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Distopia

von

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Kapitel 1

9. Mai 1896, Oredom

Der Wind peitscht um Ambers Gesicht und sie fühlt sich frei, während sie auf ihrem Wallach durch den Wald reitet. Das Tier unter ihr schnaubt laut, als Amber ihm die Sporen gibt, ihn anheizt, schneller zu laufen. So reitet sie bis ans Ende des Waldes zu einer Lichtung, wo sie kurz aber bestimmt an den Zügeln zieht, um den Wallach zum Stehen zu bringen, worauf der laut wiehert und kurz aufbockt.

„Ruhig mein Junge, alles in Ordnung. Ich hab dich wohl sehr erschreckt“, flüstert sie dem Wallach zu, während sie ihm mit einer Hand über den muskulösen Hals fährt.

Das Tier schnaubt und scharrt mit seinem Huf auf dem Boden, hinterlässt dabei Spuren im Rasen.

„Jaja, jetzt die beleidigte Leberwurst spielen … war ja klar“, motzt Amber und steigt vom Wallach ab, führt ihn dann zu einem Trog, den sie vor einiger Zeit hier entdeckt hat. Während das Tier trinkt, setzt sich Amber auf den Rand des Troges und blick verträumt in den Himmel. Einige feine Wolken zieren das Azurblau des Firmamentes, bilden jeweils eine einzigartige Form. Eine der Wolken sieht aus wie ein Hase, der gerade zu einem Sprung ansetzt, eine andere sieht aus wie ein ungleichmässiger, fünfzackiger Stern.

Plötzlich spürt sie, wie etwas an ihrer Hose zieht und verdreht sachte die Augen, sieht ihren Wallach an, der ihr an der Hose knappert.

Klarer Fall. Er hat Hunger.

Amber nimmt sofort die Karotte und den Apfel aus ihrer Tasche und gibt dem Wallach eins nach dem anderen und streichelt ihm über die Nüstern, schaut verträumt in seine rehbraunen Augen.

Das Pferd hält dem Blick einige Zeit stand, doch dann ist es ihm zu viel und er knabbert wieder an Ambers Hose.

„Es gibt erst zu Hause wieder etwas“, mahnt sie den Wallach und stösst ihn vorsichtig mit einer Hand weg, worauf das Tier beleidigt von ihr wegtrottet und zu grasen beginnt.

Amber muss sich ein Lachen verkneifen, sonst würde der schon eingeschnappte Wallach noch beleidigter werden.

Mein Ardos ist schon eine Diva, denkt sich Amber, steht vom Trog auf und setzt sich ins Gras, geniesst die Sonne, die durch die Blätter der Bäume scheint, auf ihrer Haut.

Langsam schliesst sie ihre Augen und geniesst die Natur, hört dem Summen der Hummeln zu und lässt sich vom sanften Rauschen der Blätter über ihr beruhigen.

Nach einer Weile hört sie, wie Ardos neben ihr auf dem Boden scharrt, worauf sie die Augen aufmacht – und erschreckt, als sie Ardos‘ Nüstern nahe an ihrem Gesicht sieht.

„Bäh! Igitt, Ardos!“, stösst Amber hervor, als der Wallach seine Zunge über ihre Wange gleiten lässt, und dann freudig wiehert, als er die angeekelte Reaktion seiner Herrin sieht.

Das ist wohl die Rache für das abrupte Bremsen von vorhin, denkt sich Amber und wischt sich den Pferdespeichel mit dem Ärmel ab.

Als der Wallach weiterhin mit dem Huf am Boden scharrt, um Amber weiterhin auf seinen Hunger hinzuweisen, steht sie auf, streckt sich einmal ausgiebig und steigt schliesslich auf den Rücken des Tieres.

Sie hat – anders als die anderen Damen und Frauen – keine Mühe, sich auf ein Pferd zu setzen, geschweige denn zu fechten. Lesen und Schreiben hat sie mit Leichtigkeit gelernt, jedoch mit dem Kochen … damit hat sie so ihre Schwierigkeiten. Der Himmel bewahre sie, dass nicht noch eines Tages die Küche in Flammen steht, nur weil sie einen hoffnungslosen Kochversuch starten will.

