde. Schnell presste ich mich in eine der zahlreichen Wandnischen. Eigentlich wusste ich selbst nicht, warum ich diese Heimlichtuerei betrieb, doch eine leise Stimme in meinem Inneren flüsterte mir zu, dass ich mich verstecken sollte.

Eine riesige, dunkle Gestalt kam mit langsamen, fast zögerlichen Schritten auf mich zu. Mein Herz schlug so heftig, dass ich kaum etwas anderes als sein lautes, dumpfes Pochen hören konnte. Als die Person näher kam, presste ich mich noch fester gegen die Wand, deren Eiseskälte mir schmerzhaft in die Knochen kroch. Inzwischen war die Gestalt nur noch wenige Meter entfernt, doch wegen der schlechten Beleuchtung konnte ich ihr Gesicht nicht erkennen.

Ich fragte mich, warum ich so nervös war. Vermutlich handelte es sich bei diesem nächtlichen Spaziergänger lediglich um einen der Stubenbewohner, der mal auf Toilette musste. Doch wenige Augenblicke später erkannte ich die Gestalt und mir stockte der Atem. Nur knapp schaffte ich es, den erstaunten Aufschrei herunter zu schlucken, der sich mir die Kehle hinauf drückte. Was in drei Teufels Namen machte Manuel hier?!

Mein Bruder war einer der wenigen, die ihr Zimmer in dem zwar spärlich bewohnten, aber wunderschönen Nordflügel hatte. Frau Dr. Andersen hatte ihn vor einigen Monaten dort einquartiert, weil sie gehofft hatte, die räumliche Distanz zu seinen Freunden und die Nähe zu den Wohnräumen der Lehrkörper würde sein hitziges Gemüt ein wenig zügeln können.

Als er an mir vorbei schritt, konnte ich einen Blick auf sein Gesicht werfen. Manuel wirkte nachdenklich und in sich gekehrt – etwas, das nur höchstselten vorkam. Was ging hier vor? Plötzlich hatte ich das dringende Bedürfnis, zu überprüfen aus welchem Zimmer mein Bruder gekommen war. Wie magisch wurden meine Augen von der dunkelbraunen Tür angezogen, die Manuel vorhin hinter sich zugezogen hatte.

Ich starrte ihm noch einige Minuten hinterher, um sicher zu gehen, dass er nicht umdrehte und zurückkam. Kaum dass ich mir sicher war, dass mein Bruder weg war, huschte ich aus meinem Versteck über den Gang. Meine Neugierde hatte mich so sehr gepackt, dass mir überhaupt nicht auffiel, wo ich war, bis ich den Namen las, den jemand mit kleinen, gedrungen wirkenden Buchstaben auf das Namensschild geschrieben hatte: Gregor Klare.
 

Wie paralysiert stand ich vor Gregs Zimmertür und starrte auf das kleine weiße Schild auf dem gemaserten Holz. Was zum Teufel hatte mein Bruder mitten in der Nacht bei Greg verloren?! Ich atmete tief durch und versuchte, mich zu ordnen, doch als ich zaghaft klopfte, zitterten meine Hände heftig.

Nach der dämmrigen Dunkelheit, die im Flur herrschte, brannte mir die Helligkeit, die sich wie ein silbrig goldener Kegel in den Korridor ergoss, in den Augen, als Greg die Tür öffnete. Blinzelnd sah ich zu ihm herauf, doch er wirkte wie eine starre Statue aus schwarzem Marmor. Nur langsam gewöhnte ich mich an das grelle Licht und konnte seine wie versteinert wirkenden Züge erkennen. Irgendetwas glitzerte auf seiner Wange und glitt langsam in Richtung seines Kinns. Weinte er etwa?

Besorgt streckte ich eine Hand nach ihm aus, doch er wich mit einer knappen Körperdrehung zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Irritiert legte ich die Stirn in Falten und spürte wie eine eisige Vorahnung durch meinen Körper rieselte. Irgendetwas sagte mir, dass unser Verhältnis noch überschatteter war als noch vor ein paar Stunden.

„Alles okay bei dir?“ Meine Stimme klang tonlos und brüchig und ich krampfte nervös meine schwitzigen Hände zusammen. Greg zog leise schniefend die Nase hoch und räusperte sich. Ja, er klang definitiv als hätte er geweint. „Hm-mh. Aber was ist mit dir? Was willst du hier? Ich meine, du kommst doch nicht mitten in der Nacht vorbei nur um zu fragen, wie es mir geht.“

„Ich... äh...“ Aus unerfindlichen Gründen konnte ich ihm plötzlich nicht mehr sagen, dass ich mit ihm über den Kuss reden wollte. Irgendetwas an ihm ließ ihn noch distanzierter und verschlossener wirken als am Vormittag. Vielleicht war es der harte Zug um seinen Mund oder der trübe Schleier in seinen Augen, das konnte ich nicht sagen. Doch was immer es auch war, es ließ mich instinktiv vor ihm zurück weichen.

