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Nimbus Magnus

von

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Eclipsis Lunae

Die nächsten zweieinhalb Tage verliefen so gut wie schon lange keiner mehr. Joshua schlief genug, fühlte sich erholt und voller Energie. Das war ein beinahe makaberer Kontrast zu der seelischen Ohnmacht, die er die letzten Wochen, Monate, ja vielleicht schon seit Jahren verspürt hatte, und deren Ende er so verzweifelt herbeisehnte.

Er hatte weder Lenora noch Onkel Thomas wirklich lange gesehen, und dass sie es geschafft hatten, für knapp eine Stunde gemeinsam ihre Pläne durchzugehen, war bereits mehr gewesen, als er sich in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Der Hass zwischen den beiden war zweifelsohne spürbar gewesen, aber das gemeinsame Ziel – aus welchem Antrieb auch immer es bestand – hatte gereicht, dass sie für den Moment zusammengearbeitet hatten.

Der Plan war gleichsam simpel in der Theorie wie kompliziert in der Ausführung. Es gab drei größere Stützpunkte, die sie durchqueren mussten, und für jeden hatten sie sich ein anderes Ablenkungsmanöver ausgedacht. Die Gefahr, dass mindestens einer von ihnen gefangen würde, war riesig, aber nicht genug, um sie aufzuhalten. Er wollte nicht daran denken, was passieren würde, wenn es nur einer von ihnen schaffte, oder zwei. Er wollte erst recht nicht daran denken, was passieren würde, schaffte es keiner.

Alles war soweit ins kleinste Detail geplant, wie eben möglich. Sie würden nach Anbruch der Nacht losziehen, und zu ihrem Glück war ihnen das Wetter bisher zuträglich gesinnt, denn es war neblig und regnete laut und stark.

Jeder von ihnen war mit genügend Lebensmitteln ausgestattet, dass es jegliche Hungerreaktionen ihrer Körper unterbinden sollte. Das war absolut essentiell, denn jeder von ihnen, jeder Mensch dieser Stadt war mit einem Chip ausgestattet, der ab einer gewissen körperlichen Unterversorgung halluzinogene und aufputschende Signale direkt im Gehirn zentrierte und verheerende Folgen hatte. Mord erschien Joshua dabei beinahe noch am harmlosesten, denn er war wenigstens endgültig.

Die Vorstellung, etwas in seinem eigenen Körper, etwas für ihn völlig unkontrolliertes, würde ihn dazu zwingen, den Menschen, die ihm noch etwas bedeuteten, Schaden zuzufügen, war furchtbar, gerade weil bei Kannibalismus noch lange nicht das Ende erreicht war. Fremde mochten sich für ihn in leblose Körper verwandelt haben, ein Albtraum, aber ein Bekannter. Seine Begleiter jedoch…
 

Es war für Joshua befremdlich, sich allein auf den Weg zu ihrem Treffpunkt zu machen, aber Lenoras Einwand, es sei viel zu auffällig, schon vor Einsetzen ihres Plans zu dritt und mit Rucksäcken derart nah an die Stadtgrenzen zu ziehen, hatte durchaus seine Daseinsberechtigung. Sie war tagsüber, ein letztes Mal, wie sie es nannte, in Richtung der Innenstadt losgezogen und würde einen kleinen Umweg machen, auch um sich aus einem anderen Winkel einen Überblick über die Lage zu verschaffen.

Onkel Thomas würde, so hoffte Joshua, bereits auf sie warten, sodass sie gleich eine ungefähre Vorstellung davon hatten, wie viele Wachen auf sie warteten und wie lange ihr Plan aufgehen würde.

Ein Anflug von Euphorie beflügelte Joshua, als er auf die Straße trat, den Rucksack fest um den Körper geschnürt, die Haare reflexartig nach hinten gestrichen, wobei der Regen sie auf seinem Kopf fixierte, und beide Hände fest um die Rucksackträger geschlossen. Eine eigenartige Glückseligkeit wollte ihn vereinnahmen, obwohl er wusste, dass es dafür viel zu früh war.

Egal, was passierte, er wusste eines: Niemand würde ihm dieses Gefühl, für seine Freiheit, sein Glück und ein Entrinnen aus diesem Leben nehmen können. Das Wissen, alles gegeben zu haben, was in seiner Macht stand, egal ob es von Erfolg gekrönt war oder nicht.

Die Straßen waren völlig leblos, mehr so mit jedem Schritt, den er tat, was sicherlich nicht verwunderlich war, bedachte man, dass kaum jemand so weit fernab der Stadtmitte wohnte, und selbst die, die es taten, würden sich sicherlich nicht grundlos nachts auf den Straßen aufhalten.