Im Grossen und Ganzen ist sie eigentlich eine eigenartige Frau, die sich mehr mit Männersachen auseinandersetzt, als sich wie eine normale adlige Frau über Kuchen und Stickereien zu unterhalten – diese Gespräche kotzen sie sowieso am meisten an.

„So mein Süsser, reiten wir nach Hause, bevor Tante Angelika eine Panikattacke bekommt.“

Mit diesen Worten reiten sie los, jedoch dieses mal etwas langsamer und vorsichtiger. Da sie am Ende des Platinheart-Gebietes, das für seinen gigantischen Park bekannt ist, gerastet haben, sind sie schnell auf den Strassen von Silvertown. Dort müssen sie auf die adligen Schnösel und Bengel aufpassen, die sich nichts aus den Regeln der Strasse machen. Was sollte ihnen schon passieren, immerhin haben bisher nur die obersten Adligen Automobile, und mit denen ist man nicht gerade schneller als mit einem Pferd. Und sowieso leben die Reichsten der Reichen in Goldcrown, und die geben sich nicht die Mühe, nach Silvertown zu kommen. Pferde können schliesslich ausweichen, sollte plötzlich ein Balg über die Strasse rennen – und wenn es doch passiert, dass ein Pferd ein Kind oder eine Person umstösst, dann hätte der Verletzte (oder im Falle eines Kindes die Eltern) das Recht das Tier zu töten. Ein bescheuertes Gesetz! Würden die Leute nicht einfach ohne zu schauen über Strassen laufen, würde es weniger Unfälle geben und die Reiter müssten nicht auf jede Kleinigkeit aufpassen!

Amber hasst dieses Gesetz noch mehr, weil sie bei einem Ausritt nur kurz nicht aufgepasst hat – und der Nachbarsjunge in die Flanke ihres Pferdes gerannt ist. Der dumme Bengel hat sich eine Kopfverletzung zugezogen und Angelika musste Marmos, den Hengst ihres Vaters, auf Wunsch dieses Knirpses hin erschiessen. Dieser Bengel ist sowieso unerzogen, weswegen die Eltern ihm nicht einmal sagen konnten, dass er die Schuld daran trägt, ohne einen Tobsuchtsanfall zu provozieren. Also musste Amber damals hinnehmen, dass ein Andenken ihres Vaters getötet wurde, aber das liess sie nicht auf sich sitzen.

Mit ihren dreizehn Jahren war sie schon ziemlich stark und legte den Bengel übers Knie, warnte ihn, ihr nie wieder unter die Augen zu treten. Der damals elf Jahre alte Junge rannte heulend nach Hause und wagte es nicht mehr, sie anzusprechen, geschweige denn anzusehen. Er hatte es damals verdient, und auch die Ohrfeige des Vaters von diesem Bengel liess sie ihre Entscheidung nicht bereuen.

Jedoch war es auch für sie eine Lehre: Vordere nie eine Adelsfamilie heraus, oder du lernst die Konsequenzen zu spüren.
 

Nach einer halben Stunde erreicht sie schliesslich Tante Angelikas Garten und reitet zum kleinen Stall den sie eigens für Ardos aufgebaut hatte. Dort versorgt sie den Gaul und gibt ihm Heu und einige Karotten, dann wünscht sie ihm eine gute Nacht und schliesst die Stalltür.

Sie hatte nicht geplant so lange im Platinheart-Wald herumzustreunen, jedoch ist dort die Luft so viel klarer und auch die Natur fast unberührt, was man von draussen nicht sagen kann. Bis auf ein paar Gärten, die die Häuser rundherum schmücken, gibt es fast keine Bepflanzung in Silvertown. Wahrscheinlich sind sich viele einfach zu schade für einen Garten, da er zu viel Zeit und Geld kostet.

Doch wenn Amber könnte, würde sie für immer im Platinheart-Wald leben, abgeschirmt von den Sorgen der Aussenwelt dank der Kuppel, die sich darüber erstreckt – abgeschirmt von den vielen Schnöseln.