Es war als würde jemand mit einem heißen, scharfen Dreizack in meinem Herzen herum stochern, während ich das Gefühl hatte Greg würde sich immer und immer weiter von mir entfernen so als stünde einer von uns auf einem rückwärtslaufenden Förderband. Ich schluckte, um ein wenig Zeit zu schinden und murmelte dann: „Ich bin einfach ein bisschen rum gelaufen, weil ich nicht schlafen konnte. Dabei bin ich zufällig hier vorbei gekommen und hab mir gedacht, ich guck mal, ob du noch wach bist.“

Greg betrachtete mich mit einem seltsamen Gesichtausdruck, der zwischen tiefer Trauer, unterdrückter Wut und unendlicher Müdigkeit zu schwanken schien. „Probier’s mal mit warmer Milch.“ Verständnislos blinzelte ich ihn an. „Das entspannt und macht schläfrig. Und wo wir gerade bei dem Thema sind: Ich würde jetzt gerne ins Bett. Also: Gute Nacht.“

Er hatte sich bereits halb abgewendet und nach der Tür gegriffen, um sie zu schließen, als er noch einmal inne hielt. Mit einem kurzen Blick über die Schulter brummte er: „Oder ist noch was?“ Ich schüttelte stumm den Kopf, wobei mir einige Strähnen in die Stirn fielen. Ich war mir einfach nicht sicher, ob meine Stimme mir in diesem Moment gehorcht hätte. „Na dann: Gute Nacht. Schlaf schön.“

Mit diesen Worten drückte Greg die Tür ins Schloss und ein tief empfundener, heißer Schmerz brach über mir zusammen wie eine Flutwelle. Was war nur passiert? Und warum schien im Moment alles schief zu laufen und mir aus der Hand zu gleiten?

Am liebsten hätte ich mich gleich hier auf den Boden sinken lassen und hemmungslos geweint, doch das hätte ja auch nichts gebracht. Stattdessen schlurfte ich mit kraftlos wirkenden Schritten wieder den Korridor hinauf. In der Treppenhalle, in der die Hauptgänge der drei Wohnflügel zusammenliefen, blieb ich jedoch stehen. War mein Bruder schuld daran, dass Greg geweint und sich so merkwürdig verhalten hatte?

Ohne zu zögern bog ich in den mittleren Flur ab und strebte auf Manuels Zimmer zu. Es war mir egal, ob er bereits schlief oder seine Ruhe haben wollte. Ich würde nicht eher gehen, bis ich jedes kleine Detail davon kannte, was in Gregs Zimmer vorgefallen war.
 

„Was willst du denn hier?“ Manuel blinzelte mich aus kleinen Augen an und fuhr sich mit der Hand durch sein kurz geschnittenes Haar. Sein Gesicht wirkte fast so zerknittert wie sein alter, löchriger Schlafanzug. Anscheinend hatte er bereits geschlafen und fragte sich jetzt, ob er nicht einfach wieder ins Bett gehen sollte.

Konnte meine Neugierde nicht auch noch bis zum nächsten Morgen warten? Sofort breitete sich ein feiner Hauch schlechten Gewissens in mir aus, doch ich schob die Gewissensbisse bestimmt zur Seite. Nein, ich musste jetzt wissen, was zwischen Manuel und Greg vorgefallen war und ob mein vermaledeiter Bruder schuld an dem merkwürdigen Verhalten meines Freundes war.

„Warum warst du vorhin noch bei Greg?“ Ich hörte selbst wie trotzig und vorwurfsvoll meine Stimme klang. Bis dahin war mir gar nicht klar geworden, dass ich meinen Bruder eigentlich bereits für schuldig befunden hatte. Manuel starrte mich aus kreisrunden Augen überrascht an, doch nach weniger als einer Minute hatte er sich wieder gefangen. „Versteckt er dich jetzt schon unterm Bett?“ Wütend ballte ich die Hände zu Fäusten, sodass sich meine Nägel schmerzhaft in die Haut bohrten. „Hast du mal wieder versucht, ihm Angst zu machen, damit er mich in Ruhe lässt? Teufel auch, du bist so... so... Argh! Just get over it! Ich will mit ihm befreundet sein. Okay? Akzeptier das endlich.“

Manuel warf einen schnellen Blick nach links und rechts, bevor er mich leise anknurrte: „Wenn du weiter so rum brüllst, sind hier bald alle wach.“ „Was interessiert mich der Schlaf von deinen verfluchten Nachbarn?!“ „Du hast ja keine Ahnung wie Frau Hesselmann sein kann, wenn sie müde ist...“ Ein roter Wutschleier legte sich vor meine Augen. Versuchte er gerade wirklich, mich durch Gelaber über unsere Lehrer abzulenken?

