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Summertime Record

von

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I.I Rainy Moment

„Warum hab ich überhaupt etwas anderes erwartet?“

 

Es regnete. Dicke, schwere Tropfen trommelten in einem steten Rhythmus zu Boden. Der Asphalt war glänzend und dunkel vor Nässe, der Tag sah aus, als hätte er vergessen, dass Helligkeit ein essentieller Bestandteil von ihm sein sollte. Die Straßen waren vergleichsweise verlassen, gemessen an der sonst so alltäglichen überfüllten tokyoter Hektik.

Ein typischer Anblick für die frühsommerliche Regenzeit.

Fuzuki Kai lachte gutmütig, als er seinen Regenschirm aus der Tasche wühlte. Obwohl er es nun wirklich sein ganzes Leben lang nicht anders gewöhnt war, hoffte er immer noch darauf, dass ihn ab und zu der Sonnenschein überraschte, auch wenn der Name Regenzeit allein die Wahrscheinlichkeit schon drastisch in den Keller senkte – und leider tat die Sonne ihm mehr als selten den Gefallen, sich nach seinen Wünschen zu richten. Immerhin, ein guter Trost war es, dass es bald vorbei sein würde.

Er freute sich darauf. Sonnenschein, Ausflüge ans Meer, Wassermelone – all die guten Dinge eben. Wenn er bis dahin hart genug arbeitete, bekam er sicher den ein oder anderen freien Tag durchgeboxt!

Und in gewissem Maß hatte der Regen auch Vorteile.

Es war ruhiger. Die Straßen waren weniger überlaufen. Wer es konnte, vermied es, unnötig unterwegs zu sein, und das machte zumindest viele seiner Jobs bedeutend einfacher. Lieferbote zu spielen war bedeutend erträglicher, wenn man sich nicht durch Menschenmassen kämpfen musste! (Es war zwar auch bedeutend nasser, aber Kai war niemand, der dran starb, wenn er sich nach der Arbeit erst einmal aufwärmen und abtrocknen musste.)

Wäre er etwas sentimentaler, hätte er wohl auch wertschätzen können, wie anders Tokyo im Regen aussah. Kai war aber nicht sentimental, und so war alles, was er sah, nasse Straßen und grauer Himmel, die keinerlei Reiz für ihn hatten.

Es war einfach. Wetter. Gehörte zum Leben dazu.

 

Jeder seiner Schritte platschte auf dem nassen Asphalt. Jedes Auto, das vorbeifuhr, hinterließ eine Spur aus nassem Lärm, das dauerhafte Trommeln des Regens dämpfte die Geräuschkulisse, ließ sie so verschwommen wirken wie der Blick in die Ferne, der vom Regen getrübt wurde. Menschen unter Regenschirmen, teils grau und nichtssagend, teils grell und bunt wie Erinnerungen an die Sommerzeit, die vor ihnen lag, eilten mit gesenkten Köpfen über die Straßen. In typischer Großstadtmanier hatte kaum jemand einen Blick für den anderen übrig.

Es war eine Form von schlechter Angewohnheit, die Kai dazu brachte, seine Mitmenschen zu beobachten. Uralter Reflex, den man sich einfach antrainierte, wenn man mit fünf kleinen Geschwistern aufwuchs und ganz selbstverständlich die Rolle des Babysitters einnahm; man musste seine Umgebung im Blick haben. Sehen, wenn etwas nicht stimmte, am besten noch, bevor es wirklich nicht stimmte.

 

Ohne diesen alten Reflex hätte er es übersehen.

 

Sie war genauso verschwommen wie der Rest der Welt, die kleine Gestalt, die gar nicht so weit von ihm entfernt den Gehweg entlangschlurfte. Keine ordentliche Jacke, völlig durchweicht. Langsam. Ziellos. Hängende Schultern. Als wüsste sie selbst nicht, wohin ihr Weg sie führen sollte. Sie wirkte verloren und absolut nicht zum Rest des Bildes passend. Kein Teil der Großstadthektik und der regenschirm- und kapuzengeschützten Menschen, die nur draußen waren, weil es Notwendigkeit war, und die zielsicher einen Weg zurück ins Trockene suchten.

Kai konnte es nicht ignorieren.

Kurzentschlossen schloss er mit ein paar langen, schnellen Schritten zu dem Mädchen auf, hielt den Schirm über ihren Kopf. Es war fruchtlos, wurde ihm im nächsten Moment klar, als er einen näheren Blick auf das dunkelgrüne Haar warf, das klatschnass an ihrem Kopf klebte, trotzdem blieb er dabei. Die kalten Regentropfen auf der sicher längst unterkühlten Haut waren sicher alles andere als angenehm, und sein Schirm war gut und gerne groß genug für ihn und so ein zierliches Ding!

Einen Augenblick lang schien sie ihn nicht zu bemerken, dann hob sie den Kopf, sah ihn aus großen, ein bisschen trüb gefärbten Augen an. Sie schien völlig verständnislos zu sein. Sah höher, zu dem Schirm über ihrem Kopf, dann wieder zu Kai, ohne irgendwelche Anstalten, zu sprechen. In ihrem Blick lag etwas, das Kai noch einmal unangenehm die Fruchtlosigkeit seines Unterfangens deutlich machte, doch er grinste trotzdem freundlich. Etwas miaute, und bei einem näheren Blick bemerkte er ein schwarzes, nasses Fellbündel in den schmalen Armen seiner neuen Gesellschaft.