Doch sie weiss, dass das nicht geht, denn spätestens heute Abend würde sie an irgendeinen Mann gebracht, der sie dann heiraten will, und für den sie am besten dann noch fünf Kinder zur Welt bringen soll.

Wie ihr der Unmut auf den Bauch schlägt.

Sie muss sich ein Würgen unterdrücken und an etwas anderes denken. Wer weiss, vielleicht findet sie einen Mann der gar nicht mal so schlecht ist, einer, der liebevoll und zuvorkommend ist. Amber seufzt und gibt dieses Wunschdenken schon auf, schliesslich werden dort nur die reichen Schnösel vertreten sein, die sie nur als Gebärmutter ansehen und eine Frau wollen, die nicht redet sondern eine perfekte Puppe abgibt.

Aber da kennen sie Amber von Cintra schlecht.

Im Haus angekommen wird sie auch schon wild von ihrer Tante empfangen – eine Umarmung, ein Küsschen hier und dort, einfach total übertrieben. Angelika freut sich schon seit Wochen darauf, dass Amber beim Ball mitmacht und freut sich umso mehr, dass sie sich endlich entschieden hat zu heiraten. Aber es ist noch nichts entschieden, denn wenn ein Mann sie nicht will, kann sie auch niemand dazu zwingen, sie zu heiraten.

Jedenfalls ist ihre Tante seit einigen Tagen mit den Vorbereitungen beschäftigt. Kleid nähen, die passende Frisur aussuchen und die Schminke kaufen, einfach alles, was eine Frau braucht um einen Mann um den Finger zu wickeln.

Schnell wird Amber ins geschleift Badezimmer und Angelika hilft ihr beim Ausziehen, was normalerweise die Bediensteten tun, doch heute will ihre Tante alles selber in die Hand nehmen, damit auch nichts schief läuft. Kaum sitzt Amber in der Badewanne wird ihr Rücken von ihrer Tante geschruppt und hört, wie drauflos geplappert wird. Angelika erwähnt ununterbrochen den Ball, die verschiedenen jungen Männer die dort sein würden, dann der Tanz mit dem Auserwählten … oder sogar mit mehreren! Ach, wie gerne sie die Männer miteinander streiten sehen würde.

Amber will schon protestieren und ihrer Tante sagen, sie solle aufhören, da sie sie bloss nervös macht, doch bevor sie auch nur etwas sagen kann, wird sie von ihrer Tante gerade hingestellt und von oben bis unten genau betrachtet.

„So“, beginnt sie mit ihrer Analyse „Du hast schöne Rundungen bekommen, selbst wenn du so klein bist, ist proportional alles richtig und du bist auch schlank, aber keine Gräte. Also wenn dich ein Mann wegen deines Körpers abweist, dann ist er ein Idiot.“

Amber errötet und hätte sogar mit einer reifen Tomate konkurriert.

„Sei nicht schüchtern. Ich bin eine Frau und du bist eine“, zwinkert Angelika ihr zu und befiehlt ihr sanft, sich wieder in die Wanne zu setzen.

Nach einer Stunde Vorbereitung kann Amber dann endlich in ihr Kleid schlüpfen. Es ist ein blaues, ärmelloses Seidenkleid, das bei der Brust und bei der Taille mit weissen Spitzen verziert ist. Das Kleid reicht bis an den Boden, der blaue Stoff ist an den Seiten leicht nach oben gebunden und darunter kommt weisser Tüll-Stoff zum Vorschein. Am Rücken ist es geschnürt und eine Schleife ziert den Schluss, dazu verzieren einige weisse Stickereien die Bauchseite und den Rock. Alles in allem ist es ein einfaches Kleid, das jedoch mit seiner Schlichtheit auffallen wird.

Die Haare zu einem Dutt zusammengebunden betrachtet Amber in einem Spiegel ihr Gesicht, welches von einigen losen, goldblonden Locken umrahmt ist.

Ja, so könnte ich einen Mann abbekommen, denkt sie sich und seufzt über ihre eigenen Gedanken.