Der einzige große Nachteil des Regens war die Tatsache, dass Joshua seine Karte nicht nutzen konnte. Aktuell war das irrelevant – er hatte sich den Weg derart oft angesehen, dass er vor seinem geistigen Auge erschien wie bei einer dieser einst futuristischen Hologrammbrillen, die heutzutage in Vergessenheit geraten waren. Spätestens jedoch, wenn der Plan nicht mehr vollständig aufging, würde es durchaus ein Problem für sie alle darstellen, wenn der Regen es ihnen erschwerte, ihre Ressourcen optimal zu nutzen. Sicherlich, das war ein Risiko, das man akzeptieren musste, aber er konnte nicht einschätzen, ob die Vor- oder Nachteile des Wetters überwogen, und es verunsicherte ihn mehr, als ihm lieb gewesen wäre.

Zu seiner ernsthaften Verwunderung war es nicht Onkel Thomas, der ihn am Treffpunkt erwartete, sondern Lenora. Sie hockte hinter den Trümmern eines alten Denkmals, und blickte gedankenverloren auf ihre Hände, hob jedoch den Blick, als sie die sich nähernden Schritte hörte.

Ihr Gesichtsausdruck war all das, was Joshua den gesamten Tag nicht hatte denken wollen. Angst, Verzweiflung, Unsicherheit. Aber es spielte noch etwas anderes mit, was er nicht deuten konnte, und plötzlich, da er sie so dort sitzen sah, leicht zusammengekauert, vielleicht ob der Kälte, vielleicht anderweitig begründet, wusste er weder, was er tun noch denken und geschweige denn sagen sollte.

„Nora?“, fragte er vorsichtig, dachte gar nicht daran, dass es sie für gewöhnlich nervte, wenn er sie so nannte, was jedoch keine Rolle spielte, da es ihr kaum aufzufallen schien. Sie zuckte zusammen, schüttelte wie mechanisch den Kopf und zog die Beine noch näher an den Körper heran. Ihm blieb nichts anderes übrig, als neben ihr auf die Knie zu gehen, um ihr möglichst beruhigend eine Hand auf die Schulter zu legen.

„Was ist passiert?“

Sie schüttelte immer noch den Kopf, vielleicht weinte sie sogar, der Regen machte es unmöglich, das einzuschätzen. Sie sah zur Seite, von Joshua weg, und er folgte ihrem Blick, doch nichts dessen, was er dort sah, was sich wie geschmolzenes Plastik schmerzhaft und unerträglich in sein Herz, seine Seele, sein Gedächtnis brannte, wollte ihm auf irgendeine Weise verständlich erscheinen.

Er dachte an die vielen Stunden, Wochen, Jahre, die sie zusammen verbracht hatten. Wie sie sich gegenseitig am leben gehalten hatten, sowohl körperlich als auch mental. Ihre Träume und Wünsche, individuell und gemeinsam. Wie weit sie gekommen haben, ohne jemals völlig aufzugeben. Wie nah sie wahrhaftig davorstanden, diesem Terror ein Ende zu setzen.

Er dachte an absolut alles, was ihm half, die in ihm aufsteigende Übelkeit, die Wut, den Hass, die Angst und den Unglauben zu zügeln, die ihn allesamt vereinnahmen und durchdrehen lassen wollten.

Dort drüben, zehn, vielleicht zwanzig Meter von ihnen entfernt, sah er den leblosen, inzwischen vielleicht bereits erkalteten, starren, blutüberströmten Körper des einzigen Menschen, der ihm von seiner Familie bisher verblieben war.

„Onkel Thomas...“, hörte er sich selbst rau und kratzig murmeln, wollte es nicht denken, nicht glauben, aber konnte auch nicht leugnen, was seine Augen so untrüglich sahen. Er konnte sich nicht bewegen, spürte nur das Zittern seiner eigenen Hand in Lenoras Schulter, wie sich die Nägel seiner anderen in die Handfläche bohrten, wie seine Augen zu brennen begannen, weil er es nicht wagte, zu blinzeln.

„Wie?“, war das einzige Wort, was er hervorpressen konnte, die einzige Frage, die er sich zu stellen vermochte, alles, was aktuell eine Bedeutung hatte.

Seine gesamte Existenz schien vor ihm zusammenzufallen wie ein viel zu hohes Kartenhaus. Egal, wie nah ihm sein eigener Tod oder der seiner Gefährten erschienen war, so gab es nichts, womit er das Gefühl beschreiben könnte, das ihn einhüllte und zu ersticken drohte.