Sie sahen so unglaublich erbärmlich aus, die beiden, dass es Kai mitten ins Herz stach.

 

„Hey“, begann er, offenbar ein bisschen zu laut, ein bisschen zu fröhlich, denn das Mädchen scheute merklich zurück. Er lächelte entschuldigend, ließ den Schirm ihrer Bewegung folgen, ohne selbst näher zu kommen. Dass dafür ihm nun der Regen in den Nacken prasselte, war völlig unerheblich.

„Du solltest bei so einem Wetter lieber nicht draußen sein, hm?“

Sie zuckte mit den Schultern, senkte den Blick wieder. Da, wo der schützende Kreis des Regenschirms aufhörte, malten die herunterprasselnden Wassertropfen kleine Kreise auf den nassen Boden, stellte Kai fest, als er kurz ihrem Blick folgte. Das Kätzchen miaute, verbarg sich tiefer in den Armen des Mädchens, als wollte es vor der Kälte flüchten. Kai konnte es nur zu gut verstehen. Dafür, dass es quasi schon Sommer war, war es wirklich viel zu kühl. Und wer wusste schon, wie lange die beiden bereits durch den Regen irrten?

Oder warum. Aber wenn er ehrlich war, dann war das Kai gerade relativ egal.

„Kommst du aus der Gegend?“

Stille. Erst gar keine Reaktion, dann ein Kopfschütteln, zusammen mit einem leisen, verneinenden Laut. Ob sie Urlaub machte? Ein Schulausflug? Andererseits war das, was das Mädchen trug, sicher keine Schuluniform, also – unwahrscheinlich.

Hmmm…

„Na, wie auch immer. Meine Wohnung ist gar nicht so weit von hier, wenn man mit der U-Bahn fährt – möchtest du mitkommen, damit du trocknen kannst? Du kannst nach Hause, wenn der Regen aufhört.“

 

Das schwache Nicken, das er bekam, war Kai Zustimmung genug. Er setzte sich wieder in Bewegung, das Mädchen an seiner Seite. Sie lief langsamer, als er es üblicherweise tat, hielt den Blick auf den Boden gesenkt. Sagte kein Wort.

Sie wirkte… hilflos. Schutzbedürftig. Etwas an ihr rührte Kai. Er wollte sie beschützen, ohne recht zu wissen, wovor, wollte sich darum kümmern, dass sie raus aus diesen nassen Klamotten kam und sich aufwärmen konnte. Er wollte erfahren, was mit ihr los war, damit er herausfinden konnte, wie er helfen konnte. Über einen heißen Tee und trockene Kleider hinaus eben, die waren offensichtlich.

 

Sie wollte aber genauso offensichtlich nicht reden.

 

Kai versuchte mehrfach, ein Gespräch zu beginnen auf dem kurzen Weg bis zur U-Bahn-Station, während der ebenfalls nicht langen Bahnfahrt, während dem Weg von der Zielstation bis nach Hause, doch er stieß jedes Mal auf eisernes Schweigen; das höchste der Gefühle waren ein Kopfschütteln, ein Nicken, oder ein Schulterzucken.

 

Bis sie schließlich ankamen und er sie sanft in die Wohnung bugsierte, hatte er so überhaupt nichts Neues gelernt. Sie war nicht aus der Gegend. Sie wollte nicht sagen, wo sie herkam, oder warum sie auf Tokyos Straßen herumgeirrt war, wollte nicht einmal ihren Namen sagen, und recht bald gab Kai es auf. Es war deutlich, dass sie nicht darüber reden wollte, und er ahnte, dass es nicht half, sie unter Druck zu setzen. Seine Brüder konnten unglaublich in sich gekehrt sein beizeiten, da half nachbohren auch nicht. Manchmal war es am besten, abzuwarten, bis das Gegenüber von alleine reden wollte.

Gerade lagen seine Prioritäten ohnehin woanders. Den nassen Regenschirm brachte er ins Bad, nachdem er seine Schuhe durch Pantoffeln ausgetauscht hatte. In den Flur zurückkehrend fand er seinen kleinen Gast immer noch dort vor, die durchweichten Schuhe inzwischen ausgezogen stand sie auf nassen Socken im Eingangsbereich und schien nicht zu wissen, wohin mit sich. Sie tropfte, hinterließ kleine, dunkle Flecken auf dem dunklen Holzoptikboden.

„Komm mit. Ich geb dir ein paar trockene Sachen und dann kannst du duschen, um dich aufzuwärmen. Möchtest du Tee? Oh. Und deinen kleinen Freund gibst du mir am besten, dann seh ich zu, dass er abgetrocknet wird und etwas zu futtern bekommt.“

Hatte er denn irgendetwas da, das er einer Katze anbieten konnte? Während Kai noch darüber sinnierte, ob er etwas anderes als Milch und Pudding im Kühlschrank hatte, führte er seine kleine Begleitung zum Badezimmer, ließ ihr die Gelegenheit, sich mit der Einrichtung vertraut zu machen, während er Kleidung holte. Eine Jogginghose mit Gummizug und Kordel, die sich eng genug schnüren lassen sollte, damit sie nicht verloren ging, ein Shirt, das sicherlich übergroß sein würde, aber wenigstens warm. Socken? Würde sie vermutlich verlieren, aber besser war es trotzdem, es zu versuchen, und die Hausschuhe sollten einiges festhalten können, das sonst einfach nur rutschen würde. Unterwäsche… Kai räusperte sich verlegen in seinem leeren Schlafzimmer, schob die Schublade mit den Shorts ganz schnell wieder zu. Nein. Also. Nein, gar nicht erst drüber nachdenken!