„Ich will eigentlich keinen Mann“, murmelt sie seufzend, wissend dass sie niemand hören würde – und es eigentlich auch allen egal wäre, was sie will oder nicht. Immerhin ist sie eine Adlige und muss deswegen einen Mann finden, eine Familie gründen – und ihr Leben lang eine Gefangene in ihrem eigenen Haus sein.

Kein einfaches Los für Frauen in Chromeburg.

Ein Klopfen reisst Amber aus ihren düsteren Gedanken und sie lächelt schwach, als sie ahnt, wer hinter der Tür steht. „Tante, du musst doch nicht klopfen, komm einfach rein.“

Die Tür knarrt, worauf Angelika hineintritt und fröhlich ihre Nichte betrachtet, dann steht sie zwischen dem Spiegel und Amber und lächelt überglücklich, Tränen schimmern in ihren Augen.

„Du bist so wunderschön, meine Süsse.“ Amber wird in eine Umarmung gerissen.
 

Es ist schon später Abend, als Amber in die Kutsche zum Ball steigt. Nur noch wenige Minuten und sie würde den riesigen Festsaal von Silvertown betreten und sich dort ihrem Schicksal stellen. Vor Aufregung kann sie nicht still sitzen und muss ständig nach draussen schauen, wo der Mond in seiner ganzen Pracht seinen kalten Schein auf die Erde schickt. Amber findet, dass die Sterne viel heller scheinen als sonst, und muss darüber lächeln.

Ein wunderschöner Abend.

Die Kutsche fährt durch ein eisernes Tor, einen Weg entlang, bis sie um einen Brunnen führt. Dieser gilt weithin als der Liebesbrunnen von Edwans, und jeder, der an diesem Brunnen den ersten Kuss mit jemandem teilt, wird für immer und ewig mit der Person zusammen sein. So zumindest sagt es die Legende, aber viele wussten, dass dies nur Märchenfantastereien sind und niemand die Ewige Liebe ein Unding ist – noch dazu besiegelt von einem Brunnen?

Doch eine romantische Vorstellung ist es trotzdem.

Denn der Brunnen sieht nun mal zum Verlieben aus, er ist kreisrund und am Sockel sind Orchideenblüten eingemeisselt. In der Mitte stehen zwei Figuren, eine weibliche, die in Rosenranken gehüllt ist, und von der männlichen Statue umarmt wird, während sie selbst einen Krug vor ihre Scham hält und Wasser in den Brunnen schüttet.

Ein prächtiges Meisterwerk, denkt sich Amber und steigt aus der Kutsche, die gehalten hat, wobei sie vom Pagen, der am heutigen Abend wohl so einige Frauen aus den Kutschen helfen wird, entzückt lächelnd empfangen wird.

„MyLady von Cintra“, wird sie mit einer Verbeugung begrüsst. „Herr Edwan ist hoch erfreut, Sie auf seinem Ball zu wissen. Wenn Sie mir bitte folgen.“ Er verbeugt sich weiterhin, lediglich die Hand wird Amber gereicht.

Hoch erhoben – schliesslich muss sie die Etikette bewahren – nimmt sie die Hand des Pagen und schreitet stolz die Treppen der Kutsche herunter, dann wird so von dem Pagen, der sich mittlerweile erhoben hat, zur Tür des Hauses geleitet.

Im Haus wird sie freundlich von einer Dame empfangen, die ihr den Mantel abnimmt und sie zum Festsaal geleitet. Drinnen muss Amber erst einmal tief einatmen und leer schlucken, denn der Anblick, der sich ihr bietet, ist atemberaubend. Die Säulen, die den Saal säumen, bestehen aus Marmor und goldene Rosenranken winden sich an ihnen herauf zur Decke, die wunderschön bemalt ist. Das riesige Kunstwerk zeigt dieselben zwei Personen, die schon beim Brunnen stehen, doch dieses Mal umarmen sie sich nicht, sondern strecken einander die Hand aus, als würden sie getrennt werden und wollen dies verhindern. Der ganze Körper der Frau ist wieder mit Rosenranken bedeckt und ihre ausgestreckte Hand wird mit der der des Mannes durch eine weitere Ranke verbunden, während sein Glied mit einer Wasserwelle bedeckt ist.