„Joshua, ich...es tut mir leid. Ich weiß nicht einmal...wie ich es dir erklären soll.“

Und genau in diesem Moment, als er ihre Worte hörte, kleinlaut und zurückhaltend, damit das genaue Gegenteil dessen, wie er sie sonst kannte, war es ihm möglich, in ein Wort zu fassen, was er zuvor in ihrem Gesicht gelesen hatte, ihm aber unerklärlich gewesen war.

Reue.

Alles an ihr, die Art wie sie dort hockte, ihn ansah, sprach und sich ausdrückte, war überfüllt mit Reue über etwas, das sie getan oder auch nicht getan hatte, und instinktiv hätte Joshua sie am liebsten geschlagen.

Er tat es nicht.

„Wir müssen hier weg“, hörte er sich selbst sagen, die Stimme so sehr wie sein Herz, und völlig auf seine Vernunft fokussiert, die ihm sagte, dass sie beide nicht viel länger leben würden, wenn sie hierblieben.

Sie gab keinerlei Widerworte.
 

Es war grotesk, nahezu morbid, wie sich das Knarzen des Türschlosses, von dem Joshua geglaubt hatte, es nie mehr hören zu müssen, in seine Seele bohrte, als sie nach Hause zurückkehrten. Nichts kam ihm Falscher vor, als hier zu sein, und gleichsam weigerte er sich, vielleicht für sich selbst, vielleicht für Onkel Thomas, jetzt einfach aufzugeben und sich selbst den Todesstoß zu verpassen.

Er starrte aus dem Fenster, auf die verregnete Straße, den hellen Leuchtkegel der einzigen Straßenlaterne, die noch nicht flackerte. Sollte er nachhaken? Für immer stillschweigen? Keine Lösung schien ihm richtig, und Lenora schien das auch zu spüren, denn sie atmete mehrfach tief ein, setzte mehrfach zum Sprechen an, und sagte dann:

„Ich wusste mir nicht anders zu helfen!“

Es war offensichtlich, dass das nicht die Wortwahl war, die sie hatte wählen wollen, denn sie ging schon in Deckung, bevor Joshua überhaupt nach dem Teller gegriffen hatte, den er instinktiv in ihre Richtung warf.

„Du wusstest dir nicht anders zu helfen?! Anders als was? Onkel Thomas umzubringen? Was hat er dir getan?! Versucht dir zu erklären, dass wir das Richtige tun wollten?!“

„Er wollte mich umbringen, Joshua!“

„Ich...was? Bitte was?!“

Er schüttelte den Kopf, verzog das Gesicht und spürte, wie Hass in ihm kochte. Sicherlich hatte Onkel Thomas Lenora nicht mehr gemocht als sie ihn. Es war schon immer reine Abscheu gewesen, die sie füreinander empfunden hatten, aber nie, niemals hatten sie einander körperlich angegriffen. Weil Joshua ihnen beiden etwas bedeutete, und sie ihm. Und beide hatten das respektiert.

„Und bestimmt hast du eine lupenreine Erklärung dafür, warum er das getan haben sollte!“

„Habe ich! Es ist, weil...“

Sie war an ihn herangetreten, nah genug, dass er nach ihr Greifen könnte, aber mit genügend Abstand, vorher auszuweichen.

„Ich war naiv, Joshua. Gutgläubig, vielleicht. Und panisch. Und dein Onkel war cleverer, als ihm oder mir gut getan hätte.“

„Sprich nicht in Rätseln mit mir, verdammt.“

Sie schnaubte, obwohl es eher wie ein Schluchzen klang, und griff in ihre Hosentasche.

„Ich wollte es dir heute sagen. Als letzte Instanz, bevor du dich entscheidest, ob du das wirklich tun willst, und wirklich losgehst. Aber er kam mir zuvor.“

Sie reichte ihm ein scheinbar uraltes Blatt Papier. Es war so dünn, dass es beinahe riss, als er es auseinander faltete. Es erinnerte ihn an eine Urkunde, schien aber eine Art Identitätsausweis zu sein.

Er sah zuerst das Bild – ein junges Mädchen, mit starrem Blick, vielleicht ein junger Teenager. Und es dauerte keine halbe Sekunde, bis er in diesem Mädchen Lenora erkannte.

„Was soll mir das sagen?“, fragte er kalt und reichte es ihr wieder, doch sie schüttelte den Kopf.

