Begegnung
Gelangweilt schlenderte Taichi mit Yamato und Sora, seinen beiden besten Freunden, die schon seit zwei Monaten unzertrennlich aneinanderklebten und allen mit ihrem Liebesglück auf die Nerven gingen, zum schwarzen Brett der Schule. Es war der erste Schultag des zweiten Jahres der Oberschule und Taichi war so demotiviert wie noch nie. Noch zwei ganze Jahre Schule lagen vor ihm, bevor er diesem Alptraum endlich entfliehen und das richtige Leben anfangen konnte. Zwei lange Jahre.
„Glaubst du, wir sind wieder in einer Klasse?“, fragte Sora gerade an Taichi gewandt, als sie sich zwischen den Schülermengen hindurch quetschten. Viele bekannte aber auch viele unbekannte Gesichter. Vor einem Jahr waren sie an dieser Schule selbst die Neulinge gewesen.
„Keine Ahnung, wir werden es gleich sehen. Aber ich hoffe es“, antwortete er und versuchte, die Liste zu erkennen, doch sie waren noch zu weit weg und ein paar Köpfe besonders groß geratener Jungs versperrten ihm die Sicht.
„Ich hoffe es auch. Immerhin sind wir seit der Grundschule fast jedes Jahr alle drei in einer Klasse gewesen“, erwiderte Sora lächelnd und ihre Augen funkelten. Auch Taichi erinnerte sich gern an damals zurück. Damals in der Grundschule, als das Leben noch so einfach war und man keine Sorgen hatte.
Endlich kamen sie dazu, einen Blick auf die Liste zu werfen.
„Sora Takenouchi zwei-zwei“, las Sora vor.
„Ich bin auch zwei-zwei“, verkündete Yamato und die beiden lächelten sich triumphierend an.
„Und Tai ist…“
„Tai ist auch zwei-zwei“, erwiderte Taichi grinsend.
Sora jubelte fröhlich. „Ein weiteres Jahr mit meinen zwei Lieblingsmännern in der gleichen Klasse. Los, lasst uns in den Raum gehen. Wir wollen ja nicht ganz vorn sitzen.“
Zu dritt machten sie sich auf den Weg zum Klassenraum. Während Sora und Yamato überlegten, wie sie den Rest des Tages nach der Schule verbringen würden, beobachtete Taichi die Menschen, die ihnen entgegen kamen. Schnatternde Schüler, missmutig dreinblickende Schüler, gelangweilt aussehende Schüler. Und dann kam eine Schülerin vorbei, die seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Langes, haselnussfarbenes Haar, das ihr in sanften Wellen über die Schultern fiel. Große dunkle Augen, volle Lippen und einen Ausdruck im Gesicht, der Taichi vermuten ließ, dass dieses Mädchen genau wusste, was für einen Eindruck sie auf andere machte. Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite und strich sich mit einer Hand das Haar über die Schulter nach hinten. Dabei fing sie Taichis Blick auf, sah jedoch eine Sekunde später wieder weg, schien sich keinen Deut um ihn zu scheren.
Taichi drehte sich um, um ihr nachzuschauen. Der kurze Rock der Schuluniform schmeichelte ihren schönen, wohlgeformten Beinen.
„Was ist los?“, fragte Sora, die bemerkt hatte, dass Taichi sich nach jemandem umsah.
„Ähm… nichts.“
Er tauschte einen vielsagenden Blick mit Yamato. Offensichtlich hatte auch dieser das Mädchen bemerkt, das soeben vorbeigeschlendert war. In einem stillen Abkommen beschlossen sie, einfach so zu tun, als hätten sie beide kein Mädchen bemerkt.
Die folgenden zwei Stunden verbrachten sie in ihrem neuen Klassenraum, wurden im neuen Schuljahr willkommen geheißen und über das neue Schuljahr informiert, sodass Taichis Gedanken weg von dem Mädchen wanderten. Als er mit Yamato und Sora nach zwei Stunden den Raum wieder verließ, hatte er sie sogar schon wieder komplett vergessen. Zu voll war sein Kopf mit neuen Informationen.