Auf seine Art und Weise ist es ein romantisches Gemälde, doch Amber wunderte sich, warum diese Leute immer nackt dargestellt werden – gab es damals denn keine schönen Kleider?

„Wunderschön, nicht wahr?“, wird sie nun von einer unbekannten, tief klingenden Stimme gefragt und Amber dreht sich erschrocken zur Person um.

„Verzeiht, ich wollte Sie nicht erschrecken. Mein Name ist Roland Edwan, ich bin der Gastgeber.“

Ganz nach der Etikette macht Amber einen Knicks und will sich vorstellen. „Verzeiht, ich habe Sie nicht sofort erkannt. Mein Name ist…“

„Oh den müssen Sie mir nicht sagen“, unterbricht sie Herr Edwan „Schon von weitem konnte ich erkennen, dass Sie eine von Cintra sind. Amber, wenn ich mich richtig entsinne.“

Überrascht über das Wissen des alten Herren muss sie nachfragen: „Und woher wussten Sie dies?“

„Oh, meine Liebe, Sie sehen genauso aus wie Ihre verehrte Mutter, als sie vor 20 Jahren diesen Saal betrat. Nur diese wunderschönen grünen Augen haben sie von ihrem Vater.“

Unweigerlich muss Amber über diese Aussage schlucken.

„Verzeiht, wieder bin ich solch ein unsensibler Tölpel. Mein herzliches Beileid um den Tod ihrer Eltern, Sie müssen sie sehr vermissen.“

Amber muss einen grossen Kloss herunterschlucken und sich beherrschen nicht zu weinen. Auch jetzt, nach all den Jahren, bereitet es ihr Schmerzen, über ihre verstorbenen Eltern zu reden. Aber auch wenn sie den Tränen nahe ist, so kann sie jetzt nicht unhöflich werden.

„Ich danke Ihnen, mein Herr. Es ist schon eine Weile seit ihres Ableben vergangen, jedoch sind sie immer in meinem Herzen bei mir.“

„Und sie werden Sie auch an diesem Abend begleiten. Nun genug mit dem traurigen Gerede, wir sind schliesslich hier um von der Tristheit des Tages zu entfliehen. Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Abend.“

Amber macht wieder einen Knicks und der alte Herr Edwan verbeugt sich vor ihr. Sie kann ihn nochmals genauer betrachten als er sich von ihr fortbewegt um eine andere Dame zu empfangen. Er ist gross, breitschultrig und trägt eine alte Militäruniform, während er wie ein Löwe durch den Saal stolziert, als wolle er den jüngeren Männern nur durch seine Präsenz seine Macht demonstrieren. Doch sie sieht ihm auch an, dass ihm das Alter langsam Schwierigkeiten macht, denn humpelt bereits auf dem rechten Bein und an seinem Rücken drückt langsam der Buckel nach durch. Es würde nicht mehr lange dauern, bis auch er seine Macht an seinen ältesten Sohn weitergeben wird, jedoch wird er bis zum Tode der stolze Löwe sein, der er auch ist.

Doch sie will keinen weiteren Gedanken über diesen Mann oder über seinen Werdegang verlieren, sondern ihre Tante stolz machen und einen Mann finden.

Zuerst begibt sie sich zu den Mädchen, die mit ihr zusammen Reitunterricht nehmen, da sie einander schliesslich gut verstehen und ihr etwas Sicherheit geben können. Doch nach und nach wird jede von ihnen von Männern zum Tanz aufgefordert, nur Amber bleibt alleine stehen – und es macht auch keiner gross Anstalten, sie näher kennen lernen zu wollen.

Genervt und entmutigt trottet sie zum Gartensitzplatz und lehnt sich an die Steinmauer, blickt zum Himmel hoch und betrachtet den Mond, der zwar immer noch hell scheint, jedoch von dunklen Wolken halb bedeckt wird.

Sie kann nicht anders, als zu seufzen.