„Sieh genauer hin.“

Ihm war nicht nach solchen Spielen zumute, aber was genau wäre die Alternative? Sie rausschmeißen und allein mit sich selbst sein? Der angestaute Hass, die Verzweiflung, all das, was er vergessen wollte?

Er sah genauer hin. Auf das Bild, was ihm nichts erklärte, auf den Namen, der…

Es dauerte, bis sein Kopf die Information verarbeitete. Die Person auf dem Foto war zweifelsohne die Gleiche, die ihm gegenüberstand. Das stand völlig außer Frage für ihn, warum sonst sollte sie dieses Dokument überhaupt besitzen?

Was sein Verstand nicht begreifen wollte, war der Name, auf dem sein Blick heftete.

Aurélie Lefèvre.

Der Zusammenhang war so offensichtlich, doch er konnte sich nicht dazu bringen, ihn zu ziehen. Die Verbindung des Bildes, des Namens und des Ausweises, dessen Ursprung er erst jetzt erkannte, ließ absolut keinen Zweifel zu, und er musste sich stark zusammenreißen, das Papier nicht zu zerknüllen und aus dem Fenster zu werfen.

„Du hast mich angelogen.“

Sie nickte knapp. Alles an ihr, ihre Herkunft, ihr Name, ihre Ambitionen und Vergangenheit, all das war eine Identität, die sie sich zurecht gelogen und zusammengestellt hatte. Es war unbegreiflich, und Joshua wusste nicht, ob er es verstehen wollte, aber er schaffte nicht mehr, als zu fragen:

„Wieso?“

Lenora – Aurélie, wie ihn sein Kopf mahnen wollte – sah wieder aus dem Fenster, zum Haus der Mytens, spielte nervös mit einer Hand an ihren Haaren, schüttelte gedankenverloren den Kopf und suchte ganz offensichtlich nach einer Erklärung, die er akzeptieren würde, und nicht danach, wie sie wirklich empfand.

„Nach allem, all den Lügen, die du mir aufgetischt hast...willst du nicht wenigstens einmal ehrlich zu mir sein?“

„Es ist nicht alles gelogen! Ja, es mag sein, dass ich mir eine Person erstellt habe, die ich nicht bin, aber...ich wollte nicht, dass du dort draußen erlebst, was...“

Sie beendete den Satz nicht, und es war auch nicht nötig. Er verstand, was sie sagen wollte, er verstand vielleicht endlich, wieso sie ihn zwingen wollte, hier zu bleiben, obwohl es für ihn das Schlimmste war, was er sich vorstellen konnte.

Sie wusste, was auf der anderen Seite lag. Sie hatte durchlebt, was die fremden Ufer, nach denen er sich so verzweifelt gesehnt, an die er sich hoffnungsvoll geklammert hatte, für denjenigen bereithielten, der sie erreichte. Und sie wusste – so unerträglich es auch für ihn war, das nur zu denken – dass dieser Käfig, dieses Gefängnis, diese Hölle auf Erden, die er sich schlimmer niemals ausmalen könnte, im Vergleich zu dem, was außerhalb lag, ein kleines Übel war.

„Wieso hast du mir nie etwas gesagt?“

„Du hättest mir vorgeworfen, ich würde es mir ausdenken. Eine Lüge, um dich abzuhalten. Eine Lüge, die dich nur noch mehr dazu angetrieben hätte, es durchzuziehen.“

Das stimmte wahrscheinlich sogar, auch wenn er es ungern zugab. Es gab keine schlimmere Situation für ihn, in der die einzige Person, die er jetzt noch hatte, sich als jemand wildfremdes entpuppen könnte, und gleichzeitig gab es keine andere Situation, in der er es überhaupt geglaubt hätte. Selbst diesen Ausweis hätte er problemlos als eine Fälschung bezeichnet.

„Das erklärt mir dennoch nicht, wieso Onkel Thomas dich angreifen sollte. Gerade jetzt, da du dich nicht mehr dagegen gesträubt hast, uns zu helfen.“

„Er hat mich beobachtet. Vielleicht noch weitaus mehr, als mir bewusst ist. Joshua, verstehst du überhaupt, was das hier bedeutet?“

Sie zeigte auf den Ausweis, aber er wusste nicht, worauf sie hinauswollte. Den Namen? Die Herkunft? All das war für ihn befremdlich, aber was genau hatte Onkel Thomas gesehen, was ihm entging?

„Nicht wirklich.“

„All die Dinge, die ihr tut. Mord, Kannibalismus, ich muss dir das nicht aufzählen. Ihr habt keine Wahl. Euer Körper ist modifiziert und kontrolliert euch von innen heraus.“

Sie hätte nicht weitersprechen müssen, aber er schaffte es nicht, zu reagieren, war zu beschäftigt damit, die Bedeutung der Puzzlestücke zu verstehen, die sich in seinen Gedanken zusammensetzten.