Doch bevor ich ihm aufgebracht mit den Fäusten gegen die Brust trommeln konnte, gab er die Tür frei und winkte mich ins Zimmer. „Na gut, komm rein, dann können wir reden.“ Mit verschränkten Armen stakste ich an ihm vorbei, bis ich mich vor der Fensterbank wieder zu ihm umdrehte. Ich war mir der Tatsache bewusst, dass ich Kampfbereitschaft und Angriffslust ausstrahlte, doch es war mir egal. Meinetwegen konnte Manuel sich ruhig ein wenig eingeschüchtert fühlen. Dieses Mal würde ich nicht eher gehen, bis es in seinem Dickkopf angekommen war, dass er Greg in Ruhe zu lassen hatte.

Langsam trat mein Bruder hinter mir ins Zimmer und zog die Tür leise hinter sich zu. Der Ausdruck in seinen dunklen Augen war eine Mischung aus trotzigem Konfrontationswillen und Schuldbewusstsein. Irritiert runzelte ich die Stirn und lehnte mich gegen die Fensterbank. Ich hatte damit gerechnet, dass er mir mit Trotz begegnen würde, doch das scheinbar schlechte Gewissen verwirrte mich.

Mit einem tiefen Seufzer setzte er sich auf sein Bett und sah zu mir herüber. Bevor ich etwas sagen oder ihn mit weiteren Vorwürfen bombardieren konnte, brummte er: „Du willst also wissen, warum ich bei Gregor war?“ Ich nickte stumm. Hätte ich den Mund aufgemacht, hätte ich Manuel mit meinem fauchenden Tonfall vermutlich nur noch mehr in die Defensive gedrängt.

„Ich hab mit ihm über dich gesprochen.“ Als er meinen funkelnden Blick sah, fügte er schnell hinzu: „Aber nicht so, wie du denkst.“ „Ach?“ Es war überraschend, wie grollend ein einzelnes Wort klingen konnte. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich meinem Bruder sofort an die Gurgel gehen würde, wenn sich herausstellen sollte, dass er meine Freundschaft zu Greg ruiniert hatte.

„Wirklich.“, beteuerte er und sah dann zerknirscht zu Boden. „Wenn du ihn nicht bedroht hast, warum wirkst du dann als hättest du die Büchse der Pandora geöffnet?“ Wenn er glaubte, dass ich ihm sein schlechtes Gewissen nicht ansah, hatte er sich übel geschnitten. Aber das hätte er doch eigentlich wissen müssen...

„Vielleicht hab ich ja genau das getan.“ Das schiefe Grinsen auf seinem Gesicht hatte irgendetwas Trauriges, das mir das Herz abschnürte. „Wie meinst du das?“ Als er antwortete, war seine Stimme kaum mehr als ein tonloses Flüstern, das ich vermutlich nicht verstanden hätte, wäre diese Winternacht nicht so ruhig und still gewesen wäre. Selbst das rhythmische Knacken der Heizungsleitungen schien heute ein ganzes Stück leiser zu sein als sonst. „Ich hab dein Tagebuch gelesen.“

Wenn er sich plötzlich in ein rosa Tutu geworfen und den sterbenden Schwan aus „Schwanensee“ getanzt hätte, hätte es mich nicht weniger überrascht als dieses Geständnis. Ich fühlte mich als hätte mir jemand den Teppich unter den Füßen weg gezogen, sodass ich nun bodenlos ins Nichts stürzte. „Das ist heftig.“ Ich holte tief Luft, um das Schwindelgefühl zu vertreiben – jedoch ohne Erfolg. „Aber was hat das mit deinem Gespräch mit Greg zu tun?“ Mein Verstand arbeitete wie in Zeitlupe, doch in meinem Magen ballte sich eine unbestimmte Ahnung zusammen.

„Hör zu, bevor du gleich los kreischst, sollst du wissen, dass ich das für dich getan hab. Ich wollte doch nur, dass du glücklich bist.“ Seine Stimme hatte einen dermaßen flehenden Unterton, dass mein Herz plötzlich mit doppelter Intensität zu schlagen begann. „Was hast du getan?!“ Obwohl ich nur ein Flüstern zustande brachte, hörte man meine krampfhaft zurück gehaltenen Tränen, die wie ein dicker Klos in meiner Kehle steckten.