 

Die Sachen überreicht nahm er die kleine Mieze in Empfang und ließ das Mädchen dann allein im Bad zurück. Nachdenklich kraulte er dem kleinen Katzentier unter dem nassen Kinn. Es gab einen vagen Laut von sich, der gleichermaßen Protest wie Ermutigung hätte sein können.

„Und was machen wir beide jetzt?“

Ein Handtuch holen. Das Kätzchen halbwegs abtrocknen, so gut er konnte – also gar nicht gut. Abgetrocknet werden fand der kleine Tiger nämlich gar nicht toll, offensichtlich. Nach ein paar Sekunden schon begann er, sich in Kais behutsamem Griff zu winden und es dauerte nicht lange, bis sich der Kater fauchend und kratzend aus dem Handtuch befreit hatte. Kai seufzte, warf das Handtuch einfach über die Schulter und stemmte die zerkratzten Hände in die Hüften.

 „Gut. Dann kein Abtrocknen. Hast du Hunger? Durst?“

Fauchen klang unter dem Sofa hervor. Kai seufzte noch einmal, ging in die Hocke hinunter. Er sah unter dem Sofaspalt nur Dunkelheit, aber wenn er lang genug starrte, bildete er sich zumindest ein Paar leuchtender Katzenaugen ein.

„Nun sei nicht so, Kätzchen. Ich tu dir doch nichts… Und ein bisschen Milch nimmst du sicherlich, hm?“

Dieses Mal kam nur Stille – Kai verbuchte es als positiv, als schweigende Zustimmung, also ging er rüber in die Küche und goss etwas Milch in eine niedrige Schale, damit der kleine Katzenkopf überhaupt an die Flüssigkeit herankommen konnte. Er fand Schweinefleisch im Kühlschrank, das er eigentlich fürs Abendessen gekauft hatte, wie er sich bei dem Anblick erinnerte. Eine kleine Portion konnte er ruhig für das Kätzchen abzweigen, so viel passte da doch gar nicht rein.

Auch wenn er wohl für zwei kochen musste. Apropos kochen – „Der Tee!“

Schnell war der Wasserkocher eingeschaltet, und ein zweites Schälchen für ein paar Fleischstücke herausgekramt. Es war vorgeschnitten, aber relativ grob. Also… kleiner schneiden?

Kleinschneiden, beschloss er, in Erinnerung an das winzige Bündel schwarzen Fells.

Alles vorbereitet kehrte er ins Wohnzimmer zurück und stellte beide Schalen nahe des Sofas ab, ging daneben in die Hocke.

„Hierher, Kätzchen. Komm raus. Ich hab essen und trinken für dich!“

 

Das Kätzchen ignorierte ihn.

 

Mit einem geschlagenen Seufzen ließ Kai sich auf den Boden plumpsen, doch er grinste noch, als er unter den Sofaspalt blickte. Er erkannte immer noch nichts in der Dunkelheit dort unten, aber er ging davon aus, dass sich der kleine Fellball keinen neuen Platz gesucht hatte in der kurzen Zeit, die er in der Küche gewesen war. Irgendwann würden Hunger und Durst es schon heraustreiben, und dann würde es merken, dass es keine Angst haben musste!

Hoffte er zumindest.

Bis das Öffnen und Schließen der Badtür ankündigte, dass sein Gast fertig war, hatte sich das kleine Tier aber keinen Millimeter bewegt. Mit einem halb resignierten, halb amüsierten Laut raffte Kai sich wieder auf und trottete dem Mädchen entgegen, das ein wenig verloren im Eingang zum Wohnzimmer stehen blieb.

„Dein kleiner Freund hat Futter bekommen“, erzählte er, deutete auf die Schälchen vor dem Sofa, „Aber ich glaube, er ist schüchtern.“

So wie du, hm?

„Und der Tee ist fast fertig. Zugegeben, ich hab ihn vergessen, aber es dauert nicht lang!“

Er lachte herzlich, begegnete nur einem weiteren eher nichtssagenden Blick. Er hatte Mühe, dem Impuls zu widerstehen, das unruhige, feuchte Haar des Mädchens zu zerwuscheln.

„Setz dich. Ich kümmere mich um den Tee. Bist du hungrig?“

Kopfschütteln. Kai runzelte kurz die Stirn, nickte dann aber. Zum Abendessen würde sie aber etwas essen! Er wollte gar nicht wissen, wie lange sie schon durch den Regen geirrt war – und entsprechend nichts mehr gegessen hatte.

 

Obwohl er nicht ganz glücklich damit war, seinen kleinen Gast einfach zurückzulassen – sie blieb reglos stehen, wo sie stand, statt sich tatsächlich hinzusetzen –, kehrte er in die Küche zurück. Er war froh, dass er überhaupt Tee zur Hand hatte, denn er trank nicht häufig welchen, vor allem nicht im Frühling und Sommer. Es war doch viel zu warm für Tee! Meistens. Zur Regenzeit war das etwas anderes, aber da reichte eine warme Brühe genauso gut, und die kam mit dem Essen oft genug zustande. (Selbst, wenn es nur Cupnudeln waren.)

