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Sünde

von

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Melanie

Ich war so nervös, dass ich das Gefühl hatte, mein Magen würde Achterbahn fahren. Immer wieder krampfte er sich schmerzhaft zusammen, was beißende Übelkeit verursachte und mir Gänsehaut über den ganzen Körper jagte. Hilfesuchend blickte ich zu Greg hinüber, der sich ein wenig gelangweilt in seinen unbequemen Metallstuhl lümmelte und seine Nackenmuskeln dehnte, indem er den Kopf immer wieder von einer Seite zur anderen neigte.

Ich war so dankbar, dass er mitgekommen war, dass mir vor Glück beinah das Herz zersprang. Nachdem er in den letzten Wochen so merkwürdig distanziert gewesen war, hatte ich fast nicht mehr daran geglaubt, dass er unsere Eltern und mich begleiten würde. Deswegen war ich ein wenig überrascht gewesen, als ich ihn vor ungefähr einer Dreiviertelstunde in Hemd, Stoffhose und Jackett gekleidet im Flur vorgefunden hatte, wo er zusammen mit Papa darauf gewartet hatte, dass Mama und ich endlich fertig wurden.

Greg bemerkte, dass ich ihn beobachtete und wandte mir sein Gesicht zu. Das helle Licht der Neonröhren an der Decke malte silbrige Reflexe in sein volles, strubbeliges Haar. Als könnte er meine Unruhe in meinen Augen lesen, lächelte er mir aufmunternd zu. Trotz seines seltsamen Verhaltens in der letzten Zeit, war ich mir ziemlich sicher, dass er meine Hand genommen hätte, wenn nicht unsere Mutter zwischen uns gesessen hätte.

Papa saß wie so oft am Gang, damit er so unauffällig wie möglich verschwinden konnte, falls das Krankenhaus ihn anpiepen würde. Da mein Vater einer der Chefärzte im hiesigen Krankenhaus war, kam dies leider ziemlich häufig vor. Manchmal hasste ich seine Patienten deswegen und schämte mich im selben Augenblick dafür.

Ich warf wieder einen Blick auf Greg, der mich mit demonstrativ gedrückten Daumen angrinste. Sofort fühlte ich mich ein bisschen weniger nervös und ich lächelte in mich hinein. Mein Bruder war immer schon derjenige gewesen, der mich am schnellsten beruhigen konnte. Unsere Eltern waren toll, aber mit Greg verband mich ein noch viel stärkeres Band. Manchmal fragte ich mich, ob das allen Geschwistern so ging oder eine Besonderheit zwischen uns war.

In diesem Moment trat der Direktor meiner Schule ans Rednerpult und augenblicklich brach das gedämpfte, aber trotzdem recht laute Murmeln der vielen Stimmen um uns herum ab, das bisher in der Aula geherrscht hatte. Sofort machte mein Magen wieder ein paar nervöse Hüpfer. Heute war die Premiere unseres Schulprojekts, das während des letzten Schuljahrs entstanden war. Die gesamte Sekundarstufe I hatte zusammengearbeitet, um es auf die Beine zu stellen.

Schon allein die Auswahl des Projekts war schweißtreibende, harte Arbeit gewesen. Doch irgendwann hatten wir uns darauf einigen können, dass wir einen Film drehen wollten. Herausgekommen war eine Verfilmung von Andreas Schlüters Buch „Level 4 – Die Stadt der Kinder“, in der ich die Jennifer gespielt hatte. Eine Hauptrolle.

Ich atmete zitternd aus und sofort legte sich eine Hand auf meinen Unterarm. An dem kühlen Metall eines Ringes merkte ich sofort, dass es meine Mutter war, die mir beistehen wollte. Doch irgendwie hatte ich nicht das Gefühl, dass ihre liebevolle Geste den erwünschten Effekt hatte. Hilfesuchend wanderte mein Blick erneut zu meinem Bruder.

Zu meiner Erleichterung stellte ich fest, dass seine wachen, hellen Augen noch immer auf mir ruhten. Mit einem kurzen Zwinkern gab er mir zu verstehen, dass er bei mir war und sofort bemerkte ich, wie sich mein Körper ein wenig entspannte und meine Mundwinkel nach oben wanderten. Seit ein paar Stunden schien Greg wieder vollkommen der Alte zu sein, was mir einen riesigen Stein vom Herzen fallen ließ. Ich mochte mir kaum eingestehen, wie weh seine Distanziertheit getan hatte.