„Du warst so schrecklich traurig und bedrückt, einfach nicht du selbst. Ich wollte wissen, was passiert war, aber jedes Mal, wenn ich dich darauf angesprochen habe, hast du ja abgeblockt. Deswegen hab ich mich heute Nachmittag in dein Zimmer geschlichen und in deinem Tagebuch gelesen, während du Küchendienst hattest. Und dabei...“ „Hast du natürlich auch von dem Kuss erfahren.“, vervollständigte ich seinen Satz, als Manuel ins Stocken geriet.

Meine Welt war plötzlich ein wirbelnder Feuersturm dunkler Farben und endlosen, düstren Tiefen, die mich zu verschlingen drohten. Hatte Manuel Greg von meinen Gefühlen für ihn erzählt? War Greg deswegen so abweisend gewesen, weil er nichts von mir wollte und lieber gleich einen kompletten Schlussstrich zog, bevor ich mich vollends in ihn verliebte? Oder hatte das Wissen um diese Intimität meinen Bruder so rasend vor Wut gemacht, dass er Greg so heftig bedroht hatte, dass dieser nun aus Angst die Freundschaft aufgab?

Mit stummem Entsetzen starrte ich Manuel an, der noch immer schuldbewusst auf den Boden schaute. Nach schier endlosen Minuten richtete er seine leicht geröteten Augen auf mich. Wäre ich nicht so durch den Wind gewesen, hätte ich überrascht festgestellt, dass ich meinen Bruder zum ersten Mal in meinem Leben weinen sah.

„Ich wollte ihm einfach nur sagen, dass er diese Sache mit dir klären soll. Du hast so gelitten... Ich konnte nicht zusehen, wie er womöglich nur mit dir spielt.“ Seine Unterlippe zitterte bedrohlich als er tief Luft holte. „Hab ich’s kaputt gemacht?“ Müde zuckte ich mit den Schultern. Ich fühlte mich so kraftlos, dass ich plötzlich nicht einmal mehr sauer war. Alles, was ich empfand, war eine tiefe, lähmende Leere, die sogar auf meine Stimme übergriff, als ich flüsterte: „Ich weiß es nicht.“

Bevor Manuel noch etwas sagen konnte, um sich zu rechtfertigen, stürmte ich aus dem Zimmer und eilte auf meine eigene Stube zu. Wie blind hastete ich durch die Gänge und nur jahrelange Routine hinderte mich daran, an meiner Zimmertür vorbei zu laufen. Als ich aufschloss, zitterten meine Hände so sehr, dass der Schlüssel sich mehrfach verhakte.

Doch selbst als ich wieder auf meinem Bett lag und die Wand anstarrte, konnte ich einfach nicht weinen. Es war genau wie nach der Beerdigung meiner Eltern. Obwohl mir die Tränen hinter den Lidern und in der Kehle brannten, wollten sie einfach nicht hervorbrechen – so als wäre mein Körper zu schwach seine sorgsam verschlossenen Schleusen zu öffnen.

Also betrachtete ich mit schmerzenden, gereizten Augen die raue Wandstruktur und das Farbenspiel der aufgehenden Sonne, das die Schatten wie tanzende Seidenschals wirken ließ. Noch vor ein paar Stunden hatte ich trotz Müdigkeit nicht schlafen können, weil mir zu viele Gedanken durch den Kopf gegangen waren. Jetzt war mein Geist vollkommen leer und taub, doch der Schlaf wollte sich frustrierender Weise trotzdem nicht einstellen.

Als ich dann doch endlich ins Land der Träume abdriftete, wälzte ich mich unruhig hin und her, während schaurige, schrecklich real wirkende Bilder durch meinen Geist wirbelten. Immer wieder sah ich Greg, der mich mit kaltem Blick ansah und sich dann angewidert von mir abwandte. Mit einem leisen Schrei und ausgestreckten Armen fuhr ich aus dem Schlaf hoch und sah mich im ersten Moment verwirrt im Zimmer um.

Wann immer ich daran dachte, Greg an diesem Tag zu begegnen, zog sich mein Magen krampfhaft zusammen. Ich hatte panische Angst, er könnte mich wirklich verstoßen. Das hätte mir mein eh schon nur notdürftig geflicktes Herz zerrissen. Vielleicht war es besser, selbst einen Schlussstrich zu ziehen, als darauf zu warten, dass Greg ging?



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