„Bei mir ist es anders. Ich bin in dieses Leben von klein auf hineingewachsen. Ich war allein ab dem Moment, an dem ich in diese Stadt gekommen bin. Was denkst du, wieso mich die Stadtpatrouille nicht eingesammelt und öffentlich hat hinrichten lassen?“

Er schüttelte den Kopf, da er nicht geglaubt hatte, dass sie überhaupt geschnappt worden war. Andererseits ergab alles andere keinen Sinn, denn wieso sollte es einfacher sein, in die Stadt hineinzugelangen, als herauszukommen?

„Weil sie vom ersten Moment an wussten, dass ich genau der Teil des Fußvolkes war, an dem sich die Obrigkeit so ergötzt. Mordlustig, kaltblütig. Werde nie verstehen, was an diesem Todeswahn gut sein soll, aber ich habe es auch nie ernsthaft hinterfragt. Ich nehme es hin, weil ich weiß, wie viel schlimmer es noch sein kann. Und das hat deinem Onkel offenbar panische Angst eingejagt, als er es herausgefunden hat.“

Sie wandte sich ab, hievte ihren Rucksack auf den Tisch und verräumte die Lebensmittel, die sie zuvor mitgenommen hatte. Es war, als sei für sie auf einen Schlag alles zur Normalität zurückgekehrt, so krankhaft und abstrus diese auch war. Für Joshua war das unbegreiflich, und doch begann er instinktiv, ihr zu helfen.

„Das alles geht nicht in meinen Kopf“, gab er offen zu. „Wie soll es jetzt weitergehen?“

Die Tatsache, dass sie seinen Onkel auf dem Gewissen hatte, vertiefte er nicht noch einmal, auch wenn es ihm auf der Zunge lag. Offen gesagt zweifelte er nicht mehr daran, dass sie zumindest diesbezüglich die Wahrheit gesagt hatte. Paranoia war das Letzte, was er seinem Onkel nicht zugetraut hätte, und wenn sich diese Paranoia in Panik verwandelte, waren Kurzschlussreaktionen nicht ausgeschlossen.

Lenora hielt inne, blickte auf die Packung Mehl in ihren Händen und schüttelte den Kopf.

„Gute Frage. Du hast niemanden mehr, dem du trauen kannst. Dein Onkel ist weg und ich bin alles, nur nicht die Person, für die du mich jahrelang gehalten hast.“

„Sehr aufmunternd.“

„Du hast gefragt, wie es weitergehen soll, nicht nach emotionalem Beistand.“

Sie schüttelte den Kopf, offenbar von ihrem eigenen Verhalten, ihrem Fokus darauf, eine Lösung zu finden, egal wie sehr sie schmerzte, ermüdet und genervt.

„Um ehrlich zu sein...ich weiß es nicht. Es spielt keine Rolle, was ich sage, oder? Meine Beweggründe; dass ich nicht wollte, dass du mich hier zurücklässt, aber auch nie wieder dort hin will, woher ich komme. Du kannst weiterkämpfen oder aufgeben. Himmel, du kannst weiterhin versuchen, von hier zu fliehen, es ist deine Entscheidung.“

Sie trat an ihn heran, wagte es zum ersten Mal seit sie zurückgekehrt waren, ihm in die Augen zu sehen. Sie war gefasst, aber er erkannte mehr als das. Ihre Unsicherheit, die sie immer versteckt hatte. Ihre Hoffnung, dass noch nicht alles vorbei war. Ihre Dankbarkeit dafür, dass sie noch nicht allein war.

Er erkannte all die Dinge, die er in sich selbst sah, in vielleicht jedem Einzelnen, dem er je begegnet war und begegnen würde. Seine Zweifel, der Vertrauensbruch, das alles saß tief, und es würde ihm schwer fallen, darüber hinwegzukommen, aber am Ende des Tages war sie trotzdem der einzige Mensch, den er noch hatte – trotz der Lügen, die es zwischen ihnen gegeben hatte und zweifelsohne weiterhin geben würde.

Aber vielleicht war das in Ordnung. Nichts in dieser furchtbaren, kalten, trostlosen Welt würde jemals gut sein, aber in diesem Augenblick, als die Regentropfen so unendlich viele Male lauter klangen als sein Herzschlag, wusste Joshua zum ersten Mal, seit er denken konnte: Zumindest für diesen einen Moment war der Albtraum vorbei.



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