Ein paar Minuten vergingen, bis der Tee fertig war und auf ein Tablett manövriert war, das er aus dem Schrank erst hatte suchen müssen.

(Er war nun wirklich kein Chaot, aber vielleicht sollte er sich abgewöhnen, alles einzumotten, was er nicht zu brauchen glaubte. Es kam doch immer mal etwas Unvorhergesehenes dazwischen!)

 

Ein paar Minuten nur, und trotzdem war von seinem Gast keine Spur mehr.

 

Völlig verdattert stand Kai im Wohnzimmer, Tablett in den Händen, und konnte nur auf das leere Sofa starren.

„Hey… Kleine Lady? Wo bist du?“

Keine Antwort. (Er hatte auch keine erwartet, eigentlich.)

Besorgt die Stirn runzelnd stellte er das Tablett auf dem Tisch ab, lief dann los, um den Rest der Wohnung zu überprüfen. Die Wohnungstür war geschlossen. Die Schuhe seines Gastes standen noch nass im Flur, wo sie abgestellt worden waren. Im Bad war sie auch nicht. Im kleinen Schlafzimmer ebenso wenig, und in der Küche hätte Kai sie doch wohl bemerkt! Erst, als er noch einmal suchend durchs Wohnzimmer sah, bemerkte er, dass die Tür zur Veranda offen war.

Er lachte erleichtert auf, schüttelte den Kopf. Da hätte er doch sofort drauf kommen können!

 

Sie saß auf dem Boden der Veranda, in den viel zu großen Klamotten, und sah noch viel verlorener aus als zuvor, aber… zufrieden? Es war schwer, in ihrem Gesicht zu lesen, aber Kai glaubte, dass sie zufrieden wirkte. Er lächelte, ließ sich mit einem kleinen Stück Abstand neben ihr nieder.

„Hey. Dein Tee ist fertig.“

Sie sah kurz zu ihm hinüber, wandte den Blick dann wieder hinaus in den trüben Regen. Sonst reagierte sie nicht. Das  dauerhafte Prasseln wirkte angenehm beruhigend, wenn man ihm aus dem Trockenen heraus zusehen konnte.

„Sollen wir deine Eltern anrufen?“ –„ Mh-mh.“

Es kam nicht unerwartet, trotzdem half es nicht gerade dabei, dass Kai sich weniger Sorgen machte. Sie wollte nicht nach Hause, offensichtlich. Warum? Streit? So oft Kai auch Streit in seiner eigenen Familie erlebt hatte, er war fest davon überzeugt, dass Familie schlussendlich doch immer zusammenstehen sollte – sie musste sich mit ihren Eltern aussprechen, früher oder später!

Aber vielleicht nicht jetzt sofort. Er seufzte leise, wandte den Blick von dem zarten Profil ab und begann, den Regen zu beobachten.

„Du bist weggelaufen?“

Stille. Erst nach einigen Minuten kam eine leise Bestätigung in Form eines knappen bejahenden Lauts, der in der wetterbedingten Geräuschkulisse beinahe unterging.

„Du möchtest nicht zurück.“

Wollte sie nicht, nein – die Bestätigung kam beinahe augenblicklich. Kai presste die Lippen zusammen, fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. Bis auf einen Teil im Nacken war es dank Regenschirm trocken geblieben.

Ihm fielen spontan mindestens fünf Menschen ein, die ihn tadeln und nur den Kopf über seine Entscheidung schütteln würden. Ihm fiel aber zumindest ein Mensch ein, der ihn bestärken würde, und er erinnerte sich an das schönste Lächeln, das er je gesehen hatte, an Krankenhauszimmer und Desinfektionsmittelgeruch; Erinnerungen, die sein Herz krampfen ließen. Kopfschüttelnd schob er sie von sich, sah wieder zu dem Mädchen hinüber, dessen Blick immer noch in endlos weite Fernen gerichtet war, die Kai nicht einmal sah, wenn er hinausblickte.

Er wünschte sich, sie würde ihn ansehen.

 

„Du kannst hier bleiben, solange du willst.“

 

 
 

***

 

 

Das erste Mal, dass die kleine Katze unter dem Sofa hervorkam, war am nächsten Morgen, als Kai gerade aus dem Bad kam. Vorhin noch nirgendwo zu sehen gewesen saß sie jetzt vor ihrer Milchschale, die Kai gleich nach dem Aufstehen frisch gefüllt hatte. Große, gelbe Katzenaugen sahen zu ihm auf und das kleine Tier begrüßte ihn mit einem energischen Maunzen. Er grinste zufrieden.

„Siehst du. Hab dir doch gesagt, es ist alles halb so wild. Na, schmeckt es?“

Noch ein Maunzen später hatte das Tier seine Schnauze wieder in der Milch und Kai wurde uninteressant. Er seufzte amüsiert, begann, die Decken zusammenzufalten, die sein Nachtlager im Wohnzimmer markierten. Er hatte natürlich nicht in seinem Schlafzimmer geschlafen, nachdem er dem Mädchen sein Bett angeboten hatte.

„Dein Frauchen muss ich auch noch wecken… Oder meinst du, es reicht, wenn ich ihr einen Zettel dalasse?“

Er bekam keine Antwort. Wenig überraschend. Sagte man nicht, Haustiere ähnelten ihren Herrchen? Das merkte man!