Plaudernd machten sich die drei Freunde auf den Weg aus dem Schulgebäude, um in einem Café einen Snack zu verdrücken. Schule machte immer hungrig. Dann, als sie gerade das Foyer durchquerten, sah er sie erneut. Sie lehnte an der Wand und tippte auf ihrem Handy herum, wirkte völlig entspannt.
Anscheinend spürte sie, dass Taichi sie anstarrte, denn plötzlich hob sie den Kopf und erwiderte seinen Blick. Einige wenige Sekunden sahen sie sich in die Augen, dann musste Taichi sich abwenden, da er sonst vermutlich mit einem anderen Schüler zusammenlaufen würde.
Dieses Mädchen faszinierte ihn. Sie sah einfach perfekt aus. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so viel Perfektion in einem Menschen vereint gesehen zu haben. Bildhübsches Gesicht, wunderschöne Haare, unglaublicher Körper. Doch das war nicht alles. Mehr als ihr Aussehen noch zog ihn der Ausdruck in ihrem Gesicht an. Gleichgültig, leicht überheblich, völlig von sich selbst überzeugt. Genau die Sorte Mädchen, die erst einmal umfassend beeindruckt werden wollte, bevor sie sich überhaupt dazu herabließ, mit einem zu reden. Genau die Sorte Mädchen, die in Tai irgendetwas weckte.
Vielleicht würde das Schuljahr ja doch nicht so furchtbar langweilig werden.
Das Wetter hätte nicht besser sein Können. Der Himmel war blau und klar, die Sonne schien vom Himmel und die Temperaturen waren frühlingshaft warm. Taichi, Yamato und Sora suchten sich ein Café, das Tische draußen anbot, um das schöne Wetter zu genießen. Sie bestellten sich Sandwiches und Yamato und Sora plauderten fröhlich über das kommende Schuljahr.
Anfangs lauschte Taichi dem Gespräch der beiden noch halbherzig, doch während er dort saß, seine Cola schlürfte und geistesabwesend die vorbeigehenden Menschen auf der Straße beobachtete, wanderten seine Gedanken zu dem Mädchen. Es war, als hätte sich ihr glühender Blick in sein Gehirn eingebrannt. Würde ihn jemand danach fragen, er könnte genau ihre Augenfarbe beschreiben. Und die Form ihrer Lippen. Dabei hatte er sie erst zweimal kurz gesehen.
„Und du, Tai?“
Ob sie wohl einen Freund hatte? Wenn nicht, dann war sie bestimmt gerade frisch getrennt. Sie sah nicht gerade wie die Sorte Mädchen aus, die lang und gern Single waren. Wahrscheinlich brauchte sie nur mit den Fingern schnippen und schon hatte sie die freie Auswahl zwischen zehn Jungs. Ob Taichi wohl in der Lage war, da mitzuhalten? Dank seiner aufgeschlossenen und humorvollen Art war er nicht unbeliebt bei den Mädchen, jedoch auch kein wirklicher Mädchenschwarm. Diese Rolle hatte er Yamato mit seiner Band und seiner meist eher kühlen Art. Doch der war ja nun erst einmal vom Markt und stellte für Taichi keine Gefahr dar.
„Hallo? Tai?“
Was dachte er hier eigentlich? Das Mädchen war völlig neu an der Schule und er überlegte schon, wie seine Chancen standen, sie als Freundin zu bekommen! Das war doch lächerlich. Schließlich wusste er nicht einmal, ob sie überhaupt nett war. Vielleicht war sie ja eine arrogante Tussi und keinen Gedanken wert, den er gerade an sie verschwendete.
„Hey!“
Er schüttelte den Kopf und sah in die verdutzten Gesichter seiner beiden Freunde.
„Woran denkst du?“, fragte Sora skeptisch und runzelte die Stirn.
„An nichts“, log Taichi hastig.
„Ja, klar. Du warst gerade mit deinen Gedanken ganz woanders.“
„Ich habe nur geträumt“, murmelte er ausweichend und genehmigte sich einen Riesenschluck Cola. Er fing Yamatos Blick auf, der ihn seltsam musterte. Ahnte er etwa, woran – oder besser gesagt an wen – Taichi gerade gedacht hatte?
Zum Glück wurden in dem Moment ihre Sandwiches gebracht und sie waren abgelenkt.