„Ist wohl heute nicht Ihr Tag, Miss.“

Ein junger Mann stellt sich neben sie hin und blickt sie grinsend an, Amber jedoch erwidert seinen Blick missmutig. „Was verstehen Sie denn schon?“, faucht sie ihn an.

„Nun ja, ich sehe, wie sich eine junge, hübsche Frau nach draussen schleicht, während sich drinnen die anderen Frauen mit Tanzen vergnügen.“

„Wenn mich niemand auffordert, kann ich schlecht alleine tanzen.“

„Das könnten Sie machen, es würde nur leicht komisch aussehen, wenn eine Frau alleine den Walzer tanzt.“

Er lächelt sie weiter an, was ihr gar nicht gefällt.

Will er sie hier nur auf den Arm nehmen, oder will er nur seine eigene schlechte Laune an ihr auslassen? Aber was sollte dann dieses Lächeln?

„Vielleicht sollten Sie den ersten Schritt machen und einen Mann auffordern, in der heutigen Zeit, in der Frauen auch mit höheren Ämter bekleidet sind, sollte dies doch möglich sein.“

„Diese `höheren Ämter` sind nur Schein und Trug. In Wirklichkeit haben diese Frauen nichts zu sagen, hinter ihnen sitzt immer ein Mann, der ihnen sagt, was sie zu tun und lassen haben“, erwidert Amber etwas verbittert, was dem jungen Herrn bloss ein leises Lachen entlockt.

„Welch weise Worte Sie doch sprechen. Nun denn, dann werde ich die Etikette wahren und Sie zum Tanz auffordern.“

Amber macht grosse Augen und spürt, wie es in ihrem Kopf zu rattern beginnt. In was für eine Lage ist sie denn nun geschlittert? Sie mag den Gedanken eigentlich den nicht, mit diesem Herren zu tanzen, doch was blieb ihr anderes übrig? Immerhin hat er sie darum gebeten und laut der Etikette…

Sie will schon die Hand ergreifen, die ihr entgegen gestreckt wird, da zerreisst ein Schrei die Stille und die Gäste im Saal fangen aufgebracht an zu reden.

Neugierig wie Amber nun mal ist, eilt sie sofort in den Saal zurück und vergisst den Mann.
 

Im Saal bietet sich ein grausamer Anblick.

Der Koch, so wie Amber an seiner Schürze vermutet, steht gerade über einem Mädchen und schlägt mit einem Gürtel auf sie ein. Das Klatschen des Gürtels auf der Haut des Kindes wird nur von seinem Geschrei übertönt.

„Du dreckige Diebin, klaust von meinen Sachen! Dir werde ich es zeigen! Du widerliche Hündin! Von einer Schlampe bist du gezeugt, jawohl von einer Schlampe!“

Das kleine Mädchen wimmert und winselt, Blut tropft schon auf den Boden, doch keiner der versammelten Gäste rührt auch nur einen Finger, sie alle betrachten die Szenerie mit Hohn und Verachtung.

Was sind das nur für Menschen? Selbst der stolze Herr Edwan macht nichts und schaut der ganzen Sache eher gelangweilt zu.

Dann platzt Amber der Kragen, sie schlägt sich einen Weg durch die Menschen, die zwischen ihr und dem Kind stehen, dann baute sie sich vor dem Mädchen auf.

Erschrocken und völlig aus der Bahn geraten schlägt sich der Koch selbst mit dem Gürtel über den Oberschenkel, verzieht jedoch kein Gesicht, die Adern an seinen Schläfen sind hervorgetreten und sein Kopf ist rot.

Der vorher eher gelangweilte Herr Edwan macht nun ein Gesicht, als wäre er gerade von einem Automobil angefahren worden, und auch die Gäste stehen verwirrt und überrumpelt da.

„Miss von Cintra, treten Sie bitte bei Seite. Das Ding braucht seine Strafe.“

Amber verkrampft ihre Hände zu Fäusten, als der feine Herr Edwan sich endlich entschieden hat, etwas zu sagen.