Dabei hätte er dieses Mal eine brauchen können. Eigentlich wollte er das fremde Mädchen nicht stören, immerhin – man schlich sich  nicht in die Zimmern schlafender Mädchen! Andererseits wollte er genauso wenig, dass sie aufwachte und sich völlig verlassen fühlte, weil sie keine Ahnung hatte, was los war. Ob ein Zettel wirklich das Richtige war? Und was schrieb er denn? Dass er arbeiten ging, es würde später werden, weil er noch einkaufen musste, Frühstück war im Kühlschrank und sonst sollte sie sich bedienen, woran sie wollte? PS: Lass die Katze raus, damit sie nicht in die Wohnung macht!

Erschien ihm irgendwie nur mäßig herzerwärmend.

 

Ein Blick auf die Uhr nahm ihm die Überlegung allerdings schnell genug aus der Hand – es würde beim Zettel bleiben müssen. Er hatte keine Zeit!

 

Entsprechender Zettel wurde an die Küchentür gepinnt, ein Frühstück in den Kühlschrank gepackt, und mehr schaffte Kai auch gar nicht mehr, bis er aus dem Haus musste. Hinaus in den Regen, auch wenn der immerhin nicht halb so stark wie am Vortag war.

Immerhin war der Weg zur Arbeit heute lang genug, dass er genug Zeit hatte, darüber nachzudenken, was er jetzt mit seinen neuen Mitbewohnern machte. Durfte er überhaupt Haustiere haben? Er würde den Vermieter anrufen müssen… oder in den Mietvertrag gucken, das sollte auch helfen. Und er brauchte dringend eine Katzentoilette. Wie gut, dass er nur ein paar Stunden unterwegs sein würde? Und die kleine Mieze konnte ja auch über die Veranda hinaus, es dürfte also kein großes Unglück passieren. (Er würde zur Sicherheit trotzdem stärkeres Putzmittel und Desinfektionsmittel einpacken, wenn er daran dachte.) Futternäpfe. Katzenfutter.

Mit dem Mädchen würde er reden müssen, was sie brauchte. Ein wenig Kleidung vermutlich? Zumindest Unterwäsche und Strümpfe, da konnte Kai ihr einfach nicht sinnvoll etwas borgen! Er könnte natürlich seine Schwestern fragen, aber… nein. Lieber nicht. Außerdem waren Mädchen doch immer ein bisschen eigen mit ihren Klamotten, sein Gast würde sicher keine Leihgaben wollen.

Sie konnten morgen gleich losziehen und etwas kaufen. Kais Terminplan war nicht allzu streng gefüllt im Moment und er hatte früh Feierabend – vorausgesetzt, der Auftrag lief reibungslos, aber er ging davon aus.

 

Es würde nicht viel anders sein als heute – Umzugshelfer war ein dankbarer Job. Anpacken konnte er. Autofahren ebenso, und es machte Spaß, vor allem, wenn er runter von den überfüllten Innenstadtstraßen kam. Mit älteren Menschen zu arbeiten hatte obendrein den charmanten Vorteil, dass sie in der Regel immer für Verpflegung sorgten und ein kleines Trinkgeld gaben, wenn man nett und freundlich zu ihnen war und sich auch auf ein Gespräch einließ – Was Kai immer gern tat. Nicht aus Trinkgeldgründen, sondern einfach, weil es Spaß machte. Es machte ihn glücklich, den alten Leutchen noch ein Lachen aufs Gesicht zu zaubern bei der Arbeit.

 

Als er für den Tag Feierabend machte, den Umzug einer netten, alten Dame erledigt, hatte er zum Dank für seine Arbeit neben dem abgesprochenen Lohn noch eine Tüte mit Süßigkeiten bekommen. Er grinste zufrieden, während er auf einem Stück mit Anko gefülltem Mochi herumkaute. Ob sein Gast Süßigkeiten mochte? Wo er gerade darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass der Großteil seiner Essensvorräte süß war. Süßigkeiten und Cupnudeln, strenggenommen. Und ein paar Zutaten zum Kochen. Ob sie kochen konnte? So scheu, wie sie wirkte, würde sie sich aber kaum einfach in seiner Küche austoben. Er konnte froh sein, wenn sie überhaupt etwas gegessen hatte, wenn er heimkam.

Er seufzte. Er würde wirklich aufpassen müssen, dass sie gut versorgt war.

Durch den Abstecher zur Zoohandlung dauerte es wesentlich länger als erwartet, bis er zuhause war. Schlussendlich hatte er neben der Katzentoilette und dem Streu auch einen kleinen Kratzbaum gekauft. Und ein Katzenbett. Katzenfutter dazu, und er war gut genug bepackt, dass es beinahe an einen Stunt heranreichte, wie er die Haustür aufgeschlossen bekam. (Mit den Tüten und Päckchen sah er obendrein albern genug aus, dass einige Passanten auf dem Heimweg ihm skeptische Blicke zuwarfen.)