Mein Schuldirektor ordnete laut raschelnd seine Notizzettel und beendete endlich seine schier endlose Rede. Kurzer Applaus brandete durch die Aula mit den bunt bemalten Wänden, doch sobald die Lampen erloschen, kehrte wieder Stille ein. In dem flackernden Licht des Projektors konnte ich erkennen, dass Greg mir ein letztes Mal aufmunternd zunickte, bevor er sich der Leinwand zuwandte, auf der bereits der Vorspann zu unserem Film zu sehen war.
 

„Du warst einfach großartig!“ Mama drückte mich so herzlich an ihre Brust, dass ich Schwierigkeiten hatte, Luft zu bekommen. Papa, der wie durch ein Wunder noch immer hier war, stand breit grinsend neben uns. Man konnte ihm deutlich ansehen, dass er stolz wie Oskar war. Nur mein Bruder stand ein wenig abseits und lächelte fast ein bisschen schüchtern. Ich war ihm ehrlich dankbar, dass er mir nicht auch noch auf die Pelle rückte. Ich hatte genug mit der Begeisterung unserer Eltern zu tun.

„Mama, du erwürgst mich...“ Als hätte sie meinen Einwand nicht gehört, drückte sie mich noch einmal fester an sich und rückte dann endlich von mir ab. Papa strich mir zärtlich übers Haar und blickte mich aus leuchtenden Augen an. „Deine Mutter hat Recht. Das war wirklich eine Spitzenleistung. Gerade zu Oskar-verdächtig.“ Ich rollte mit den Augen und seufzte über diese maßlose Übertreibung.

Ich hatte es fürchterlich gefunden, mich selbst über die Leinwand flimmern zu sehen. Meine Stimme hatte jedes Mal geklungen, als würde ich ein auswendig gelerntes Gedicht aufsagen, und meine Gesten und Mimiken waren grauenvoll überzogen gewesen. Für mich hatte die letzte Stunde beinah an Folter gegrenzt.

Doch Mama und Papa waren so von elterlichem Stolz verblendet, dass sie gar nicht anders konnten, als bei sämtlichen Umstehenden breit zu walzen, für wie unglaublich talentiert sie mich hielten. Am liebsten wäre ich auf der Stelle gegangen. Genervt drehte ich mich um und begegnete Gregs amüsiertem Blick.

„Na, Hauptsache, du hast deinen Spaß.“, giftete ich ihn an, obwohl ich überhaupt nicht wütend auf ihn war. Er parierte meinen Gefühlsausbruch mit einem gleichgültigen Schulterzucken und grinste noch breiter. „Vielleicht solltest du schon mal dein Regal aufräumen, damit du Platz für den Plastik-Oskar hast, den Mutter und Paps dir garantiert schenken.“ „Oh, du...“

Ich schlug ihm spielerisch gegen den Oberarm, konnte aber nicht umhin, zu lachen. Irgendwo war die Begeisterung unserer Eltern ja niedlich, wenn auch leider nicht befriedigend. Sie hätten es mir niemals gesagt, wenn sie meine Schauspielleistung grauenhaft gefunden hätten. Greg hingegen konnte geradezu verletzend aufrichtig sein, wenn man ihn nach seiner Meinung fragte.

Langsam trat ich ein wenig näher an ihn heran und blickte ein bisschen unsicher und verlegen zu ihm auf. „Sei ehrlich: Wie fandest du’s?“ Gregs Kehlkopf hüpfte lustig auf und ab, als er hart schluckte und zu Boden sah. Bildete ich mir das nur ein oder schwitzte er tatsächlich selbst in der klimatisierten Aula? Generell sah er ein wenig krank aus, so blass... Besorgt warf ich die Stirn in Falten, doch da atmete er schon tief durch und sah mir wieder direkt in die Augen.

„Ich fand es okay. Du bist jetzt keine zweite Elizabeth Taylor, aber auch nicht schlecht. Mit ein wenig Übung und Training könnte vielleicht sogar etwas aus dir werden.“ Während er sprach, lehnte er sich kaum merklich nach hinten und machte einen zögerlichen Schritt zurück. Fing das schon wieder an?

„Greg, was hast du?“ Vorsichtig streckte ich meinen Arm nach ihm aus, doch er zuckte vor meiner Hand zurück, als hätte ich ihn ohrfeigen wollen. Ein panisches Glänzen hatte sich in seine Augen mit dem rotbraunen Retinaring geschlichen und er blickte sich nervös nach unseren Eltern um, die in ein Gespräch mit anderen Erwachsenen vertieft waren.

Ein dicker Schweißtropfen rollte langsam über seine linke Schläfe, als er sich ruckartig umwandte. Er nuschelte noch ein schnelles „Muss mal kurz an die frische Luft.“, verschwand in der Menschenmenge und ließ mich besorgt und ratlos zurück. Was war nur in ihn gefahren?



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