„Nein!“, meint sie im festen Ton. „Dieses Ding, wie Sie so schön formulieren, ist ein Mädchen. Und sie hat so eine Strafe nicht verdient.“

„Miss Cintra ich bitte Sie“, will er mit fester und befehlender Stimme Amber zum Gehen bewegen.

„Ich sagte nein! Dieses Mädchen hat was gestohlen?“, diese Frage geht an den Koch, der unweigerlich zusammenzuckt und sich unbehaglich am Bauch kratzt.

„Einen Apfel, Miss.“

Ihre Wut steigt immer mehr, sie ist beinahe so weit, dem Koch eine Ohrfeige zu geben, aber dann wäre ihr guter Ruf völlig im Eimer – obwohl ihr der momentan herzlich egal war.

„Wegen eines Apfels schlagt Ihr ein Mädchen blutig, liege ich da richtig?“

„Ja, Miss.“

„Ich werde Ihnen jetzt mal was sagen: Dieses Mädchen ist nur noch Haut und Knochen, hat einen Apfel gestohlen, und wird deswegen so zugerichtet?“ Sie zeigt auf das kleine, wimmernde Bündel und starrt den Koch hasserfüllt an. „Dieses Mädchen wird von heute an unter meinem Schutz stehen, und wenn ich nur einmal höre, wie Sie das Mädchen schlagen, dann werde ich sie Köpfen lassen, haben wir uns verstanden!?“

Der Koch nickt demütig und geht fort, doch Amber ist noch lange nicht fertig. Zitternd und schäumend vor Wut wendet sie sich an den Gastgeber: „Und was Sie betrifft, feiner Herr Edwan. Falls ich irgendwie mitbekomme, dass noch mehr solche Misshandlungen stadtfinden, werde ich Ihnen die Hölle heiss machen!“

Der stolze Löwe präsentiert sich nun in seiner ganzen Grösse gibt ihr drohend zur Antwort: „In meinem Haus wird mir nicht gedroht! Ich dachte, Sie wären eine feine Dame, doch sie sind nichts weiter als eine Rustvale!“

„Wenigstens bin ich kein Kinderschläger!“, brüllt sie ihn an und stampft mit schnellen Schritten davon.

Sie will nicht mehr länger an diesem Ort sein, an einem Ort, an dem Lügen und Unwahrheiten belohnt und Aufrichtigkeit bestraft wird, an einem Ort an dem Menschenmisshandlung Alltag ist. Sie hofft nur, dass es das Mädchen nun besser hat, doch sie weiss, dass sie wahrscheinlich alles verschlimmert hat.

Warum macht sie nur alles falsch? Hätte sie sich nicht eingemischt, dann wäre das Mädchen vielleicht nur mit einigen Schrammen davongekommen, doch jetzt kann sie nicht einmal mehr sicher sein, dass sie die heutige Nacht überlebt. Könnte sie nur diesen Kindern helfen, solche die in Rustvale als billige Arbeiter aufgesammelt und schlecht behandelt werden, während hier alle in Saus und Braus leben und einander anlügen.

Könnte sie doch nur alles ändern.

Einen kurzen Augenblick muss Amber an den Mann denken, der sie zum Tanzen aufgefordert hat – und den sie stehen gelassen hat.

Sie schüttelt den Kopf, immerhin ist jetzt nicht die Zeit, über ihn nachzudenken.

Aber irgendwie kann sie nicht diese wunderschönen, hellgrauen Augen vergessen und das nette Lächeln, das er ihr geschenkt hatte.

Irgendwie waren diese Augen das Beste am ganzen Abend gewesen.
 

Amber braucht mindestens bis zum Aufgehen der ersten Sonne, bis sie zu Hause angekommen ist.

Da sie am Hof für Unruhe gesorgt hat und sich nicht benommen hat, wie es sich für eine Dame geziemt, ist ihr die Kutsche verweigert worden, weswegen sie sie ganze Strecke nach Hause laufen muss.

Ihre Knöchel beginnen zu schmerzen und die Blasen an ihren Füssen – verdammte unbequeme Schuhe! – bringen sie noch um, aber das, was ihr am meisten Sorgen macht, ist die Reaktion ihrer Tante …



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