„Bin zuhause!“, rief er in den Wohnungsflur, als er die Schuhe von den Füßen kickte und seine Einkäufe achtlos in einer Ecke auftürmte. Er bekam, ganz wie erwartet, keinerlei Antwort. Ein erster Weg ins Wohnzimmer zeigte eine offene Verandatür, also war sein Gast wohl wieder draußen. Auch von dem Kätzchen war keine Spur zu finden. Obwohl Kai lieber nachgesehen hätte, wie es den beiden ging, ließ er sie erst einmal in Ruhe. Er hatte warten wollen, bis das Mädchen selbst auf ihn zukam, nicht wahr? Sie hatte gemerkt, dass er heimkam, da war er sich sicher, und wenn sie etwas brauchte, würde sie auftauchen. Taten seine Brüder auch immer, wenn sie ihre Einigelphasen hatten.

 

Außerdem bauten sich Kratzbäume nicht von allein auf, auch wenn sie klein waren!

 

Er war gerade dabei, eine Schraube festzuziehen, die nicht halten wollte, als ein Maunzen ihn aus seiner Arbeit riss. Verdutzt hob er den Blick. Sein kleiner Gast war hereingekommen, das Kätzchen auf dem Arm. Sie trug immer noch die viel zu großen Kleider, die er ihr gestern gegeben hatte und sah herzzerreißend liebenswert dabei aus. Grinsend legte Kai sein Werkzeug beiseite, stützte sich auf die Hände auf und grinste zu ihr hinauf.

„Hallo ihr zwei! Ist irgendetwas gewesen, während ich weg war?“

Sie schüttelte den Kopf, ging behutsam in die Hocke, um das Kätzchen auf den Boden zu setzen. Neugierig tappte der kleine schwarze Teufel zu Kai hinüber, um den Kratzbaum zu beschnuppern, der noch nicht halb fertig war. Von seiner ursprünglichen Scheue hatte das kleine Tier offensichtlich nichts mehr übrig. (Er hoffte, dass sein Frauchen bald folgen würde und aus sich heraus kam.)

„Wie heißt die Kleine?“

Selbst wenn das Mädel nicht über sich reden mochte, über die Katze würde sie vielleicht reden. Und Kai kam sich selbst ein wenig dumm damit vor, das arme Tier immer nur Kätzchen zu rufen.

Die einzige Antwort, die er bekam, war allerdings ein Schulterzucken, zusammen mit einem ratlosen Blick.

„Kein Name?“, hakte er verdutzt nach. Sie nickte. Kai schüttelte lachend den Kopf.

„Dann müssen wir uns einen überlegen! Na, hast du Ideen? …Ist das überhaupt ein Junge oder Mädchen?“

 

Sie wussten es beide nicht, offensichtlich. Einen beherzten Blick später war immerhin das Geschlecht so weit klar, dass sie einen Namen suchen konnten – Kai hatte dabei auch nur ein paar Kratzer davongetragen! Er fand, er hatte sich gut geschlagen, auch wenn das kleine Tier nun beleidigt mit dem Schwanz peitschend außerhalb seiner Reichweite auf dem Sofa saß und ihn anfunkelte. Zu Recht, fand Kai, trotzdem hatte er wenig Schuldgefühle.

„Sei lieber froh, dass wir dir jetzt einen passenden Namen geben können!“, kommentierte er glucksend. Leider schien der kleinen Kater nicht ganz überzeugt davon und peitschte nur aufgebracht weiter. Oh je. Vielleicht würde er ihn später mit ein bisschen Milch bestechen müssen.

Aber erstmal… Ein Name. Für eine Katze. Kai war nicht gut in solchen Dingen! Er hatte nie ein Haustier gehabt, woher sollte er also die Erfahrung darin nehmen? Aber hm. Eigentlich war es einfach! Schwarze Katze. Erinnerte ihn an den Transportservice, der entsprechendes Tierchen auf seinem Logo hatte.

„Wie wäre es mit Yamato?“

Der kleine Kater hörte kurz das Peitschen auf, doch sein Blick blieb misstrauisch – zumindest sah es so aus. Kai lächelte ihm gewinnend zu.

„Was meinst du, Katerchen?“

Katerchen hatte keine Meinung, denn er kehrte lieber wieder dazu zurück, Kai anzufunkeln und mit dem Schwanz zu peitschen. Kopfschüttelnd wandte er sich von dem Tier ab, sah kurz zu seiner neuen Mitbewohnerin auf. Doch auch sie schien nicht viel dazu zu sagen zu haben, hob nur nichtssagend die Schultern. Es war nicht ganz, was Kai sich von der Sache erhofft hatte, aber er wollte sie wirklich nicht bedrängen, also lächelte er sie nur aufmunternd an.

„Überlegt es euch, okay?“

Sie nickte kurz, Kai griff sich sein Werkzeug und kehrte an seine Arbeit zurück. Erst den Kater versorgen, dann sein hübsches Frauchen. Es wurde wirklich Zeit fürs Abendessen, vor allem bedenkend, dass sie gestern sehr zurückhaltend dabei gewesen war. Wenn er wenigstens wüsste, was sie mochte! Aber das ließ sich noch herausfinden. Kai war guter Dinge, dass es eigentlich nur besser werden konnte mit der Zeit.

Und er liebte es, so viel zu tun zu haben! Er fühlte sich um einiges fröhlicher, als wenn er sich nur mit seiner Feierabendlangeweile herumschlagen musste. Außerdem tat Gesellschaft gut. Ihm wurde jetzt erst so recht bewusst, dass er beinahe einsam gewesen war nach dem Auszug aus dem Großfamilienhaus.

 

„Yamato.“

 

Die leise Stimme erklang so völlig unerwartet, dass Kai einen langen Moment gar nicht wusste, wo sie herkam. Er blinzelte verwirrt, sah von dem Kratzbaum auf, den er gerade ordentlich aufgestellt hatte. War das–?

Sein Gast hockte vor dem kleinen Kätzchen, kraulte behutsam seinen Kopf. Yamato – der Name war doch offensichtlich angenommen! – schnurrte behaglich unter den Streicheleinheiten. Kai war sich sicher, ein kleines Lächeln auf dem hübschen Gesicht zu sehen. Er lachte, halb amüsiert, halb überfordert.

 

Keine Mitbewohnerin.
 

Das war ein Junge.

 

 
 

***

 

 

Abends zusammen auf der Veranda zu sitzen, dem Regen beim Regnen zuzusehen, Yamato zu kraulen und Pudding zu essen wurde ein Ritual, von dem Kai sich nicht sicher war, wie gesund es war, das er aber trotzdem nicht mehr missen wollte. (Immerhin war es eine Mahlzeit mehr, die sein kleiner Gast zu sich nahm! Das war positiv, selbst wenn es nur Pudding war.)

Er mochte es. Auch wenn sein Mitbewohner auch nach fünf Tagen wenig mit ihm sprach, es wurde besser, und er hatte den Eindruck, dass die friedlichen Abende durchaus ihren Beitrag dazu leisteten. Die meiste Zeit sprach er, ohne irgendeine Antwort zu bekommen. Erzählte, was er den Tag über erlebt hatte, stellte immer mal wieder Fragen zu seinem Gegenüber – wo er herkam, was ihn interessierte, was er mochte. Sie blieben unbeantwortet. Auch der Witz, dass er seinen Namen doch brauchte, um ihn aufs Klingelschild zu schreiben, wurde konsequent ausgeschwiegen. Hin und wieder kam eine Reaktion, kaum mehr als ein vager Laut, aber es reichte, um Kai nur dazu zu ermutigen, weiter und weiter zu erzählen, was ihm einfiel.

Yamatos tapsige Pfötchen rissen ihn aus seinen Gedanken, als der kleine Kater ungelenk versuchte, auf seinen Schoß zu klettern. Kai ließ ihn; das letzte Mal, als er hatte helfen wollen, hatte Yamato es ihm mit einem bekrallten Schlag auf den Handrücken gedankt. Letztlich schaffte der Kater es sogar, ohne seine Hose ganz zu zerkratzen. Schmunzelnd begann er, durch das weiche Fell zu streicheln, während er weiter hinaus auf den Regen starrte.

Langsam war er sich nicht einmal mehr sicher, ob er nicht schon vergessen hatte, wie ein blauer Himmel aussah.

„Ich bin froh, wenn die Sonne wiederkommt. Es ist so– es ist schon fast Sommer! Da muss die Sonne doch einfach scheinen!“

 

„Ich mag Regen.“

 

Kai sah zu seinem Gesprächspartner hinüber, verblüfft, überhaupt eine Antwort zu bekommen. Auf dem hübschen Gesicht zeichnete sich die leiseste Spur eines Lächelns ab, etwas, das Kai nur noch verblüffter zurückließ, und einen langen Moment starrte er nur, unfähig, wegzusehen. Als er den Blick doch wieder losriss, lächelte er selbst, und sein Herzschlag hatte sich beschleunigt über das seltsame Triumphgefühl, das er gerade empfand.

„Tatsächlich?“

Er selbst hatte nichts gegen den Regen. Er hatte aber auch nicht viel dafür, war eindeutig eher der Typ für Sonnenschein und blauen Himmel. Aus dem Augenwinkel sah er, dass der Junge bedächtig nickte. Es folgte Stille auf die Bewegung hin. Ob Kai das Thema wechseln sollte?

Sehr zu seinem Erstaunen aber sprach der kleine Kerl schließlich doch weiter.

„Ich mag, wie es klingt. Ich mag den Geruch. Regen… riecht überall anders. In der Stadt. Im Wald. In den Bergen. Und in verschiedenen Städten ist es auch unterschiedlich.“

Er hielt inne, legte den Kopf leicht zur Seite.

„Tokyo riecht anders als zuhause. Zuhause riecht anders als in Übersee.“

„Übersee?“

„Ich war dort. Als Kind. Der Regen war beruhigend. Der Klang ist gleich, egal, wo man ist. Und es macht die Welt schöner, wenn alles so gedämpft vom Regen ist…“

Kai lauschte, sprachlos, betrachtete sein Gegenüber mit ungläubigem Staunen. So viel an einem Stück hatte er bisher noch nicht gesprochen! Und dabei so viel von sich erzählt. Kai speicherte jede einzelne Information für die Zukunft ab. Er mochte nicht ganz nachvollziehen können, was der Junge ihm sagen wollte, aber es war einerlei; darum ging es gar nicht. Was zählte, war der simple Umstand, dass er freiwillig mit Kai sprach, dass er ihm etwas anvertraute, das privat war, völlig ohne Zwang. Selbst wenn es eine Banalität sein mochte, Kai fand es unglaublich wertvoll und eindeutig einen ersten Schritt in die Richtung, die er gern einschlagen wollte. Er lächelte, während sein Blick wieder hinaus in den Regen wanderte, in dessen Prasseln die leise Stimme seines Gasts beinahe unterging, wenn er sprach. Aber es war ein hübscher Klang, wie sich beides vermischte.

Vielleicht konnte Kai dem Regen doch etwas Positives abgewinnen.

„Es hat wirklich etwas für sich.“

 

Sie verfielen wieder in friedliches Schweigen. Es war längst dunkel geworden, und Kai war sich sicher, dass sein neuer Mitbewohner bald ins Bett gehen würde. Inzwischen war er selbst doch wieder ins Schlafzimmer umgezogen, nachdem ihm bewusst geworden war, dass er da kein Mädchen vor sich hatte. Natürlich hatte er vorher erfragt, ob es überhaupt in Ordnung sei. Seine Antwort war ein beinahe verwirrtes Nicken gewesen. Es schien den Jungen wirklich nicht zu stören; er wachte nicht einmal von Kais Wecker auf, so tief schlief er. Wahrscheinlich könnte Kai eine Party im Schlafzimmer feiern und es würde ihn trotzdem nicht stören.

Nicht, dass er so etwas je tun würde!

In jedem Fall war es beruhigend, dass er einen tiefen Schlaf hatte und nicht von Kais morgendlichem Hantier belästigt wurde. Wäre es nötig, Kai könnte ihn ja trotzdem aus dem Bett scheuchen – er hatte Übung darin, Schlafmützen aufzuwecken. Aber wozu? Früher oder später würden sich wohl ein paar Dinge ändern müssen, aber für den Moment war Kai zufrieden damit, dem Jungen einen sicheren Rückzugsort bieten zu können, bis er wieder bereit war, sich der Welt zu stellen.

Nachdenklich spielte er mit dem leeren Puddingbecher, der neben ihm stand. Yamato schlief inzwischen, zumindest ging Kai davon aus, denn er regte sich keinen Millimeter mehr und hatte auch das Schnurren wieder eingestellt. Wahrscheinlich würde er sitzen bleiben, bis der Kater wieder aufstand – was er spätestens dann tun würde, wenn sein Herrchen sich erhob. Yamato war total auf den Jungen gepolt, obwohl sie sich gar nicht so lange kennen konnten.

 

Kai konnte es nachvollziehen. Es war die eine Sache, in der der kleine Kater ihm viel zu ähnlich war.  

 

Er grinste verlegen von dem Gedanken, strich Yamato behutsam über den Kopf. Das Tierchen regte sich gar nicht. Eingeschlafen, eindeutig.

Wir sind Idioten, huh? Wissen gar nichts über ihn und trotzdem…

Kai hatte ihn längst adoptiert. Er war immer schon emotional viel zu spontan gewesen, viel zu schnell darin, sich auf Menschen einzulassen, die er gar nicht kannte, weil ein erster Impuls in ihm es einfach wollte.

 

Er fühlte sich, als wäre er wieder zehn Jahre alt.

 

„Rui.“

 

„Eh?“

Völlig aus seinen Gedanken gerissen sah Kai verwirrt zu dem Jungen hinüber. Es überraschte ihn, seinem Blick zu begegnen. Für einen kurzen Augenblick setzte sein Herzschlag aus, während er die hübschen, aber neutral nichtssagenden Augen betrachtete. So sehr Kai es versuchte, er schaffte es nicht, in seinem Blick zu lesen.

„Rui“, wiederholte er noch einmal.

„Rui“, echote Kai. Seine Lippen verzogen sich langsam zu einem Lächeln. Rui, wiederholte er still in Gedanken, und langsam fing der Name an, zu dem Gesicht zu gehören, das ihm gegenüber war, zu dem nichtssagenden Blick, der ihn weiter musterte, als würde er auf etwas warten.

Fünf Tage für einen Namen.

Wie lange für sein Leben? Sein Alter? Sein Lieblingsessen? Seine Gedanken und Wünsche? Kai hätte am liebsten alles auf einmal erfahren, doch gleichzeitig war er jetzt schon überglücklich. Und es war nicht, als wüsste er gar nichts! Er wusste, dass er Pudding mochte, zumindest orientiert daran, wie bedenklich schnell seine Vorräte neuerdings schwanden. Er kannte seine Kleidergröße, hatte er sie doch schon gebraucht, um ein paar neue Sachen zu kaufen, damit der arme Kerl nicht weiter in übergroßen Jogginghosen und Shirts herumlaufen musste, die ihm über die Schulter rutschten. Er wusste, dass er als Kind in Übersee gewesen war, und er wusste, dass er Regen mochte und gern Zeit damit zu verbringen schien, besagtem Regen von der Veranda aus beim Fallen zuzusehen. (Kai wollte ihm ein Sitzkissen besorgen, damit er es bequemer hatte.)

Er kannte seinen Namen.

 

„Rui.“

 

Kai strahlte, als der Junge augenblicklich reagierte, den Kopf fragend schieflegte. Sein Herzschlag übertönte selbst das Trommeln des Regens, während sie da auf der Veranda saßen, Yamato auf seinem Schoß, und nach fünf langen, einseitigen Tagen hatte Kai zum ersten Mal das Gefühl, dass sie eine beidseitige Beziehung haben konnten, irgendwann.

Freunde sein.

„Kai?“

Es war das erste Mal, dass er Kai direkt ansprach.

Vielleicht war es gar nicht irgendwann, sondern eher bald.

 

„Schön, dich kennen zu lernen, Rui.“



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